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Wagst du den ersten Schritt in die Dunkelheit? Finya Der Ausflug ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Ich wollte nur allein diese verlassene Schule erkunden, nun bin ich plötzlich genau dort eine Erstsemestlerin. Jeder erzählt mir etwas von magischen Gaben sowie Fähigkeiten und meine Ausflugsgruppe ist einfach verschwunden. Was ist passiert? Bilde ich mir alles nur ein? Als wäre das noch nicht genug, belästigt mich auch noch dieser unheimliche Typ. Er taucht aus dem Nichts auf, stellt meine verwirrte Gefühlswelt noch mehr auf den Kopf und sieht unverschämt gut aus. Doch er strahlt etwas Dunkles aus - Ärger. Ich sollte ihm aus dem Weg gehen, aber das klappt leider nicht. Warum lässt er mich nicht in Ruhe? Was will er von mir? Wieso wirkt er so unfassbar anziehend und warum fällt es mir so schwer, ihm zu widerstehen, obwohl ich weiß, ich sollte mich lieber von ihm fernhalten? Zayn Du standest vor dem Eingang, wie all die anderen Schüler auch, doch hattest sofort meine Aufmerksamkeit. Du warst anders. Ich konnte es nicht lassen, zu dir zu gehen und jetzt versuchst du, dich mir zu widersetzen. Ich werde aber nicht aufhören. Du hast mit deiner unschuldigen, sturen Art mein Interesse geweckt. Ich weiß, du wolltest damit das Gegenteil bewirken, zu spät … du hast mich herausgefordert. Also komm, hör auf dich zu wehren. Schalt deinen Kopf aus und überlass mir die Kontrolle. Ich zeig dir meine dunkle Welt voller Magie und Schönheit. Du hast Angst, weil du denkst ich will dich fallen lassen? Kätzchen, du sollst doch aufhören zu denken, denn … Ich will dich nicht fallen lassen. Ich will, dass du mit mir fällst, weil du es willst.
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Seitenzahl: 472
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Von der
Dunkelheit geküsst
∞ Lebe für mich ∞
written by
Naya Mouze
Band 1 der Dunkellicht-Reihe
Impressum
Triggerwarnung
Widmung
Playlist
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Fortsetzung
Danksagung
Über die Autorin
3. Auflage 2025
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Sternfeder Verlag
Bildmaterial lizensiert über Adobe Stock und OpenAi
Korrektorat/Lektorat: Sternfeder Verlag
Herausgegeben von: Sternfeder Verlag, Bogenstr.8, 58802 Balve
www.sternfederverlag.de
Verlagslabel: Sternfeder Verlag
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors oder Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Davon ausgenommen sind kurze Auszüge, die zum Zwecke der Rezension entnommen werden.
Personen und Handlungen im Roman sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden oder verstorbenen Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:
https://portal.dnb.de/opac.htm
Du, blättere noch nicht um.
Denn ich gebe dir jetzt die Wahl, dieses Buch, den Auftakt der Dunkellichtreihe, aus der Hand zu legen, bevor du in meine Welt eintauchst und dich in die Dunkelheit begibst.
Warum?
Weil die schönste Welt eben auch ihre Schattenseiten hat ...
In diesem Fall bin ich der Schatten.
Ich werde es nicht schönreden.
Finyas und meine Geschichte ist kein Märchen, auch wenn sie magisch ist. Deshalb, beginne nicht mit dem Lesen, wenn du mit körperlicher und psychischer Gewalt, Sex, Missbrauch, Drogen- und Alkoholkonsum, Beleidigungen und Schimpfwörtern nichts anfangen kannst, nicht damit umgehen kannst oder es dich aufwühlt.
Schon, wenn eines der Themen nichts für dich ist, such dir ein anderes Buch.
Ich will dich nicht triggern und nichts Schlechtes in dir hervorrufen, womit du Kämpfe austragen musst.
Die angesprochenen Themen sind nicht für jeden etwas. Außerdem muss sich nicht jeder in meine Dunkelheit stürzen.
Wenn dir diese Themen allerdings nichts ausmachen, dann kannst du dich jetzt zurücklehnen, entspannen und fallen lassen.
Ich werde dich Schritt für Schritt in meine Dunkelheit ziehen. Dich einnehmen und dir die Kontrolle rauben.
Du glaubst es nicht? Dann überzeuge dich selbst davon ...
Sag mir nur nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, Kätzchen.
Für alle, die in andere Welten eintauchen wollen.
Für alle, die ein Abenteuer suchen.
Für alle, die sich fallen lassen können.
Lass dich verzaubern.
Ride – Twenty One Pilots
Hypnotic - Zella Day
Hangover – Taio Cruz
Toxic – Niels Van Gogh
Baddest - Imanbek & Cher Lloyd
Toxic – 2WEI
Wonderful Life – Max oazo ft. Chamishe
Break your Heart – Taio Cruz
Dunkelheit.
So schwarz wie eine sternlose Nacht.
So düster wie ein im Nebel liegender Wald.
So anziehend.
So verführerisch.
Sie hüllt dich ein.
Sie hält dich fest.
Sie legt ihre dunklen Klauen um dich.
Sie nimmt dich ein.
Sie wird dich besitzen.
Und dennoch wird dort Licht sein,
es gehört zu ihr.
Licht und Dunkelheit, Dunkelheit und Licht.
Sie könnten unterschiedlicher nicht sein und sind doch auf ewig verbunden.
Denn das Licht wird die Dunkelheit vertreiben. Und die Dunkelheit wird Schatten werfen, wo das Licht auf Unebenheiten trifft.
»Bist du schon aufgeregt?«, fragt mich Mrs. Dunhill, meine Betreuerin und eine der heutigen Aufsichten. Erwartungsvoll sieht sie mich über den Rückspiegel an.
»Wegen eines Ausflugs in eine Geisterstadt? Wohl kaum.« Unbeeindruckt fahre ich weiter mit dem Finger die Naht des Autositzes vor mir nach.
»Ich bin mir sicher, es wird dir gefallen.«
»Klar …«
»Ach Finya.« Seufzend biegt sie an einer Abzweigung nach links. »Sei nicht immer so resigniert. Du kannst mir glauben, dieser Ort ist wirklich etwas Besonderes.«
»Bin ich gar nicht. Es wird bestimmt toll«, sage ich einfach und zeige mein einstudiertes Lächeln, um sie zufriedenzustellen.
Einen Augenblick lang mustert sie mich kritisch und ich mache mich schon darauf gefasst, die ganze Fahrt lang, über mich und mein Leben philosophieren zu müssen, dann schüttelt sie aber den Kopf und konzentriert sich wieder aufs Fahren. Mir bleibt zum Glück eine endlose Diskussion erspart. In die artet es nämlich meistens aus. Zum Teil liegt das an ihrem angeborenen Helfersyndrom und daran, dass sie für mich verantwortlich ist, aber hauptsächlich wohl eher an mir und meiner zurückhaltenden Art. Sie bezeichnet mich gern als Eigenbrötlerin, weil sie selbst ein so aufgeschlossener Mensch ist und nicht verstehen kann, warum ich mich lieber mit mir selbst und meinen Gedanken beschäftige als mit anderen Menschen. Natürlich könnte ich ihr deutlich sagen, an was es liegt, doch warum sollte ich? An meiner Situation würde es nichts ändern, genauso wenig wie darüber zu schwärmen, was mir gefällt, oder eben die Diskussionen mit ihr. Am Ende läuft sowieso immer alles auf dasselbe hinaus und es bleibt, wie es ist. Also lasse ich es einfach. Außerdem hat mir jeder, den ich kenne, genug Gründe gegeben, um niemanden mehr an mich heranzulassen, auch Mrs. Dunhill. Deshalb muss sie auch nicht wissen, dass ich mich, seit unser Ausflugsziel feststeht, auf den heutigen Tag freue. Ich mag verlassene Orte, die ihre eigenen Geschichten erzählen und schaurig-schöne Erinnerungen bergen, so wie Lost Simerty - die uralte Schule, zu der wir unterwegs sind. Sie wurde vor ewigen Zeiten geschlossen.
Selbstverständlich habe ich versucht, mich über unser Ziel zu informieren, aber mehr, als dass es sich um einen Lost Place handelt und zahlreiche Besucher jedes Jahr dorthin kommen, habe ich im Internet nicht gefunden. Für mich macht es das gleich noch interessanter. Innerlich bete ich deswegen, dass wir diesmal einfach allein auf Entdeckungstour gehen dürfen und das Ganze nicht wieder so ein Gemeinschaftsding wird. Denn, wenn wir alle zusammen gehen müssen, wird das nur wieder ein Horrortrip. Die anderen aus meinem Heim interessieren sich nämlich nicht für unsere Ausflüge und kommen nur mit, weil sie müssen.
Als ich wieder aus dem Fenster blicke, erkenne ich nur noch Felder. Wir sind irgendwo im Nirwana. Ich drehe mich um, weil ich nach dem Bus mit dem Rest unserer Gruppe Ausschau halten will, sehe ihn aber nirgends.
Vielleicht haben sie eine Panne und sind irgendwo stehen geblieben? Das wäre perfekt, so könnte ich wirklich allein losziehen.
Eine tolle Vorstellung, allerdings eher unwahrscheinlich, denn ich glaube nicht daran, heute noch mehr Glück zu haben als bisher. Es war ja schon ein kleines Wunder, dass der Bus nicht genügend Sitzplätze hatte, weswegen ich allein mit Mrs. Dunhill fahren darf. Normalerweise müsste ich mir sonst bestimmt schon den hundertsten, dummen Kommentar anhören. Also sollte ich mir lieber nicht zu viele Hoffnungen machen und stattdessen froh darüber sein, zumindest während der Anreise noch meine Ruhe zu haben. Die meiste Zeit habe ich die zwar auch so, aber an diesen Ausflugstagen alle zwei Monate, drehen die anderen irgendwie besonders durch. Sie brauchen dann immer ein Opfer, welches leider jedes Mal ich bin. Das war nie anders, obwohl ich anfangs noch versucht habe, mit ihnen auszukommen, und wie Dunhill es genannt hat: »Anschluss zu finden«. Allerdings habe ich aufgegeben, nachdem ich gemerkt habe, es hat keinen Sinn.
Sie haben mich nie akzeptiert, werden es nie tun und irgendwann hatte ich auch keine Lust mehr, um ihre Aufmerksamkeit zu buhlen. Ein weiterer Grund, warum ich mich abgeschottet habe und lieber für mich selbst lebe. Ich weiß, es stichelt sie wahrscheinlich nur noch mehr an, doch für sie bin ich sowieso schon immer die Komische oder die Merkwürdige. Die ganzen Zwischenfälle und eigentlich alles, was in meinem Leben sonst noch so passiert, spielen ihnen nur zusätzlich in die Karten. Ich bin also die geborene Außenseiterin. Mit der Zeit gewöhnt man sich an die Kommentare, Blicke und daran, einfach nicht mehr beachtet zu werden. Letzteres ist mir ehrlich gesagt ganz recht und den Rest nehme ich eben hin. Etwas anderes kann ich sowieso nicht tun.
Wir biegen in ein Waldstück ab und landen auf einer weiteren Straße. Okay, es ist nicht wirklich eine richtige Straße, sondern nur ein schmaler Weg aus Schotter und Matsch. Der Wagen ruckelt, während die Bäume an uns vorbeiziehen und irgendwann erreichen wir einen Parkplatz. Mrs. Dunhill parkt in einer der vorgesehenen Buchten und steigt aus, dann öffnet sie meine Tür. Für was sie die Kindersicherung immer aktiviert, werde ich nie verstehen.
Ich klettere aus dem Auto und werfe mir meinen Rucksack über die Schulter. Er ist mein Heiligtum, denn ich verwahre darin sozusagen mein Leben.
»Die anderen warten am Eingang«, erklärt sie mir und ich folge ihr stumm über den Kiesplatz zu ihnen. Sie haben ihre Tickets bereits bekommen. Lulu, eines der Mädchen, flüstert ihren Freunden etwas zu, als ich ankomme, und daraufhin fangen alle an zu kichern. Lächerlich. Ich ignoriere es und stelle mich mit ein wenig Abstand neben sie.
»Das Gelände ist groß, weswegen wir beschlossen haben, euch die Zeit zu geben, es selbst zu erkunden«, beginnt Mrs. Dunhill.
Mein Magen kribbelt und ich unterdrücke ein Lächeln. Innerlich freue ich mich wie ein kleines Kind über ihre Worte. Heute ist anscheinend mein Glückstag!
»Hat jeder eine Uhr dabei? Wir treffen uns um zwölf wieder hier, dann gehen wir zusammen Mittagessen und fahren weiter in das verlassene Dorf. Es gehört ebenfalls zu dieser Schule. Bitte, haltet euch an die Regeln hier. Vor allem du, Jeremy«, mahnt Mrs. Dunhill noch Lulus Freund, der immer nur Mist im Kopf hat und am liebsten macht, was er nicht darf. Vermutlich denkt er, das wäre lustig, aber das ist es nicht. Es ist dumm und kindisch.
Jeder bekommt noch einen Flyer und ich meine Eintrittskarte, dann dürfen wir uns aufteilen. Kurz warte ich ab, wohin die anderen laufen, damit ich in die entgegengesetzte Richtung gehen kann. Hauptsache, ich treffe sie nirgends an. Wie ich nicht anders vermutet habe, lassen sie sich erstmal etwas abseits in der Sonne nieder. Unsere Aufsicht verschwindet in ein Café direkt am Eingang.
Ich gebe dem Mann in dem kleinen Holzhäuschen meine Eintrittskarte. Er reißt sie ein und wünscht mir viel Spaß. Ich nicke, bedanke mich und laufe daraufhin durch das große Tor, dessen eiserne Flügel weit offenstehen. Beeindruckt stoppe ich und starre einfach nur auf das riesige Gebäude vor mir. Es sieht aus wie ein Schloss und nicht wie eine Schule.
Grau-weiße Backsteinziegel bilden die hohen Mauern. An manchen Flächen rankt Wein und Efeu. Die dunkelroten Fensterläden sind zwar von der Sonne etwas ausgeblichen, dadurch verleihen sie den großen Fenstern jedoch einen märchenhaften Ausdruck. Zwei Türme ragen gen Himmel, die aussehen als würden sie die Wolken berühren. Ich komme aus dem Staunen kaum mehr heraus. Noch nie zuvor habe ich so etwas Gigantisches gesehen. Vor Aufregung, was ich hier in den nächsten Stunden alles entdecken werde, kribbelt augenblicklich mein Magen aufgeregt. Neugierig schweift mein Blick weiter über das Gelände. In der Mitte des Vorplatzes steht ein großer Brunnen, der Wasser in Fontänen nach oben schießt. Das Becken fängt jeden Tropfen auf und gibt dabei sanfte, plätschernde Geräusche von sich. Einen Moment lasse ich das Schauspiel auf mich wirken. Es hört sich so angenehm an.
Ich liebe einfach die Geräusche, die Wasser von sich geben kann. Regen, der gegen Fensterscheiben prasselt, das laute Rauschen von Wasserfällen und diese leisen Töne des Brunnens gerade.
Nach ein paar Minuten laufe ich weiter, über den teilweise mit Efeu bedeckten Boden und steige die zahlreichen Treppenstufen zum Eingang der alten Schule hinauf. Eine der dunklen Holztüren, die mindestens zwei Meter hoch sind, steht offen. Vorsichtig trete ich ein und staune nicht schlecht, als ich mich in einem unendlich lang wirkenden Gang mit offenen Fenstern wiederfinde. Das hier war keine Schule … Es war ein Palast! Wow …
Ausgebrannte Fackeln zieren die steingrauen Wände, an denen zahlreiche Kunstwerke hängen, die schon mindestens hundert Jahre alt sein müssen. Sie sind leicht gewellt oder zerfleddert, was der Kunst keinen Schaden antut. Der Künstler, der sie gezeichnet hat, ist leider nirgends vermerkt, was schade ist, denn er hat wirklich Talent. Die Bilder sind wunderschön. Meine Fingerspitzen kribbeln. Ich würde gern über die verblassten Ölfarben streichen, weil die Landschaften so detailreich eingefangen wurden, traue mich aber nicht. Ich will nichts kaputt machen. Deshalb gebe ich meinem Drang, sie anzufassen, nicht nach und schaue mir stattdessen die anderen auch noch an. Hauptsächlich sind es Landschaften. Ich schätze, es sind erfundene Orte, da sie alle etwas verzaubert wirken. Als ich das letzte betrachte, das eine in Blumen eingebettete Grotte zeigt, mache ich mir eine geistige Notiz, beim Zeichnen vielleicht auch mal Farbe zu benutzen. Bisher male ich nur mit Bleistift oder Kohle. Mit Farben könnte ich vermutlich auch mehr aus meinen Bildern herausholen. Bei Gelegenheit werde ich es mal ausprobieren.
Ich setze meinen Weg fort und laufe die untere und erste Etage ab. In fast alle Räume, an denen ich vorbeikomme, werfe ich einen Blick durch die offenen Türen. Leider darf ich sie nicht betreten, was mir die rot-weißen Bänder zwischen den Türrahmen sagen. Auf meiner Tour entdecke ich massenweise alte Klassenzimmer, die seit Jahren nicht mehr genutzt wurden. Außerdem finde ich mehrere Schlafräume, in denen seit Ewigkeiten keiner mehr gewohnt hat. Teilweise sind die Tapeten lose und die dunklen Holzmöbel sind mit lauter Kratzer und Schrammen versehen. Es sieht ab und zu ein bisschen gruselig aus. Würde ich an Übernatürliches glauben, wäre diese Schule sicherlich meine erste Anlaufstelle, um nach Geistern zu suchen. Aber das tue ich nicht, weshalb ich den Gedanken wieder verwerfe.
Ich komme an einem Zimmer an, das nicht mit einem Absperrband versehen ist. Neugierig trete ich ein und schaue mich gründlicher um. Es sieht nicht so heruntergekommen aus wie die vorherigen.
Wie es wohl war, hier zu leben? Bestimmt besser als im Heim. Obwohl alles so alt ist, hat es etwas Majestätisches.
Mein Blick fällt auf ein Regal, in dem alte Bücher stehen. Ein Schild an der Wand daneben verbietet mir, eines aus dem Schrank zu nehmen, trotzdem würde ich gern hineinschauen. Wie ein Dieb sehe ich mich um.
Ich bin allein und im ganzen Gebäude ist mir keiner begegnet. Außerdem habe ich nirgends Kameras gesehen. Ein kleiner Blick in eines der Bücher wird mich nicht gleich zum Schwerverbrecher machen.
Obwohl es verboten ist, ziehe ich mit klopfendem Herzen eines mit schwarzem Einband heraus und betrachte es genauer.
»Wesenskunde und die Elemente«, lese ich laut vor. Was soll das denn sein?
Vorsichtig blättere ich darin herum und überfliege ein paar der vergilbten Seiten. Ich kann die Schrift kaum lesen und die Bilder, die ich erkennen kann, verwirren mich leider nur noch mehr.
Wie komisch diese Figuren aussehen … Müssen irgendwelche Fabelwesen oder so etwas in der Art sein. Ist wohl ein Märchenbuch.
Schnell stelle ich das Buch zurück und hole stattdessen den Flyer aus meinem Rucksack, um mir mein nächstes Ziel zu suchen. Mir fällt ein Garten ins Auge, der hinter dem Gebäude liegen soll.
Ich verlasse das Stockwerk mit den Schlafräumen und folge dem Plan in meiner Hand, bis ich an meinem Ziel ankomme. Ein wunderschöner Garten. Ganz anders als das alte Gemäuer, in dem ich mich gerade noch befunden habe, ist alles hier gepflegter.
Schlendernd gehe ich einen Weg entlang, der von grünen Hecken gesäumt wird. Auf der unberührten Wiese stehen überall wildgewachsene, bunte Blumen, die sich im Wind hin- und herbewegen und dem Garten einen verwunschenen Eindruck verleihen. Fasziniert von dem Charme, der mich umgibt, fahre ich ab und zu mit der Hand über die Pflanzen, bis ich an einem kleinen Teich ankomme. Mehrere Weidenbäume lassen ihre langen Äste bis kurz über das Wasser hängen. Die glatte Oberfläche funkelt im warmen Sonnenlicht türkisgrün. Es ist unglaublich schön. Ich würde sogar fast sagen magisch.
Überwältigt hole ich mein Handy hervor und mache ein paar Fotos, damit ich Erinnerungen und Vorlagen für neue Zeichnungen habe. Dabei fällt mir eine weiße Bank ins Auge, die unter einer der Weiden steht.
Bestimmt gibt es noch eine Menge hier zu entdecken, aber einen Moment kann ich mir gönnen, um die Ruhe, die dieser Ort ausstrahlt, zu genießen.
Also setze ich mich und lasse meine Umgebung auf mich wirken. Das klangvolle Vogelgezwitscher, das Rascheln der Blätter, durch die der Wind weht und das Quaken eines Frosches, der irgendwo in der Ferne sitzt. Es ist wahnsinnig angenehm.
Ich schließe die Augen und recke mein Gesicht gen Sonne, genieße die Wärme und fühle mich nach nur wenigen Sekunden ausgeglichener und entspannt. So entspannt, dass ich beinahe einschlafe. Doch kurz bevor das passiert, erfüllt ein seltsames Geräusch die Klänge der Natur. Darauf folgt ein Knacken und noch eines … so, als würde jemand auf trockenes Holz treten. Sofort öffne ich die Augen. Unruhig suche ich die Umgebung ab. Nirgends kann ich etwas erkennen. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, das Geräusch zu orten. Nichts. Gerade will ich mich wieder zurücklehnen, da höre ich es erneut, dann bewegt sich auf einmal etwas bei den Büschen hinter den Weiden.
»Hallo?«, rufe ich in die Richtung, aus der die Laute kamen.
Keiner antwortet.
»Ist da jemand?«
Wieder bleibt es still.
Wahrscheinlich war es nur ein Tier. Kein Grund zur Panik, Finya.
Es ist lächerlich, dass plötzlich meine Hände wie elektrisiert zucken und meine Atmung sich leicht beschleunigt, aber ich kann es nicht verhindern. Meine Therapiestunden sind eben noch nicht lange abgeschlossen. Allerdings dachte ich, ich wäre damit durch zu glauben, ich würde verfolgt werden. Ein Rückfall wäre das Schlimmste, was passieren könnte.
Vielleicht sollte ich lieber wieder ins Gebäude zurück. Es ist sowieso schon bald Mittag.
Schnell greife ich mir meinen Rucksack, den ich neben mir abgestellt hatte, stehe auf und mache mich auf den Weg zu der Tür, aus der ich vorhin gekommen bin. Genau zwei Schritte schaffe ich, dann höre ich das Knacken wieder. Diesmal ist es näher und gleichmäßiger.
»Du bildest dir das nur ein. Niemand außer dir, den Pflanzen und vielleicht ein paar Tiere, sind hier. Kein Grund durchzudrehen«, halte ich mir leise selbst vor, aber im selben Moment knackt es wieder hinter mir. Eine kalte Böe umweht mich und lässt mich frösteln … Das war´s. Unerklärliche Panik ergreift mich. Ohne mich umzudrehen, renne ich Hals über Kopf los und stürme auf die Tür zu, die nicht mehr weit entfernt ist.
Falls irgendjemand oder was auch immer es ist, mir folgt, betritt er bestimmt nicht die Schule. Mein Verfolger würde es sicherlich nicht riskieren oder gar nicht erst schaffen. Ganz sicher nicht!
Hektisch greife ich nach der Klinke, drücke sie herunter und schlüpfe durch den Spalt. Mit einem lauten Knall, der durch die Flure fegt, schlage ich die Tür hinter mir zu, lehne mich gegen das alte Holz und atme erstmal erleichtert aus.
»Beruhig dich, du bist sicher«, rede ich nochmal mit mir selbst, bevor ich mit zittrigen Fingern in meiner Tasche nach dem Flyer mit dem Gebäudeplan suche.
Ich habe jetzt genug von diesem Ort! Auch wenn ich noch nicht alles gesehen habe. Was war das denn?! Egal. Ich will hier einfach nur raus.
Laut Plan befindet sich der Ausgang auf der anderen Seite. Ich muss also durch mehrere Gänge bis zum Hauptflur. In einem zügigen Tempo gehe ich los und will gerade nach rechts, in den Gang mit den vielen Klassenräumen abbiegen, da höre ich wieder ein Geräusch, das Quietschen einer Tür.
Hinter mir befindet sich nur eine … und aus der bin ich gekommen. Oh Gott!
Mein Herz rast. Panik und Adrenalin rauschen durch meine Adern. Angetrieben davon renne ich wieder los, zerknülle den Plan und stopfe ihn irgendwo hin. Vorhin war ich noch froh darüber, dass mir niemand begegnet ist und ich allein alles erkunden konnte, jetzt wünsche ich mir gerade nichts sehnlicher, als dass irgendwer, ein Besucher oder ein Angestellter, aus einem der Zimmer kommt. Ich habe keine Ahnung, wie ich zum Ausgang komme, aber auch keine Zeit, mir den Plan nochmal anzusehen. Die Schritte, die neben meinen von den Wänden hallen, lassen das nicht zu.
Wo ist dieser dumme Ausgang?
Orientierungslos irre ich durch die Flure. Erst renne ich nach rechts, stürme den nächsten Flur entlang, dann biege ich mehrmals ab. Meine Angst nimmt immer weiter zu. Ich bekomme kaum noch Luft, meine Seite sticht und ich will schon fast anhalten, da stehe ich auf einmal im Hauptgang. Ich weiß, dass ich richtig bin, weil es der Einzige ist, der keine Glasscheiben in den Fensteröffnungen hat. Freude mischt sich in mein Gefühlschaos. Dennoch schaue ich gehetzt in beide Richtungen.
Da ist die Eingangstür! Sie ist zwar geschlossen, aber sie ist es, definitiv!
Ohne weiter nachzudenken, renne ich auf das dunkle Holz zu und greife nach dem goldenen Knauf, um sie aufzumachen. Ich drehe ihn herum, aber es passiert nichts.
Das kann doch nicht sein! Warum klemmt dieses verdammte Schloss? Oh Himmel. Hilfe!
Wie eine Irre rüttle ich daran, ein Klacken ertönt und die Tür geht ein Stück auf. Panisch gehe ich ein paar Schritte zurück, dann stemme ich mich mit aller Kraft gegen sie. Plötzlich gibt sie nach und springt mit einem Mal ganz auf. Ich verliere das Gleichgewicht, klammere mich an den Griff, versuche irgendwie nicht hinzufallen und stolpere nach draußen, bevor mich mein Verfolger erwischt.
Mit zusammengekniffenen Augen hebe ich meine Hand vors Gesicht, weil mich die Sonne so stark blendet. Noch immer sehe ich fast nichts. Blindlings taste ich mich vorwärts. Etwas Raues. Die Steinsäule. Schnell gehe ich um sie herum und verstecke mich hinter ihr, um in ihrem Schatten Schutz zu finden.
Bitte, lass ihn nicht gesehen haben, wo ich hin bin, bete ich stumm mit geschlossenen Augen und verharre einige Minuten lang an Ort und Stelle.
Es passiert nichts mehr. Er scheint weg zu sein, trotzdem traue ich mich nicht nachzuschauen. Leise atme ich die aufgestaute Luft aus und versuche, mit kontrollierten tiefen Zügen meinen rasenden Puls zu beruhigen.
Keine Gefahr mehr, Finya. Du bist ganz bestimmt entkommen. Je länger ich stehe und mir das vorhalte, desto mehr beruhige ich mich. Mein Herzschlag nimmt wieder einen halbwegs normalen Rhythmus an.
»Hey, brauchst du Hilfe?«, erklingt plötzlich eine leicht rauchige, melodische Männerstimme und beschert mir beinahe einen Herzinfarkt.
Japsend weiche ich zur Seite, in Richtung Gebäude, mein Puls schießt erneut in die Höhe. In einer Art Schockstarre blinzle ich mehrmals, etwas anderes bekomme ich vor lauter Schreck nicht zusammen und … Himmel. Was?! Mich trifft fast der Schlag und kurzzeitig glaube ich zu träumen. Ich starre ihn einfach nur an und bekomme irgendwie auch gar nichts mehr wirklich mit. Dieser Typ vor mir ist mit Abstand der schönste Mann, den ich jemals gesehen habe. Er muss ein wenig älter als ich sein. Zwei oder drei Jahre. Vier vielleicht? Seine pechschwarzen Haare stehen ihm wild zerzaust um den Kopf, nicht ungepflegt, sondern als wären sie perfekt gestylt. Seine breiten Schultern zeugen davon, dass er mindestens einmal am Tag Sport treiben muss. Warum auch immer versuche ich mir vorzustellen, was unter dem lässig fallenden Shirt mit dem V-Ausschnitt noch alles zum Vorschein kommen würde, außer der schwarzen Farbe seiner Tattoos, die ich zum Teil erkennen kann.
Bestimmt ist er richtig muskulös, definiert bis ins Kleinste … Überall ansatzlos sonnengebräunt, wie die makellose Haut in seinem hübschen Gesicht … Mein Blick wandert weiter über seine Lippen, die perfekter nicht sein könnten, bis zu seinen stechenden Augen. Gott, was er für wunderschöne, eisblaue Augen hat und wie interessiert sie mich mustern … Ach du scheiße … Er schaut mich an!
»Kannst du sprechen?«, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen.
Meine Güte. Ich habe völlig vergessen zu antworten. Wie peinlich.
»Ähm … ja. Kann ich und nein, ich glaube, ich brauche keine Hilfe.«
»Na dann. Wer soll dich zur Aula bringen?«
»Wer?« Wovon spricht er bitte?
»Na, dein Begrüßungskomitee? Jedem Neuling wird jemand zugeteilt. Es stand doch im Schreiben.« Er klingt ein wenig genervt oder auch verwundert. Ich kann es nicht so genau einschätzen.
»Das muss eine Verwechslung sein. Ich wollte gerade zurück zu meiner Gruppe. Wegen dem Mittagessen«, erkläre ich überzeugt, woraufhin er mich ansieht, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«
»Ja. Sehr sicher sogar.«
»Das glaube ich nicht.«
»Ach und warum nicht?«
»Weil es acht Uhr morgens ist und um diese Uhrzeit niemand zum Mittagessen geht.« Seine Stimme hebt sich leicht. Wieder zieht er eine Augenbraue hoch.
Okay. Vielleicht ist er nicht ganz richtig … Schön, aber nicht ganz dicht.
Ich blicke auf meine Armbanduhr und will ihm widersprechen, stelle aber fest, dass er recht hat. Die Zeiger stehen auf kurz vor acht. Okay, alles klar. Was ist hier los?
Irritiert schaue ich zum Tor, an dem eigentlich meine Gruppe stehen sollte, kann sie aber nirgends entdecken. Da sind überall nur mir unbekannte Menschen. Hunderte. Auf dem ganzen Vorplatz, der vorhin noch verwaist und mit Efeu überwuchert war. Sie unterhalten sich in Grüppchen. Neben ihnen stehen Koffer und Gepäckstücke. Sogar der alte Brunnen sieht anders aus. Sauberer und neuer?
Das kann gar nicht sein. Wahrscheinlich bilde ich mir alles nur ein. Ich muss hingefallen sein und mir den Kopf angeschlagen haben, als ich durch die Tür gestolpert bin.
Um es zu überprüfen, fahre ich mir unauffällig durch die Haare, ertaste jedoch keine Beule.
»Ich ... also ... Ich muss gehen«, stammle ich und will loslaufen, aber mich hält etwas zurück. Die Hand des Typen, die meinen Oberarm umgreift ... Elektrische Schläge jagen durch meinen Körper. Mein Kopf schnellt nach oben, ich bleibe an seinen Augen hängen. Pures Adrenalin rauscht durch mich und ein Ziehen entsteht in meiner Mitte. Wir starren uns an. Einige Sekunden oder Minuten, dann lässt er mich los, als hätte er sich verbrannt.
»Zur Aula geht´s da lang«, sagt er unbeeindruckt, obwohl ich mir sicher bin, er hat es auch gespürt.
Unmöglich, dass er es nicht getan hat, so überrascht wie er mich angesehen hat.
»Da will ich nicht hin. Ich muss zurück zu meiner Gruppe, sonst fährt sie ohne mich in das verlassene Dorf.« Noch immer bin ich völlig verdattert wegen seiner Berührung und des anhaltenden Prickelns in meinem Arm.
»Von was sprichst du? Hier gibt es weder ein verlassenes Dorf, noch ist es Mittag. Kann es nicht doch sein, dass du ein wenig verwirrt bist?« Durchdringend mustert er mich, als wäre ich psychisch nicht ganz auf der Höhe.
»Verwirrt? Ich? Nein. Ich glaube eher du bist verwirrt. Ich weiß ja nicht, ob du schon in der Ruine warst, jedenfalls gehe ich da bestimmt nicht mehr rein.« Er muss ein Irrer sein … und meine Uhr ist wahrscheinlich einfach nur stehengeblieben.
Seine Augen verengen sich leicht, dann beißt er sich auf die Lippe. »Okay. Pass auf. Ich begleite dich in die Aula und wir besorgen dir auf dem Weg dorthin ein Wasser«, bietet er mir in einem leicht gereizten Ton an und ignoriert meine Aussage einfach.
Hört er mir nicht zu? Ich habe doch gesagt, ich gehe da nicht mehr rein.
Bevor ich ihm auf die Sprünge helfen und sein Angebot ablehnen kann, kommt mir plötzlich eine ganz andere Idee. Das hier ist alles wieder nur so ein dummer Streich von den anderen. Wie beim letzten Ausflug zu der Burg, als sich Lulus Freund im Schrank versteckt und mich zu Tode erschreckt hat. Heiße Wut steigt in mir auf. Ich presse die Lippen aufeinander.
Das hier ist nicht mehr lustig. Die Aktion in der Ruine war schon genug. Irgendwann reicht es auch mal.
»Okay. Was haben sie dir gegeben, damit du den Psycho spielst?! Nein, sag nichts, es ist mir egal. Du kannst Lulu sagen, sie kann mich mal und du kannst mich ebenfalls. Arschloch«, fahre ich ihn schroff an.
Er sagt nichts, doch der Ausdruck in seinem Gesicht ändert sich schlagartig. Wird düsterer.
Anscheinend lag ich mit meiner Vermutung nicht falsch und es ergibt auch Sinn. Er ist bestimmt auch der Kerl, der mir hinterhergerannt ist, um mir Angst einzujagen. Die anderen haben ihn sicherlich dazu überredet, um sich wieder über mich lustig machen zu können. Aber da spiele ich nicht mehr mit. Echt nicht. Das ist mir wirklich zu blöd.
Wieder wende ich mich zum Gehen, doch bevor ich auch nur einen Schritt gemacht habe, drängt mich der Typ auf einmal mit dem Rücken gegen die Wand, rechts neben mir. Er steht so dicht vor mir, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren kann.
»Sag mal, hast du sie noch alle?! Fass mich nicht an!«, fauche ich und will zur Seite weg, doch er stützt beide Hände neben mir an der Steinmauer ab und sperrt mich mit seinem Körper ein.
»Jetzt hör mir mal zu, kleine Lady. Ich wollte nett zu dir sein, weil du offensichtlich verwirrt bist, was dir allerdings nicht das Recht gibt, mich so dumm anzumachen. Wenn du meine Hilfe nicht willst, dann sag es mir und werde nicht respektlos. Das ist unhöflich, nur zu deiner Information, falls dir das keiner beigebracht hat«, flüstert er ruhig und genau das ist es, was mich beunruhigt. Das und die Tatsache, wie sehr mich sein Blick fesselt, und ich an nichts anderes denken kann als daran, wie unheimlich sexy er ist.
»Was ist? Hat es dir jetzt wieder die Sprache verschlagen?«
Keine Ahnung, was genau mit mir los ist, ich bin plötzlich wie hypnotisiert von ihm. Mein Blick fällt nach unten auf seine Lippen, die mich auf einmal wie magisch anziehen. Sein Duft vernebelt mir die Sinne und ich habe den unnatürlich starken Drang, ihn einfach zu küssen, obwohl ich ihn gar nicht kenne.
»Tut mir leid«, entschuldige ich mich kaum hörbar bei ihm, ohne zu wissen, wofür.
Mit unergründlichem Blick sieht er mich an. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen und wird zu einem heimtückischen Grinsen. Es reißt mich aus meiner Trance. Was um alles in der Welt denke und tue ich denn hier überhaupt?!
Mit aller Kraft stoße ich ihn von mir und schaffe es dadurch, mich von der Mauer in meinem Rücken zu entfernen. Dabei beobachte ich, wie er ein paar Schritte zurückstolpert. Allerdings fängt er sich schnell wieder und mustert mich ungeniert von oben bis unten. Warum ich stehenbleibe und nicht einfach wegrenne, weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil ich von allem völlig überrumpelt bin und mein Gehirn nicht richtig funktioniert.
Erneut starre ich ihn an und kann irgendwie nichts greifen. Ohne ein weiteres Wort, aber mit einem bösen und gleichzeitig faszinierten Funkeln in den Augen, dreht Mr. Unheimlich sich um und verschwindet in der Menschenmenge, die gerade ebenfalls ins Gebäude geht. Weiterhin bleibe ich wie angewurzelt stehen, dann prasseln durcheinandergewirbelt Fragen auf mich ein. Wie eine Sintflut, die mich gleich noch mehr verwirren.
Warum rennen die ganzen Leute in das Gebäude? Was zur Hölle ist hier los? Wer war der Kerl? Was wollte er denn bitte von mir? Habe ich echt darüber nachgedacht, ihn einfach zu küssen? Bin ich verrückt? Was zum Teufel ist falsch mit mir?!
Hitze kocht in jeder meiner Zellen und ich bin völlig neben der Spur. Mein Körper fühlt sich an, als hätte mich jemand unter Strom gesetzt. Jede meiner Fasern schreit förmlich danach, wieder in seiner Nähe zu sein. Seine unnatürlich blauen Augen flackern vor meinem inneren Auge auf. Mehrmals blinzle ich, sein perfektes Gesicht will einfach nicht verblassen. Mein Herz hämmert heftig, als wäre ich einen Marathon gelaufen.
Wie kann es sein, dass mich jemand so aus der Fassung bringt, und warum höre ich niemanden lachen, wenn alles nur ein blöder Streich war?
Erneut schaue ich mich um, es stehen nur noch vereinzelt Leute draußen, die sich ebenfalls langsam in Bewegung setzen, um in die alte Schule zu laufen. Wieder spricht mich jemand an. Diesmal eine weibliche Stimme. Noch immer verwirrt, drehe ich mich um. Vor mir steht ein Mädchen, ungefähr so groß wie ich, mit hellbraunen, schulterlangen Locken. Ihre grünen Augen strahlen mich besorgt an. Was sie gesagt hat, habe ich nicht verstanden.
»Was?«, frage ich perplex und streiche mit der Hand über mein Genick.
»Ich wollte wissen, ob ich dir helfen kann. Du siehst ein wenig verloren aus«, wiederholt sie ihre Worte. Nur hat sie den Ausdruck in meinem Gesicht wohl vollkommen falsch interpretiert. Ich bin nämlich nicht verloren. Ich frage mich, was um alles in der Welt hier los, und was gerade passiert ist! Mein Magen macht Purzelbäume und meine Hände zittern immer noch leicht, wie mir gerade auffällt. Jedoch will ich mir meine geistige und körperliche Verwirrung nicht anmerken lassen, weshalb ich sie schnell in meine Jackentasche stecke.
»Hast du den Kerl gesehen, der gerade bei mir war?« Ich will mich versichern, dass ich noch nicht ganz den Verstand verloren habe.
»Sorry, ich bin gerade erst gekommen. Du standest allein hier und ich wusste sofort, du musst eine Erstsemestlerin sein. Bist du doch, oder?«
Erstsemestlerin? Was auch immer hier passiert, ist nicht normal. Bei aller Liebe nicht.
Ich kann nirgends jemanden finden, den ich kenne, und überhaupt sieht alles so verändert aus. Es fehlen die Absperrungen am Tor, die Kasse und auch der Parkplatz davor ist verschwunden. Eigentlich müsste man die Autos von hier aus sehen, aber da ist nichts als Wiese und Wald. Kilometerweit.
Ich sollte herausfinden, was abgeht. Das bedeutet wohl, ich muss dieses kranke Spiel oder was auch immer es ist, mitspielen.
»Sieht so aus. Mir wurde gesagt, ich muss zur Aula. Weißt du, wo die ist?«, erkundige ich mich bemüht freundlich und locker.
»Schön, ich bin sozusagen auch neu hier. Wenn du willst, können wir gemeinsam gehen. Ich kenne den Weg. Achso, ich bin übrigens Mimi«, stellt sie sich vor.
»Finya«, tue ich es ihr gleich und gehe mit ihr durch den Eingang der Horrorschule, die ich am liebsten nie wieder betreten hätte.
Alles sieht komplett anders aus als noch vor ein paar Minuten. Die Flure sind hell und ein grüner Teppich, der vorhin noch nicht da war, erstreckt sich über den Boden vor mir. Insgesamt wirkt es freundlicher und einladender. Keine Spur mehr von einem Lost Place. Es ist, als wäre alles um mich herum zum Leben erweckt worden.
Eingeschüchtert laufe ich schweigend neben Mimi her und frage mich zum tausendsten Mal, was innerhalb von … Sekunden? Minuten? Stunden? Gute Frage, ich habe keine Ahnung … passiert ist. Das alles kann irgendwie nicht sein. Meine Beine tragen mich einfach, als würde ich ferngesteuert werden. Mein Kopf ist voll und leer gleichzeitig.
Wir erreichen die Aula. Es handelt sich um einen riesigen Saal, der durch die große Glaskuppel, die das Dach bildet, lichtdurchflutet wird. Sie gehört zu den Räumen, die ich mir nicht ansehen konnte, weil ein Schild an der Tür besagte, dieser Teil der Schule dürfe nicht betreten werden. Doch anscheinend ist das jetzt nicht mehr der Fall.
Vor einem Rednerpult, welches ein seltsames Wappen trägt, das mich an die Symbole Feuer, Wasser, Luft und Erde erinnert, sind unzählige Stühle aufgestellt. Zögerlich folge ich Mimi. Wir setzen uns auf einen der freien Plätze in den vorderen Reihen. Sie ist mir irgendwie sympathisch, was an ihrem stetigen Lächeln liegen könnte oder vielleicht damit zu tun hat, dass sie gar nicht existiert. Ja, denn mittlerweile bin ich mir sicher, ich habe mir den Kopf angeschlagen und liege im Koma.
Sowas kommt häufig vor. Ich habe davon gelesen. Von Leuten, die eine Kopfverletzung erlitten haben, lange Zeit bewusstlos waren und nach dem Aufwachen geglaubt haben, sie hätten, was sich nur in ihrer Fantasie abgespielt hat, wirklich erlebt. Genauso muss es auch bei mir sein.
»Wo kommst du eigentlich her?«, fragt mich Mimi, nachdem sie ihre Tasche abgestellt hat, und lächelt mich wieder an.
»Kansas«, antworte ich knapp. Sie verzieht ein bisschen das Gesicht, sodass sich leichte Falten auf ihrer Stirn bilden, sagt aber nichts.
»Und du?«
»Eigentlich aus Majanoplis. Aber ich bin so gut wie hier aufgewachsen«, gibt sie zurück und jetzt schaue ich wohl genauso wie sie gerade noch.
Keine Ahnung, wo das sein soll. Ich kann es nicht mal aussprechen, nur kenne ich ja auch nicht jede Stadt auf der Welt, also hinterfrage ich es nicht weiter.
»Was genau ist das hier eigentlich für eine Schule?«, taste ich mich unauffällig weiter vor.
Entsetzt reißt Mimi die Augen auf. »Ist das dein Ernst? Du willst mir doch nicht erzählen, du wüsstest nicht, wo du dich hier befindest?!«
»Um ehrlich zu sein, nein. Ich bin …«, beginne ich, breche jedoch ab, weil ich gerade noch rechtzeitig merke, dass sie ja vielleicht nicht weiß, dass sie nur in meiner Fantasie existiert. Also denke ich mir lieber eine Lüge aus. »Mir hat niemand etwas gesagt. Ich wurde sozusagen hier abgestellt, ohne nähere Infos.«
Zweifelnd blickt sie mir ins Gesicht. »Okay, ich will dir nicht zu nahetreten, aber du bist schon ein bisschen seltsam.«
Wenn du nur wüsstest, wie seltsam alles für mich ist ... Anstatt etwas zu erwidern, zucke ich entschuldigend mit den Schultern.
»Na gut … Ich verstehe zwar nicht, wie das sein kann, aber lassen wir es mal außen vor und kommen zu den interessanten Themen. Was hast du für eine Gabe oder Fähigkeit?« Neugierig beäugelt sie mich.
»Keine?!« Meine Antwort klingt eher wie eine Frage.
»Kann nicht sein. Du bist immerhin auf einer Schule, die dir helfen soll, deine Fähigkeit zu fördern und sie kontrolliert einzusetzen.«
Das wird ja immer abgefahrener.
»Schau, meine Gabe ist das Sehen. Ich weiß viele Dinge schon, bevor sie passieren«, redet sie weiter, während ich sie etwas verdutzt anstarre. Bis sie mir bedeutet, mich umzudrehen, damit ich Ausblick auf den großen Bogen habe, durch den die Leute in die Aula strömen.
»Pass auf. Das Mädchen in dem rosa Kleid, die gerade reinkommt. Sie setzt sich auf den dritten Stuhl in der letzten Reihe und dabei fällt ihr der Zettel aus der Hand. Der Typ da hinten wird ihn aufheben.« Mimi zeigt auf einen Jungen in einem schwarzen Pullover.
Das ist ja fast schon unterhaltsam.
Gespannt schaue ich zu, was passiert, und tatsächlich geschieht keine zwei Minuten später alles genau so, wie sie es vorhergesagt hat.
»Wahnsinn.« Ich bin echt fassungslos. Es könnte Zufall sein, doch an Zufälle glaube ich nicht. Das Problem ist nur, wenn es kein Zufall ist, was ist es dann?
»So, jetzt du? Verrate mir, was du kannst!«
»Ich habe nicht den blassesten Schimmer.« Außer einer blühenden Fantasie, von der ich noch nichts wusste, ausgelöst durch einen Hirnschaden, ergänze ich gedanklich. Ich muss dringend herausfinden, was hier los ist. Der Grund für meine Anwesenheit kann ja nicht wirklich sein, dass ich eine übernatürliche Fähigkeit besitze. Davon hätte ich etwas wissen müssen. Irgendetwas ist hier faul oder ich habe tatsächlich den Verstand verloren.
Der Mann, der sich hinter das Rednerpult stellt, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Mit seinen dunklen, grau-melierten Haaren, die seinen Kopf zieren und der sportlichen Figur sieht er, obwohl ich ihn auf Mitte vierzig schätzen würde, attraktiv aus. Und das nicht, weil ich auf ältere Männer stehe. Es kommt mir einfach so vor, als wäre jeder hier unnormal schön.
Bevor er seine Ansprache hält, stellt er sich als Mr. Bulmetter und Rektor der Schule vor. Er erklärt uns grob, was uns hier erwartet. Unterricht, eine Menge Zeit zum Lernen und alle drei Tage Trainingseinheiten, was auch immer er genau damit meint. Es ist fesselnd, ihm zuzuhören, doch leider ergibt alles irgendwann keinen Sinn mehr für mich. Mit Unterricht, Punkten und Noten konnte ich ja noch etwas anfangen, aber als er beginnt von magischen Kräften, Elementarlehre und Kampfkunst zu reden und mit Begriffen um sich wirft, die sich für mich anhören, als würde jemand eine frei erfundene Sprache sprechen, schalte ich mental ab und höre erst wieder richtig zu, als er zum Ende kommt.
»…und nun, da Sie einen Überblick über das haben, was Sie hier die nächsten Monate erwarten wird, bitte ich Sie, sich Ihre Zimmer einzurichten, sich umzusehen und mit allem vertraut zu machen. Ihre Schlüsselkarte finden Sie in Ihren Taschen. Der Unterricht beginnt laut Stundenplan am Mittwoch. Er liegt in Ihren Zimmern. Bitte vergessen Sie nicht, heute Nachmittag zur Mentoren-Einteilung zu erscheinen. Jeder hat einen Brief auf seinem Schreibtisch, in dem die Uhrzeit steht. Sollte es noch Fragen geben, das Rektorat steht Ihnen immer zur Verfügung. Willkommen an der Simerty.«
Lautes Gemurmel entsteht in der Menge, die Leute erheben sich und laufen aus der Aula. Jeder sieht zu, dass er so schnell wie möglich hier rauskommt – außer Mimi und ich.
»Und welches Zimmer wurde dir zugeteilt?«, fragt sie mich und steht mit ihrer Karte in der Hand auf.
Auf ihre Frage hin wühle ich aus einem inneren Reflex heraus in meinem Rucksack, den ich unter meinen Stuhl gestellt habe. Eigentlich völliger Quatsch, denn warum sollte ich eine Karte besitzen? Ich bin ja nicht wirklich eine Schülerin, nur weil ich hier sitze. Auch wenn das … Stopp, niemals!
Durch den Stoff im Seitenfach erfühle ich etwas Hartes und greife mit einem mulmigen Kribbeln im Magen hinein. Langsam ziehe ich das flache Ding heraus, und tatsächlich, es ist eine Zimmerkarte, auf deren Vorderseite 3001 steht.
Das kann alles nicht sein. Nein! Wie kommt die in meine Tasche?! Himmel, ich muss aufwachen!
»Dreitausendeins«, antworte ich mechanisch, viel ruhiger, als ich mich fühle und stehe ebenfalls auf.
»Schade. Ich bin im ersten Stock, naja, egal, wir können zumindest bis dahin zusammen gehen. Dann musst du eigentlich nur noch zwei Stockwerke nach oben und nach links. Ist das letzte Zimmer im Gang«, erklärt sie mir.
»Ja, klar. Cool.« Ich nehme meinen Rucksack, das Einzige, was hier noch halbwegs bekannt scheint, dann laufen wir zusammen bis zur Treppe. Vor Mimi tue ich so, als wäre alles normal, damit sie mich nicht wieder für seltsam hält. Soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, mag ich sie nämlich irgendwie. Wahrscheinlich, weil sie nett zu mir ist und mit mir spricht, falls ich nicht mit mir selbst rede und sie wirklich vor mir steht.
Bevor ich allein weitergehe, verabschieden wir uns voneinander. Mimi beschließt einfach, dass sie gegen sechs Uhr heute Abend bei mir sein wird, da es wohl eine Party geben soll. Ich hoffe zwar, ich bin bis dahin wieder aufgewacht oder mich hat jemand irgendwie zurückgeholt, sage ihr aber zu und gehe dann weiter die Treppen nach oben.
Der dritte Stock sieht genauso aus wie die zwei anderen. Der einzige Unterschied jeder Etage ist die Farbe der Teppiche. Im ersten ist er blau, im zweiten orange und im dritten weinrot. Sehr farbenfroh.
Ich laufe den Gang entlang, wie Mimi es mir erklärt hat. Mein Zimmer ist wirklich das letzte in diesem Flur, direkt neben einem großen Fenster, welches mich auf den kleinen Teich sehen lässt.
Genau an diesem Teich saß ich heute Mittag, bevor ich durch das ganze Gebäude gehetzt wurde und deswegen allem Anschein nach, einen schrecklichen Unfall hatte. Oh man.
Kopfschüttelnd nehme ich meine Karte und halte sie vor den Türöffner, der sich unter einem goldenen Knauf befindet. Mit einem Summen springt die Tür nach innen auf. Vorsichtig luge ich hinein und kann es kaum glauben. Das Zimmer ist riesig im Vergleich zu meinem Zimmer im Heim. Außerdem ist es fast nobel, würde ich sagen. Kein typisches Studentenzimmer, sondern eingerichtet mit lackierten, dunklen Möbeln, die edel glänzen. Vor dem Fenster ist eine Bank, die mit rosafarbenen Kissen ausgestattet ist. Wow.
Das was ich vorhin hier erkundet habe, die alten Schlafräume, haben nichts mehr damit zu tun.
Ich werfe meinen Rucksack aufs Bett und sehe mich erstmal richtig um. Neben dem großen Kleiderschrank, für den ich gar keine Klamotten besitze, wie ich zu meinem Entsetzen feststelle, befindet sich eine Tür. Um das Was-ziehe-ich-an-Problem werde ich mich später kümmern. Jetzt schaue ich erst einmal nach, was sich hinter der Tür verbirgt. Zu meiner Überraschung kommt ein kleines Bad zum Vorschein. Mein Blick wandert über das Waschbecken, die bodenebene Dusche, den Spiegel und die Toilette aus meliertem Porzellan. Es ist sogar voll ausgestattet mit sämtlichen Kosmetikartikeln. Völlig irre.
Fasziniert von dem Bad, das einer Königin gehören könnte, laufe ich zurück ins Hauptzimmer. Da ist noch ein leeres Regal. Das Einzige, was sich darin befindet, ist eine überdimensional große Muschel in Schneckenform. Neugierig hebe ich sie an und drehe sie in meiner Hand herum. Sie sieht hübsch aus, schimmert hellblau. Etwas raschelt. Sind da Steine drin? Hmm, oder ist sie vielleicht kaputt. Was sind das für schwarze Punkte?
Ich fahre mit meinem Zeigefinger darüber. Sie stehen etwas aus der glatten Oberfläche heraus, geben nach und … »Ach du scheiße!«
Abrupt lasse ich die Muschel fallen, aus der plötzlich lautstark »Ride« von »Twenty one Pilots« schallt.
Was um alles in der Welt ist das denn?! Ungläubig und mit wild klopfendem Herzen starre ich auf die nächste Sache, die ich mir nicht erklären kann. Seit wann spielen Muscheln denn Musik? Echte Muscheln ... Genau so fühlt sie sich nämlich an. Wie solche, die man am Strand findet oder kaufen kann. Das gibt es nicht.
Einige Sekunden lasse ich verstreichen, dann hebe ich sie mit leicht zittrigen Fingern wieder vom Boden auf. Der Refrain beginnt. Sie wird mich jetzt hoffentlich nicht auch noch beißen.
»Okay, Finya. Das ist alles normal. Du bist nicht verrückt«, rede ich mir selbst gut zu, obwohl ich mir kein Wort glaube.
Fassungslos und kopfschüttelnd stelle ich die Radio-Muschel schnell zurück in das Regal, wo sie weiter Musik spielt, und wende mich ab. Keine Ahnung, wie man sie ausschaltet. Ich will sie auch echt nicht mehr anfassen.
Auf dem Schreibtisch neben dem großen Fenster entdecke ich Bücher und eine Mappe. Vorsichtig nehme ich sie und schlage sie auf. Darin befindet sich ein verschlossenes Kuvert, noch ein Zettel sowie ein Stundenplan, den ich gleich genauer anschaue. Zu meiner Verwunderung enthält er an jedem Tag nur zwei bis vier Stunden Unterricht. Bei den Tagen Montag, Mittwoch und Freitag steht mittags zusätzlich Training in den Spalten.
Seltsam. Normalerweise hat man doch bis nachmittags Unterricht. Zumindest in der Schule, auf die ich gehe oder jetzt auch nicht mehr ...
Mir fällt ein Flyer entgegen, der aus der Mappe rutscht, die ich noch immer in der Hand halte. Er segelt auf die Schreibtischplatte.
»Einladung zur Kennenlernparty«, lese ich die großen schwarzen Buchstaben. Das ist dann wohl die Party, die Mimi gemeint hat.
Ich lege die ganze Mappe zum Flyer und nehme das verschlossene Kuvert heraus, um es zu öffnen. Es ist ein Brief der Schulleitung. Das cremefarbene Papier ist schwerer als normales Druckerpapier und sieht hochwertig aus. Der ganze Brief ist in Feinschrift geschrieben.
Liebe Ms. Gomery,
bitte begeben Sie sich um 16 Uhr in den roten Saal. Dort werden Sie Ihren Mentor, der Sie durch das Schuljahr begleiten wird, treffen und kennenlernen.
Hochachtungsvoll
C. Bulmetter
Ein wenig nervös wippe ich mit dem Fuß.
Die Schulleitung kennt also meinen Namen. Woher haben sie den? Und warum wissen sie, wer ich bin, aber ich nicht, wo ich bin und wer sie sind? Shit. Ich bin echt am Arsch. Wie soll ich denn irgendwas von alldem verstehen, wenn ich nicht mal weiß, wie ich hier gelandet bin?
Zerknirscht setze ich mich auf das weiche Bett. Es gibt sanft unter mir nach. Krampfhaft überlege ich, woher ich Informationen bekommen könnte, bis mir mein Handy einfällt. Hektisch krame ich in meinem Rucksack herum und hole es heraus. Dann drücke ich auf den Knopf, mit dem das Display angehen müsste, es tut sich nichts. Ich probiere es nochmal. Wieder nichts.
War ja klar, dass der Akku leer ist. Zum Glück habe ich überall mein Ladekabel dabei.
Eilig hole ich es aus dem Rucksack. Nach einer Steckdose suchend, weil ich nirgends eine sehe, krabble ich durch das Zimmer und finde etwas, das eine sein könnte, zwischen Bett und Nachttisch. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich eine Steckdose ist. Sie sieht komisch aus. Wie die gruslige Radio-Muschel, nur dass sie an der Wand hängt, viel kleiner ist und zwei Löcher hat.
Einfach nicht darüber nachdenken und machen, Finya.
Mit der mir bewussten Gefahr, dass, wenn es dumm läuft, ich einen Herzstillstand erleide, ausgelöst durch einen Stromschlag oder etwas anderem Unerklärlichen, versuche ich den Adapter des Ladegeräts in die Löcher zu stecken. Dabei kneife ich die Augen zusammen und mache mich auf eine Explosion gefasst. Der Adapter des Kabels passt. Nur ein leises Klicken, nichts Ungewöhnliches geschieht und ich sterbe nicht. Erleichtert stoße ich die Luft aus, richte mich auf und greife nach meinem Handy, um es anzuschließen. Das Ladezeichen erscheint. Ich lege es auf den Nachttisch. Die Wartezeit überbrücke ich, indem ich mir noch das andere Schreiben ansehe, das den Unterlagen beiliegt.
Es steht nicht sehr viel drin, nur, dass der Unterricht für alle, außer den Drittsemestlern, am Mittwoch um acht Uhr beginnt und es heute einen Rundgang gibt, der um dreizehn Uhr startet und circa zwei Stunden dauern soll. Ich schaue auf meine Armbanduhr. Sie zeigt mir halb zwölf an.
Stehengeblieben ist sie offensichtlich nicht, auch wenn ich das vorhin gedacht habe. Also noch eineinhalb Stunden Zeit, bis die Führung beginnt.
Mir fällt wieder meine Ausflugsgruppe ein. Um zwölf wäre mit ihnen Treffpunkt am Tor gewesen, nach welcher Zeit auch immer. Ich könnte mein Glück nochmal versuchen und schauen, ob Mrs. Dunhill und die anderen dort auf mich warten. Wenn das nicht der Fall sein sollte, weil ich hier ausgesetzt wurde und auf mich allein gestellt bin, werde ich in die Aula zurückkehren und den Rundgang mitmachen. Denn dann muss ich dringend Infos suchen und schneller herausfinden, was mit mir passiert ist und wie alles hier läuft. Aus irgendeinem Grund kenne ich mich ja, in meiner eigens erschaffenen Welt nicht aus. Wenn ich das irgendwann Mr. Dump, meinem Psychologen, erzählen muss, dann habe ich sicherlich gleich die nächste Störung. Realitätsverlust oder so.
Bevor ich gehe, husche ich noch schnell ins Bad, um mich ein wenig frisch zu machen und - auch wenn mich das nicht überwiegend interessiert, weil mir Natürlichkeit besser gefällt als eine Tonne Make-up an mir – mein Aussehen nochmal zu checken. Ich richte meinen Zopf, aus dem sich einzelne Strähnen meiner langen braunen Haare gelöst haben. Die Mascara hält zum Glück, was sie verspricht und ist nicht verwischt. Meine hellbraunen Augen kommen weiterhin gut zur Geltung. Ich kann mich sehen lassen.
Während ich mich auf den Weg zum Außentor mache, wird mir plötzlich bewusst, dass das hier vielleicht genau der Neuanfang sein könnte, den ich mir immer gewünscht habe. Ohne die anderen Heimkinder, die mich sowieso die meiste Zeit ignorieren oder nerven. Das alles wäre Geschichte, weil mich hier keiner kennt.
Wenn ich also wirklich annehme, mein Körper hängt an irgendwelchen Maschinen, die mich am Leben erhalten und ich werde nie wieder in meinen Körper zurückfinden … oder sie schalten die Maschinen ab, und ich hänge deswegen für immer hier fest, dann ist das meine Chance, ein neues Leben zu beginnen. Der Gedanke gefällt mir.
Mit neuem Mut und einer mir unbekannten Euphorie erhöhe ich das Tempo meiner Schritte. Ich muss sofort sehen, ob die anderen am Tor sind und wenn nicht, dann werde ich meine Chance nutzen und es genießen, solange es anhält.
Am unteren Treppenende biege ich nach links ab und knalle auf einmal mit voller Wucht gegen etwas Hartes. Ich verliere das Gleichgewicht. Hektisch greife ich nach etwas, womit ich verhindern kann, zu Boden zu fallen und so die Lachnummer der ganzen Schule zu werden. Glücklicherweise erwische ich irgendwas Weiches, das sich wie Stoff anfühlt, doch es gibt nach. Rückwärts falle ich auf den Steinboden. Mit meiner freien Hand schaffe ich es, den Sturz abzufangen, damit ich nicht so hart aufkomme, und warte darauf, dass alle anfangen zu lachen, nur passiert das nicht. Stattdessen fällt etwas auf mich … oder eher jemand. Jemand Großes, Männliches. Er begräbt mich mit seinem Gewicht unter sich, mir weicht vom Aufprall alle Luft aus den Lungen. Während er sich wieder ein Stück aufrichtet und sich mit den Händen links und rechts neben mir abstützt, schaue ich schwer atmend nach oben. Dann bleibt mir ganz die Luft weg. Mein Herz setzt für einen Moment auch noch aus.
Das ist ein Scherz … Es muss einer sein, denn ich blicke in wunderschöne, eisblaue Augen.
»Für gewöhnlich tue ich ganz andere Dinge mit Frauen, die unter mir liegen«, raunt mir der hübsche, arrogante Arsch von heute Morgen entgegen. Seine Stimme ist rauchig und sein Blick würde mich ausziehen, wenn er es könnte.
Gefesselt von seinen Augen vergesse ich, dass wir in einem Gang liegen, in dem mehrere andere Schüler stehen. Ich kann nicht mal mehr erfassen, wo oben und unten ist. Er ist einfach wahnsinnig schön.
Dieses verschmitzte Lächeln auf seinen Lippen. Wie sie sich wohl anfühlen, wenn …
Ich schüttele den Kopf und reiße mich nur mit Mühe von seinen Augen los. Es ist das einzig Vernünftige, was ich hinkriege.
Ich muss dringend wieder zu Verstand kommen! Er muss …
»Runter von mir«, zische ich und stemme meine Hände gegen seine stahlharte Brust. Himmel … wie oft trainiert er denn?
Der Typ rührt sich keinen Zentimeter. Stattdessen bleibt er unverändert auf mir liegen und neigt den Kopf leicht zur Seite.
»Warum so eilig? Gefällt´s dir nicht?«, haucht er mir entgegen.
Oh doch … ähm nein! Was denke ich da?! Was denkt er sich denn?! Erst das am Eingang und jetzt liegt er auf mir. Das macht man doch nicht. Egal, ob man jemanden gut findet oder nicht. Es gibt schließlich Grenzen. Außerdem kann ich nicht denken, wenn er mir so nah ist. Mein Gehirn ist dann nicht mehr richtig funktionstüchtig. Und unverschämt war er auch.
»Du liegst auf mir, obwohl ich dich gar nicht kenne!«
»Aber das macht es doch gerade so interessant.«
Der hat ´nen Vollknall!
»Du spinnst doch. Geh jetzt runter von mir.« Wieder drücke ich gegen seine Brust.
Abstand … ich brauche Abstand. Sein Duft ist viel zu intensiv und vernebelt mir das Hirn.
»Viele Frauen würden töten, um mit dir zu tauschen. Vielleicht willst du deine Meinung nochmal überdenken«, sagt er selbstgefällig. Sein Gesicht ist schon wieder nur Millimeter von meinem entfernt und sein Blick wirkt hypnotisierend.
Wie heute Morgen bereits, nur noch viel stärker, überkommt mich plötzlich ein tiefes Gefühl von Sehnsucht. Mein Körper kribbelt und ich verspüre erneut den unendlichen Drang, ihn an mich zu ziehen und ... Nein! Was ist denn nur los mit mir?
»Stopp. Runter!«, sage ich so laut, dass es jeder um uns herum hören müsste, aber keiner würdigt uns eines Blickes. Sie kriegen es nicht mal mit.
»Interessant«, flüstert er und steht auf. Dann stellt er mich in Sekundenschnelle auf die Füße, als würde ich nichts wiegen. Hastig stolpernd nehme ich ein paar Schritte Abstand.
»Was willst du eigentlich von mir? Es ist das zweite Mal heute, dass du mir ungefragt so auf die Pelle rückst. Hast du irgendeine Störung?«, motze ich und richte mein Top.
Er lacht, was in meinen Ohren wie wunderschöne Musik klingt, nur kann ich mich nicht daran erinnern, einen Witz gemacht zu haben.
»Du kannst es herausfinden«, bietet er mir gönnerhaft an. Das Funkeln in seinen Augen entgeht mir nicht. Es erinnert mich an ein Tier, das seiner Beute auflauert. Etwas Bedrohliches spiegelt sich darin.
Es ist nicht schwer zu erkennen, dass er Ärger bedeutet. Davon habe ich mich immer ferngehalten. Ich sollte ganz schnell verschwinden.
»Bestimmt nicht«, lehne ich ab, gehe, um meine Worte zu unterstreichen, an ihm vorbei und führe meinen Weg fort.
Er lässt mich gewähren, doch als ich abbiegen will, höre ich ihn wieder.
»Zu deiner Frage, was ich eigentlich von dir will«, beginnt er und macht eine kurze Pause. Ich tue so, als würde es mich nicht interessieren und laufe mit flatterndem Magen weiter, ohne mich umzudrehen.
»Vielleicht gefallen mir ja einfach nur Herausforderungen«, beendet er seinen Satz. Das Kribbeln in mir verstärkt sich und ich werde den Gedanken nicht los, dass, was immer es auch ist, noch nicht einmal richtig begonnen hat.
Von dem Kerl muss ich mich fernhalten, egal wie. Auch wenn er unverschämt gut aussieht und ich kaum einen anderen Gedanken fassen kann, wenn er in meiner Nähe auftaucht. Er bedeutet nichts Gutes. Wenn ich will, dass das hier funktioniert oder nach einem Weg zurück in mein normales Leben suche, dann kann ich keine Ablenkung gebrauchen. Schon gar nicht so eine düstere, anziehende Ablenkung. Außerdem will ich die zweite Chance, die ich hier möglicherweise bekomme, nutzen und zu einem schönen Leben machen, nicht zu einem schlechten Horrorfilm.
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Am Tor wartet natürlich niemand auf mich, was ich mir schon fast gedacht habe. Um mich wirklich davon zu überzeugen, nicht am falschen Platz nachgesehen zu haben, laufe ich zu der Stelle, an der Mrs. Dunhill vorhin ihr Auto geparkt hatte. Doch da ist kein Parkplatz mehr, sondern nur eine Zufahrtsstraße, ganz viele Bäume und endlose Felder. Es sieht aus, als hätte dieser Parkplatz niemals existiert. Genauso wenig wie der Rest des verlassenen Ortes, der das ganze Gelände heute Morgen noch war.
Warum ist hier alles plötzlich so anders? Was mache ich denn jetzt?