Von der Selbst-Begegnung - Abraham Ehrlich - E-Book

Von der Selbst-Begegnung E-Book

Abraham Ehrlich

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Beschreibung

Die Tatsache des Fremd-Seins des Menschen seiner Um-Welt gegenüber erzeugt das Bedürfnis, diese ursprüngliche Spaltung zu überwinden. Zeitlich und logisch sind beide gleichzeitig gegeben: Das Ich kann ohne den Rahmen der Um-Welt sich selbst nicht bewusst sein; diese Um-Welt wiederum kann nicht als die Um-Welt eines Ichs gelten, ohne dass ein Ich sie als seine Um-Welt wahrnimmt. Vor diesem Hintergrund wird das Bedürfnis, sich in diese Um-Welt zu integrieren, existenziell, also wesenhaft für das persönliche menschliche Dasein: Welche Stellung hat der Mensch in einer Wirklichkeit, die ihm fremd ist? Was hat sein Leben mit dieser Wirklichkeit zu tun? Inwiefern geht sie ihn an? Welche Art der Beziehung besteht zwischen seinem Wesen als Mensch und als Individuum bzw. Person und zwischen der Wirklichkeit, die von ihm vollkommen unabhängig ist? Oder ist etwa alles, vor allem das eigene Leben, so wie Kohelet ("Prediger") zunächst behauptet, sinnlos, bedeutungslos und bestandlos ist? Wie lassen sich die oben genannten Fragen klären? Wenn der Mensch ein integraler Teil der Wirklichkeit sei, der er zunächst als Fremder gegenübersteht, so muss diese Klärung mit der Auseinandersetzung um die Erkenntnis-Bestimmung der Wirklichkeit beginnen und so den Menschen erkenntnismäßig immer näher zu sich selbst führen. Für diese Art der Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und mit der Welt steht von Anfang an seit Jahrtausenden der Name 'Philosophie'. Der philosophischen Klärung dieser existenziellen Fragen ist das vorliegende Buch gewidmet.

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Abraham Ehrlich

Von der Selbst-Begegnung

Zwischen Selbst-Deutung und Selbst-Erkenntnis

Eine erkenntnistheoretische Betrachtung

Copyright: © 2023 Abraham Ehrlich

Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Titelbild: © kuligssen (depositphotos.com)

Verlag und Druck:

tredition GmbH

An der Strusbek 10

22926 Ahrensburg

Softcover 978-3-347-93217-3

Hardcover 978-3-347-93218-0

E-Book 978-3-347-93219-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

לעדנה וליונתן, לרחלי ולחגי, ללביא, ליעלי ולשקד :

„Der Mensch besteht in der Wahrheit. Gibt er die Wahrheit preis, so gibt er sich selbst preis. Wer die Wahrheit verrät, verrät sich selbst. Es ist hier nicht die Rede von Lügen – sondern vom Handeln gegen Überzeugung“

Novalis, Blütenstaub, 38; siehe Anm. 3, dort S. 242

„Die Aufklärung, deren sich die höheren Stände unseres Zeitalters nicht mit Unrecht rühmen, ist bloß theoretische Kultur, und zeigt, im ganzen genommen, so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnung, daß sie vielmehr bloß dazu hilft, die Verderbniß in ein System zu bringen, und unheilbarer zu machen“

Friederich Schiller, Brief an den Herzog von Augustenburg 13.6.1793

„Jede Generation sieht zweifellos ihre Aufgabe darin, die Welt neu zu erbauen. Meine Generation jedoch weiß, dass sie sie nicht neu erbauen wird. Aber vielleicht fällt ihr eine noch größere Aufgabe zu. Sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern. Als Erbin einer morschen Geschichte, in der verkommene Revolutionen, tollgewordene Technik, tote Götter und ausgelaugte Ideologien sich vermengen, in der die Intelligenz sich so weit erniedrigt, dem Hass und der Unterdrückung zu dienen, sah diese Generation sich vor die Aufgabe gestellt, in sich und um sich ein weniges von dem, was die Würde des Lebens und des Sterbens ausmacht, wiederherzustellen.“

Albert Camus, Nobelpreisrede 10. Dezember 1957

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort

Einführendes

I. Grenzsituationen

I.1. Zwischen Entwicklung und Wachstum

I.2. Von der menschlichen Authentizität

I.3. Die Frage nach dem Sinn des Lebens16

I.4. „Was also ist der Mensch?“

II. Die Selbst-Erkenntnis des Menschen als Grundlage seiner tatsächlichen Verwirklichung: Die Grundlagen der Philosophie der Kunst

II.1. Philosophie, Kunst und Wirklichkeit 1

II.2. Philosophie, Kunst und Wirklichkeit 2

II.3. Zur Bestimmung der philosophischsystematischen Betrachtung von Kunst

II.4. Zur Einteilung der Künste

II.5. Zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kunst und Leben

II.6 Exkursion: Kunst, Wahrheit und Freiheit

III. Zwischen Selbst-Deutung und Selbst-Erkenntnis – Zwischen Existenzphilosophie und erkenntnistheoretisch bestimmte systematische Philosophie

IV. Schlusswort: Philosophie und Leben

Von der Selbst-Begegnung

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort

Introduction

IV.Schlusswort: Philosophie und Leben

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Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser, die Zeit, in der dieses Buch entsteht, die Frühlingstage des Jahres 2022, sind Tage eines schrecklichen Krieges in Mitten Europas. Die Denkweise, die zur Entstehung dieses Krieges geführt hat, herrscht schon lange, sie bestimmt den Umgang mit diesem Krieg, wie auch seinen Verlauf; und diese Denkweise wird auch nachdem dieser Krieg ausgeklungen ist, weiterhin herrschen.

Es geht mir nicht darum, diese Denkweise zu analysieren, sondern um die Klärung dessen, was eine derartige Denkweise möglich macht. Sie beginnt mit einer Art des Selbst-Verständnisses einer Person, die ohne sich dessen bewusst zu sein, so beschaffen ist, dass sie von Hochmut, Selbst-Gerecht-Sein, Rechthaberisch-Sein und Selbstgefälligkeit geprägt ist.

Es handelt sich um eine Art des Welt-Bezugs, der durch einen extrem starken Selbst-Bezug bestimmt ist, was durch eine starke Spannung zwischen dem Ich und seiner Um-Welt zum Ausdruck kommt. Es ist ein Kreis, der beim Ich beginnt und durch eine stark geprägte Vor-eingenommenheit beim Ich endet: Es bleibt ständig bei sich – in allem, was ist und in allem, was geschieht, sieht es einen starken persönlichen Bezug zu sich.

Dieses Ich ist eine urteilendeundwertende Person, die durch das intensive Urteilen und das intensive Werten die Wahrnehmung, die Betrachtung und die Bestimmung alles Wirklichen stark verzerrt und dabei radikale Selbst-Blindheit kultiviert. Der Hinweis auf dieses Phänomen erzeugt bei einer solchen betroffenen Person in der Regel starke emotionale Reaktionen, so als ob das eigene Selbst dieses Selbst-Verständnisses in Frage gestellt würde.

Diese Selbst-Blindheit, die die persönliche Welt- und die persönliche Selbst-Wahrnehmung bewirkt, verzerrt alles, was der Person existentiell wichtig ist: Es ist ihre persönliche Identität, ihr Lebenssinn und ihr Lebensglück.

Welche Umstände sind es, die Menschen erschüttern können, die von dieser Selbst-Blindheit betroffen sind, so dass sie ihren radikalen Selbst-Bezug wahrnehmen und dazu angeregt werden, sich nach und nach davon zu befreien, die Freiheit von der eigenen beschränkten Wahrnehmung und Betrachtung zu erlangen??

Die Klärung diese Frage möchte ich anhand von zwei Situationen darlegen, an denen das Ich an die Grenzen seiner persönlichen Orientierung stößt: die positive Situation der Liebe und die negative Situation der radikalen Horizont- und Perspektivlosigkeit.

Vor dem Hintergrund solcher Extremsituationen bzw. Grenzsituationen lässt sich besonders deutlich der Unterschied zwischen Selbst-Deutung und Selbst-Erkenntnis feststellen. Das Selbst-Bewusst-Sein steht von Anfang an in Zusammenhang mit einem Selbst-Bild, das durch intuitiv spontane Selbst-Deutung entsteht.

Die Deutung des eigenen Selbst und die Erzeugung des Bildes von sich selbst sind ganz gängige Selbst-Bewusstseins-Prozesse und sie ändern sich ständig mit Zeit und Raum, genau wie die in diesem jeweiligen Selbst-Bild zum Ausdruck kommende vordergründige persönliche Identität: Die Lebenssituation eines zehnjährigen Menschen bedingt ein ganz anderes Bild von sich als die Lebenssituation eines zwanzigjährigen, und wiederum eines vierzigjährigen usw. Diese vordergründig bestimmte Identität ist sehr stark von der eigenen Selbst-Deutung und demensprechend von dem eigenen Selbst-Bild beeinflusst. Interessant dabei ist die Tatsache, dass die Kern-Identität eines Menschen nicht bloß gleich, sondern identisch bleibt, und das in einer immer währenden Entwicklung bzw. in einem persönlichen Wachstum, die bzw. das von der Selbst-Erkenntnis bedingt ist (sieh System I.1.).

Im Unterschied zu Selbst-Deutung und Selbst-Bild ist die Selbst-

Erkenntnisauf gar keine Weise intuitiv: Sie verlangt Selbst-Distanzierung, also die Fähigkeit, sich gewissermaßen von außen zu betrachten. Dabei wird die zeit-räumliche Dimension des eigenen Bestehens immer deutlicher: Der selbst-reflektierende Mensch ist seiner persönlichen Vorgeschichte bewusst, die mit dem Gegenwarts-Bewusstsein eng verbunden ist. Ebenfalls mit dieser Vorgeschichte hat der Mensch einen in diesem Bewusstsein innewohnenden kontinuierlichen Horizont des Selbst-Entwurfs, der im konkret geführten Leben immer deutlicher zum Ausdruck kommt

Die Selbst-Deutung ist kein Zustand, sondern sie wirkt direkt auf die Art, wie ein Mensch denkt, sich verhält und wie er sein Leben führt. Wesentlich für das Selbst-Bild eines Menschen, was das Selbst-Verständnis und so seine verhaltensmäßige Orientierung in seiner Lebensführung bedingt, ist seine normative Bedeutung. Die starke Spannung, die zwischen dem so verstandenen Selbst-Bild eines Menschen und zwischen seiner konkreten Lebenssituation besteht, kann nur durch einen persönlichen Selbst-Entwurf entschärft werden, der durch Selbst-Erkenntnis entsteht: Es ist das, worin das Wachstum eines Menschen besteht.

Zu besonderem Dank bin ich meinem Sohn Jonathan verpflichtet, der mir bei der sprachlichen Gestaltung des Manuskripts eng zur Seite stand. Für die Betreuung der Publikation meines Buches möchte ich mich beim Herrn Erik Kinting für die Bearbeitung des Manuskripts zum fertigen Buch herzlich bedanken. Ebenfalls bedanken möchte ich beim Publikationsteam des „tredition“-Verlags für die Veröffentlichung des Buchs.

Diese beabsichtigte Klärung stützt sich ganz auf die vorherigen systematischen Arbeiten, besonders aber auf das drei teilige „System der Philosophie“; Abschnitte daraus werden im jetzigen Buch zitiert:

- Das System der Philosophie. Die systematische Grundlage zur Erkenntnis der Wirklichkeit und zur Bestimmung der Stellung des Menschen in ihr, Frankfurt am Main 2012 (zitiert: System I)

- Der Mensch und seine Welt: Zur erkenntnistheoretischen Klärung der Stellung des Menschen in der Welt und der Bedingungen der Verwirklichung seiner Freiheit – das System der Philosophie II, Frankfurt am Main 2013 (zitiert: System II)

- Die Grenzen der Erkenntnis und dahinter: Zur Klärung der erkenntnistheoretischen Grundlage des religiösen Glaubens – das System der Philosophie III, Frankfurt am Main 2014 (zitiert: System III)

Hinzu kommen folgende punktuelle systematische Ergänzungen:

- Religion, Wissenschaft und Erkenntnis der Wirklichkeit, Hamburg 2020 (zitiert: Religion)

- Zur Wesensbestimmung der Philosophie, Hamburg 2021 (zitiert: Philosophie)

- Wozu Kultur? Zwischen Kultur und Menschen-Vergessenheit, Hamburg 2021 (zitiert: Kultur)

- Zwischen Gut und Böse. Eine erkenntnistheoretische Betrachtung zum Wesen der Wirklichkeit, Hamburg 2021 (zitiert: Gut u. Böse)

Einführendes

1. Der Mensch ist das einzige Wesen in der uns bekannten und erkannten Wirklichkeit, das im Besitz eines Bewusstseins von sich selbst ist: In ihm ist Bewusstsein und Selbstbewusstsein identisch. Gewiss besitzen andere Lebewesen Bewusstsein; jedoch ein Bewusstsein des eigenen Selbst besitzt nur der Mensch. Der Grund ist in dem zu finden, was das ‚Selbst‘ ausmacht. Es ist das ‚Ich‘, das jeder Zustand und alle Tätigkeiten bewusst als seine versteht. Das Selbst, das Ich, ist sich auf eine sehr fundamentale Weise vorgegeben, wobei dieses „Vorgegeben-Sein“ bis zu einem gewissen Punkt Ergebnis seiner eigenen Selbst-Bestimmung ist. Das Selbst-Bewusstsein ist also eine Grundtatsache des menschlichen Daseins. Dabei müssen wir die Bezeichnung des Menschen als Individuum von seiner Bezeichnung als Person unterscheiden: Die Bezeichnung „Individuum“ betont den Unterschied des Einzelmenschen zu allen anderen Menschen („Individuen“) wie auch seine Einzigkeit gegenüber der Menschengattung, sie betont also die Singularität eines jeden Einzelmenschen in seinem Einzeldasein, wobei die Bezeichnung „Person“ die besondere Seins-Weise des Menschen als Selbst-Sein betont. „Person“ betont somit den Einzelmenschen in seinem Zusammenhang mit dem Wirklichkeitsganzen. Die Person ist der einheitliche Beziehungs- und Bezugspunkt aller Handlungen und Tätigkeiten des Menschen als deren Ursprung und als deren letzter aktiver Grund. Es ist das, was der Mensch meint, wenn er „Ich“ sagt. Persönlichkeit ist das, was einem individuellen Menschen in jeder Hinsicht eigen ist. Diese Bezeichnung bezieht sich somit auf den Inbegriff all dessen, was der Person wesentlich ist; der empirische Ausdruck der Persönlichkeit ist der Charakter.1

Diese Grundtatsache des menschlichen Daseins bedeutet, dass der Mensch nicht einfach „dahinlebt“, sondern dass er sein Leben – jeden Moment seines Lebens und sein Leben als ganzes – richtet und plant. Dabei spürt er die Spannung zwischen ihm und zwischen der Wirklichkeit, in der er sein Leben führt.

Diese bis zur Wurzel seines Daseins reichende Tatsache erzeugt das existenzielle Grundbedürfnis, das in dem Streben nach der Bestimmung einer klaren persönlichen Identität, nach persönlichem Lebenssinn und nach persönlichem Lebensglück besteht. Dieser Vorgang läuft oft ohne besondere bewusste Reflexionstätigkeit, jedoch je bewusster dieses Streben ist, desto wirklicher ist das Ich (das einzelne Individuum als Person) wie auch seine Welt: Der Mensch lebt nicht einfach in der Welt, er hat eine Welt!

Was es bedeutet, die Um-Welt, der der Mensch zunächst als Fremder gegenüber steht, als seine Welt zu bestimmen, dies zu klären ist die Aufgabe der philosophischen Tätigkeit.

2. Die Tatsache des Fremd-Seins des Menschen seiner Um-Welt gegenüber erzeugt das Bedürfnis, diese ursprüngliche Spaltung zu überwinden. Zeitlich und logisch sind beide gleichzeitig gegeben: Das Ich kann ohne den Rahmen der Um-Welt sich selbst nicht bewusst sein; diese Um-Welt wiederum kann nicht als die Um-Welt eines Ichs gelten, ohne dass ein Ich sie als seine Um-Welt wahrnimmt.

Vor diesem Hintergrund wird das Bedürfnis, sich in diese Um-Welt zu integrieren, existentiell, also wesenhaft für das persönliche menschliche Dasein: Welche Stellung hat der Mensch in einer Wirklichkeit, die ihm fremd ist? Was hat sein Leben mit dieser Wirklichkeit zu tun? Inwiefern geht sie ihn an? Welche Art der Beziehung besteht zwischen seinem Wesen als Mensch und als Individuum bzw. Person und zwischen der Wirklichkeit, die von ihm vollkommen unabhängig ist? Oder ist etwa alles, vor allem das eigene Leben, so wie Kohelet („Prediger“)2 zunächst behauptet, sinnlos, bedeutungslos und bestandlos ist?

In diesem Zusammenhang ist es entscheidend wichtig zu betonen, dass es sich hier um die Integration des Menschen als Individuum und Person, auf gar keinen Fall aber um seine Assimilation in der Wirklichkeit handelt.

Die Assimilation verwischt jede Art der Individualität und damit jede Art des Persönlichen. Die Integration dagegen bewahrt einerseits die Differenziertheit, die strenge Eigenständigkeit und die strenge Eigentümlichkeit der Elemente in einer gegebenen Einheit, die jedoch (die Einheit) als solche kraft ihrer gesetzmäßigen Ganzheit die Eigenständigkeit und die Eigentümlichkeit ihrer Elementen konstituiert.

Die strenge Einheit der Wirklichkeit konstituiert und bewahrt die Eigenständigkeit und die Eigentümlichkeit eines jeden Wirklichen, das wiederum seinem Wesen nach als Wirkliches erkenntnismäßig zu dieser streng geschlossenen Einheit der Wirklichkeit drängt, die wiederum jedes Wirkliche als Einzelelement erkenntnismäßig ermöglicht.

Wie lassen sich die obengenannten Fragen klären? Wenn der Mensch ein integraler Teil der Wirklichkeit sei, der er zunächst als Fremder gegenübersteht, so muss diese Klärung mit der Auseinandersetzung um die Erkenntnis-Bestimmung der Wirklichkeit beginnen und so den Menschen erkenntnismäßig immer näher zu sich selbst führen. Für diese Art der Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und mit der Welt steht von Anfang an seit Jahrtausenden der Name ‚Philosophie‘.

Hier handelt es sich nicht um eine akademisch-wissenschaftliche Art des Erkenntnisgewinns, sondern um den existenziellen Drang, über die Erkenntnis der Wirklichkeit sich selbst als Mensch und als Individuum näher zu kommen. Novalis, der Dichter der Romantik hat diese Tatsache mit eindeutigem Bezug auf die Philosophie auf den Punkt gebracht: “Die Philosophie ist eigentlich Heimweh – Trieb überall zu Hause zu sein“.3

Diese fundamentale persönlich existentielle – und nicht bloß theoretische – Ich-Bezogenheit der Philosophie hat Immanuel Kant in Fragen-Form folgendermaßen formuliert: „Das Feld der Philosophie […] lässt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?“4 Und als Höhepunkt der Klärung dieser Fragen drängt sich die Frage „Wer bin ich?“ heftig in den Bewusstseinshorizont.

Diese Ich-Fragen sind also nicht bloß die Grundfragen der Philosophie, sondern die persönliche Fragen eines Menschen, der durch eine existentielle Not gedrängt wird, sich auf den Weg der Klärung der Frage „Wer bin ich?“ zu begeben und als das, was er ist, nach und nach immer klarere Orientierung in dieser Welt zu erlangen, so dass er als das, was er ist, in ihr sein zu Hause, er seine Welt findet. So zeigt sich die Philosophie seit ihrem Anfang in altem Griechenland als Philosophieren, als die eigentümliche Aufgabe, dem Ich vor dem Hintergrund der Wirklichkeits-Erkenntnis über die Selbst-Erkenntnis selbst näher zu kommen.

Unter ‚Philosophie‘ als Philosophieren verstehen wir die systematisch geführte individuell-persönliche Selbst-Reflexion, die mit der akademischen Philosophie nicht zu verwechseln ist, die ihrem Wesen nach Philosophie-Wissenschaft darstellt. Ihr Verhältnis zum Philosophieren ist gleich das Verhältnis zwischen Literatur und Literaturwissenschaft, zwischen Kunst und Kunstwissenschaft oder zwischen Musik und Musikwissenschaft und ähnliche Geisteswissenschaften zu ihrem Forschungsobjekt. Im Philosophieren, also in der persönlichen Auseinandersetzung mit den Grundfragen des menschlichen Lebens besteht das eigentümliche Wesen der Philosophie – und so verwenden wir auch diesen Begriff: Philosophie als die Tätigkeit des Philosophierens.5

1 Vgl. System II, S. 15ff.

2 Der biblische König Salomon („Schlomo“); siehe das biblische Buch Kohelet („Prediger“)

3 Novalis – Freidrich von Hardenberg –, Werke, Tagebücher und Briefe; Werke Bd. II, hrsg. von Hans-Joachim Mähl, München u. Wien 1987, S. 675 (Fragment 857)

4 Logik, III. Begriff von der Philosophie überhaupt, Akademie Ausgabe, IX, S. 25, in: https://korpora.zim.uni-duisburgessen.de/kant/aa09/025.html, 13.4.2022, 15: 00

5 Siehe dazu Philosophie

I. Grenzsituationen

1. Das Phänomen der Grenzsituation ist unserem Alltag nicht fremd. Laut Duden ist eine Grenzsituation „eine ungewöhnliche Situation, in der nicht die üblichen Mittel, Maßnahmen zu ihrer Bewältigung Anwendung finden können“.6 Mit anderen Worten: Es ist eine Situation, in der eine Person ihre Orientierung verloren hat und nun eine neue finden muss: „Es ist alles nichts, doch so, daß der Ernst des Tuns vertieft und nicht gelähmt wird.“7

„ Als philosophischer Terminus wird er erstmals 1919 von Karl Jaspers in seiner „Psychologie der Weltanschauungen“ verwendet. Im Rahmen seiner „Existenzphilosophie“ bezeichnet Jaspers damit Situationen, in denen der Mensch endgültig, unausweichlich und unüberschaubar an die Grenzen seines Seins stößt. […] Es sind „Situationen, in denen Existenz sich unmittelbar verwirklicht, letzte Situationen, die nicht verändert oder umgangen werden können.“8,9 „Es handelt sich“, so schreibt Gernot Böhme10, „um eine Darstellung des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt, dass dieses Leben verantwortlich übernommen werden muss. In dieser Beschreibung spielt der Begriff der Grenzsituation eine entscheidende Rolle. Es sind Situationen, die die Bedingungen – das sind die Grenzen – des menschlichen Daseins überhaupt deutlich machen. Dabei definiert Jaspers Situation wie folgt: Eine Situation ist „die Wirklichkeit für ein an ihr als Dasein interessiertes Subjekt" (Jaspers 1956, 201f). Eine Situation ist also keine neutrale Konstellation oder ein Sachverhalt, sondern vielmehr eine Konstellation oder Sachverhalt in seiner Relevanz für den einzelnen Menschen. […] Als Grenzsituationen werden nun solche definiert, die unausweichlich zum Leben gehören: „Situationen wie die, dass ich immer in Situationen bin, dass ich nicht ohne Kampf und ohne Leid leben kann, dass ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, dass ich sterben muss, nenne ich Grenzsituationen" (Jaspers 1956, 203). Diese Definition ist zunächst überraschend, insofern sie die Grenzsituationen gerade nicht als besondere Situationen auszeichnet. Das wird vor allem am ersten Beispiel deutlich, in dem Jaspers als Grenzsituation bezeichnet, „dass ich immer in Situationen lebe“. Karl Jaspers will sichtlich mit dem Ausdruck Grenzsituation all das beschreiben, was notwendig und unausweichlich zum menschlichen Leben gehört. Der Begriff der Grenzsituation wird aber sogleich interessant, wenn man nur einen Schritt – vielleicht über Jaspers hinaus – weitergeht und feststellt, dass man normalerweise die Grenzen des menschlichen Daseins nicht spürt. Vielmehr sind es erst Situationen der Gefährdung oder, auf der anderen Seite, der Lebenssteigerung, die die Grenzen spürbar werden lassen, und damit was menschliches Leben eigentlich heißt. Und diesen Schritt können wir sicherlich wieder mit Jaspers tun, nämlich festzustellen, dass man das menschliche Dasein erst eigentlich, d.h. bewusst vollzieht, wenn zugleich dessen Grenzen spürbar werden. Jaspers sagt, dass das eigentlich menschliche Dasein – bei ihm terminologisch als Existenz bezeichnet – sich im Ergreifen der Grenzsituationen vollzieht: „Wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten […]. Grenzsituationen erfahren und Existieren, ist dasselbe" (Jaspers 1956, 204).“

2. „Es ist alles nichts, doch so, daß der Ernst des Tuns vertieft und nicht gelähmt wird“11 Was heißt das aber konkret? Was bedeutet dieses „Es ist alles nichts“ und wie befreit man sich aus dieser Art der Enge? Wie soll man den „Ernst des Tuns“ verstehen, so dass man vom sogenannten „Alles nichts“ nicht gelähmt wird – obwohl die unmittelbare Neigung dazu spontan zu verspüren ist?

„Wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten […]. Grenzsituationen erfahren und Existieren, ist dasselbe"12 In dieser Aussage werden die Aspekte genannt, die für die Klärung der oben gestellten Fragen relevant sind: Es sind das Ich, die Grenzsituation, in der es sich befindet und sie erfährt, wie auch die radikale Verantwortung, die es für sein persönliches Leben tragen soll, ja tragen muss, um das zu sein, was es ist – als Individuum und als Teil einer Gemeinschaft.

Das Phänomen der Grenzsituation wirft den Menschen auf sich selbst und zwingt ihn, sich selbst zu bedenken: Die Frage „Wer bin ich?“ und die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens sind mit voller Wucht präsent! Sie werden zwar „Fragen“ genannt, sind aber keine Fragen, die eine konkrete, begrenzte Antwort verlangen, sondern Lebens-Situationen, in denen das Leben gewissermaßen an die Tür klopft und nach bedingungsloser Klärung, Rechenschaft und Entscheidungen verlangt!

3. Seit mehr als zwei Jahrhunderten sind das gesamte Denken und das gesamte Selbstempfinden des Menschen von seinem Willen geprägt, sich selbst zu bestimmen. Dieser Wille hat den Menschen der westlichen Kultur dazu geführt, für sich den Weg der Verwirklichung der menschlichen Freiheit und dadurch der Verwirklichung des Menschlichen in seiner individuellen Prägung zu bestimmen.

Dazu wird nicht „Bildung“, auch nicht bloß Anhäufung von Information („Wissen“) in den unterschiedlichen Bereichen der Kultur verlangt; dazu ist auch nicht die Art unserer persönlichen Entwicklung entscheidend, sondern unser persönliches Wachstum.13

I.1. Zwischen Entwicklung und Wachstum

1. Um dem Wesen des Wachstums näher zu kommen, müssen wir es grundsätzlich von jeglicher Art von Entwicklung unterscheiden. 14 Die Rede von Entwicklung ist grundsätzlich nur in Bezug auf Lebewesen sinnvoll: Das Wesen der Entwicklung besteht in einem Prozess, der einer inneren Notwendigkeit gehorcht, die dem Wesen, das sich entwickelt, vorschreibt, wie dieser Prozess in ihm vorgehen soll.

Das Leben, das Lebendige, verfügt über Entwicklungskräfte, die sich nach einem Lebensprinzip entfalten: Jeder Organismus entwickelt sich gesetzmäßig nach in ihm innewohnenden Anlagen zu einem art- oder gattungsmäßigen Endzustand.

Das Wesen der Entwicklung besteht also im Sichtbarwerden, im Zutage treten von keimhaften Anlagen. Die Entwicklung stellt eine zunehmende Differenzierung dar, und der Endzustand, in dessen Richtung sich die Entwicklung vollzieht, bedeutet das Ende der Differenzierung der keimhaften Anlagen und lässt das „Endprodukt“ wahrnehmen.

Während bei den Pflanzen und bei den Tieren dieser Endzustand das Ende ihrer biologischen Entwicklung darstellt, und wir nehmen dann eine bestimmte Pflanze oder ein bestimmtes Tier wahr, bildet dieser Endzustand der Entwicklung beim Menschen den Ansatzpunkt zu seinem wahren, eigentlichen Leben.

Das heißt, beim Menschen spielt nicht bloß die physische Existenz und ihre Möglichkeiten die Hauptrolle, sondern die Frage, inwiefern diese physische Existent von Selbst-Wahrnehmung, von Selbst-Bewusstsein und dementsprechend von Selbst-Deutung oder Selbst-Bild geprägt ist. Erst vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, von der Frage nach dem Sinn des Lebens zu sprechen – oder was dasselbe ist – von der Frage: „Wer bin ich?“.

Das Sich-selbst-als-wahr-nehmen, die Frage nach der Möglichkeit einer echten, wahren persönlichen Existenz, nach der Echtheit der eigenen Person, bilden den geschlossenen Zusammenhang, den wir mit dem Ausdruck „Leben eines Menschen“ bezeichnen.

Der Wunsch nach Glück, der Drang, echt oder wahr zu sein und der persönliche Hunger nach einem Sinn-erfüllten Leben reichen an sich nicht aus, um tatsächlich glücklich und wahr zu sein! Es kommt darauf an, die richtige Quelle zu finden, die diesen Wunsch, Drang und Hunger tatsächlich stillt.

2. Mangelhafte Selbst-Wahrnehmung besteht in der falschen Identifizierung der eigenen empirischen Person, mit ihrem Fühlen, Wollen und Denken mit dem wahren Selbst dieser Person. Das heißt, die Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, den Leib zu kennen, zu wissen, was uns bekommt und was uns gut tut usw. Die Aufmerksamkeit ist genau im gleichen Maß darauf gerichtet, unsere psychische „Seite“ zu kennen: Was uns nervös stimmt und was uns beruhigt, was uns bedrückt und was uns Wohlgefühl vermittelt.

Mit andern Worten: Bei der mangelhaften Selbst-Wahrnehmung ist der Mensch darauf bedacht, seine äußeren Möglichkeiten zu verwirklichen, die er fälschlicherweise mit sich selbst identifiziert.

Beim richtigen Sich-selbst-wahrnehmen geht es niemals um eine „Selbst-Erfahrung“ im Sinne der Vermehrung der Erkenntnis darüber, was der Mensch erfahrungsmäßig darstellt (empirisches „Selbst“-Erkennen), sondern es geht immer und ausschließlich um die Offenbarung dessen, was der Mensch, kraft seines Wesen als Mensch und als Individuum, sein kann, aber auch von dem, was er kann und was er unbedingt sein soll.

Die Selbst-Wahrnehmung, die den Menschen zum Bewusstsein dessen führen kann, was er unbedingt sein soll, also er selbst, untersteht keinem Automatismus. Oft sind Erschütterungen nötig, die als „Initialzündung“ für einen derartigen Vorgang dienen. Es sind negative persönliche Verlusterfahrungen (Tod einer lebenswichtigen Person, Verlassen-werden von einer solchen Person, Arbeitslosigkeit, Scheitern udgl.), oder aber positive Erfahrungen (Liebe, Sich-bewähren in einer bestimmten lebenswichtigen Tätigkeit, der religiöse Glaube udgl.), die den Menschen dazu führen, den Grund seines Selbst, seines „Ichs“ zu überdenken und dabei den Drang zu verspüren, vom Schein seiner Existenz zur Wahrheit der persönlichen Existenz durchzustoßen.

3. Die Intuition im Moment der richtigen Selbst-Wahrnehmung wirkt wie ein Blitz, der zur tiefsten Einsicht führt, was es eigentlich bedeutet, Augenblick und Ewigkeit in sich zu verschmelzen. Es ist an sich eine intensive positive Erfahrung, die den Willen und die Entscheidung zum Leben darstellt: Es ist eine Erschütterung, die uns für uns selbst wahrnehmbar macht!

Es ist die Offenbarung eines Endgültigen der individuellen Person in ihrem Inneren, ein Endgültiges, das der Mensch in sich verspürt, ein Endgültiges, das Sein und Leben bedeutet! Das zu verstehen und dazu zu stehen, genau darin besteht die wahre Treuedes Individuums sich selbst gegenüber.

Erst im Zuge einer solchen Erschütterung und mit dem durch sie erweckten Bewusstsein beginnt der Mensch zu wachsen! Das Wesen des Wachstums besteht also in der Offenbarung des Konstanten des Individuums in ihm und in dessen Entfaltung und Verwirklichung im alltäglichen Leben. Es ist das, was als „Wahrheit-Sein“ und als „Wahrheit-tun“, oder – was dasselbe ist – „Wahrheit-Leben“ verstanden wird.

Wachstum bedeutet also nichts anderes als sehend werden: Das Aufscheinen dieses Endgültigen am inneren Horizont des individuellen Lebens bedeutet, dass es ein „Licht“ gibt, das die Wahrheit aufscheinen lässt und so das Individuum sich selbst im Lichte der Wahrheit sehen lässt. Der Grad dieses Wachstums heißt Reife, und die Tatsache des Wachsens, also das Wachstum selbst, heißt Fortschritt.

Diesen Wachstumsgedanken möchte ich im Folgenden präzisieren und mittels der zwei Phänomene verdeutlichen, in denen der Mensch Wachstum in seiner reinsten Gestalt und in seinem tiefsten Sinn erfährt, oder zumindest erfahren kann: Gemeint sind die Liebe und der religiöse Glaube.

I.2. Von der menschlichen Authentizität

1. Mit der Erwähnung der Liebe und des religiösen Glaubens soll verdeutlicht werden, was Wachstum eigentlich bedeutet. Die zwei sind nicht zufällig in einem Atemzug genannt worden, sie sind aber nicht gleichwertig. Es handelt sich um zwei Grenzsituations-Zusammenhänge, die nicht durch Verlust, Elend oder Trauer udgl., sondern die durch einen Lebens-Gewinn-Horizont geprägt sind. Insofern sind sie als positiv zu verstehen.

Wodurch zeichnen sich also die Liebe und der religiöse Glaube aus, und warum stellen sie den stärksten Impuls zum Wachstum und des Wachstums dar?15

In beiden Fällen handelt es sich um etwas, das das Individuum zu seiner persönlichen menschlichen Echtheit erweckt. Denn in beiden Fällen handelt es sich um eine persönliche Beziehung, in der und durch die die echte Individualität konstituiert wird.

Echte Liebe und echter religiöser Glaube beruhen auf persönlicher Begegnung, die im Betroffen-Sein intensivster Art besteht. Der Mensch ist einer Macht begegnet, die ihn ganz "erobert" hat – das ganze Herz und das ganze Ich. Die Totalität der Liebe und des Glaubens ist Folge der verzehrenden und erschütternden Intensität der Liebes- und Glaubensforderung. Sie lässt für anderes einfach keinen Raum.

„Forderung“ – denn diese Macht fordert den Menschen auf, sich zu bewähren, d.h., sie drängt ihn zur Verbindlichkeit und so zu sich selbst. Er muss sich ihr zur Bewährung aussetzen. Und er muss es tun, weil das, was er da erfährt, das berührt, was ihn unbedingt angeht, was ihm am Ursprünglichsten ist, nämlich er selbst.

Und wenn diese Liebe und dieser Glaube lebendig sind, dann sind sie eines steten Wachstums nicht nur fähig, sondern ihm auch unterworfen, und dieses Wachstum drückt sich darin aus, dass das spezifisch Individuelle am Menschen als Ich immer mehr Gestalt annimmt: Die Äußerung der Gesamthaltung eines Menschen, der von der Liebe oder vom Glauben erfüllt, getrieben und motiviert wird, ist dann in ihm selbst begründet und kann nicht einfach als Anpassung an die Umwelt oder einfach als Reaktion auf sie und auf ihre Forderungen gelten.

So gesehen, stellen Liebe und Glaube, jeder an und für sich, den Inbegriff eines neuen Lebens dar, gewissermaßen eine neue, zweite Schöpfung des Menschen. Und das ist so und kann so sein, weil die Liebe wie der Glaube sich in jeder Hinsicht als ein ursprüngliches Etwas in unserem Bewusstsein zeigen. Das heißt, sie zeigen sich als etwas, das nicht abgeleitet oder vermittelt ist, sondern als etwas, das Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit aufweist: Dieses

Etwas durchdringt und begründet das Gefühl, das Bewusstsein und den Willen, folgt aber nicht aus ihnen.

Die Grenzsituation, die in der Begegnung mit dem Geliebten oder mit Gott besteht, schafft eine ganz neue Situation im Leben des Individuums: Indem der Mensch einsieht, dass das, was das neue Leben stiftet, ihn transzendiert, besteht für ihn die Notwendigkeit, sich auf diesen für ihn endgültigen Sinnhorizont zu beziehen; es besteht für ihn dann die Notwendigkeit, sich auf das Ganze hin zu transzendieren, das für ihn nun als Wirklichkeit gilt und das ihm seine eigene Wirklichkeit aufmerksam macht und sie stiftet, d.h. ihn selbst wirklich macht.

2. Das alles bedeutet jedoch für den Menschen zunächst, sich selbst in Frage zu stellen, ja sich selbst gewissermaßen aufzugeben: Er befindet sich in einer Grenz-Situation! Denn diese notwendige Bezugnahme auf den endgültigen Sinnhorizont setzt einen sehr hohen Grad an Orientierungsfähigkeit in einer Wirklichkeit voraus, in die er gerade hineingeboren worden ist. Die Liebe und der Glaube, wenn sie ernst genommen werden, weisen den Menschen zunächst auf seine "Nichtigkeit" und seine „Kreatürlichkeit" hin. Daher lösen sie einen Lernprozess aus, bzw. gehen in einen Lernprozess ein, der nicht bloß zu Verhaltensänderungen führen soll, sondern zur Formung des ganzen Alltagslebens in Gedanken, Worten, Gefühlen und Handlungen.

Es gehört zur Natur echter Liebe und echten Glaubens, dass die "Nichtigkeitsgefühle" und „Kreatürlichkeitsgefühle", die sie erwecken, den Menschen nicht erdrücken, sondern ganz im Gegenteil ihn trotz aller Unsicherheit aufrichten und ihn sich selbst finden lassen – ihn also wachsen lassen.

Die Begegnungserfahrung mit dem Geliebten oder mit Gott verlegt das Zentrum des Selbstverständnisses des Individuums von der Subjektivität zur Wirklichkeit und bewirkt dadurch die zunehmende Umstrukturierung seiner Wahrnehmungsfähigkeit und seines Wahrnehmungsfeldes, was sich in bestimmten Lebensformen und Verhaltensweisen ausdrückt. Ähnliches geschieht im gleichen Maß in Umstände, die als negativ verstanden sind (Verlust, Elend, existentielle Krise udgl.) werden.

Wichtig ist aber die Voraussetzung für diese Praxis: der durch diese Erfahrung in Gang gesetzte Lernprozess. Denn sowohl Lieben als auch Glauben muss gelernt werden.