Von Aschenputtel bis Rotkäppchen - Christian Feldmann - E-Book

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Christian Feldmann

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Beschreibung

Märchen als Mutmacher auf dem abenteuerlichen Weg durchs Leben

- Die 10 bekanntesten Grimm’schen Märchen neu erzählt
- Ein Ausflug in die moderne Märchendeutung – interessant, anregend und verblüffend

Was steckt eigentlich hinter den Erzählungen von Aschenputtel, Hänsel und Gretel oder dem Froschkönig? Sind dies nur aufregende Geschichten für Kinder; Volksmärchen ohne Bedeutung und Hintergrund?
Christian Feldmann erschließt ungewohnte Zugänge zu den bekanntesten deutschen Märchen. Amüsant und informativ sind seine Ausführungen und Interpretationen. Er bringt eine erstaunliche Bandbreite an Botschaften und Symbolen zum Vorschein. Ein Buch, das alle Märchenliebhaber mit Gewinn lesen werden

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Seitenzahl: 283

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Inhaltsverzeichnis
 
VON DER WAHRHEIT DER LUFTSCHLöSSER - Wie die Märchen Mut zum Leben machen
»Weggeschichten« als Experimentierfeld
Die Zwänge der Wirklichkeit durchbrechen
Wie im Western siegt das Gute
Märchenhelden dürfen schwach sein
Warum der »Dumme« den Schatz findet
 
VERBORGENE SCHäTZE HEBEN - Wie die Brüder Grimm gearbeitet haben
Vom König aus dem Land gejagt
»Es war einmal« ist keine Volkspoesie
 
Copyright
VON DER WAHRHEIT DER LUFTSCHLöSSER
Wie die Märchen Mut zum Leben machen
Anfang des 19. Jahrhunderts setzte die Wiener Zensurbehörde ausgerechnet Grimms Märchen auf den Index der verbotenen Bücher. Begründung: Sie seien zu abergläubisch. Fortschrittliche Pädagogen ließen in den wilden 68ern ebenfalls kein gutes Haar an den überlieferten Märchensammlungen. Ihre Argumente hörten sich natürlich ganz anders an: Die Märchen verführten zur Flucht aus der Realität; statt Wahrheit ein verlogenes Wolkenkuckucksheim; statt Lebensweisheit Rückzug in ein von Königen, Hexen und Zwergen bevölkertes Traumland; statt Erziehung zur Weltgestaltung Konfliktscheu und fehlgeleitete Fantasie.
Im Reich der Brüder Grimm entdeckte die Märchenkritik autoritäre Familienbilder, frauenfeindliche Rollenzwänge und gefährliche Gehorsamsideale. Märchenkönige werden von niemandem kontrolliert, Märchenkinder haben brav zu sein, flei ßige Aschenputtel warten auf den schönen Prinzen und am Ende wird alles ganz von selber gut. Muss ein Erwachsener, der als Kind mit solchen Wunschbildern gefüttert wurde, nicht zwangsläufig die Lust verlieren, für humanere gesellschaftliche Strukturen zu kämpfen?
Umso erstaunlicher wirkt die Märchenrenaissance, die in den letzten Jahren auf breiter Front einsetzte. Plötzlich entdeckte man befreiende, Mut machende Energien in den gerade noch verachteten Geschichten. Luden die Märchenhelden nicht dazu ein, sich vom Elternhaus mit seinen Kontrollzwängen zu lösen, selbstständig zu werden und sich selbst zu verwirklichen, kreativ Abenteuer zu bestehen und die Macht der Verhältnisse mit List und Mut zu unterlaufen?
Der aufgeklärte Marxist Ernst Bloch fand für sein Prinzip Hoffnung keine besseren Beispiele als die »revolutionären Elemente« in den alten Volksmärchen. Bloch, der Querdenker, staunte: »Als der Bauer noch in Leibeigenschaft lag, eroberte der arme Märchenjunge des Königs Tochter. Als die gebildete Christenheit vor Hexen und Teufeln zitterte, betrog der Märchensoldat Hexen und Teufel von Anfang bis Ende (nur das Märchen pointiert den ›dummen Teufel‹). Gesucht und gespiegelt wird das goldene Zeitalter, wo bis ganz hinten ins Paradies hineinzusehen war. Aber das Märchen lässt sich von den heutigen Paradiesbesitzern nichts vormachen; so ist es aufsässig, gebranntes Kind und helle. (…) Im Märchen ›Der Gevatter Tod‹ bietet sich einem armen Mann der liebe Gott selbst als Gevatter an, aber der arme Mann antwortet: ›Ich begehre dich nicht zum Gevatter, denn du gibst dem Reichen und lässt den Armen hungern.‹ Hier überall, in Mut wie Nüchternheit wie Hoffnung, ist ein Stück Aufklärung, lange bevor es diese gab.«1
»So fantastisch das Märchen ist, so ist es doch, in der Überwindung der Schwierigkeiten, immer klug.«2 Ernst Bloch

»Weggeschichten« als Experimentierfeld

Gewiss hängt die Aufwertung der Märchen auch mit der wieder erwachten Sehnsucht nach der guten alten Zeit zusammen, mit dem Bedürfnis nach Idylle und heiler Welt. Doch das allein wäre eine oberflächliche Erklärung. Märchen sind wieder »salonfähig« geworden, weil man erkannt hat, dass Kinder Fantasie nötig haben, wenn sie nicht innerlich verkümmern wollen. Dass sie selbst Geschichten erfinden müssen, um mit den Problemen des Lebens fertig zu werden, ihre Wünsche und Ängste zu bewältigen.
So begründet der amerikanische Kinderpsychologe Bruno Bettelheim seine These »Kinder brauchen Märchen« - denn Märchen enthalten das Menschheitserbe an Fantasie. Man müsse dem Kind Möglichkeiten geben, sich in der so kompliziert erscheinenden Welt zurechtzufinden und im Chaos seiner Gefühle Ordnung zu schaffen. Bettelheim: »Um den Wechselfällen des Lebens nicht hilflos ausgeliefert zu sein, muss man seine inneren Kraftquellen erschließen, so dass Gefühle, Fantasie und Intellekt einander unterstützen und bereichern.«3
»Auf einer Dorfstraße trafen sich eines Tages die Wahrheit und das Märchen. Das Märchen bunt gekleidet und fröhlich, die Wahrheit abgehärmt und im grauen Gewand. Die Wahrheit klagte, ach, niemand wolle sie einlassen. Das Märchen erwider te, weil es sich so farbig und heiter gebe, lasse es jedermann gern zur Tür herein, und es brauche nicht zu darben.’Mach es wie ich’, riet das Märchen der Wahrheit - und so erscheint die Wahrheit nun im Märchengewand.«
Aus der jüdischen Tradition
Märchen als Orientierungshilfe, als Experimentierfeld für die eigene Lebensplanung - wer möchte behaupten, dass das nur für Kinder gilt? Märchen enthalten gleichnishaft, in verschlüsselter Form, die Grundsituationen menschlichen Lebens: Ablösung von den Eltern, Rivalität der Geschwister untereinander, Annahme der eigenen Geschlechtsrolle, Entdeckung der Sexualität, Partnerfindung, Trauerarbeit nach dem Abschied von einem geliebten Menschen. Es ist ein zeitloses Stück, das da in tausend Variationen und im Kern doch immer gleich auf der Bühne des Märchentheaters gespielt wird.
Weil es meist um das Erzählen eines Reife- oder Wandlungsprozesses geht, hat man die Märchen »Weggeschichten« genannt: Der Märchenheld - oft ist es auch eine Heldin - muss sich auf einer abenteuerlichen Reise bewähren, Widerstände überwinden, um den Platz in der Welt und in sich selbst zu finden. Dazu gehören die Ablösung vom bergenden Nest, die Konfrontation mit fremder Not, die Begegnung mit anderen Menschen, das Erleben eigener Ohnmacht, aber auch ungeahnter Kräfte im eigenen Innern, oft genug das Erscheinen eines geheimnisvollen Helfers, am Schluss die erlösende, mühsam zu vollbringende Tat und das darauf folgende Glück, ein Fest, eine fröhliche Hochzeit - »und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«

Die Zwänge der Wirklichkeit durchbrechen

Greifen wir irgendein Märchen heraus, das jeder kennt, um es so - als »Weggeschichte« - neu zu lesen und unsere eigenen Erfahrungen darin wieder zu finden: das Märchen vom Aschenputtel. Es ist die klassische Geschichte einer Reifung. Zwei Menschen, die in ihren Rollen gefangen sind, wachsen zu ichstarken, selbst über ihr Leben entscheidenden Persönlichkeiten. Zunächst traut sich das Aschenputtel nichts zu, findet es offenbar ganz in Ordnung, dass es in die Küche verbannt ist und dort die niedrigsten Dienste leisten muss. Aber dann entwickelt es sich zu einer selbstbewussten Frau mit Ausstrahlung.
Doch auch der Königssohn muss reifen: Er, dem bisher alles zugeflogen ist, muss lernen, sich selbst etwas einfallen zu lassen und zu handeln. Er lernt es in der Begegnung mit dem verschüchterten Aschenputtel, das gehorsam die Magdrolle spielt und auf den Supermann wartet, der es aus seinem Mauerblümchendasein erlösen wird. Es hat vor Kurzem erst seine Mutter verloren, die einzige, die ihm Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit geschenkt hat. Jetzt igelt es sich scheinbar ganz in seiner Trauer ein, flüchtet jeden Tag zu ihrem Grab, richtet alle Energie nach innen.
Gerade in dieser intensiven Beziehung zur toten Mutter aber findet es die Kraft, sich dem Leben zu stellen! Denn Aschenputtel wartet keineswegs passiv-duldend auf seinen Prinzen, sondern wird selbst aktiv - mit erstaunlicher Energie. Als der Königssohn ein großes Fest zum Zweck der Brautschau veranstaltet, muckt das in seinem Küchenwinkel vergessene Mädchen zum ersten Mal auf: Es lässt sich von der Stiefmutter nicht mehr einsperren und nimmt gegen ihr Verbot am Hofball teil. Am Grab der Mutter, aus dem ein Haselnussbaum wächst - ein Symbol wunderbarer Weisheit -, erhält Aschenputtel Kleider von zauberhafter Schönheit, mit denen es den Königssohn betören wird: »Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich!«
Die Kleider strahlen wie Sonne, Mond und Sterne - Sinnbild für das Weibliche in seiner vollkommenen Gestalt. Aschenputtel ist aus der Hülle des verschüchterten Kindes geschlüpft und zur Frau geworden, die sich ihrer Schönheit und Kraft bewusst ist und für ihre Interessen kämpft. Aber der Königssohn muss schon auch etwas tun: Sie entwischt ihm mehrfach nach dem Tanz und gibt ihm damit ein Rätsel auf, sie inszeniert eine Probe, die er bestehen muss, um sich ihrer würdig zu erweisen. Seine Königsmacht hilft ihm dabei gar nichts. Erfindungsreichtum, List und Scharfsinn sind gefragt - und die Ausdauer, die nur ein Verliebter hat. Der Prinz besteht die Probe, und es gibt eine prächtige Hochzeit.

Wie im Western siegt das Gute

Wer keine Fantasie hat und nur die nackte Realität gelten lässt, kann in dem Märchen nur zwei völlig Verrückte erkennen: eine Küchenmagd, die Königin werden will, und einen Prinzen, der landauf, landab seine Traumfrau sucht. Wer aber lernt an sich selbst zu glauben und fähig wird zur einfühlenden Liebe, braucht sich nicht mehr von der tristen Realität gefesselt zu fühlen.
Damit haben wir eine weitere wichtige Funktion des Märchens entdeckt: Wenn das Wunderbare möglich wird, wenn Wünsche wahr werden und Träume in Erfüllung gehen, dann lässt sich der lähmende Zwang der Wirklichkeit durchbrechen. Das Gute kann siegen, das Böse entwurzelt werden. Das Märchen sprengt die gewohnten Erwartungshaltungen auf. Es lädt dazu ein, sich überraschen und verwandeln zu lassen. Glückskinder und Pechvögel bleiben im Märchen selten, was sie sind: Es gibt die Chance, schicksalhafte Festlegungen zu verändern.
Das klassische Volksmärchen und der typische Western haben eines gemeinsam: Am Ende siegt das Gute, und das Böse wird vernichtet. Was dem Kind - und auch noch dem erwachsenen Leser - das sogenannte Urvertrauen ermöglicht: Ich darf dem Leben trauen, die Welt hat Sinn, trotz aller unvermeidlichen Enttäuschungen. Zweitens sind Gut und Böse im Märchen keineswegs immer schon von vornherein sauber festgelegt. Held oder Heldin machen Fehler, zeigen Schwächen - und entwickeln ihren Charakter. Drittens siegt das Gute nur selten von allein. Es muss gekämpft, es müssen Opfer gebracht werden.
Das Märchen ist kein Ersatz für das Handeln. Nicht von ungefähr beginnt das Märchen vom Froschkönig mit leisem Spott: »In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat …«. Denn das bloße Wünschen und Träumen genügt keineswegs. »Die von den Märchen entworfene Welt«, erläutert der Märchenforscher Max Lüthi, »ist nicht ein Schlaraffenland, sondern ein Reich der Aufgaben, des Handelns, des Geschehens.«4
Heil ist diese Märchenwelt ganz und gar nicht, in der es von hasserfüllten Stiefmüttern, neidischen Schwestern, blutrünstigen Nachtgestalten nur so wimmelt. Aber die schlimmen Verhältnisse lassen sich ändern, die verwunschenen Opfer von Hass und böser Macht können erlöst werden - durch Mut, List und die Kraft des Herzens.

Märchenhelden dürfen schwach sein

Nein, das Märchen entführt sein Publikum nicht in ein konfliktfreies Land der Träume. Es gibt ihm Kraft, sich mit all den dunklen Seiten des Lebens auseinanderzusetzen. Märchen enthalten die Einsicht, dass auch das Scheitern zum Weg gehört: Nicht nur die Bösewichter gehen zu Grunde, auch der Held versagt, ist bisweilen schwach - und wird dadurch oft genug reifer und tiefer. Sogar das liebenswerte kleine Rotkäppchen trägt die Möglichkeit zum Schuldigwerden in sich und irrt vom vorgezeichneten Weg ab.
Das Märchen warnt vor dem Bösen, aber es rät nicht zum ängstlichen Davonlaufen. Der Bursche, der auszog, das Fürchten zu lernen, kegelt im verwunschenen Schloss mit Gespenstern, nimmt den Anführer der bösen Geister gefangen und setzt Leichen ans Feuer, damit sie sich auch einmal wärmen können. Und das Mädchen, das von seinem Vater in höchster Not einer wilden Bestie versprochen worden ist, tröstet den weinenden Papa und verkündet mutig: »Liebster Vater, was Ihr versprochen habt, muss auch gehalten werden; ich will hingehen und den Löwen schon besänftigen, dass ich wieder gesund zu Euch komme.«
Wer hat bloß den unsinnigen Vorwurf erfunden, dass Märchen Angst und Gespensterfurcht lehren? Machen sie nicht eher Mut, sich Widerständen und Gefahren zu stellen, sich vertrauensvoll auf den abenteuerlichen Lebensweg zu begeben? Der Pfad zur Erlösung führt durch finstere Urwälder und tückische Sümpfe, den gläsernen Berg hinauf oder in die Höhle des todbringenden Drachen. Erlösende Kraft hat dabei immer die Liebe, der keine Entbehrung zu hart ist: Um ihre sechs in Schwäne verwandelten Brüder zu erlösen, darf die Königstochter sechs Jahre lang nicht sprechen und nicht lachen, bis sie sechs wundertätige Hemden aus Sternblumen zusammengenäht hat.
Liebe ist die einzige Kraft, welche die ewig gleiche Kettenreaktion aus Gewalt und Hass aufbrechen kann. Als Ende der Entfremdung, als befreiende Rückverwandlung aus einer verdorbenen Existenz definiert auch das Märchen Erlösung. Der Froschkönig muss in dem Moment nicht mehr Frosch sein, als er um seiner selbst willen geliebt wird. In einem anderen Märchen wird die den verlorenen Mann suchende Frau in dem Augenblick zur Erlöserin, als sie ganz sie selbst geworden ist.

Warum der »Dumme« den Schatz findet

Wer zuerst »verhext« war, und damit gezwungen und getrieben, sich destruktiv zu verhalten, wird zu sich selbst befreit. Diese Erlösung kann man sich verdienen - durch beharrliches Bemühen, durch Engagement und Solidarität, durch Mut und List wie in der Geschichte vom tapferen Schneiderlein, das auch in ausweglosen Situationen seine Geistesgegenwart nicht verliert. Manchmal bekommt man Erlösung aber auch einfach geschenkt - wie das kleine Mädchen in den »Sterntalern«, das nichts mehr besitzt als seine armseligen Kleider und ein Stück Brot und sich dennoch voller Vertrauen auf den Weg macht. Als es dann auch noch Brot und Leibchen und Röckchen herschenkt und gar nichts mehr hat, »da fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte blanke Taler«.
Es ist nur folgerichtig: Wenn sich im Märchen die gemeinsamen, »kollektiven« Erinnerungen der Menschheit verdichtet haben, dann auch ihre religiöse Sehnsucht und Erfahrung. Märchen erzählen von der Suche nach dem endgültigen Glück, sie fragen nach dem Wert des Lebens, nach dem Sinn von Leid und Tod. Sie lassen uns wieder daran glauben, dass sich das Gutsein lohnt, dass Liebe befreit und dass wir dem eigenen Schicksal, dem Leben trauen dürfen.
Die Märchen erzählen von geheimnisvollen Brunnen, Bäumen und Wäldern, von tief in der Erde vergrabenen Schatzkisten, von glitzernden Juwelen in Grotten und Berghöhlen - lauter Chiffren für Leben, Erkenntnis, tiefstes menschliches Glück. Es ist schon verborgen da, dieses Glück, der Sinn, das Heil, hier auf der Erde, sagen die Märchen. Meist sind es armselige, verachtete Tröpfe, die den Schatz heben dürfen. Aschenputtel wird aus dem Staub erhoben, Hans im Glück macht von Mal zu Mal einen schlechteren Tausch und wird doch immer fröhlicher dabei, der jüngste und scheinbar naivste der Königssöhne findet das Wasser des Lebens für seinen todkranken Vater. »Die Letzten werden die Ersten sein«, sagt die Bibel, die selbst voller Märchen ist.
Doch Vorsicht mit dem Trugschluss, hier werde der einfältige Dummerjan selig gepriesen! Der vermeintlich Törichte verfügt nämlich über ganz besondere Gaben: Er weiß um seine Grenzen, ist realistisch, kann Hilfe annehmen. Er besitzt Intuition und Einfühlungsgabe, kann sich flexibel auf neue Situationen einstellen, aus dem Panzer der Tüchtigkeit und Selbstgerechtigkeit heraustreten - im Gegensatz zum arroganten Protz - und die Stimme des Unbewussten ebenso wahrnehmen wie die Not der Mitmenschen und ihre Hilfsangebote.
Zahllos sind die Geschichten, in denen drei Brüder in die Welt hinauswandern, um ihrem Vater ein Heilwasser zu bringen, den goldenen Vogel zu fangen oder ihre Befähigung zum Erbe nachzuweisen. Alle diese Geschichten laufen auf dieselbe Pointe hinaus: Immer bewährt sich derjenige von den dreien, der unterwegs irgendwelchen unscheinbaren Tieren hilft, sein Essen mit einem alten Männlein teilt, sich der Not der Kreatur mitfühlend zuwendet. Die Botschaft ist eindeutig: Nur wer sich anderen zuwenden kann, wird am Ende König. Wer sich anderen öffnet, wird in seinem Leben einen Sinn finden. Vielleicht sogar einen Schatz.
VERBORGENE SCHäTZE HEBEN
Wie die Brüder Grimm gearbeitet haben
Eigentlich waren sie zu sechst, die »Brüder Grimm« aus dem hessischen Hanau. Aber bis heute bekannt und populär sind nur Jacob Grimm (1785 - 1863) und Wilhelm Grimm (1786 - 1859). Der Vater war Jurist und Amtmann, die beiden studierten Rechtswissenschaft in Marburg, wo sie ihr Lehrer Friedrich Carl von Savigny weniger für die Gesetzbücher, sondern für die Romantik und den Minnesang begeisterte.
Als Bibliothekare in Kassel, in nicht besonders guten Verhältnissen lebend und von Gönnern gefördert, begannen die »Brüder Grimm« wie besessen Märchen und Sagen zu sammeln, was im Trend der Zeit lag: Nachdem die Aufklärung über »Aberglauben« und »Ammenmärchen« gehöhnt hatte, entdeckten universal gebildete Vordenker wie Johann Gottfried Herder (1744 - 1803) den Erfahrungsreichtum und literarischen Wert der (internationalen) Volkspoesie neu. 1782 hatte der Weimarer Schriftsteller und Literaturkritiker Johann Karl August Musäus die erste deutsche Märchensammlung veröffentlicht.
Die Brüder Grimm waren also nicht die ersten, die volkstümliche Überlieferungen sammelten und alte Märchen neu erzählten. Aber sie fanden - mit jeder neuen Fassung und Auflage ein Stück mehr - jenen unverwechselbaren Ton, der ihre Bücher zu Klassikern machte. Schon vor dem Erscheinen des ersten Märchenbandes hatten sie die Sammlungen Altdeutscher Meistersang und Altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen veröffentlicht und an der Liederedition Des Knaben Wunderhorn mitgearbeitet.

Vom König aus dem Land gejagt

Ihr Motiv war ein zweifaches: Zum einen wollten sie mithelfen, die mündlich überlieferten Geschichten zu retten, bevor es zu spät war. Wilhelm Grimm 1812 mit leiser Melancholie in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen: »Es war vielleicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltener werden (freilich, die sie noch wissen, wissen auch recht viel, weil die Menschen ihnen absterben, sie nicht den Menschen), denn die Sitte darin nimmt selber immer mehr ab, wie alle heimlichen Plätze in Wohnungen und Gärten einer leeren Prächtigkeit weichen, die dem Lächeln gleicht, womit man von ihnen spricht, welches vornehm aussieht und doch so wenig kostet.«5
Das zweite Motiv war ein patriotisches: Als die Brüder Grimm ihre Märchen zusammentrugen, waren weite Landstriche Deutschlands von den Franzosen besetzt, und von einem deutschen Nationalstaat konnte man nur träumen. Da wollten die Grimms mit ihrer Sammlung »deutscher Volkspoesie« zu einem nationalen Bewusstsein beitragen. »Still und rein steht das Wesen unserer Vorfahren hinter uns«, schrieb Jacob Grimm 1811 in einem Aufruf, »alle mündliche Sage« zu sammeln, »in Unscheinbarkeit der Äußerung, in Unwandelbarkeit eines innerlichen, warmen Reichtums; seit wir es so recht empfunden haben, ist uns gleichsam ein Aug mehr für die treue Natur deutscher Begebenheit aufgegangen, und dadurch, dass wir sie sehr lieben gelernt, lieben wir uns desto unverbrüchlicher auch einander.«6
Dabei waren die Brüder Grimm genau wie die anderen »Romantiker« durchaus revolutionäre Geister, beflügelt von den Idealen der Französischen Revolution. Später als Professoren in Göttingen protestierten sie gegen die rechtswidrige Aufhebung der Verfassung durch den König von Hannover und verloren ihre Anstellung; Jacob wurde sogar des Landes verwiesen, und beide zogen nach Berlin. Doch die Reform, für die sie eintraten, war immer auch eine geistige, innere Erneuerung mit Hilfe von Poesie und Religion. Drohte doch jetzt nach der Befreiung aus den alten Abhängigkeiten die Vergötzung von Vernunft, Naturwissenschaft und Fortschrittsglauben.
Natürlich hatten die Brüder Grimm ihre Zuträger, etwa die Kasseler Apothekersgattin Dorothea Wild, ihre Töchter Gretchen und Dortchen (Wilhelms spätere Frau), das Dienstmädchen Marie Müller, die Juristentöchter Jeanette, Marie und Amalie Hassenpflug, den Dragonerwachtmeister Friedrich Krause, den Theologiestudenten Ferdinand Siebert. Besonders gern griff man auf die »Viehmännin« zurück, eine arme Haut, Mutter von sechs Kindern und mit einem Trunkenbold verheiratet. Dorothea Viehmann aus dem Dorf Niederzwehren brachte sich durch, indem sie Lebensmittel austrug. Und sie konnte fantastisch Märchen erzählen - bildhaft und immer im selben Wortlaut.

»Es war einmal« ist keine Volkspoesie

Doch die Biedermeierbilder, welche die Brüder Grimm in ärmlichen Bauernstuben zeigen, hingerissen einem solchen Naturtalent lauschend, vermitteln nur die halbe Wahrheit. Es ist auch bloß eindrucksvolle Fiktion, wenn sie schreiben, »höchst getreu, buchstabengetreu« hätten sie alles wiedergegeben, was sie aus dem Mund des einfachen Volkes erfuhren: »Auf hohen Bergen, in geschlossenen Tälern lebt noch am reinsten ein unveralteter Sinn, in den engen Dörfern, dahin wenig Wege führen und keine Straßen, wo keine falsche Aufklärung eingegangen oder ihr Werk ausgerichtet hat, da ruht noch an vaterländischer Gewohnheit, Sage und Gläubigkeit ein Schatz im Verborgenen.«7
So stellt man sich bis heute die Tätigkeit eines Märchensammlers vor. Und vergisst, dass die meisten Textlieferanten literarisch hoch gebildete Angehörige des Bürgertums waren, die zwar nachweislich ihre Bediensteten, Knechte und Mägde nach alten Geschichten befragten, das Zusammengetragene aber dann gern mit den französischen Märchenbüchern vermischten, die sie kannten. Das lag nahe, denn »Grimms Märchen« haben in der Regel Vorläufer in der französischen, italienischen, bisweilen auch englischen Literatur. Dorothea Wild war die Enkelin eines Philologieprofessors; im Haus der Schwestern Hassenpflug sprach man nur französisch und veranstaltete literarische Teekränzchen. Schlichte Volkspoesie war da oft nur in veränderter, verfeinerter Form zu finden.
Dazu kam, dass die Brüder Grimm selbst an der Überlieferung, so wie sie ihnen zugetragen wurde, kräftig bildhauerten, glätteten und harmonisierten. Derbe Textpassagen, sexuelle Anspielungen, grausame Bestrafungen wurden gelöscht oder umformuliert, damit die Märchen in die Kinderstuben des Bürgertums passten. Namentlich Wilhelm wurde bei der Bearbeitung der Texte - das zeigen die aufeinander folgenden unterschiedlichen Fassungen - immer mehr zum Dichter. Die klassische Eingangsformel »Es war einmal« stammt in keinem Fall aus der Volksüberlieferung, die hat er erfunden und ist damit über die Jahrhunderte hinweg stilbildend geworden.
Die von Beiträgern wie den Schwestern Hassenpflug oder dem Wachtmeister Krause beschafften Texte bildeten anfangs ohnehin nur den kleineren Teil der Sammlung. Die meisten Märchen exzerpierten sich die Brüder Grimm aus der reichhaltigen Privatbibliothek ihres Freundes Clemens Brentano, der sie bei der gemeinsamen Arbeit an Des Knaben Wunderhorn schätzen gelernt hatte und zu ihrer Sammelarbeit ermunterte. Also Literaturstudium statt Interviews mit Mägden und alten Bauersfrauen. Klischees stimmen selten.
Und wenn sie vom »Volk« erlauschte Texte übernahmen, dann hatten die Brüder Grimm in der Regel eine bestimmte Idealform im Auge und bearbeiteten das Gehörte, bis es ihren Vorstellungen entsprach. Wir sollten ihnen deshalb nicht böse sein, denn die strengen philologischen Bedingungen späterer Zeiten kannte man damals noch nicht; wortgetreue Wiedergaben aus dem Volksmund wären weder gedruckt noch gelesen worden. Es bleibt das Verdienst von Jacob und Wilhelm Grimm, auf breiter Front das Interesse an Märchen und Volkserzählungen geweckt und die wissenschaftliche Beschäftigung mit solchen Texten überhaupt erst begründet zu haben.
Der 1812 erschienene erste Band der Kinder- und Hausmärchen enthielt bereits fast alle »Klassiker« wie Aschenputtel, Frau Holle, Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, Schneewittchen, Brüderchen und Schwesterchen, Der gestiefelte Kater, Der Wolf und die sieben Geißlein, in einer bisweilen noch eher unbeholfenen Diktion, aber auch noch nicht so stark bearbeitet und geglättet. Die Kritiker bemängelten die nüchterne Sprache und den zu wenig kindgemäßen Ton. Daraufhin publizierten die Grimms vier Jahre nach dem 1815 nachgeschobenen zweiten Band (ein dritter geplanter erschien nicht mehr; die »Viehmännin« war gestorben und die jungen Gesprächspartnerinnen wie Dortchen Wild oder Jeanette Hassenpflug hatten nach ihrer Verheiratung nur noch wenig Zeit und Lust zum Erzählen) 1819 eine stark veränderte Neuausgabe.
Den Durchbruch brachte eine 1825 nach englischem Muster zusammengestellte, preisgünstige und hübsch illustrierte »Kleine Ausgabe« mit 50 besonders für Kinder geeigneten Märchen, was zunächst auf Kosten der bereits vorhandenen großen Edition ging. Doch die Brüder Grimm wurden immer populärer, die Nachfrage stieg sprunghaft an, und seit der dritten Auflage 1838 verkaufte sich auch die »große« Ausgabe hervorragend. Wir verwenden in diesem Buch die Ausgabe letzter Hand von 1857, die zwei Jahre vor Wilhelm Grimms Tod erschienen ist.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
 
1. Auflage
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