Vom Weggehen und Ankommen - Martin Schütz - E-Book

Vom Weggehen und Ankommen E-Book

Martin Schütz

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Beschreibung

Vorsicht! Der Jakobsweg lässt Sie nicht mehr los! Begleiten Sie mich auf meiner 1000 Kilometer dauernden Pilgerreise vom französischen Saint-Jean-Pied-de-Port nach Santiago de Compostela und von dort weiter nach Finisterre, Muxia und zurück nach Santiago. Doch diese 42 Tage dauernde Pilgerreise im Jahr 2008 war erst der Anfang! Seither bin ich über 4000 Kilometer auf verschiedenen Jakobswegen gewandert. Lesen Sie, wie für mich alles begonnen hat und was ich auf meiner ersten Pilgerreise quer durch Spanien erlebt und gesehen habe. Mehr Informationen über die Buchreihe: www.pilgerzeit.ch

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Seitenzahl: 213

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Der Augenblick ist ohne Zeit.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Tag: Reise nach Bayonne

Tag: Bayonne - Roncesvalles

Tag: Roncesvalles - Zubiri

Tag: Zubiri - Pamplona

Tag: Pamplona - Puente la Reina

Tag: Puente la Reina - Estella

Tag: Estella - Torres del Rio

Tag: Torres del Rio - Logroño

Tag: Logroño - Nájera

Tag: Nájera - Redecilla del Camino

Tag: Redecilla del Camino - Villafranca Montes de Oca

Tag: Villafranca Montes de Oca - Atapuerca

Tag: Atapuerca - Burgos

Tag: Burgos - Hontanas

Tag: Hontanas - Bodilla del Camino

Tag: Bodilla del Camino - Carrión de los Condes

Tag: Carrión de los Condes - Terradillos

Tag: Terradillos - Calzadilla de los Hermanillos

Tag: Calzadilla - Mansilla de los Mulas

Tag: Mansilla de los Mulas - Virgen del Camino

Tag: Virgen des Camino - Sanitibáñez

Tag: Sanitibáñez - Rabanal del Camino

Tag: Rabanal del Camino - Molinaseca

Tag: Molinaseca - Villafranca del Bierzo

Tag: Villafranca del Bierzo - O Cebreiro

Tag: O Cebreiro - Tricastela

Tag: Tricastela - Barbadelo

Tag: Barbadelo - Hospital da Cruz

Tag: Hospital da Cruz - Mélide

Tag: Mélide - Pedrouzo

Tag: Pedrouzo - Santiago de Compostela

Tag: Santiago de Compostela - Negreira

Tag: Negreira - Olveiroa

Tag: Olveiroa - Finisterre

Tag: Finisterre - Kap Finisterre (und zurück)

Tag: Finisterre – Muxía

Tag: Muxía – Olveiroa

Tag: Olveiroa – Negreira

Tag: Negreira – Santiago de

Tag: Santiago de Compostela

Tag: Santiago de Compostela

Tag: Santiago de Compostela - Schweiz

Vorwort

Was treibt seit über 1000 Jahren Menschen an, auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu pilgern? Bei mir wurde die Idee „Jakobsweg“ zu einer Zeit geboren, als der Weg noch nicht in aller Munde war. Damals um die Jahrtausendwende hatte ich einen Zeitungsartikel über ein frisch pensioniertes Ehepaar gelesen, das sich aus der Ostschweiz auf den Weg nach Santiago machte. Seither hatte ich es mir immer mal wieder ausgemalt, wie es wohl wäre, den Jakobsweg zu wandern. Doch lang war dies ein Wunsch, den ich irgendwo in ferner Zukunft, vielleicht nach meiner Pensionierung, ansiedelte.

Eine besondere berufliche Belastung ließ den Wunsch plötzlich in die Gegenwart rücken. Ich brauchte dringend einen ruhigen Punkt am Horizont. So habe ich Anfang 2008 den Entschluss zur Wanderung auf dem Jakobsweg gefasst. In den kommenden Monaten war der festgelegte Tag meiner Abreise im August der Leuchtturm, auf den ich zuhalten konnte, der mir Sicherheit gab.

Der Jakobsweg gleicht dem Leben. Für jeden ist der Weg anders. Er ist nicht immer einfach. Manche kommen von ihm ab, manche verlieren sich sogar darauf. Man ist allein und doch auf andere angewiesen. Man nimmt und gibt Hilfe, ist Fremden für ein Stück des Weges verbunden.

Willkommen auf meinem Weg!

1. Tag: Reise nach Bayonne

15 Kilo sind drei Kilo zu viel

Nach nur wenigen Stunden Schlaf erwachen meine Frau und ich fast gleichzeitig und natürlich viel zu früh um 5.30 Uhr. Was lange nur als Datum weit in der Zukunft lag, ist nun da: Der Tag der Abreise.

Den Abend zuvor hatten wir mit einer langen – und mit Hilfe der Küchenwage fast auf das Gramm genauen – Diskussion über das Gewicht meines Rucksacks verbracht, der schließlich die unerbittlich vorrückende Uhr ein Ende setzte. Einige Ausrüstungsteile sind so noch in letzter Sekunde als verzichtbar identifiziert und aus dem Rucksack entfernt worden. Aber noch immer sind, mit Kamera und Wasser, rund 15 Kilo zum Tragen. Drei Kilo über den in den Reiseführern empfohlenen maximal 12 Kilo. Aber was wissen die schon, was ich brauche? Allen guten Vorsätzen zum Trotz habe ich schließlich nach dem Aufstehen heimlich den Kultur-Nordspanien-Reiseführer wieder in den Rucksack geschmuggelt. Vielleicht merkt er ja nicht, dass er wieder schwerer geworden ist...

Ich genieße mit den Kindern das letzte gemeinsame Morgenessen vor meiner Abreise. Zum Abschied schießen wir im Wohnzimmer noch ein paar Familienfotos. Ich kann mir keinen besseren Start meiner Jakobsweg-Fotoserie vorstellen und so habe ich auf der Speicherkarte meiner Kamera aktuelle Fotos meiner Lieben immer mit dabei. Es folgt eine herzliche Umarmung für alle Kinder, die nach und nach in die Schule gehen. Meine Frau bekommt von mir letzte Instruktionen im Internet-Banking und gemeinsam machen wir am PC noch einige Einzahlungen. Für sechs Wochen wird sie nun auch Finanzministerin sein.

Um 8.45 Uhr nehmen wir den Bus zum Bahnhof. Es ist schönstes Wetter und das vertraute Stockhorn lädt zum Wandern ein. Am Bahnhof wechsle ich nochmals Franken in Euro und kaufe mir, um nicht nur Bargeld bei mir zu haben, eine Cash-Karte. 1988 im Sprachaufenthalt in Los Angeles hantierte ich noch mit Traveller-Checks. Erinnerungen an die Schwierigkeiten beim Einlösen der Checks auf den Banken kommen mir in den Sinn… Auch das Hinterlegen des Generalabonnements geht problemlos und schnell, meine Reisekasse wird um erste zehn Franken erleichtert.

Noch bleibt Zeit für einen letzten Kaffee im Bahnhofbuffet und schon heißt es Abschied nehmen. Mir ist mulmig zumute und meine Frau lächelt tapfer. Durch eine Gruppe Pensionierter bringen wir uns auf dem Perron beim Gleis drei in Position, der Zug fährt ein und schon heißt es Umarmen, Küssen und Einsteigen. Meine Frau mit Tränen in den Augen und schon schließen sich die Türen. Wir winken uns so lange es geht.

Langsam realisiere ich: Es geht los! Sechs unverbrauchte Wochen liegen vor mir. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ähnlich gefühlt habe. Bei aller Wehmut, die sich mit dem Abschied von der Familie verbindet, überwiegt die Freude auf das große Abenteuer. Und ich spüre, wie ich mit der Abfahrt auch ein großes Stück beruflicher Verantwortung hinter mir lasse. Nach 14 Jahren fast ständiger Erreichbarkeit fahre ich bewusst (fast) unerreichbar in die Freiheit. Unbeschreiblich!

Mit solchen Gedanken schaue ich auf die entschwindenden Berge zurück und fühle mich von einer großen Last befreit. Nach Bern zähle ich meine Barschaft: Mit 472.60 Euro und 80 Franken ziehe ich los. Auf der Cash-Karte sind 730 Euro.

Kurz vor Basel schreibe ich ein letztes SMS aus der Schweiz und Minuten später sitze ich schon im TGV, Zug 9204, Wagen 15 auf Sitz 56 am Fenster, Abfahrt in Basel um 11.02 Uhr. Als Mittagessen habe ich mir Brot und Fleischkäse von daheim spendiert. Das Wasser aus heimischem Wasserhahn trinke ich ganz bewusst und mit Gedanken an meine Familie.

Nach Colmar nerven lärmende Kinder im Wagen und ich setze erstmals die Kopfhörer vom iPod auf. Bewusst wähle ich als erstes Lied „Here comes the sun“ von den Beatles. Viele Erinnerungen verbinde ich mit diesem Lied, das mich bei meinem Abflug Anfang Januar 1988 nach Los Angeles begleitet hat. Was habe ich in den Jahren seither alles erlebt!

Meine Gedankenreise wird durch Eindrücke im TGV wieder in die Gegenwart zurückgeholt. Ich stelle Menschenstudien an: Im Wagen eine Gruppe mit älteren, stämmigen Herren aus England. Sie sehen aus wie pensionierte Metzger. Warum und wohin sind sie unterwegs? Zweimal kommt ein etwa 30-jähriger Mann durch den Wagen, spricht alle Leute an und weckt sogar Schlafende. Zunächst will er Münzen, dann beim zweiten Bettelgang eine Zigarette. Ich setze mein „Abwehr-Gesicht“ auf, mit dem ich meist erfolgreich aufdringliche Vertreter, Unterschriftensammler und andere Ärgernisse abwehre und sicherheitshalber verstehe ich auch kein Französisch. So habe ich meine Ruhe.

Und schon bin ich in Paris: Umsteigen. Durch die Gänge der Metro tauche ich mit dem noch ungewohnten Rucksack in den Untergrund von Paris und erdrücke dabei fast eine Reisende. Am Bahnhof Montparnasse bleibt etwas Zeit. Zuerst mache ich mich auf die Suche nach einem Eifelturm-Souvenir für meinen Sohn (ein Wunsch, den er mir mitgegeben hat), kaufe aber schließlich nichts. Einerseits ist meine Lust, chinesische Eifeltürme durch die Pilgerreise zu edlen, nicht eben groß. Und andererseits empfehlen sich die aus lokalem Handwerk stammenden Souvenirs (zentnerschwer!) auch nicht gerade als Wanderbegleiter.

Es folgt ein kultureller Kampf mit den Tücken der bahnhöflichen WC-Anlage. Erlöst werde ich durch die Aufsichtsdame, die mich in die Geheimnisse des Jetons-Bezugs und dessen Verwendung einweiht. Wieder einmal das Falsche in der Schule gelernt. Unweigerlich taucht drängend die Frage auf (die ich gleich wieder verdränge), wie das wohl mit der Hygiene auf dem Jakobsweg bestellt sein wird.

Ich wende mich den lebensnotwendigen Dingen zu und kaufe Kaffee und ein Sandwich. Dann stelle ich mir langsam Überlegungen an, wer im Zug wohl neben mir sitzen wird. Hoffentlich nicht wieder einer wie im letzten Zug, wo mir ein „Schwergewichtsboxer-Typ“ auf einem großen Teil der Strecke fast die ganze Knautschzone genommen hat. Und dann natürlich das Rätselraten, wer von den in der Bahnhofshalle herumschleichenden Rucksackträgern wohl auch als Pilger unterwegs sein wird.

Im Zug 8183 habe ich im Wagen Nr. 5 den Fensterplatz 41. Neben mir ein weiteres Exemplar in mein Reise-Kuriositätenkabinett. Mann, groß und schlank, mit einem Haselnuss-Skistock, weißer Pullover und lange Haare, die er auf der Fahrt immer und immer wieder mit den Händen nach hinten streicht. Er studiert einen mit Symbolen und Kritzeleien übersäten Jahreskalender. Aus welcher Zeitmaschine ist wohl der gefallen?

Draußen saust eine völlig flache Landschaft mit abgeernteten Feldern am Fenster vorbei, es ist stark bewölkt. Die Monotonie macht schläfrig und ich verpasse viel von der Strecke. In Bordeaux-St-Jean hält der Zug und bleibt wegen einer Störung rund 15 Minuten stehen. Der Wagen ist voll und ich bereue, dass ich nicht ein Billett in der 1. Klasse gelöst habe.

Im Sitz vor mir ruiniert sich ein Jugendlicher gerade mit seinem iPod das Gehör und raubt mir als Zugabe die Ruhe. Meine eigene Musik ist unerreichbar im Gepäckträger. So beschäftige ich mich einmal mehr mit der Frage, die mich oft auf Reisen umtreibt: Woher kommen die Leute, wohin fahren sie und weswegen? Tausend Geschichten! Im Wagen ein ständiges hin und her, Ursache ist der im Zug vor unserem Wagen eingereihte Speisewagen.

Draußen fliegen Kilometer um Kilometer Baumplantagen vorbei und ab und zu sind runde Maisfelder, die bewässert werden, zu sehen. Zweimal sehe ich Rehe. Endlich Ankunft in Bayonne, ein Provinzbahnhof. Das Hotel, in dem ich mir schon vor einiger Zeit ein Zimmer reserviert habe, ist schnell gefunden. Ich bekomme ein schrecklich kleines Zimmer, doch ich wage noch nicht an die kommenden Nächte zu denken. Der nächste Fixpunkt wird erst wieder der Rückflug sein, dazwischen reservationsloses, unbekanntes Land!

Kaum bin ich im Zimmer, kommt ein SMS von meiner Frau. Ich verfasse die Antwort und meine jüngste Tochter bekommt ein Gutenachtkuss-SMS.

Zu Fuß mache ich mich auf in die Stadt, kehre aber nochmals um, um meine Kamera zu holen. Die Stadt ist festlich beflaggt, was mir aber bei der Suche nach einem Restaurant nicht eben hilfreich ist. Hungrig lande ich schließlich wieder beim Bahnhof, wo es mir auf Anhieb gelingt, mir am Automaten ein Billett für die Fahrt am kommenden Vormittag nach Saint-Jean-Pied-de-Port zu kaufen. Weniger Glück habe ich am Warenautomaten, der mir die als „Abendessen“ ausgewählten M&M’s erst im zweiten Anlauf ausspucken will.

Müde gehe ich zurück ins Hotel, wo ich schon bald in einen traumlosen Schlaf falle.

2. Tag: Bayonne - Roncesvalles

Mit Napoleon im Nebel

Beim Aufwachen ist mir noch immer nicht ganz klar, auf was ich mich da eingelassen habe. Freudige Erwartung mischt sich mit dem komischen Gefühl, das ich von den Reisen als Kind in die Ferienlager kenne. Warum nur lasse ich das Vertraute hinter mir? Was erwartet mich? Diese Gedanken schiebe ich aber beim Morgenessen zur Seite. Das fehlende Abendessen macht sich bemerkbar und ich schlage am Frühstücksbuffet richtig zu, um mit vollem Magen in den Tag starten zu können.

Schließlich muss ich fast zum Bahnhof rennen, da ich auf dem Hotelzimmer meinen ganzen Zeitvorrat mit dem Ausprobieren verschiedener Pack-Varianten des Rucksacks verbraucht habe. Aber warum soll es hier anders sein als im „normalen“ Leben? Zumindest für mich scheint ein Naturgesetz zu existieren, wonach Bahnhöfe im Laufschritt zu erreichen sind…

Im nicht mehr ganz modernen Zug, der pünktlich um 8.24 Uhr abfährt, sitzen schon mehrere Pilger. Blicke werden getauscht, das Schuhwerk und die Rucksäcke mit kritischem Blick gemustert. Nach der recht monotonen Fahrt von gestern geht es heute durch juraähnliche Landschaft. Ich habe mich noch immer nicht entschieden, was ich heute tun soll. Für eine Nacht in Saint-Jean-Pied-de-Port bleiben oder gleich loswandern?

Trotz bedecktem Himmel entscheide ich mich fürs Wandern. Doch welche Variante? Soll ich den allwettertauglichen einfacheren oder den anspruchsvolleren, aber landschaftlich reizvolleren Weg über die Pyrenäen einschlagen? Ich suche Rat in meinen beiden Reiseführern. In meinen Studien werde ich durch eine ganze Gruppe Kinder abgelenkt, die auf einer Zwischenstation einsteigen. Die Gedanken schweifen zu meinen Kindern.

Und schon trifft der Zug in Saint-Jean-Pied-de-Port ein. Vor dem etwas außerhalb des Städtchens gelegenen Bahnhofgebäude der erste Schreck. Ich habe alles vergessen, was ich über Saint-Jean-Pied-de-Port gelesen habe. Das kann ja heiter werden!

Um mich vor den anderen Pilgern nicht als blutigen Anfänger zu blamieren, lasse ich die Reiseführer in den Tiefen des Rucksacks und laufe einfach in die vermutete Richtung los. Es geht vorbei an Pilgerunterkünften, wo mich der Blick auf die eng stehenden Kajütenbetten mehrmals leer schlucken lässt. Ob das wohl ein guter Plan ist, höchstens einmal pro Woche in einem Hotelzimmer zu übernachten?

Trotz solcher Überlegungen finde ich auf Anhieb das offizielle Pilgerbüro, der wahre Ausgangspunkt meiner Pilgerreise. Mehrere ältere Damen sind damit beschäftigt, die „frischen“ Pilger abzufertigen. Ich erhalte einen Zettel und muss den Zweck meiner Reise deklarieren: Religiös, religiös/kulturell oder andere Gründe. Sicherheitshalber halte ich mich an die Mitte, etwas göttlicher Beistand kann nicht schaden. Und schon ziert der erste echte Pilgerstempel meinen Pilgerpass.

Auf meine Frage, ob das Wetter den Weg über die Route Napoléon zulasse, werde ich beruhigt. Ja, das gehe schon, es tröpfle höchstens ein wenig. Beruhigt mache ich mich auf den Weg und kaufe im Städtchen eine Tomate, eine Birne und ein Brot. Unsicher, was ich so an Lebensmitteln brauchen werde, kommen einen Laden später auch noch ein Sandwich und Mineralwasser dazu. Und schon beginnt auch der Nieselregen. Bravo!

Vorerst stapfe ich ohne Regenschutz los, für die paar Tropfen lohnt es nicht. Brennender ist die Frage, wo es zur Route Napoléon geht. Ganze Wälder von Wegweisern zeigen in alle Himmelsrichtungen und Tafeln warnen davor, bei schlechtem Wetter eben jene Route Napoléon einzuschlagen. Doch wo diese und wo die Alternativroute sein soll, ist mehr als unklar. Ratlosigkeit ist auch in den Gesichtern der anderen Pilger abzulesen.

Ich schlage die, wie ich nach mehreren Kontrollblicken in den Reiseführer meine, mutmaßlich richtige Richtung ein und ziehe los. Schnell geht es streng aufwärts. Ich suche nach dem richtigen Tritt, überhole andere und werde überholt. Ein top ausgerüsteter „Hightech-Japaner“ fällt schnell weit zurück, ob er es schafft?

Es nieselt immer mehr und die beschriebene traumhafte Aussicht lässt sich durch die tiefhängenden Wolken und den aufziehenden Nebel nur erahnen. Feuchtigkeit umgibt mich immer mehr, bis ich mich schließlich geschlagen gebe und unbeholfen meinen roten Poncho überziehe – und dadurch erst recht zu schwitzen anfange.

Bald verwende ich den Poncho nur noch als Schutz für den Rucksack und ziehe dafür die Regenjacke an. Es geht weiter steil hinauf, von 163 auf 1430 Meter über Meer. Immer mehr Nebel! Zeitweise sehe ich die Wegmarken kaum mehr und muss den Weg erraten. Jetzt wird mir auch klar, wieso bei schlechtem Wetter von diesem Weg abgeraten wird. Wie zur Warnung liegt nun auch noch ein Skelett in der Wiese, zum Glück nur von einem Schaf. Schemenhaft tauchen am Wegrand weidende Pferde auf. Das Wasser und Essen schier unerreichbar im Rucksack, die nasse Brille stört mich schon nicht mehr.

Ein SMS aus dem Büro mit einer schnell beantworteten beruflichen Frage erinnert mich daran, dass es noch ein Leben davor gab. Eine richtige Schinderei, nichts ist zu sehen. Ich hadere mit mir und meiner Pilgerreise. Warum nur tue ich mir das an?

Etwas vor der Passhöhe Rätselraten um den weiteren Weg. Er verlässt die feste Straße und führt an Schafen und einer windschiefen Schutzhütte vorbei ins neblige Nichts. Ein schon lange nicht mehr gekanntes Gefühl von Hilflosigkeit und Verlorenheit stellt sich ein.

Ich erlebe am eigenen Leib das Gedicht „Im Nebel“ von Hermann Hesse:

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Einsam ist jeder Busch und Stein,

kein Baum sieht den andern,

jeder ist allein.

Auf der Passhöhe treffe ich zu meiner Erleichterung auf ein paar rastende Spanier, also doch der richtige Weg. Der Abstieg geht durch leichtes Schaudern auslösende Wälder! Sind das Bäume oder verzauberte Wesen? Seltsame Gebilde, ganz krumm gewachsen und im Nebel nur in ihren Umrissen erkennbar.

Ein Spanier schließt zu mir auf und spricht mich an. Ich aber habe genug am Weg zu beißen und stelle mich stumm. Der Abstieg ist schwierig. Der Weg besteht zeitweise nur noch aus Morast. Den schlimmsten Stellen weiche ich mit abenteuerlichen Umwegen im steilen Gelände aus. Ich bin zum ersten Mal froh um meine beiden Wanderstöcke und die wasserdichten Bergschuhe. Die Spanier mit ihren Turnschuhen wissen kaum noch, wie dem Sumpf ausweichen.

Ein Wegweiser stellt mich vor die Wahl, eine kurze, noch steilere Abkürzung nach Roncesvalles oder die etwas längere „Luxusvariante“ zu nehmen. Ich habe von allem genug, möchte endlich ankommen und so ist die Wahl schnell getroffen. Plötzlich bin ich wieder ganz allein unterwegs, die anderen scheuen wohl den steil abfallenden Weg.

Dann endlich sehe ich durch die Bäume das Dach des Klosters Roncesvalles und die Zivilisation hat mich wieder. Das Pilgerbüro ist rasch gefunden und an einem langen Tisch fülle ich einen Fragebogen aus und bekomme für sechs Euro einen Zettel, der mich zur Übernachtung im Refugio berechtigt.

Vorbei an „normalen“ Touristen, noch eine Straße überqueren und ich werde von einem älteren Holländer mit Bart in Empfang genommen. Ein riesig großer Schlafsaal mit 100 Betten lässt mich leer schlucken. In der hintersten Ecke wird mir ein oberes Bett zugeteilt. Doch das Wichtigste ist: Endlich aus den Schuhen! Glück gehabt, keine Blasen.

Um 19 Uhr Pilgerabendessen im Restaurant für neun Euro. Ich bin mit einem Franzosen, einer Holländerin und einer Belgierin am Tisch. Es gibt Fisch mit Kopf – eine Herausforderung! Dazu Teigwaren, Pommes, Wasser und Rotwein. Nicht schlecht. Wir unterhalten uns über den Weg und die kommende Tagesetappe.

Nächste Station ist heute aber die Klosterkirche. Der angekündigte Pilgersegen entpuppt sich als halbstündiges Predigtritual, mit Abendmahl nur für Katholiken (worauf extra mehrsprachig hingewiesen wird). So bleibe ich an meinem Platz und denke mit etwas Wehmut an die unkompliziert funktionierende Ökumene zu meiner Pfadfinderzeit (als Reformierter ging ich zu den katholischen Pfadfindern), als das gemeinsame Abendmahl zum Beispiel im Pfingstlager unter freiem Himmel noch eine Selbstverständlichkeit war.

Doch noch mehr als über den Ausschluss vom Abendmahl nerve ich mich über den Küster, der während eines Gebets hartnäckig fordernd mit dem Klingelbeutel die Bankreihen abklappert. Wo liegen da wohl die Prioritäten?

Für den Pilgersegen dürfen dann schließlich alle nach vorne, der Segen wird sogar auch auf Deutsch erteilt. Mit dem Segen „in der Tasche“ eile ich sofort zurück in die Herberge und kann noch vor dem großen Ansturm an einem der wenigen Lavabos meine Zähne putzen. Und ich bekomme einen ersten Vorgeschmack auf das Naturgesetz, wonach die WC-Anlagen in den Herbergen grundsätzlich knapp bemessen sind.

Punkt 22 Uhr ist Lichterlöschen. Ich bin einfach nur froh, die Plagerei hinter mir zu haben und – wenn auch noch ungewohnt – im Schlafsack liegen zu können.

Kurz vor Mitternacht erwache ich und sehe, dass meine Stellvertreterin mir nachts um halb elf ein besorgtes SMS geschickt hat. Offenbar bin ich im Schlafsack auf eine Taste beim Mobiltelefon gekommen und habe ihr Stille aus meinem Schlafsack auf den Anrufbeantworter übertragen. Ich kläre mein Missgeschick per SMS auf und gewöhne mir ab diesem Zeitpunkt an, die Handytastatur immer zu sperren. Aber es ist ein gutes Gefühl:

Man sorgt sich um mich.

3. Tag: Roncesvalles - Zubiri

Puerto-ricanische Yogalehrerin und Junket

Um 5.30 Uhr geht der erste Wecker im Saal. Ich döse noch ein wenig weiter, bis um 6 Uhr das Licht angeht und Musik aus Lautsprechern ertönt. Jetzt hält es mich nicht mehr im Bett und vorbei an den in ihren Schlafsäcken zum Leben erwachenden Pilgern eile ich zu den Sanitäranlagen im Untergeschoss, um erfolgreich dem großen Ansturm zuvor zu kommen.

Draußen ist es noch dunkel und bewölkt. Zurück beim Bett die große Frage, was ich anziehen soll. Erste Pilger mit Stirnlampen ziehen los. Ich fülle meine Trinkflasche mit Wasser, ziehe vorsorglich die Regenjacke an und lasse den Pullover im Rucksack.

Es rächt sich dann, dass ich am Vorabend nicht mehr nach dem am Morgen einzuschlagenden Weg gesucht habe. Doch ich bin nicht allein, auch andere suchen nach dem Weg. Nicht gerade ermutigend ist ein Straßenschild, das noch fast 800 Kilometer bis Santiago de Compostela anzeigt. Ich hingegen brauche nur 100 Meter, bis wieder Regen einsetzt.

Unter einem Garagendach suche ich Schutz und montiere den Poncho. Im Regen geht es über Weidelandschaften mit Kühen, vereinzelt betonierte Wegstücke, oft aber auch Wege, die nur aus Geröll und Schlamm bestehen. Ich sehe viele Pilger mit Turnschuhen und Sandalen und bin froh um meine Wanderschuhe, die schön dichthalten. Der Regen wird immer stärker. Etwas geschützt mache ich unter einem Baum kurz Rast und esse vom Brot von gestern, hat sich das Mitnehmen doch gelohnt.

Um mich zu beschäftigen zähle ich die Schritte. Es ist schwierig, die Distanzen zu schätzen. In einem Laden kaufe ich einen Joghurtdrink und eine kleine Flasche Mineralwasser. Den Joghurtdrink leere ich fast in einem Zug, das Mineralwasser befestige ich außen am Rucksack. Die Trinkflasche im Rucksack ist bei diesem Wetter einfach zu schlecht zugänglich. Um Gewicht zu sparen leere ich die halbe Flasche aus.

Das Gehen wird mühsamer und bei jedem Schritt schmerzt mir der ganze Körper. Mehrmals werde ich von Radfahrern überholt, die meistens ohne Gepäck an mir vorbeisausen. Auch einige laut schwatzende Spanier mit kleinen Rucksäcken überholen mich (schon mehrmals habe ich Werbung für Pilger-Gepäcktransport gesehen). Aber so ist es doch nicht mehr „echt“!

Ich hadere mit mir. Warum bin ich bloß auf die Idee mit dem Jakobsweg gekommen? Auf mehrere laut in den Regenhimmel geschimpfte Kraftausdrücke zeigt sich kurz die Sonne, um aber gleich wieder dem Regen Platz zu machen.

Durchhalten! Weiter!

Hunger plagt mich und ich werfe die fein säuberlich ausgedachte Traubenzucker-Rationierung über Bord. Wenn ich in dem Tempo weiter esse, reichen die kaum eine Woche! Aber: Wo soll man hier bitteschön essen? Alles ist nass!

Ich denke an die ersten, völlig verregneten Familienferien mit meiner Mutter und meinen Brüdern auf der Sellamatt im Toggenburg. Meine Arbeit ist schon weit weg, völlig unwirklich. Wie viele Pilger sind den Jakobsweg wohl schon gewandert und haben ähnlich Strapazen erlebt? Halte ich durch? Ich mag mit niemandem reden. Warum tue ich mir das an?

Die Kamera funktioniert wieder klaglos, gestern gab es einige Male fehlerhafte Anzeigen beim Akkustand (nach einem Bild zeigte es schon einen leeren Akku an). Vermutlich die alles durchdringende Feuchtigkeit. Und dann die quälende Frage: Wo im Rucksack sind meine Kaugummis?

Wieder geht es abwärts durch Geröll und Schlamm und eigentlich müsste ich auf die Toilette, doch wo? Ein Schild kündigt in 3,7 Kilometer Entfernung das Städtchen Zubiri an, wo ich dann schließlich um 13 Uhr ankomme.

Meine Fingerkuppen sind vor Nässe wie nach einem langen Bad aufgequollen. Die erste (teure) Herberge ist schon voll, in der städtischen Herberge sind noch Betten frei.

Zunächst ist dort aber nicht so klar, wie es funktioniert. Auf Spanisch wird mir etwas erklärt, ich verstehe nur Bahnhof. Aber ich fasse es als Einladung auf, in einem der beiden Säle mit je 26 Betten einen Schlafplatz auszuwählen, was ich auch sofort mache (ein unteres Bett).

Später lese ich auf einem Zettel, dass erst am späten Nachmittag die Pilgerpässe gestempelt werden. Sofort gehe ich unter die Dusche, welche sich in einem kleinen Nebenbau befindet. Die größte Herausforderung in der altersschwachen Anlage ist, wie man seine Kleider trocken deponiert. Die Dusche spritzt in alle Himmelsrichtungen!

Ein erstes Mal wasche ich meine Kleider von Hand und hänge sie an die dem Haus entlangführenden Leinen. Ein auf dem Vorplatz befindlicher Schuhputzbrunnen zeugt davon, dass die heutige Schlammpartie wohl kein Einzelfall darstellt. Immerhin bin ich froh, dass ich dort meine Schuhe von der dicken Dreckschicht befreien kann. Innen sind sie noch immer schön trocken.

Als ich mich schließlich ins Dorf aufmache, sind dort alle Läden geschlossen: Siesta. In einem Restaurant trinke ich einen Kaffee. Und noch immer habe ich nichts gegessen. Zurück zur Herberge. Dort haben sie in der Zwischenzeit auch die Turnhalle bei der Herberge geöffnet. Matratzen liegen am Boden. Beide Schlafsäle mit den je 26 Betten sind bereits voll belegt. Es treffen nun auch Erwachsene mit Kindern ein.

Eine klapprige Internetstation schluckt zwar meine Euromünze, tut aber keinen Wank. Wohl ein Zeichen! Spontan beschließ ich, bis zum Abschluss der Wanderung internetlos zu leben.

Ich erkunde die Umgebung der Herberge und trinke im Restaurant der nahen Sporthalle einen Fruchtsaft. Die hygienischen Verhältnisse halten mich jedoch – trotz langsam quälendem Hunger – von einem Ernährungsversuch ab. Wie soll ich das so sechs Wochen durchstehen? Vermutlich muss ich bei meinen Qualitätsansprüchen Abstriche machen. Aber noch nicht heute!

So gehe ich zum Abendessen zurück ins Dorfzentrum. Im einzigen Hotel mit Restaurant kostet das Menu 19 Euro, weit über meinem Budget. Also wieder in die Bar, wo ich schon den Kaffee getrunken habe. Die scheint der Treffpunkt des Ortes zu sein. Für das Abendessen bin ich noch zu früh. Ich bestelle mir eine Cola um die Wartezeit zu überbrücken. Auf dem Barhocker sitzend betreibe ich Menschenstudien und verstehe kein Wort von dem, was rund um mich gesprochen wird. Das kann ja heiter werden!