Von Diven, Dränglern und fleißigen Lieschen - Jürgen Feder - E-Book

Von Diven, Dränglern und fleißigen Lieschen E-Book

Jürgen Feder

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Beschreibung

Ein Bestimmungsbuch der besonderen Art. Unzählige Deutsche schwärmen in ihrer Freizeit aus, um Pflanzen zu bestimmen – so auch Jürgen Feder. Aber er kategorisiert nicht nach den üblichen Kriterien wie Blütenform oder -farbe, sondern erkennt den Charakter der Pflanzen. Da gibt es solche, die kapriziös und divenhaft sind, andere sind exzentrisch und hochnäsig und wieder andere unverwüstlich oder gar melancholisch. Und so lernt der interessierte Leser die Pflanzenwelt einmal ganz anders kennen. Und wer weiß, vielleicht findet man ja auch auf diesem Wege die Pflanze, die am besten zum eigenen Charakter passt?

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Seitenzahl: 284

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Jürgen Feder

Von Diven, Dränglern und fleißigen Lieschen

Feders Charakterkunde der Pflanzen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Unzählige Deutsche schwärmen in ihrer Freizeit aus, um Pflanzen zu bestimmen – so auch Jürgen Feder. Aber der Extrembotaniker kategorisiert nicht nach den üblichen Merkmalen wie Blütenform oder -farbe, sondern erkennt den Charakter der Pflanzen. Da gibt es solche, die kapriziös sind wie das Übersehene Knabenkraut, andere naseweiß wie das Glatte Brillenschötchen oder unverwüstlich wie das Doldige Habichtskraut. So lernt der Leser die Pflanzenwelt einmal ganz anders kennen. Vielleicht findet man ja auch auf diesem Wege die Pflanze, die am besten zum eigenen Charakter passt?

Über Jürgen Feder

Jürgen Feder, 1960 in Flensburg geboren, ist Dipl.-Ing. für Landespflege, Flora und Vegetationskunde und zählt zu den bekanntesten Experten für Botanik in Europa. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner, bevor er sich dem Studium der Landespflege in Hannover widmete. Lange Zeit war er als selbständiger Landespfleger und Chef-Pflanzenkartierer tätig. Heute lebt er in Bremen.

Es ist nicht wichtig, was du betrachtest, sondern was du siehst!

Henry David Thoreau

Vorwort

«Wer eine dicke Nase hat, ist träge wie ein Ochse», postulierte Aristoteles in seiner Physiognomik. Sie diente mehr als zwei Jahrtausende später noch Johann Caspar Lavater als Anregung für seine Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, eine Mustersammlung von Physiognomien berühmter Männer, die sich in der Nasenfrage zu der Aufforderung versteigt: «Oh, Ihr Fürsten! wenn Ihr Eure Männer wählt, seht Euch vor allem ihre Nasen an.»

Seit biblischen Zeiten, Salomon 30,33 bezeugt es, galt die Nase als zentraler Bestandteil der Physiognomie, wenn es um die charakterliche Beurteilung ihres Trägers ging. Denn alles in seinem Gesicht vermochte der Mensch zu schönen: durch gleisnerisches Lächeln den bösen Mund, durch hoch ausgezupfte Augenbrauen den Dolchblick, durch Allongeperücke und Puder den syphilitischen Ausschlag, der nicht eben auf sittlichen Lebenswandel schließen ließ. Nur an der Nase, diesem Gefüge aus Knochen und Knorpel, scheiterten alle Versuche des Kaschierens – die dyseptische rote Knolle verriet den Trunkenbold, die Sattelnase den Casanova im fortgeschrittenen Stadium der Syphilis. «Der Auswuchs bestätigt die Wurzel», lehrte Sokrates, selbst Besitzer einer derart unförmigen Nase, dass er – Menschenfreund, der er war – beim Hochzeitsgott der Griechen altruistisch Fürbitte leistete: «Gütiger Hymenäus, bewahre alle jungen Männer vor einem solchen ‹Schnitzwerk im Gesicht›.»

Quer durch die Jahrtausende haben Dichter, Denker und Wissenschaftler zu ergründen versucht, welche Bewandtnis es mit dem äußerlichen Antlitz hat und ob man daraus auf bestimmte Tugenden und Charaktereigenschaften eines Menschen schließen könne. So behauptete zum Beispiel Dr. med. Friedrich Schiller, gelernter Militärarzt und mit einem Vogelkopf auf kränkelndem Leib geschlagen, dass «körperliche Schönheit Ausdruck einer inneren Schönheit» sei.

Doch erst Lavater begründete die Lehre von der Physiognomik, der zufolge sich Charakter und Wesen eines Menschen aus seinem Gesicht ablesen ließen: Eine Hakennase beispielsweise machte ihren Träger als Erpresser oder gar Spion verdächtig, «der in sprungbereiter Lauer durchs Leben geht». Buschige Augenbrauen, wie etwa die von Theo Waigel oder Leonid Breschnew, sprachen für «Verschlagenheit und Hinterlist», eine hohe Stirn, wie sie Wolfgang Amadeus Mozart, Immanuel Kant oder Willy Brandt eigen war, signalisierte laut dieser Lehre ein «geräumiges Gehirn», dicke Backen wie bei Winston Churchill oder Nikita Sergejewitsch Chruschtschow «meist einen wüsten Lebenswandel». Den Staatsfeind hingegen verrieten «die großen Ohren und ein düsterer Blick». Volkstümlich wurde das dann so interpretiert: Wer wie ein Esel aussah, wurde für dumm gehalten, wer einem Fuchs ähnelte, der wurde als schlau befunden. Und was in diesem Zusammenhang während des «Dritten Reichs» in Deutschland geschah, sollte hier auch nicht vergessen werden.

Nun denn, hier soll es ja nicht um Menschen gehen, sondern um Pflanzen, doch auch bei ihnen bemühte man sich seit dem Altertum eine Physiognomik zu erstellen, sie verbreitete sich unter der Bezeichnung «Signaturenlehre». Dabei versuchte man von den äußeren Merkmalen einer Pflanze Rückschlüsse auf ihre Qualitäten und Kräfte zu ziehen. Würde man die Pflanzen nur genau beobachten, so die gängige Meinung, dann würden sie zu einem sprechen und einem verraten, was sie so alles in petto haben. Bei der Betrachtung hatte man besonders Farbe, Struktur, Standort, Wachstum, Lebensdauer, Charakter – ja, auch den Charakter – im Blick, um die «Zeichensprache» der Pflanze zu verstehen. Es ging bei diesem Verständnis aber nicht darum, herauszufinden, wie Pflanzen miteinander kommunizieren – auf diese Idee kam man nicht, so wie man lange Zeit auch nicht glaubte, dass Tiere Emotionen haben könnten –, der Mensch war ja das Wesen, das über allem steht, Gottes Krönung. Dabei wurden Pflanzen schon am dritten Tag von ihm geschaffen, Adam und Eva dagegen erst am sechsten. Das musste ja eine Bedeutung haben.

Aber Pflanzen konnte man essen und, ganz wichtig, Pflanzen konnten heilen, es kam nur auf die richtige Wahrnehmung an (ähnlich der psychologischen Deutung menschlicher Physiognomien). Hervor tat sich hier Paracelsus, der Arzt aus dem europäischen Mittelalter, der systematisch vorging und seine intuitiv gemachten Beobachtungen schriftlich niederlegte. Paracelsus war derjenige, der grundlegend die Verbindung zwischen Farbe und Form von Blüten, Blättern, Rinden, Wurzeln und Früchten und ihren Ähnlichkeiten mit menschlichen Organen und Körpersäften herstellte. Bodenbeschaffenheit, Geruch, Geschmack und auch die Pflanzengestalt ergänzten die Lehre von der Zeichensprache der Natur. «Folgt nicht Galen, nicht Rhazes, folgt nicht eurer Geldgier, nicht eurem Machthunger», postulierte Paracelsus, «euer einziger Schulmeister ist die Natur! Lauscht der Natur, und ihr werdet erkennen, was die Krankheit und was das Heilmittel sei!»

Ein sehr anschauliches Beispiel für die Signaturenlehre bietet der Gewöhnliche Natternkopf. So glaubte man früher an die heilende Wirkung des Natternkopfs bei Schlangenbissen. Denn schaut man sich die Blüte aus der Nähe genauer an, so erinnert sie an den Kopf einer Natter und der gespaltene Griffel an die Natternzunge. Die leberartige Form der Blätter des Leberblümchens wiederum war entscheidend dafür, dass diese Pflanze einst bei Leberleiden ausprobiert wurde. Und bei der Form der Walnuss kam nur ein Organ in Frage, das man damit behandeln könne: das Gehirn, die Ähnlichkeit ist nun wirklich nicht von der Hand zu weisen.

Heute weiß man, dass es bei der damaligen Volksmedizin viele Misserfolge gab, allerdings nicht nur. Nach der Signaturenlehre soll die Zwiebel der giftigen Herbst-Zeitlose eine Ähnlichkeit mit einer gichtkranken Zehe aufweisen. Als Medikament wird sie bei akuten Gichtanfällen genutzt. Ein entsprechender Wirkungsmechanismus wurde von der Wissenschaft bestätigt. Eine weitere, von der modernen Wissenschaft anerkannte Heilpflanze ist der Augentrost mit seinen augenähnlichen Blüten. Bei Bindehautentzündungen und Lidrandentzündung wird er auch heute noch wirkungsvoll eingesetzt.

Gerade in der heutigen Volksmedizin, der Naturheilkunde und Homöopathie spielt die Signaturenlehre noch oder auch wieder eine gewisse Rolle. So steht hier etwa der Bärlauch für Vitalität, Macht und Expansionsstreben, die Brennnessel für Wehrkraft, Willenskraft und Reinigung, das Echte Labkraut für Rückbesinnung auf die eigene Identität, Integrationsfähigkeit sowie Regenerationsvermögen, der Frauenmantel für Umhüllung, Behütung, Hervorbringung.

Gut. Aber so weit will ich mich hier gar nicht aus dem Fenster lehnen, ich habe kein umfangreiches philosophisches oder medizinisches Wissen, um die Signaturenlehre auf andere Füße zu stellen. Doch spannend ist dieses Vorgehen, Analogien zu ziehen. Ich bin so viel unterwegs in der Natur, schaue mir tagelang Landschaften und ihre pflanzlichen (und auch mal tierischen, ja menschlichen) Bewohner an, dass sich mir einfach Bilder und Vergleiche aufgedrängt haben. Permanent begegnen sie mir, die Eiferer, Stalker, Streber, die Ab-, Be-, Ver- und Wegdrängler. Allein dadurch, dass ich sie in ihrem Wuchs, in ihrem Verhalten beobachte und mir ihr Vorgehen bildhaft abrufe, fällt es mir leichter, sie zu behalten, auch ihre Namen, ihre Wuchsorte. Und mit vielen hatte ich in den letzten Jahrzehnten sogar oft hautengen Kontakt, und das bestimmt nicht immer positiv!

Das wird Ihnen nicht anders ergehen, wenn Sie Pflanzen nach menschlichen Maßstäben einteilen, nicht um sie zu anthropomorphisieren, sondern indem Sie diese Strategie wie ein Gedächtnistraining ansehen, bei dem Bilder für Zahlen stehen, also beispielsweise die Kerze für eine Eins und der Schwan für eine Zwei, und wenn Sie sich dann Geheimzahlen und PIN-Codes merken wollen, werden die Bilder mit Geschichten verknüpft: Wie ein Schwan einmal einer Kerze begegnete …

Und so sah ich auf meinen Touren unterwegs Angeber, Borderliner, Rebellen, Fanatiker, Freaks, Gaukler, Marktschreier, aufmüpfige und unterwürfige Typen. Allein, zu dritt, in Formationen, Heeren, Kolonnen, Pulks, Scharen und Verbänden – mal ganz offensichtlich, mal kryptisch oder ganz undercover. Doch in meiner Pflanzenbilderwelt ging ich noch weiter. Ich fragte mich: Wie wirken sie, was können sie, was machen sie mit einem? Da draußen, in der Natur, so weiß ich inzwischen, geht es glorreich, harmonisch, nobel, wacker und würdevoll, aber auch mal brutal zu. Wie fühlen sie sich an, diese Charakterpflanzen, was sind ihre Maschen und Methoden? So begegnen einem auf Schritt und Tritt Autisten, Diven, Fleischfresser, Giftmischer, Guerilleros, Kleingeister, Nervensägen, Parasiten (halbe und ganze), Parfumliebhaberinnen, Protestler, Provokateure, Schrullen, Stinker, Tadellöser, Tänzer, Würger und Zankheinis.

Seit jeher habe ich Spaß daran, mich in Pflanzen hineinzuversetzen, sie zu deuten: in die Zwerge und Raketen, in die Elitären und Mondänen, die Gewitzten und Spitzfindigen, die Betriebsamen und Genügsamen, in die, die anzüglich daherkommen, geziert und überheblich. Vielleicht ist das doch eine Signaturenlehre, eine alternative und wunderbar subjektive, die die Phantasie befeuert und nicht das medizinische Wissen. Da existieren Lebewesen, die sind auffallend, ausgefallen, einträchtig, fabelhaft, fragil, frivol, glorreich, krawallig. Pure Schönheit ist nie die Seele der Natur, das kann ich Ihnen jetzt schon versichern, in ihr muss alles einen Sinn ergeben, denn sie ist allein aufs Überleben ausgerichtet und damit auch auf die Fortpflanzung. Treffe ich auf vermeintliche Aschenputtel, Langweiler, Mimosen, Verbohrte, Versager und Verzager, so sind das ihre Strategien, um sich im Reigen der Pflanzen zu behaupten. Manche sieht man kaum, wollen nicht wirklich wahrgenommen werden, andere sind bereits als Wurzeln Gentlemen, vom Scheitel bis zur Sohle.

Pflanzen sind nicht stumm, auch wenn sie sich selten bemerkbar machen. Es gibt nämlich auch sie, die Bälle-, Kugel-, Lanzen- und Steinewerfer. Die Lückenbüßer, die einem das deutlich zu verstehen geben, die, die verdammt anstrengend sind, weil sie sich einbilden, dass man ihnen zuhören muss. Nicht zu übersehen sind in der Landschaft die engagierten, die rastlosen, souveränen, tüchtigen und schlichten Schönheiten. Die imposanten Kaventsmänner und die lachhaften Strichmännchen. Und nicht zu vergessen die Burlesken, Grotesken, Kafkaesken bis Pittoresken. Alles natürlich nur auf die Flora bezogen, manchmal in Analogien zu lebenden und schon verstorbenen Personen, mit kleinen Geschichten über andere und mich.

Und nicht selten trifft Mehrfaches auf eine Spezies zu, ein ganzes Bündel – je nach Jahres- und Entwicklungszeit –, wie bei uns Menschen ja auch – bei dem einen mehr und bei jenem auch weniger. Vielleicht entdecken Sie sich ja selbst, Ihren Partner, den Chef, Bekannte, Ihre Verwandten oder bestimmt den Nachbarn. Ganz viel Spaß dabei!

1 Typ Aufgeblasener Pfau

Was habe ich eigentlich unter einem Charakter zu verstehen? Und schon gar unter dem Charakter einer Pflanze? Im Grunde stehen dahinter die Verschiedenheit und die Vielfalt von Arten und der Wunsch, sie irgendwie einzuordnen. Denn wie kann es sein, dass Geschwister innerhalb einer Familie so unterschiedlich sein können, oder auf die Pflanzen bezogen: Wie können an ein und demselben Standort Mohnblumen, Kornblumen und Getreide wachsen? Dafür musste es doch eine Erklärung geben.

Nach der wurde auch gefahndet. Denn schon im antiken Griechenland fand man es spannend, der Frage nachzugehen, wieso unter demselben Himmel derart abweichende Temperamente zusammenfanden. Auch Hippokrates, von Beruf Arzt, kam ins Grübeln, und weil er ein Mensch war, der heute sicher viele To-do-Listen geführt hätte, setzte er sich damals hin und versuchte sich in einer Persönlichkeitstypologie, die er Viersäftelehre nannte. Bei dieser nahm er die vier Grundelemente, Feuer, Wasser, Erde und Luft, und ordnete jedes Element einem Körpersaft zu, den er wiederum mit einem Temperament verband. Die Luft war das Blut, Schleim das Wasser, schwarze Galle die Erde und gelbe Galle das Feuer. Der Mensch, der vom Blut bestimmt wird, wurde nach dem griechischen Mediziner als Sanguiniker bezeichnet, ein total enthusiastischer Typ. Bei dem Melancholiker sieht es ganz anders aus, sein traurig-trübsinniges Wesen hat damit zu tun, dass die schwarze Galle, die Erde, in ihm gärt. Der Choleriker zeichnet sich wiederum durch Jähzorn aus, ist leicht gereizt – die gelbe Galle ist schuld. Und der Vierte im Bunde ist der Phlegmatiker, er wird bestimmt durch den Schleim, der ihn apathisch und langsam werden lässt.

Die moderne Wissenschaft hat andere Erklärungen gefunden, die mit den Genen zu tun haben, genauer gesagt mit der Epigenetik, die besagt, dass die Gene, die wir haben, nicht statisch sind, sondern sich entwickeln, je nachdem wie wir mit unserer Umwelt interagieren. Manche Gene können deshalb wunderbar zur Entfaltung kommen, andere verkümmern. Was letztlich bedeutet, dass man nicht mit einem bestimmten Charakter zur Welt kommt, sondern sich diesen aneignet, je nachdem, was man mit seinen gegebenen Anlagen macht und wie sie in Wechselwirkung zu bestimmten Umwelteinflüssen stehen und miteinander korrespondieren.

Bei den Pflanzen sieht es nicht viel anders aus, auch sie haben Gene, also eine DNA, haben Organe und Gewebe, also Zellen, die sich an die Umwelt anpassen – und entsprechend reagieren sie, um sich von den jeweiligen Umständen nicht unterkriegen zu lassen. Wächst ein Baum in einer bestimmten Region, bildet er je nach den Gegebenheiten einen stärkeren oder biegsameren Stamm aus. Um nicht von irgendwelchen Plagegeistern aufgefuttert zu werden, müssen die Pflanzen Taktiken entwickeln, um sich diese vom Leib zu halten. Menschen können bei sich verändernden Umständen fliehen, ebenso wie Tiere, die Unterschlupf finden können, wenn ein Unwetter droht. Pflanzen können nicht einfach das Weite suchen, sie haben nur ihre Standfestigkeit, mit der sie punkten können. Entsprechend erwerben sie Fähigkeiten, die uns an bestimmte Eigenschaften erinnern. Hat sich eine Pflanze, weil ihr in ihrer Welt oftmals Wasser fehlt, zum Hungerkünstler entwickelt, so hat dieser Begriff natürlich nur etwas mit unserer menschlichen Projektion zu tun, eine Pflanze «weiß» das nicht. Sie weiß nur, dass Wasser fehlt und sie etwas in Bewegung setzen muss, damit nicht die nicht gerade freundlich gesinnte Umgebung obsiegt und der Pflanze den Garaus macht. Eine Pflanze ist, wie der US-amerikanische Botaniker Daniel Chamovitz nachgewiesen hat, wahrnehmungsfähig, besitzt aber nicht die Eigenschaft, Anteil zu nehmen, zu leiden oder Schmerzen zu empfinden. Dafür existieren bei uns Menschen bestimmte Gehirnareale, die Pflanzen nicht besitzen, sie haben kein Hirn, kein Zentralnervensystem.

Es gibt aber auch Pflanzen, die nonstop extrovertiert sind und sich unentwegt aufblasen müssen, wohlgemerkt immer aus meiner Sicht formuliert: Dies sind die Angeber in der Pflanzenwelt, sie sind anmaßend, auffallend, arrogant, blasiert, tragen gern auf, sind dreist, eingebildet, geltungssüchtig. Sie sind überheblich, unangemessen, ungeniert, vorlaut, vorwitzig, aber auch witzig. Es sind darunter die Großtuer, die hervorragen, herausragen, überragen. Da stechen die Majore heraus, die Maulhelden; der Möchtegern gehört dazu, der Prahlhans, die Pflanzen mit den dicken Backen und den manchmal noch dickeren Hosen. Damit Sie wissen, wen ich im Blick und bei meinen Streifzügen im Visier habe, stelle ich Ihnen einige dieser Exemplare vor:

 

Ein echter Haudrauf – das Frühlings-Hungerblümchen (Erophila verna). Was, tatsächlich noch eine dünne Schneeauflage im April? Auf Bahngleisen, an Wegen und Rasenrändern? Nein. Es ist das niedliche Frühlings-Hungerblümchen, das da den Frühling einläutet. Aufstieg und Fall dieses Winzlings sind vergleichbar mit dem von Napoleon I., König von Italien und Kaiser von Frankreich. Geboren 1769 auf Korsika, hat er, gestützt auf das Militär, einen ungeahnten Siegeszug durch halb Europa angetreten, der erst 1812/13 unterbrochen wurde und 1815 endete. Er starb einsam auf der Insel St. Helena im Südatlantik, gerade mal zweiundfünfzig Jahre alt. Auch das Frühlings-Hungerblümchen mit 3 bis 15 Zentimeter Höhe, aber dann doch noch etwas kleiner von Gestalt als dieser französische Tausendsassa, kann seine Umgebung überaus prägen. Es ist ebenfalls ein Haudrauf, der zu Tausenden schon im November bis Januar seine ersten Blattrosetten zeigt, düster dunkelgrün wie die Uniform eines französischen Generals. Mit der ersten wärmenden Wintersonne, im Rheinland (und nicht Rheinbund!) schon im Januar, kommen die ersten vorwitzigen, weißen Kreuzblütchen zutage. Ganze Äcker, Gärten, Friedhöfe, Weideeingänge und Teile von Sandgruben werden in zartes Weiß gehüllt. Das geht bis April/Mai so, bis die weißen Blüten von einem Meer, besser Heer brauner bis dunkler, bis 1 Zentimeter langer Fruchtschötchen abgelöst werden. Gleich dem Gefuchtel des Napoleon ragen die wie lackierten, eiförmigen und überdimensionierten Schötchen in die Luft. Das sieht fast lächerlich aus! Alles blattlos, die Blätter bleiben überm Erdboden zurück. Das Frühlings-Hungerblümchen ist sehr erfolgreich, überall wo etwas Platz ist, wo es trockener und etwas nährstoffangereicherter ist, wächst dieser kleine Kerl. Er duldet auch niemanden neben sich, ganz so wie alle kleinen Diktatoren – man könnte ja beschattet oder gar verdrängt werden. Und so wie Napoleon über Europa hereinzog und wieder verschwand, so schnell macht dann im Jahresverlauf auch diese Allerweltsart Schluss. Nicht aber ohne ein letztes Aufbäumen. Napoleon tat das bei seiner plötzlichen Rückkehr von Elba, das Frühlings-Hungerblümchen mit seinen im Frühsommer weithin silbrig schillernden Fruchtschotenwänden. Sein Comeback ist jetzt aber farblos, wenn Abertausende glitzernde Schotenleichen dann ganze Brachäcker oder Sandfelder überziehen. Kann man sogar vom fahrenden Auto aus erkennen, das wäre auch bei einem Nappy nicht viel leichter gewesen. Für mich beginnt mit diesem unerschrockenen Frühlings-Hungerblümchen immer schon die neue Saison, und das meist überpünktlich zum 1. Januar!

Frühlings-Hungerblümchen

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Will von allen am höchsten hinauf – der Berg-Wegerich (Plantago atrata). Von allen hier auftretenden Pflanzenarten wagt sich der Berg-Wegerich am weitesten in die Höhe, beziehungsweise fängt er oft erst ab 1500 Meter an, Stellung zu beziehen. Nicht ohne Grund heißt er lateinisch auch Plantago montana, obwohl gleich noch zwei weitere von den insgesamt zehn Wegerichen in Deutschland ebenfalls nur «Alpen können». Er hier wird gerade mal 25 Zentimeter hoch und weist ganz nach Wegerich-Manier einzig blattfreie, allerdings starkbehaarte Blütenstängel auf. Sie steigen bogig bergig auf und tragen eiförmige, fast schwarze Blütenköpfe. Atrata bedeutet schwärzlich, das ist ja mal was anderes als immer nur nigra oder niger wie sonst! Schwarzer Wegerich wird er auch im Deutschen genannt. Der Berg-Wegerich ist essbar wie alle anderen Wegerich-Arten und wird von Weidevieh sowie vom Wild gefressen. Sehr viel gibt er allerdings mit seinen schmalen, entfernt gezähnten Blättern nicht her. Was soll da oben auch 1 Meter hoch werden, wo oft Feinboden fehlt, Wind tost, Schnee rutscht, einem Gämsen und Murmeltiere nachstellen. Mit seiner Pfahlwurzel ist er ein wahrer Meister der Felsen, der Klüfte, der Lichtungen in oberer Waldstufe und der Pfad- sowie Wegsäume. Ansehnlich wird er vor allem zwischen Mai und August (also trotz der Berghöhen), wenn seine fast 1 Zentimeter langen, leuchtend hellgelben Staubgefäße wie Mini-Antennen der Teletubbies nach oben zeigen und dann im besonderen Kontrast zum Schwarz der Blütenhüllen agieren.

Berg-Wegerich

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Meeresgott mit Bällen – das Poseidongras (Posidonia oceanica). Im Frühjahr 2016 war ich nun doch erstmals am Mittelmeer, auf Mallorca – mit dem Fahrrad kam ich da vorher auch ganz schlecht ran! Schon kurz nach der Landung begann das Notieren der wild wachsenden Arten, und einer der ersten Gänge führte mich an die ausgedehnten Strände der Bucht von Alcudia im Norden dieses 17. Bundeslands der Deutschen. Aus den hier massenhaft herumliegenden, kugelrund-federleichten, etwa faustgroßen Gebilden aus offensichtlich pflanzlichem Material am oberen Sandstrandrand konnte ich mir zunächst keinen Reim machen. Meine beiden Begleiter, beide weit über siebzig und schon Mallorca-erfahren, auch botanisch, feixten sich jedenfalls eins! Es war das Neptun- oder Poseidongras – die Remmidemmi-Touristen werden es nie erfahren, der tief im Wasser wohnende Meeresgott Neptun residiert hier als Ballermann. Nur halt um die ganze Insel herum verstreut. Gar nicht zu fassen, das mussten sich doch auch schon die allerersten Steinewerfer auf dieser Inselgruppe gesagt haben (baleares!).

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Poseidongras

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Das Poseidongras lebt in Wassertiefen von 20 bis zu sagenhaften 40 Metern, in ziemlich klarem und nicht zu verschmutztem Wasser. Es soll durch den Tourismusboom an der gesamten Mittelmeerküste zurückgehen. Bei Stürmen und auch nach normalem Ableben werden diese enormen «Seegrasbestände» an Land geschwemmt – sozusagen ein Auftrumpfen am Ende des Lebens. Es entstehen unterschiedlich breite und manchmal in Buchten auch meterhohe, meist dunkelbraune Wälle, mal matschig frisch, mal trockener und schon luftiger. Ganz selten findet man noch richtige Strünke mit ein paar der hellgrünen, bandartigen und bis 3 Zentimeter breiten Blätter. Zusammen mit dem Sand rollen und ziehen die Wellen dieses Material dann über Monate immer wieder hin und her, sodass am Ende am oberen Strand diese «Tennisbälle» zu liegen kommen, so geheimnisvolle, fast gelangweilte Kugeln. Immer oberhalb der Sturmflutzone, eine richtige Tide gibt es am Mittelmeer ja nicht. Diese Rundlinge sind absolut zäh, nicht auseinanderzureißen und außerordentlich verwitterungsbeständig. Und lagern sich dann zu Millionen an den flachen Küstenabschnitten ab, da, wo die Menschen eigentlich gerne baden möchten … Sie werden daher immer wieder mühsam weggefahren und auf Sammelplätzen langwierig kompostiert. Mancher Mittelmeertourist nimmt sich davon ein paar Naturerinnerungsstücke mit – ich natürlich auch! Die halten ewig und fühlen sich ein wenig an wie Kokosstrick. An den Küsten sind sie dann auch Dünger für viele Pflanzen am Strand, dem sogenannten Littoral.

 

Habe die Ehre – die Schlitzblättrige Karde (Dipsacus laciniatus). Optimal wird sie fast 3 Meter hoch und ist eigentlich sofort erkennbar. Aber Vorsicht, die Schlitzblättrige Karde ist eben doch nicht die oft genauso hohe, dabei aber viel häufigere und hellviolett blühende Wilde Karde (Dipsacus fullonum). Beide Karden kommen schon wegen ihrer Größe majestätisch daher, als edle Ritter, wie stattliche Gestalten aus Abenteuerfilmen, wie Roboter im Ruderalgelände. Die Schlitzblättrige Karde blüht immer weiß bis blassrosa und trumpft auf mit bis zu 10 Zentimeter hohen Blütenständen, richtigen Eierköpfen. Sie sind damit etwas größer als bei der häufigen Art. Graugrüne Blätter an sehr harten, dornigen Stängeln werden bis 50 Zentimeter lang und sind stark eingeschlitzt. Daran vergeht sich nun wirklich kein Tier. Die Blätter sammeln kostbares Regenwasser für schlechtere Zeiten, da sie am Stängel verwachsen sind. Also kleine Badewannen für die eigene Luftbefeuchtung und sekundär für Insekten. Im ersten Jahr wird zuerst eine typische kräftige Blattrosette ausgebildet, wobei diese Blätter ungeschlitzt sind. Die machen sich immer so richtig breit und fett, um nur ja nicht jemand anders durchzulassen. Zum Ende der zweiten Vegetationsperiode entwickeln sich dann toll facettenaugenartige Fruchtstände, Dekoration für jeden Trockenstrauß. Die Samen werden vom Wind und herumstreifenden Tieren verstreut (Treiber als Samenschleuder). Selbst im dritten Jahr kann man noch aschfahle Karden-Mumien unmotiviert in der Gegend herumstehen sehen, so haltbar ist diese pieksige Angelegenheit.

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Schlitzblättrige Karde

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Auffallen um jeden Preis – die Gelbe Spargelerbse(Tetragonolobus maritimus). Sie ist einfach nur zum Schießen, diese Gelbe Spargelerbse, wirklich witzig ist ihr Äußeres. Der Schmetterlingsblütler selbst wird nur mickrige 20 bis 30 Zentimeter hoch und macht sich in kleinen Flatschen mit blaugrünen, fünfteiligen, kahlen Blättern bis 2 Zentimeter Länge in feuchten Wiesen und wechseltrockenen Magerwiesen, an Straßen und Wegen sowie an Gräben breit. Diese pflanzliche Ulknudel hat tatsächlich nudelfarbene, hellgelbe Blüten, die sie von Mai bis Juli freudig himmelwärts reckt. Mit einer Länge von fast 3 sowie einer Breite und Höhe von fast 2 Zentimeter verleiht das der Gelben Spargelerbse ein freakig-groteskes Aussehen, denn die Blüten sind damit deutlich überdimensioniert. Wie von einem Comedian angesteckt, muss ich lachen, wenn ich dieses Wesen sehe. Das ist mir aber mal in Oberbayern glatt vergangen, ausgerechnet nahe vom Kloster Ettal. Da spazierte ich 2014 längs der Bahn von München nach Garmisch-Partenkirchen in Begleitung der Spargelerbse, und schwupp kam ein Streifenwagen daher, stoppte, wendete und kassierte von mir 50 Euro Strafe, auf der Stelle. Das hat mich kurz gewurmt, dann aber zog mich wieder die Angeberei dieser exquisiten Erbse mit ihren vierkantigen Hülsen in den Bann. Denn die geraten mit glatt 5 Zentimetern noch länger. Eine Art Zauberpflanze, die wohl mit aller Macht auffallen will. Ein elitärer Streber, etwas aufsässig. Mit Erfolg übrigens: Diesen Erbsen-Titan sah ich sogar schon mal ganz fidel an einer Autobahn in Oberbayern bei Ohlsdorf – und das sogar vom fahrenden Auto aus!

Gelbe Spargelerbse

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Lämpchen im Kollektiv – die Ei-Sumpfbinse (Eleocharis ovata). Hätte es den Werbeslogan «Ei, Ei, Ei – Verpoorten» nicht für diesen berühmten Eierlikör gegeben, man hätte ihn einfach für die schicke Ei-Sumpfbinse erfinden müssen, eine meiner veganen Heldinnen auf schlammigen, nährstoffreichen Böden von besonnten Ufern, Tümpeln und abgelassenen Fischteichen. Lange hatte ich warten müssen, um diese Rarität überhaupt mal zu Gesicht zu bekommen – 2011 war das auf einem Truppenübungsplatz in Niedersachsen. In einem Teil der Plothener Teiche in Thüringen fanden dann mein Freund Hannes und ich 2016 gleich hektarweise diese Eierköpfchen, voll barfuß musste man da rein. Schon von weitem fällt eine ausgesprochen hellgrüne Farbe dieses bei entsprechend großem Stickstoffangebot auch mal bis 50 Zentimeter hohen, stets bultig (im Haufen) wachsenden, einjährigen Sauergrases auf. Die eher weichen Stängel sind eng gerillt, etwa 1 Millimeter dick und blattlos. Schmuckstücke sind dann von Juni bis September die eng beschuppten, kugel- bis eiförmigen, knapp 1 Zentimeter langen Blütenstände. Immer im Kollektiv, dekorativ die braune Spelze mit schneeweißem Rand und grünem Kielstrich. Eine Lupe hilft einem hier wieder mal auf die Sprünge. Wie Lämpchen für Rallen, Leuchter für Zwerge oder Wegweiser für verbliebene Kleinstfische und Schlammschnecken. Fast pittoresk. Die Eiförmige Sumpfbinse gibt Zwergbinsen-Gesellschaften ein Gesicht, das sind heute durch Entwässerung und Zuwachsen der Standorte durch Nutzungsaufgabe besonders schutzwürdige, oft artenreiche Lebensgemeinschaften an oft (abgrund)tiefen Stellen.

Ei-Sumpfbinse

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Kaninchendraht im Hochmoor – die Gewöhnliche Moosbeere (Vaccinium oxycoccos). Was wären unsere nassen Hochmoore wohl nur ohne diese Gewöhnliche Moosbeere – ohne Moosbeere im Moor nix los! Sie gibt Tieren und Menschen Standfestigkeit und liefert den Raupen der prächtigen, superseltenen Hochmoor-Perlmutterfalter mit einer Flügelspannweite von 8 Zentimetern die Nahrung. Der «Kaninchendraht» entwickelt bis zu 1 Meter lange, fädelige, sich über Torfmoospolster schleichende Sprosse, die sich zu einem dichten Geflecht auswachsen. Die Moosbeere ist einer der Charakterarten der berühmten Hochmoor-Bulten- und Schlenkengesellschaften; Schlenken mit Wasser und Torfschlamm. So wassergesättigt entwirft die Moosbeere von Juni bis September goldige, besser rosafarbene Blüten, die ihre vier bis fünf Blütenblätter freudig nach hinten beziehungsweise nach oben werfen. So sieht man die Staubgefäße lang heraushängen, und mit bis zu sechzehn Tagen Blühdauer hält die Moosbeere auch den deutschen Blührekord. Nur eben nicht nach der Höhe, denn die lässt bei höchstens 10 Zentimetern zu wünschen übrig. Dafür machen die um 1,4 Zentimeter großen, kugeligen, zunächst grüngelben und dann, wenn sie ab Oktober reif sind, dunkelroten Beeren wieder von sich reden. Manchmal in riesigen Mengen überziehen sie wie kleine Handgranaten oder rote Handbälle hinterm Tor diese Pflanzendrähte, oft über ebenfalls rot gefärbte Torfmoose. Und darin stecken ganz viel Fruchtzucker, Vitamin C und Zitronensäure. In Schweden werden die auch geerntet und zu Marmeladen, Säften und getrocknet zu Tee verarbeitet oder frisch zu Wildspeisen gegessen. Sie schmecken ganz ähnlich wie die Preiselbeere, süß und etwas säuerlich. Bei meiner Fortbewegung in intakten Hochmooren halte ich ständig Blickkontakt zur Moosbeere: nicht wegen der Früchte, sondern wegen der hier dann gesicherten Standfestigkeit. Wie eine Matte trägt sie mich jetzt schon ein Leben lang.

Gewöhnliche Moosbeere

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Raketen auf Güterbahnhöfen – die Großblütige Königskerze (Verbascum densiflorum). Bei Bahnhöfen in Zusammenhang mit Raketen fallen mir als Erstes die Weltraumbahnhöfe von Cape Canaveral in Florida und der von Baikonur in der Kasachensteppe ein. Pflanzliche Raketen in diesen Refugien können dann eigentlich nur die Königskerzen sein, von denen die Großblütige Königskerze noch etwas königlicher ist als die übrigen neun in Deutschland. Echte Blickfänge sind das, mit manchmal bis zu 2,5 Meter Höhe und riesigen, bis 5 Zentimeter breiten, goldgelben Blüten. Die beiden oberen Blütenblätter sind dabei kleiner als die anderen drei, immer prangen drei weißwollige Staubfäden heraus. Die gesamte Pflanze ist weißfilzig behaart – Blätter, Blütenkelche, Stängel und auch noch die Fruchtkapseln. Das ist eine bewährte Strategie gegen Austrocknung, Sonnenbrand und Tierfraß. Nackt sind da nur die Samen, die vom Wind oder direkt beim Anstoßen der nie im Abseits stehenden Königskerzen herausgeschleudert werden. Nur so kommen diese plantaren Stangen von Neuers, Nowitzkis, Henning Scherfs oder Michael Groß’ Statur zu ihrem Fortbestand. Den allzeitig allergrößten Menschen der Welt, Robert Wadlow aus Illinois (geboren 1918, gestorben 1940) mit 2,72 Meter, hätte die größte Großblütige Königskerze auch noch packen können. Mr. Wadlow hatte auch die größten Hände (32,3 Zentimeter lang vom Handgelenk bis zur Spitze des Mittelfingers), und für seine 47 Zentimeter langen Füße brauchte es Schuhe der Größe 76. Er wog bei seiner Geburt noch keine vier Kilogramm, im Alter von zehn maß er bereits 2 Meter. Das nenne ich doch mal bahnbrechend und königskerzend.

Großblütige Königskerze

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Aufgebretzeltes Maiengold – die Wiesen-Schlüsselblume (Primula veris). Sie hat einen hohen Bekanntheitsgrad, und mir ist diese Art sehr ans Herz gewachsen. Obwohl diese geschützte, auffallende, leichtfüßige Schönheit bereits die ersten warmen Sonnenstrahlen im April zur Blüte nutzt und in höheren Lagen auch noch im Juni goldgelbe Blüten an bis zu 30 Zentimeter hohen, blattlosen Schäften bildet, ist der Mai ihr Monat. Bei dieser Pflanze mit hochdekorativem, orangefarbenem Blüteninneren – aufgeblasenen Kelchen – ist der gesamte Norden und Westen der Republik in den Hintern gekniffen. Hier trumpft die Wiesen-Schlüsselblume mit ihren graugrünen, auffallend runzeligen Blättern nicht auf. Bis zu zehn um die 2 Zentimeter lange, stets duftende Blüten gruppieren sich oben an einem Schaft, sie sind nicht so einseitswändig wie bei der Schwesternart, der hellgelben Hohen Schlüsselblume. Mit der kann sie gerne auch zusammen auftrumpfen. Primula veris ist eine mittelalterliche Wortschöpfung und bedeutet «erste Blume des Frühlings», «Schlüsselblume» wegen des Blütenstands wie ein Schlüsselbund, «Himmelsschlüsselchen» wegen der Heilwirkungen, die ihr in früheren Zeiten nachgesagt wurden und die einem den Himmel öffnen sollten.

Wiesen-Schlüsselblume

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Zur Kerze reicht es dennoch nicht – die Kleine Wachsblume (Cerinthe minor). Eitel wie ein Pfau, eine Erscheinung ist dieses bis zu 60 Zentimeter hohe Kraut, das ein augenfälliges Farbspektrum zeigt. Von Mai bis September erscheinen hängende, gut 1 Zentimeter lange, gelbe, bis zu zwei Dritteln ihrer Länge röhrenartig verwachsene Blüten, die, um Eindruck zu machen, im oberen Inneren noch fünf rötliche bis violett-braune Tupfer einbauen. Die Blüten stehen in dichten, bis staffelartig beblätterten Wickeln an einer ansonsten völlig kahlen Blume. Was insofern etwas Besonderes ist, zählen doch die Wachsblumen zu den gewöhnlich mit vielen Haaren gesegneten Raublattgewächsen. Die Blätter unten am Stängel sind zungenförmig bis 15 Zentimeter lang, gestielt und werden wie die Rosettenblätter von weißen, rundlichen Flecken auf der Blattoberseite geziert. Diejenigen weiter oben sitzen toll stängelumfassend, sind oval bis herzförmig, pfeilförmig geöhrt, wachsartig überzogen und mehr blau als grün. Das hat was Unwirkliches, Exotisches, ja Erotisches. Wachsblumen bekommt man in Deutschland nur ganz selten «vor die Flinte». Sie wachsen nicht kerzengerade, sondern stark ästig verzweigt, und profitieren vom Buddeln, Graben und Kratzen der Tiere – das zieht lebenswichtige Bodenlockerheit und Nährstoffe nach sich. Was Pflanzen so immer machen: aus der Not eine Tugend. Das sagt sich auch die Wachsblumen-Biene, die nur auf diese reizvolle Kleine Wachsblume fliegt.

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Kleine Wachsblume

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2 Typ Aschenputtel

Sie sehen ein wenig mickrig aus, unscheinbar, fast primitiv, oft aber sind sie ungemein fleißig, wenn es um die Fortpflanzung geht. Sie kommen daher, als wäre ihnen bange, als würden sie jederzeit erwarten, dass man sie plattmachen, ihnen ihr Dasein streitig machen möchte. Sie halten sich im Hintergrund, schleichen durch die Gegend, weil sie der Ansicht sind, dass sie äußerlich viel zu wenig hermachen, viel zu schlicht und einfach sind. Und was ihr gesellschaftliches Auftreten im Reigen anderer pflanzlicher Nachbarn angeht, so erscheinen sie «geräuschlos». Sie machen sich klein, wie graue, scheue Mäuse ertragen sie geduldig und genügsam ihre Durchsichtigkeit und Verblichenheit. Wobei man sich von ihnen nicht täuschen lassen sollte: Auch wenn sie im ersten Moment jämmerlich klein und verkappt-verknappt auftreten, so sind sie dennoch hart im Nehmen und konkurrenzstark. Den Lückenbüßern, den Mauerblümchen, den Pflanzen von der traurigen Gestalt tut man unrecht, wenn man sie für primitiv hält, nur weil sie dahin wollen, wo sonst niemand mehr hinwill – und vor allem noch hinkann. Oft entfalten sie dann noch eine unglaubliche Schönheit.

Auch bei Menschen spielt das Äußere, die Optik eine große Rolle. Schönheit bei Menschen wurde immer wieder von Soziologen und Psychologen akribisch analysiert, dabei gingen sie von Vermutungen aus, die sie dann auch bestätigt fanden: Schönheit gilt als Talent, so werden Aufsätze von attraktiven Schülern und Schülerinnen besser benotet. Gutes Aussehen befördert die sozialen Aufstiegschancen, vor allem durch Heirat. Wohlgestaltete Menschen gelten als intelligenter, erfolgreicher, sozialer und warmherziger. Selbst die vorgeblich blinde Justitia lässt trotz ihrer Augenbinde hübsche Delinquenten oft billiger davonkommen. Niemand anderer als Arthur Schopenhauer, der als schwerer Neurodermitiker wusste, wovon er sprach, brachte das Phänomen Schönheit auf den Punkt: «Schönheit ist ein offener Empfehlungsbrief, der die Herzen im Voraus für sich gewinnt.»

In zahlreichen Untersuchungen zur «interpersonellen Attraktivität» haben Psychologen versucht, dem Phänomen weiter auf die Spur zu kommen. Fazit: Das Geheimnis der Schönheit ist ihre Gewöhnlichkeit. Diese ernüchternde Einsicht verdankt die Menschheit einer vielfach mit gleichem Ergebnis wiederholten Testreihe, bei der Porträtfotos per Computer digitalisiert werden; durch Mitteln der Digitalwerte erzeugt der Rechner dann das prototypische Mischgesicht, das gleichsam den Durchschnitt des Durchschnitts repräsentiert – Männer wie Frauen flogen förmlich darauf, wenn es ihnen zum Vergleich mit den ursprünglichen Einzelfotos vorgelegt wurde. Dieser unbewusste Hang zur «Zentraltendenz» schien die seit jeher verbreitete Vorstellung zu bestätigen, wonach Ebenmaß ein wesentliches Element von Schönheit sei.

Weshalb das so ist und warum sich der Mensch so leicht in den Bann der Schönheit schlagen lässt, das wiederum haben Soziologen zu ergründen versucht, jedoch nicht schlüssig belegt. Unumstritten ist, dass die Evolution den Durchschnitt dem Extrem vorzieht, da der Durchschnitt in aller Regel überlebensfähiger ist. Daraus leiten die Soziobiologen die (gewagte) These ab, dass im Zuge des evolutionären Ausleseprozesses jene Lebewesen, die in ihrem Aussehen dem prototypischen Durchschnitt der jeweiligen Art am nächsten kamen, bei der Partnerwahl die größten Chancen hatten. Weil sie die Gewähr für körperliche und genetische Gesundheit boten – ist das Schönheitsideal also ein Verhaltensrelikt aus der Vorzeit, gleichsam die Ursuppe, die der Mensch täglich aufs Neue auslöffeln muss? Der Stichling jedenfalls verfährt nach dem Prinzip der Zentraltendenz, die Henne ebenfalls, auch Frosch und Affe tun es, das ist erwiesen. Beim Menschen, der der Sprache mächtig ist, gibt es wohl noch andere Faktoren; wie sonst wäre zu erklären, dass oft eher hässliche Männer Frauen in so reicher Schar um sich zu sammeln vermögen?

Pflanzen scheint diese Diskussion um Schönheit wenig zu berühren, ihnen geht es allein ums Überleben. Zwar brauchen sie dafür hin und wieder einen Partner, der aber muss nicht ihresgleichen sein, mithin pflanzlicher Art. Vielfach ist man zufrieden, wenn es tierisch zugeht. Und das Geschlecht ist ihnen dann auch egal, Hauptsache, er oder es oder sie kommt angeflogen oder angekrabbelt oder streift mit seinem Fell an der Blüte vorbei, damit die Bestäubung vonstattengeht. Manchmal reicht es auch aus, wenn der Wind das kostbare Material weiterträgt und die über dreißigtausendjährige Geschichte der Pflanzen auf dem Planeten Erde sichert. Über so viel Evolutionserfahrung kann sich der Mensch vor Scham am besten nur in seine alten Höhlen verkriechen.