Feders fantastische Stadtpflanzen - Jürgen Feder - E-Book

Feders fantastische Stadtpflanzen E-Book

Jürgen Feder

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Beschreibung

Nicht nur auf Feld und Wiesen finden sich die erstaunlichsten Pflanzen – auch vor unserer Haustür, auf dem Grünstreifen neben der Ampel oder im kleinen Park um die Ecke gedeihen die faszinierendsten Gewächse. Jürgen Feder lädt uns mit seiner ansteckenden Leidenschaft auf zehn Stadtrundgänge der besonderen Art ein. Was blüht auf dem Weg zum Supermarkt, was gedeiht an der Bushaltestelle, was wächst denn so um Papierkörbe herum? Auf unnachahmliche Art stellt der Extrembotaniker die Geschichte der Pflanzen vor – und begeistert für die heimische Flora in unserer Nachbarschaft. «Früher habe ich Unkraut achtlos links liegengelassen. Bis ich Jürgen Feder begegnet bin! Die Leidenschaft des Extrembotanikers ist extrem ansteckend. Lesen! Staunen! Pflücken!» Bettina Tietjen «Jürgen Feder wirbt um Aufmerksamkeit für eine Vielfalt, die wir gerade zerstören. Seine Begeisterung ist echt und ansteckend.» Berliner Zeitung

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Jürgen Feder

Feders fantastische Stadtpflanzen

Neue Entdeckungstouren mit dem Extrembotaniker

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Nicht nur auf Feld und Wiesen finden sich die erstaunlichsten Pflanzen – auch vor unserer Haustür, auf dem Grünstreifen neben der Ampel oder im kleinen Park um die Ecke gedeihen die faszinierendsten Gewächse. Jürgen Feder lädt uns mit seiner ansteckenden Leidenschaft auf zehn Stadtrundgänge der besonderen Art ein. Was blüht auf dem Weg zum Supermarkt, was gedeiht an der Bushaltestelle, was wächst denn so um Papierkörbe herum? Auf unnachahmliche Art stellt der Extrembotaniker die Geschichte der Pflanzen vor – und begeistert für die heimische Flora in unserer Nachbarschaft.

 

«Früher habe ich Unkraut achtlos links liegengelassen. Bis ich Jürgen Feder begegnet bin! Die Leidenschaft des Extrembotanikers ist extrem ansteckend. Lesen! Staunen! Pflücken!» Bettina Tietjen

 

Über Jürgen Feder

Inhaltsübersicht

MottoVorwort1 Frankfurt2 Hamburg3 München4 Düsseldorf5 Bremen6 Leipzig7 Stuttgart8 Essen9 Dresden10 BerlinDankPflanzenregisterLiteratur

Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden.

Franz Kafka

Vorwort

Mein erstes Buch, Feders fabelhafte Pflanzenwelt, war das nun ein Erfolg? Für mich ja, so etwas schreibt man ja auch für sich selbst. Mit seinen biografischen Zügen war es zudem eine Art Zeitreise in die Kindheit und dann wieder zurück in die Gegenwart. Ich erhielt dafür viel Lob, und für ein Buch ausschließlich über Pflanzen erzielte es ungeahnte Aufmerksamkeit – wofür ich mich bei allen Leserinnen und Lesern herzlich bedanke.

Natürlich kann man ständig etwas verbessern – Kritik gab es beispielsweise an den Fotos, und das zu Recht. Manche fanden dann draußen in der Natur «meine» geliebten Gewächse nicht an den von ihnen besuchten Biotopen. Das war aber nie die Intention gewesen, das Buch sollte vielmehr Lust machen auf Wildpflanzen an sich. Die Arten wachsen schließlich nicht alle über-, sondern noch immer nebeneinander, und jede Pflanze beansprucht ihren Platz. In einem Dorfpark gedeihen sicher einige der beschriebenen Arten, klappert man zehn Dörfer ab, kommen schon erheblich mehr der «grünen Gestalten» zusammen. Die 333 im Buch aufgeführten Arten sollten stellvertretend für die bunte Bandbreite aller deutschen Gewächse stehen – für wunderbare Landschaften, für Eigenarten und die Schönheit der gesamten Republik.

In diesem neuen Werk schwärme ich nun nicht aus in schwindelerregende Alpenhöhen, an die steilen Grate der Sächsischen Schweiz, in die Einsamkeit der Nordseedünen, in unwegsame Moore, lasse mir nicht das Wasser der Sümpfe in die Stiefel rinnen oder verlaufe mich im dunklen Wald. Ich hole Sie diesmal in den großen Metropolen des Landes ab und schwärme trotzdem – dort, wo Sie wohnen, arbeiten, einkaufen, lustwandeln, flanieren. Städte sind aber nicht nur bestimmt durch Autos, Klamotten, Kultur, Luxus, auch nicht bloß durch Unwirtlichkeit, durch Lärm, Staub, Dreck, Verkehr und herumhastende Menschen. Irrtum, ganz im Gegenteil, den Zahn ziehe ich Ihnen hiermit. Städte bieten oft Überraschendes. Plötzlich zeigt sich der blühende Huflattich in der Asphaltritze, das Liebesgras in der Gosse, der Vogelknöterich im Plattenbelag, die Mäuse-Gerste auf der Baumscheibe, die Kleine Braunelle im Rasen, der Hohe Steinklee im Uferröhricht. Florale Partisanen sind nämlich mitten unter uns, Stadtbesetzer, ausgesprochene Stur- und Trotzköpfe, wahre Improvisationstalente, Vagabunden mit Kämpferherzen – klein bis groß, dürftig bis üppig, bunt bis uniform, platt wie eine Briefmarke und dann wieder drei bis vier Meter hoch.

Auf kleinem bis kleinstem Raum können Sie selbst ohne viel Aufwand jederzeit von April bis Oktober bequem auf Pflanzenjagd gehen. In Bremen und Hamburg im Norden, in Düsseldorf und Essen im Westen, in Berlin, Leipzig und Dresden im Osten, in Frankfurt, Stuttgart und München im Süden war ich für mein neues Buch unterwegs. An wohlbekannten Orten, mal in Parks, mal an Flüssen, im Hafen, längs einer prächtigen Einkaufsstraße, auf altem Industriegelände, und ein berühmter Bahnhof durfte auch nicht fehlen. Die Metropolen stehen natürlich stellvertretend für alle anderen Städte (und Dörfer) in Deutschland, alle erwähnten Gewächse kommen noch an vielen anderen Stellen vor, nicht nur dort, wo ich sie gefunden habe.

Die «Stadtpflanze» gibt es übrigens nur in wenigen Fällen, jede Art ist bestrebt, ihr Areal dauernd auszuweiten. Zum Glück, denn gerade diese ständige Ausbreitungsdynamik ist einer der spannendsten Aspekte der Botanik. Wie oft wurde selbst ich überrascht, als ich 2015 meine Städtetour vom Frühjahr bis in den Herbst hinein unternahm! Keinen Pfifferling hätte ich gewettet auf das Alpen-Hexenkraut und den Ruprechtsfarn mitten in Stuttgart, auf Gummikraut in Leipzig, Hirschsprung in Dresden, Ackerröte und Klebrigen Alant in Essen oder Bär-Lauch und Wilde Tulpe in Hamburg! Die (Groß-)Städte zählen schon lange zu den artenreichsten Gegenden Deutschlands überhaupt. Hier finden sich häufig mehr Pflanzenarten als in der umgebenden, oft schon stark ausgeräumten Landschaft. Wundertüten gleich, wird man hier überall in kurzer Zeit fündig, es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Der bunte Blumenstrauß für jede der zehn Metropolen war ruck, zuck beisammen, wie immer hätten es noch viel mehr Städte und noch viel mehr Pflanzen sein können … In der Begrenzung steckt ja eine Stärke – etwas, was mir zugegebenermaßen schwerfällt.

Nun hoffe ich, dass in diesem Füllhorn für jeden Naturfreund einiges dabei ist, dass die Wahrnehmung geschärft wird, dabei auch mal ein Blumensträußchen abfällt, auf jeden Fall für Spaß, neue Eindrücke und veränderte Sichtweisen gesorgt wird. Denn das ist ganz klar mein oberstes Ziel: die Achtung vor der (Stadt-)Natur, gerade in urbanen Zentren, wo sie doch am unverzichtbarsten und am allermeisten gefährdet ist.

Ärgerlich finde ich – und das nur mal so nebenbei – in diesem Zusammenhang sehr irreführende, nur vorgeblich moderne Wortkombinationen wie «Industriepark», «Erlebnispark» oder «Badeoase», die Krönung ist für mich der Ausdruck «Güllelagune». Das alles hat rein gar nichts mit Naturerleben zu tun, reine Zweckentfremdung ist das und Augenwischerei. Kreiert von Naturbanausen, die den Begriff «Natur» zwar schon mal gehört haben, davon aber keinen blassen Schimmer in sich tragen.

Sie sind da ganz anders, das weiß ich. Sie sind wirklich neugierig.

Deshalb wünsche ich Ihnen viel Freude bei Ihren persönlichen Erkundungen in der so vielfältigen Stadtnatur.

 

Ihr/Euer Jürgen Feder

1Frankfurt

Im alten und neuen Westhafen am Gutleutviertel

Haben Sie sich schon mal im Main die Haare gewaschen? Heute Morgen um sechs Uhr dreißig habe ich genau das getan – Premiere, aber nur im Main! Nachdem ich vorher – mal wieder mehr schlecht als recht – in meinem Škoda Fabia am Stadion von Eintracht Frankfurt übernachtet hatte. Hier also ist, dachte ich mir als Bremer, die neue Heimat von Werder Bremens langjährigem Erfolgstrainer Thomas Schaaf (wobei man jetzt schon wieder «war» sagen muss). Nicht nur meine Haare, auch meine Hände sind fein säuberlich gewaschen, damit ich meinen ersten Stadtspaziergang in «Mainhattan» starten kann. Endlich. Durch das bisher kalte Wetter hinkt der Frühling mindestens zwei Wochen hinterher. Das mag ich aber lieber, als wenn man den (botanischen) Sommer schon im Frühling (erledigt) hat. Doch an diesem Tag, es ist der 20. April, knallt die Sonne von einem so was von wolkenlosen Himmel. Der Pullover wird früh schon ausgezogen, alles nur überflüssiges Zeug. Es ist fast Badewetter, auf jeden Fall aber ideales Pflanzenwetter!

Ich hatte mir den Frankfurter Hauptbahnhof und umliegende Straßenzüge als städtisches Zentrum ausgeguckt, einschließlich des berühmt-berüchtigten Rotlichtmilieus. Ganz viele Banker, Pendler und Reisende eilen hier durch, da könnte es für den einen oder anderen Gestressten erholsam sein, kurz mal innezuhalten und manch hübsche Wildblume am Straßenrand zu bestaunen. Aber obwohl ich die Augen wie Argus aufsperre, hier gedeiht so gut wie nichts! Beim besten Willen nicht. Auf dem Gelände des Hauptbahnhofs ja, üppig sprießt es da sogar, aber zwischen die Gleise kann ich doch keinen locken. Lebensgefahr! Drum herum ist es botanisch jedoch eine Katastrophe. Besonders der Bahnhofsvorplatz. Total öde. Ein paar plattgetretene Löwenzähne und einige lausige Gräser. Dafür Hundekacke, Splitter von zerbrochenen Bierflaschen, die üblichen Fastfood-Überbleibsel. Wahrscheinlich haben auch die Pflanzen die Schnauze voll von den Drogenhändlern in dieser Gegend und ihren Revierkämpfen, und sicher hat man ihretwegen jede kleinste Ecke zubetoniert. Niemand soll auf die Idee kommen, dort etwas Halluzinierendes zu verstecken. Also: Dreck, Dreck; Platte, Platte; Staub, Staub. Dazu habe ich nicht die geringste Lust, schon gar nicht an so einem Wonnetag. Ich muss mir schnell etwas anderes suchen. Ich will nämlich schwelgen, voll aus dem Bunten und Grünen schöpfen, begeistern und begeistert sein!

Was tun? So hieß ja eine berühmte Schrift von Wladimir Iljitsch Uljanow, den alle eher unter dem Namen Lenin kennen. Schon 1902 machte der sich Gedanken über die Zusammenarbeit von Arbeitern und Bildungsbürgern und begründete eine Theorie, nämlich die von der «Avantgarde des Proletariats». Passt perfekt. Auch ich will den «Proletariern» unter den Pflanzen nachgehen, den Gewächsen in den Städten, diesen widerstandsfähigen Spontis, die niemand in Grünanlagen oder raumgreifenden Betonkübeln anpflanzt, die nicht zu den «bürgerlichen» Kulturpflanzen zählen. Sie sollen bloß nicht mit Geranien, Spiersträuchern, Zierrosen, Narzissen und Tulpen eine Gemeinschaft bilden. Lieber autark sollen sie bleiben, die kleinen grünen Wunder unter Abfallkübeln und Plakatwänden, um Ampeln, Laternen, Pfosten oder Straßenschilder. Die, die sich aus dem Pflastersand hervorwagen und die jede Parkbank zum Eigenheim deklarieren.

Was also tun? Ich erinnere mich an Matthias, einen früheren Studienkollegen, den ich tags zuvor in der Nähe von Gelnhausen besucht hatte. Folgenden Tipp hatte er auf Lager: «Vergiss den Bahnhof. Geh zum Westhafen, ins alte Gutleutviertel. Es liegt am Nordufer des Mains und ist zu Fuß höchstens fünfzehn Minuten vom Bahnhof entfernt. Modernstes urbanes Frankfurt, Topadresse, nach dem Motto: ‹Wohnen am Wasser – Party am Wasser›. Fast so wie die Docks in London.» Klang etwas übertrieben, doch nun denke ich, dass die Worte «Westhafen» und «Gutleutviertel» eine spannende Mischung aus Elitärem und Wildnis sein könnten. Da besteht Hoffnung auf nicht zu viel Durchgestyltes und dennoch Raum für pflanzliche Rebellen.

Vorbei geht es an der schmalsten Kirche Deutschlands, die Gutleutkirche an der Gutleutstraße ist kaum zwei Meter breit. Von hier erreiche ich den Punkt, den mir mein früherer Kollege genannt hatte – den runden Glasturm am Westhafenplatz! Auch erkenne ich in einer Entfernung von ungefähr einem Kilometer mein erklärtes Ziel: die alte Eisenbahnbrücke über den Main, die Rhein-Neckar-Brücke, auf der sich gerade zwei ICE-Züge begegnen, der eine will nach Frankfurt, der andere verlässt die Stadt. Die Promenade verläuft annähernd schnurgerade, links das Wasser, rechts moderne Bauten mit mehr oder weniger Glas, Wohnungen und Firmengebäude. Dazwischen neu gepflanzte Bäume, Bänke zum Ausruhen, Papierkörbe. Und ganz wichtig: alte Pflastersteine, damit der Charme der Gegend erhalten bleibt. In ihnen können sich Pflanzen einwurzeln, zwar keine Riesenstauden, aber niedere Pflanzen allemal. Spaziergänger können ruhig darauf treten, die ducken sich und kommen dann wieder hoch. Die alte Kaimauer sieht ebenfalls vielversprechend aus. Gespritzt wird anscheinend nicht, denn überall wuchert es. Außerdem: Man kann weit gucken, nach vorn und nicht nur nach oben, das ist eher ungewöhnlich für die Trabantenstadt Frankfurt. Die Gebäude mit dreißig, vierzig Stockwerken liegen am Horizont.

Diese Gegend ist ideal für meine erste urbane Flaniermeile. Der einstige Hafenbereich ist zudem ein altes Bahnhofsgelände, auf dem früher per Schiff angekommene Waren in Güterwaggons verladen wurden, später werde ich das an nicht mehr benutzten Schienen sehen. Zuerst aber springt mir nahe der Westhafenbrücke, an der alten Kaimauer aus Sandstein, das Mauer-Zimbelkraut (Cymbalaria muralis) ins Auge. Gleich zu Anfang eine meiner Lieblingspflanzen! So was von hübsch sind die hellvioletten Blüten! Die Art ist heimisch in Südosteuropa und wurde vor ungefähr 200 Jahren bei uns als Steingewächs eingeführt. Der Dichter Ludwig Bechstein schrieb über das Zimbelkraut im 19. Jahrhundert: «Niedliche Pflanze, du kleidest der alten Ruine Gemäuer, rankend hinab und hinauf blühest du einsam für dich. Sey der Erinnerung Bild, die, der Einsamkeit traute Genossin, oft des vergangenen Glücks sinkendes Luftschloss, umgrünt.» Für mich klingt das arg schwülstig, aber klar ist: Bei so viel Romantik musste man sie haben, sie sollte die deutsche Flora richtig aufmöbeln. Als wenn wir selbst nur pflanzlichen Mist gehabt hätten und diese Art nun alles überstrahlen würde. Die Spaltpflanze breitete sich dann mit ungeahntem Erfolg aus, was bei dieser Säuselei auch kein Wunder war. In Ritzen kommt sie praktisch mit Luft und Liebe aus, gibt sich aber mit ihren zart hellvioletten Blüten – ein bisschen Weiß und Gelb sind noch dabei – letztlich einen edlen Anstrich. Die Pflanze hat eine weitere Besonderheit: Sie ist negativ phototrop, das heißt, wenn es ihr zu hell wird, schlägt jeder vorwitzige Trieb eine Kurve und kehrt wieder nach innen: Marsch, marsch zurück ins Mäuerchen. Ständig sucht sie nach neuen Fugen, deshalb hat sie oberirdische Ausläufer. Sie kann von Ende März bis in den Oktober hinein blühen. Nun sehe ich Tausende Blüten größerer Flatschen in gleißender Sonne oberhalb des Wassers – das Zimbelkraut ist umwerfend.

Mauer-Zimbelkraut

Diese wunderbar löchrige Kalkmauer – aus diesem Grund bin ich auch so gern in Städten, weil in ihnen verschiedenste Materialien verwendet werden: Sand, Stein, Lehm, Ton oder das Sedimentgestein Mergel. Und das wiederum zieht alle möglichen Pflanzenarten an. Landflucht ist also auch bei Pflanzen ein Thema. Bei den neu erbauten Häusern wird, wenn es regnet, viel Kalk abgespült. Ist er trocken, staubt es durch vorbeifahrende Autos, und schon werden Nährstoffe verbreitetet. Der Sandstein der Kaimauer stammt mit Sicherheit aus dem Taunus, ein bodensaurer Stein mit viel Basalt, der mit Zement bearbeitet wurde (und dieser ist ebenso sehr kalkhaltig). Derartige Standortmöglichkeiten zu erkennen, finde ich immer spannend, um zu wissen, wieso sich plötzlich an dieser oder jener Stelle Pflanzen eine Heimat suchen.

Und warum wächst entlang der Promenade unter den angepflanzten Bäumen so viel? Auch wenn die Antwort nicht so appetitlich ausfällt: weil hier die Hunde pissen und kacken. Als Hundebesitzer müssen Sie jetzt mal nicht verschämt wegsehen, Ihre Tiere tun der wilden Natur etwas Gutes. Dennoch würde man hier das Zimbelkraut vergeblich suchen, ihm würden die trittfesten Vierbeiner auf die Nerven gehen, deshalb wächst es in der Ufermauer und ist da ungestört. Und bedenken Sie: Jeder Papierkorb ist wichtig, jedes Schild, denn da heben Hunde ihr Bein – und Pflanzen haben ihr natürliches Substral. So können sich die Arten sammeln und zeigen, wie gut sie im städtischen Milieu überleben. Hier wird auch höchstens einmal im Jahr mit einem Freischneider gearbeitet.

Puh, die Sonne steigt höher und höher, es wird richtig heiß. Die gelbe Sonne passt gut zu dem gelb leuchtenden Gewöhnlichen Löwenzahn (Taraxacum sect. Ruderalia). Ihn kennt jeder, er wächst hier in Massen unter einem Rettungsring, als würde er sagen: «Hilfeleistender, guck dich erst einmal um und atme tief durch, ehe du ins Wasser springst.» Was kaum einer weiß: In Deutschland wachsen rund tausend Löwenzahn-Arten, keiner kann sie alle kennen. Es wird auch nie jemanden geben, der sie komplett gesehen hat, dafür müsste man sein ganzes Leben den Löwenzähnen widmen und damit schon mit fünf Jahren anfangen. Löwenzähne mögen Nährstoffe, Tritt, Abmähen, Sonne wie auch Schatten. Sobald ein Weg vorhanden ist (selbst im Moor), drängt sich der Löwenzahn auf. Eigentlich müsste er Wegerich heißen, aber dieser Name ist schon vergeben. Wenn Wiesen weithin gelb leuchten und die Menschen hocherfreut ausrufen: «O wie toll, alles voll von Löwenzahn!», haben wir es keineswegs mit tollen Wiesen zu tun, sondern mit den schlimmsten. Restlos überdüngt. Hier regiert der Löwenzahn, andere Pflanzen werden durch dessen kräftige Bodenrosette jedoch verdrängt, beschattet, ja buchstäblich platt gemacht! Abmähen hilft nicht, der Löwenzahn hat einen bestimmten Impuls: «Ich schieß noch mal nach oben, so schnell lass ich mich nicht unterkriegen, denen zeig ich’s.» Und so kann er lustig von März bis Oktober blühen.

Gewöhnlicher Löwenzahn

Was ich beim Löwenzahn toll finde, das ist die Pusteblume. Ein Kunstwerk für sich. Sie besitzt diesen kugeligen Fruchtstand, die Samen müssen erst reifen, doch nach ein, zwei Wochen will sie diese loswerden. Vorher kann man ewig pusten, da passiert nichts. Erst wenn die mehr als federleichten Schirmchenflieger bereit sind loszudüsen, sichern sie die Vorherrschaft der Löwenzähne in unserer Pflanzenwelt. Ein Rechenbeispiel: Hat man zehn Blüten mit jeweils bis zu 200 Samen, sind bereits 2000 Mini-Fallschirme in der Luft. Nur drei sind notwendig, um eine neue Rosette zu bilden. Also, ganz ehrlich, ich finde Löwenzähne trotzdem ziemlich langweilig. Alle sind gelb, es gibt keine roten oder weißen Löwenzähne, alle haben Zahnblätter, alle Milchsaft.

In seiner Nähe wächst etwas Interessanteres, das Quendelblättrige Sandkraut (Arenaria serpyllifolia). «Quendel» war eine alte Bezeichnung für den Thymian, und weil die Blätter eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen, ward dieser Name geboren. Quendelblättriges Sandkraut und Löwenzahn schließen sich normalerweise aus, weil die eine Pflanze (Quendelkraut) Dünger meidet und die andere (Löwenzahn) nicht genug davon bekommen kann. In der Stadt vermischen und verwischen sich aber diese Grenzen, hier werden neue Gemeinschaften gebildet – Multikulti auf floraler Ebene.

Quendelblättriges Sandkraut

Ah, was haben wir denn da? Ein Vergissmeinnicht, aber nicht das bekannte Acker-Vergissmeinnicht, sondern das zierliche Hügel- oder Raue Vergissmeinnicht (Myosotis ramosissima). Es ist kleiner im Wuchs, hat zudem winzige azurblaue Blüten und fällt durch enormen Blütenreichtum auf. Kleine Blüten sind immer eine Anpassung an Hitze, und deshalb erstaunt es mich keineswegs, genau diese Vergissmeinnicht-Art an diesem überaus sonnigen Platz zu finden. Glaubt man dem Sprachwissenschaftler Friedrich Kluge, bekam die Pflanze ihren deutschen Namen, weil die kleinen blauen Blüten an die Augen von Liebenden erinnern, selbstverständlich jung Verliebten. Dem Geliebten überreichte man als Treuebeweis ein Vergissmeinnicht. Und weil sie es wohl nötiger hatten als die Frauen, taten dies meist die Männer. Der Blütenstand wird Wickel genannt, Blüte für Blüte wird hier ausgewickelt. Das passt für mich viel besser zur Liebe: die Liebe als Geschenk, die aus Geschenkpapier ausgepackt wird. Irgendwann hat es sich dann aber ausgepackt. Das Vergissmeinnicht ist nämlich bereits im Juli fertig mit der Welt, vertrocknet und ganz kläglich liegt es dann am Boden. So wie auch die Liebe einmal zu Ende gehen kann. Und noch ein profaner Hinweis: Das, was man sich in der Gärtnerei kaufen kann, ist das auffallendere Wald-Vergissmeinnicht.

Hügel- oder Raues Vergissmeinnicht

Und jetzt tritt auf den Plan, das war auch zu erwarten, das Einjährige Rispengras (Poa annua), die häufigste und am weitesten verbreitete Pflanze Deutschlands, man findet sie von nur 500 Meter unterhalb der Zugspitze bis zur Salzwiese auf Sylt. Das einjährige Süßgras hat bestimmt schon jeder gesehen! Fast alle Biotope, die es gibt, besetzt diese Pflanze, sogar in Mooren ist sie zu finden. Keineswegs ist sie wählerisch. Ich bewundere diesen Zwerg, denn er kann zwölf Monate im Jahr blühen, er treibt es sogar unter der schützenden Schneedecke und fruchtet bei jeder Gelegenheit. Ein Dauerbrenner! Großartig hübsch ist er nicht, selbst Kühe lassen ihn stehen, wenn es höheres und saftigeres Gras gibt (nur in Notzeiten wird er gefressen). Dieses Gras ist ein Kosmopolit, ein Stadtspaziergänger, aber es hat auch bei Viehtränken oder Melkstellen sein Zuhause. Oder auf Fußballplätzen am Mittelkreis und dort, wo der Torwart steht und der Boden von den Stollen der Fußballschuhe aufgerissen ist und lückig wird. Hier kann es aussamen. Eine Eigenart des hellgrünen Rispengrases ist es nämlich, dass es ein Lückenbüßer ist. Wo nichts anderes mehr wachsen will, ist es sich nicht zu fein, sich dort anzusiedeln. Es gibt übrigens drei Sorten von Gräsern: Ähren-, Rispen- und die wenigen Fingergräser. Mit Sicherheit werden wir allen auf den nächsten Städtetouren begegnen.

Einjähriges Rispengras

Neben dem Rispengras behauptet sich das Knäuel-Hornkraut (Cerastium glomeratum), eine einjährige Art. Eine unscheinbare Pflanze, fast schon dürftig! Sie ist durch zahlreiche Samen und eine gewisse Scheinheiligkeit gewappnet, sollte der Gärtner mit dem Freischneider oder der Gartenfreund mit der Hacke kommen. Was in der Stadt jederzeit zu erwarten ist. Und sie ist so erfolgreich damit, dass sie überall mitmischt. Aus der Nähe betrachtet hat das Hornkraut niedliche weiße, fünfblättrige Blüten. Unbedingt will ich es fotografieren. Dazu setze ich mich auf den Boden, und prompt habe ich doch ein Kaugummi an meinem Hosenbein kleben! Sauerei! Kann ich überhaupt nicht ab. Im Main die Haare waschen … na klar! Aber ein ekliges Kaugummi an der Hose, nee! Bei einem Herbert-Grönemeyer-Konzert im Bremer Weserstadion pflanzte ich mich vorher mal – mit einem gepflegten Bierchen in der Hand zur Einstimmung – am nahen Osterdeich auf ein frisch ausgespucktes Kaugummi. Zehn Jahre ist das her. Verschämt hatte ich dann (am Deich bestens einsehbar) beide Hände damit zu tun, die klebrige Masse wieder abzustreifen. Mit Tempo-Taschentüchern in einer diesmal glücklicherweise löcherfreien Unterhose (was meinen Sie wohl, was ich an einsamen Kartiertagen unter meiner Jeans anziehe, 1990er-Modelle trage ich gern auf!). Wieso muss ich mich immer in dieses Zeug setzen (auch ständig in Hundekot treten)? Klar, weil ich häufig auf dem Boden sitze. Aber warum habe ich vorher nicht geguckt? Und wieso liegt es ausgerechnet an dieser Stelle? Bestimmt nicht, weil der Spuckspecht so begeistert vom zierlichen Hornkraut war wie ich. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er es nicht einmal bemerkt haben. Nicht die oberen, gelblich-grünen Pflanzenteile, nicht die gegenständigen, eirunden Blättchen. Ignorant! Und das, was so silbrig-hell glänzt, das ist bereits der Fruchtstand. Schaut man genau hin, sieht man, wie die Samen herauskullern. Vielleicht kennen Sie Bart-Nelke, Heide-Nelke, Pracht-Nelke oder die leuchtend rot blühende Kartäuser-Nelke, doch auch dieses Knäuel-Hornkraut zählt zu den sonst so imposanten Nelkengewächsen. Sobald die Temperatur über null Grad Celsius steigt, fängt es an, zu blühen und zu fruchten. Viele Arten brauchen eine gewisse Wärme zum Fruchten, das Knäuel-Hornkraut pfeift einfach drauf. Es ist der Spatz unter unseren Wildblumen.

Knäuel-Hornkraut

Während ich auf der Erde sitze und fotografiere, kommt ein Paketpostbote zielstrebig auf mich zu. Er klopft mir mit südländischer Begeisterung auf die Schulter und ruft laut: «Ey, klasse, was du machst, mach weiter so, Kumpel.» Scheint ein Türke zu sein, der mich im Fernsehen gesehen hat. Ich kann nur verblüfft erwidern: «Ist auch klasse, was du machst.» Pflanzenliebhaber gibt es überall auf der Welt, sogar unter den Paketpostboten.

Nachdem ich das schlichte Hornkraut fotografisch verewigt habe, gehe ich nur einige Schritte weiter, und unter einem Papierkorb haust die Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana). Diese einjährige Art blüht ganz fleißig, und zwar bis September, Oktober. Das muss sie auch, will sie ihren Wuchsplatz verteidigen. Oft sieht sie aus, als wäre ihr Zyklus schon abgeschlossen, aber die Pflanze streckt sich dann noch einmal, als wolle sie die Größte werden. Bis auf die zierlichen, nur Millimeter groß werdenden weißen Blüten ist sie ziemlich kahl. Die Stängel sind bereift und abwischbar. Fahren Sie mal, wenn Sie einer Acker-Schmalwand begegnen, mit den Fingern am Stängel entlang: Das Graugrüne haben Sie dann am Finger. Das ist eine äußerst dünne Wachsschicht, ein Hitzeschutz, damit die Wärme nicht komplett eindringt. Viele Pflanzen haben eine andere Taktik gewählt, um sich gegen zu starke Sonneneinstrahlung zu wehren, sie machen es mit polsterartigem Wuchs, mit Behaarung, Öldrüsen, sehr schmalen Blättern oder nach Kakteenart mit Sukkulenz. Die Acker-Schmalwand sagt sich aber: «Quatsch, so ’ne Behaarung, ich bevorzuge Wachs!» Ich kann nicht behaupten, dass ich diese Art besonders mag, sie sieht ein wenig straßenkötermäßig aus. Ihr Name klingt ebenfalls etwas verächtlich: Acker-Schmalwand. Hat was leicht Schmalbrüstiges an sich. Doch sie hat große Ähnlichkeit mit meiner Statur … Aber alles an ihr ist essbar, ganz im Gegensatz zu mir! Ich probiere sie, scharf schmeckt sie nicht, eher milde, doch ist sie nur wenig saftig.

Acker-Schmalwand

Mit der Sonne um die Wette strahlt heute auch die Rote Schuppenmiere (Spergularia rubra), eine Niedlichkeit in Person. Platt wie ein Seestern liegen die graugrünen Sprosse mit den nadelförmigen Blättchen am Boden. Ach was, Boden wäre wirklich zu viel gesagt, mit jeder engsten Pflaster- oder Plattenritze nimmt dieses Nelkengewächs vorlieb. Die rosafarbenen Blüten glänzen wie die Äuglein von Mäusen, und man muss sich anstrengen, um dieses Gewächs zu Gesicht zu bekommen. Wer da eine Lupe bei sich hat, ist im Vorteil. Scheint die Sonne aber nicht oder es regnet gar, sind die Blüten der Roten Schuppenmiere geschlossen, fischgrätartige Verzweigungen verraten sie jedoch allemal.

Rote Schuppenmiere

Von einem Zwerg zum nächsten – ist ja auch irgendwie klar: So früh im Jahr ist mit pflanzlichen Monstern (noch) nicht zu rechnen. Und das nur bis fünfzehn Zentimeter hohe Frühlings-Hungerblümchen (Erophila verna) mit seinen schneeweißen Blüten macht da keine Ausnahme. Es ist sogar mit am frühesten von allen dran. Trotzdem braucht es Kälte, das ist kein Anachronismus, es ist nämlich ein Kältekeimer. Bereits im November finden sich die dunkelgrünen bis grauen Rosettchen an Straßen und Wegen, in Beeten und auf Friedhöfen, sogar auf Mauern. Auf nährstoffarmen Böden verhungert es nicht, kommt hier sogar bestens zurecht. Ein Opportunist, ein Lückenbüßer im wahrsten Sinne des Wortes. Und wenn es ab April seine schokoladenförmigen Schötchen zum Himmel streckt, sieht es richtig gefährlich aus – jedenfalls von nahem. Im Juni ist es dann aber schon gänzlich verschwunden.

Frühlings-Hungerblümchen

Allmählich nähere ich mich dem Flusskrebssteg, dort wächst im Pflasterstein viel Strahlenlose Kamille (Matricaria discoidea). Diese verwegene Art ist eine wahre Pissnelke, denn sie ist salzertragend. Hundeurin ist da stets willkommen. Erstmals wurde sie um 1800 in der deutschen Flora entdeckt, man fand sie in einem Berliner Botanischen Garten. Direkt daneben errichtete man später einen Bahnhof, von dem aus sie ihre Reise durch ganz Deutschland und Europa antrat. «Strahlenlos» wird diese Kamille genannt, weil sie keine Blütenblätter hat. Aus ihr kann man keinen heilenden Tee machen wie aus der Echten Kamille, die einen weißen Blütenkranz vorweist. Die Strahlenlose riecht sehr schön «kamillig», aber sie ist tatsächlich zu nichts zu gebrauchen. Die Echte Kamille erkennt man daran, dass die Blütenblätter irgendwann nach unten gehen. Ich mag die Strahlenlose Kamille mit ihrer Glatze dennoch, sie hat einen diskusförmigen, dicken gelbgrünen Kopf von April bis Oktober. Als Dickkopf hat sie natürlich Durchsetzungsvermögen, sie produziert viele Blüten und damit viele Samen. Standardregel ist: Wer viele Samen macht, kann sich weit ausbreiten. Manchen Leuten passt das nicht, sie sagen: «Die Art müssen wir bekämpfen, die durchdringt alles und macht unsere heimische Flora kaputt!» Wie soll das bloß bei einer Wuchshöhe von fünf bis 35 Zentimeter funktionieren? Das ist genauso ausländerfeindlich, wie es unter Menschen vorkommt. Diese niedlichen Gewächse sind in meinen Augen nur Blitzableiter für andere beklagenswerte Zustände um uns herum. Heißt sie lieber alle willkommen!

Strahlenlose Kamille

Selbst wenn einige Arten sich dominant, fast aggressiv verbreiten, so ist zu bedenken, dass es nie für die Ewigkeit ist. Die Arten, die heute stark sind, sind es in zwanzig, dreißig Jahren vielleicht nicht mehr. Die Evolution erfolgte über Millionen von Jahren, und wir erlauben uns schon nach kürzester Zeit ein Urteil. Wir sollten mehr Geduld haben und abwarten, womöglich treten bald die natürlichen Gegenspieler in Erscheinung – und schon verändert sich das Gesamtbild. Keine einzige Pflanze ist wirklich bedrohlich. Eigentlich ist nur der Mensch gefährlich, oft projiziert er etwas in die Natur hinein, was seiner eigenen Spezies gilt. Auch der britische Physiker Stephen Hawking erklärte in einem Interview, dass die Aggression des Menschen die größte Gefahr sei.

Ich habe mittlerweile die Stichlingstraße erreicht, und nun heißt es festhalten: Unter einer Baumreihe – erstaunlicherweise Birnenbäume – wächst die nicht übermäßig häufig vorkommende Pfeilkresse (Cardaria draba). Ihre ursprüngliche Heimat befindet sich in Südosteuropa und Asien. «Pfeilkresse» heißt sie, weil die Blätter pfeilförmig um den Stängel liegen. Und «Kresse», weil sie ein Kohlgewächs ist und damit mal wieder essbar. Sie schmeckt nach Kohlrabi, richtig klasse – und aufgrund ihrer weißen Blüten in großen Mengen ist sie bezaubernd. In zwei Wochen wird sie so richtig zur Geltung kommen, Flaneure werden denken, hier liegt noch Schnee. Ich plädiere an dieser Stelle: Die Kokser von Frankfurt sollten sich lieber mal «Kresseschnee» reinziehen. Ist auch viel gesünder.

Pfeilkresse

Nebenan befindet sich weitläufiges Brachland, das wird sicher nicht mehr lange so bleiben. Bald wird ein weiteres Gebäude darauf stehen, und für die meisten Arten, die auf dem Gelände gedeihen, ist dann Schluss mit lustig. Aber ein Gewächs wird noch in einem Jahr zu finden sein, da ich es auch zuvor schon sah: die Stängelumfassende Taubnessel (Lamium amplexicaule). Hierzulande gibt es etwa zwölf Taubnessel-Arten, aber diese ist die einzige, bei der jeweils zwei gegenüberliegende Blätter am Stängel verwachsen und darauf die etwa 1,5 Zentimeter langen Blüten ansetzen. Auf jedem Quirl können sich bis zu zwanzig violette Blüten inszenieren. Eine wahre Freude ist es, sie schon so weit in der Blüte zu sehen. Bis dreißig Zentimeter wird sie hoch, mit vielen Verzweigungen. Ein einjähriger Energieprotz, doch irgendwann macht auch er schlapp und legt sich zur Seite.

Stängelumfassende Taubnessel

Neben ihr hält sich etwas besonders Tolles: der (Veronica persica). Ehrenpreise sind wahre Hochgenüsse, und dies bei nur wenigen Zentimetern Wuchshöhe. In meinem ersten Buch, Feders fabelhafte Pflanzenwelt, hatte ich schon drei drin, mehr ging nicht. Doch jetzt kann ich wieder zuschlagen. Dieser Blütenkontrast ist hinreißend, mal weiß, mal hell- und dunkelblau gestreift. Dazu zwei sensationelle Staubgefäße, die wie die rundbäuchigen Teletubbies aussehen, jene Figuren aus der gleichnamigen Kleinkinderfernsehserie, mit Antennen obendrauf. Die blauen Bommel scheinen auch entzückend zu wackeln. «Persisch» wird der Ehrenpreis genannt, obwohl er aus dem Kaukasus stammt, und dieses Gebirge zieht sich nicht bis nach Persien hinein. Was soll man dazu sagen? Viel unglücklicher würde ich es aber finden, würde man ihn deshalb in «Kaukasischen Ehrenpreis» umbenennen. In der Botanik wird nämlich häufig umgetauft, eine überaus nervige Angelegenheit, ausgelöst von Schreibtischtätern und Papierwühlern, die sich ein Denkmal setzen wollen. Das ist ein Unding, und das sage nicht nur ich, der eine große Klappe hat. Menschen, die das tun, bezeichnen sich als Revisoren. Sie zerlegen unsere schöne Wissenschaft in unverständliche Bruchstücke. Und die, die wieder zu den Pflanzen finden sollen, werden dadurch nur weiter abgeschreckt.

Persischer Ehrenpreis

Na, wen höre ich denn dort auf der Brache? So ein schmirgelndes Geräusch, «krrkrrkrrr», das kenne ich doch. Erstaunlicherweise hatte ich dieses Gekrächze vor knapp einem Jahr sogar in den Alpen vernommen, da lag dort noch Schnee. Es stammt von einem Hausrotschwanz, der dort sogar oberhalb der Baumgrenze brütet, ein Höhlenbrüter, etwas kleiner als ein Spatz, mit dunklem Gefieder und einem Schwanz in Braunorange. Sie wippen so entzückend. Ich liebe diesen Vogel. In Städten hat er sich schon seit langem eine neue Heimat in Schlachthof- und Bahnhofsvierteln, an Gefängnismauern und alten Fabriken gesucht. Viele Vogelarten flüchteten in die Stadt, weil sie Not in der Landschaft hatten. Doch werden auch in den Städten die Brachlandschaften mehr und mehr verbaut. In Niedersachsen ist auf diese Weise die Haubenlerche schon verschwunden.

Mitten im Hafenbecken, gleich gegenüber der Brache, liegt eine verwunschene, verlassene Halbinsel. Auf dicken Anschlägen ist zu lesen, dass auf ihr ein mondänes, maritimes Vergnügungszentrum entstehen soll. Für die Pflanzen (und Tiere) ein Desaster. Auf dieser Halbinsel leben bestimmt hundert verschiedene Arten. Wird da erst Zierrasen angelegt, wird man sie an einer Hand abzählen können. Ärgerlich, obwohl es doch heißt, dass man Naturschutz auch in der Stadt will. Meinen Exkollegen, er arbeitet in der Frankfurter Umweltbehörde, hatte ich bei meinem Besuch gefragt: «Was hast du in den letzten fünfundzwanzig Jahren beim Flächennaturschutz erreicht?» Seine Antwort: «Nichts. Deshalb habe ich mich versetzen lassen, jetzt mache ich Lärmschutz. Bei Lärmschutzwänden schlafen die Leute wenigstens besser.» Er erklärte mir noch, dass er zwar die eine oder andere Art in Frankfurt gerettet hätte, aber nie von Bestand. Zwar wurde an der einen oder anderen Stelle mit Super-Arten jahrelang nicht gebaut, irgendwann erhielt dann aber doch jemand die Erlaubnis. Immer mit den gleichen Argumenten: Arbeitsplätze und Wohnungsnot. Ich konnte nachempfinden, wie frustrierend das für meinen Gastgeber gewesen sein musste. Aber fast überall im Naturschutz ist das so. Die Wirtschaft muss boomen, viele Lebewesen, Menschen nicht minder, bleiben auf der Strecke!

«Darf ich fragen, was Sie hier machen?» Eine junge Frau mit dunklen Haaren und in einem hellen Sommerhosenanzug spricht mich an.

«Ich schaue mir die Pflanzen auf dieser Brache an», erkläre ich.

«Da wachsen ganz schön viele», meint sie und fügt noch hinzu, dass sie zu einem Architektenteam gehört, das gerade einen Bebauungsplan für die Brache ausarbeitet.

Ich muss ihr leider widersprechen: «Diese Fläche ist derzeit nicht besonders wertvoll. Man könnte sie wertvoll machen, indem man den Boden aufreißt. Aber wer macht das? Viele Pflanzenarten in der Stadt brauchen den Menschen, um zu überleben, deshalb ist städtischer Artenschutz auch so schwer. Ohne sie vergrast alles, die Quecke wächst hier, Huflattich, Wolliges Honiggras und Land-Reitgras, die werden von vielen nicht gemocht. Der Löwenzahn macht auch alles dicht. Noch wachsen hier mehrere Arten, aber in ein, zwei Jahren werden viele verschwunden sein, verdrängt von den stärkeren. Man könnte denken, eine solche Fläche wäre für Pflanzen das Paradies auf Erden, aber das stimmt nicht. Es könnte ein Garten Eden sein, ja! Aber für eine regelmäßige Störung sollten solche Flächen nicht umzäunt sein, sie müssten für Mensch und Tier geöffnet werden.»

Die Architektin schweigt, ihr Blick schweift über die Brache, schließlich schaut sie mich an. «Interessant, wenn man ein Grundstück mal mit anderen Augen sieht. Tausend Dank.» Sie zieht weiter, und ich rufe ihr hinterher: «Bei vielen Tieren sind wir Menschen die größten Fans, bei den Pflanzen ist es sehr viel schwieriger, die bewegen sich nämlich nicht.» Trotzdem sind sie genauso faszinierend, denke ich im Stillen.

Im Westhafengebiet machen sich Nilgänse lauthals bemerkbar. Deutschland wird gerade von diesen Nervensägen überschwemmt. Der Entenvogel mit dem rotbraunen Gefieder und dem dunklen Augenfleck – als würde das Tier eine Sonnenbrille tragen – ist dominant, frech und kann äußerst aggressiv werden. Bei einer Exkursion am Fühlinger See in der Nähe von Köln wollten sie mir an die Hosenbeine. Aber dann ließen sie ab, ich kann nämlich auch nerven.

Lieber wende ich mich dem Huflattich (Tussilago farfara) zu, der mir an der Kaimauer ins Auge springt. Lateinisch tussis bedeutet «Husten», und der Huflattich ist eines der ältesten Hustenmittel, die wir kennen (Hustentee). Er breitet sich gern aus, mag Feuchtigkeit, ist aber auch gegen Trockenheit relativ resistent. Die schuppenartigen Hochblätter schützen ihn vor Sonneneinstrahlung. Wird es ihm zu heiß, dreht er die filzige Unterseite nach oben. Er blüht mit seinen gelben, korbförmigen Blüten hauptsächlich im März und April, hier sind gerade noch ein paar Nachzügler zu sehen. Wie der Löwenzahn bildet er eine Pusteblume, nur ist die doch kleiner, kürzer und dichter, nicht so filigran. Beim Huflattich gilt das Recht des zuerst Dagewesenen. Wo er ist, kommt so schnell keine andere Art hinzu. Selbst der so starke Löwenzahn kann bei ihm einpacken.

Huflattich

In gebührendem Abstand hält sich im Schotterbereich die filigrane und einjährige Dach-Trespe (Bromus tectorum). Sie heißt deshalb so, weil die Pflanze bei seitlicher Betrachtung ein herüberhängendes, eindimensionales Dach (lateinisch: tectum) bildet. Das Gras ist wunderschön silbrig, aber ich bin ja überhaupt ein großer Gräser-Fan. Seine graue Behaarung ist wieder eine Anpassung gegen zu große Hitze. Die Dach-Trespe ist ein typischer Bahnhofsvertreter, und als ich mich umblicke, erkenne ich die alten Gleisanlagen für die Güterzüge. Herrlich, wie sich die Rispen elegant im sanften Wind hin und her bewegen. Bei dieser Pflanze kann man genau erkennen, aus welcher Richtung er weht.

Dach-Trespe

In unmittelbarer Nähe reckt sich das weiß blühende Behaarte Schaumkraut (Cardamine hirsuta). Tatsächlich ist es eine der wenigen Pflanzenarten, die man im Garten zu fürchten hat. Fasst man da im Mai und Juni ins reife Kraut, springen einem die Samen ins Gesicht. Gartenfreunde sagen deshalb «Springkraut» dazu. Es ist eine Art mit klarem Vorwärtsdrang! Ein richtiges Unkraut, ein Massenunkraut. Ansonsten bin ich sehr vorsichtig mit dem Wort «Unkraut», in diesem Fall passt es. Die Pflanze produziert geradezu unheimlich viele Blüten und deshalb auch unheimlich viele Schoten und Samen. Am besten bekämpft man sie, indem man die dunkelgrünen Rosetten entfernt, und das schon im Februar! Im April ist es oft zu spät. Jetzt habe ich mich aber verraten, gerade sprach mehr der Gärtner als der Pflanzenliebhaber aus mir.

Behaartes Schaumkraut