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Es war die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders. Trotzdem war der Alltag von einer gewissen Mittelmäßigkeit und einer oft spießigen Weltanschauung geprägt. Kein Wunder, dass die Jugend aus dieser farblosen Lebensweise ausbrechen wollte. Man war ein bisschen halbstark, entdeckte den Rebellen in sich und verhalf womöglich dem Rock'n'Roll zu seinem Siegeszug. Die weite Welt aber war immer noch groß und für neugierige junge Menschen schier unerreichbar. Die Ferne, das rätselhafte Fremde, die Exotik lockten. Man hätte auswandern, zur See fahren oder zur Fremdenlegion gehen können. Was also tun? Da halfen nur Abenteuerlust, ein alter VW-Bulli und die richtige Partnerin, um auf eine 30.000 Kilometer lange Individualreise durch Kanada, die USA, Mexiko und Mittelamerika aufzubrechen. Rückblickend, und mit allerlei selbstkritischen Erkenntnissen gespickt, möchte der Autor die unvergesslichen Momente und Abenteuer dieser ungewöhnlichen, fast ein Jahr dauernden Hochzeitsreise mit dem Leser teilen.
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Seitenzahl: 241
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Mario Covi
VON KANADA NACH PANAMA - Teil 1
30.000 km im VW-Bulli durch Kanada, USA, Mexiko und Mittelamerika
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1. VORWORT
2. EINE ART ANFANG
3. TRÄUME
4. VORBEREITUNGEN
5. ÜBERFAHRT NACH KANADA
6. ES KANN LOSGEHEN
7. DIE ERSTE ETAPPE
8. ANGST UND SCHRECKEN AUF DER GEISTERINSEL
9. WEITER NACH WESTEN
10. DURCH WYOMING UND MONTANA
11. IN DER MILLER-COLONY
12. WIEDER IN KANADA
13. VANCOUVER
14. AM RANDE DES STILLEN OZEANS
15. SOUTHBOUND - SÜDWÄRTS
16. SIERRA NEVADA
17. DURCH DAS TAL DES TODES ZUM GRAND CANYON
18. VIER ECKEN
19. WIR ERREICHEN NEW MEXICO
20. TEXAS
21. SOUTH OF THE BORDER
22. AZTEKENLAND
23. MEXICO-CITY
24. TEMPELBEZIRKE
25. WIR VERLIEREN UNS
26. VORSCHAU
Impressum neobooks
Es muss mal gesagt werden: ein Lob an alle Tagebuchschreiber und Notizenaufbewahrer! Auch wenn's jetzt wegen des Eigenlobs stinkt, aber ohne Tagebuchnotizen, ohne aufbewahrte Briefe und Manuskripte von Reiseberichten für Zeitungen, hätte ich die folgenden Seiten nicht schreiben können. Zum Glück funktioniert auch noch die alte Festplatte im Kopf recht gut, so dass du, liebe Leserin, lieber Leser, jetzt mitkommen kannst auf eine abenteuerliche, über neun Monate dauernde und 30.000 Kilometer lange Reise durch den amerikanischen Kontinent. Von Kanada, über die USA nach Mexiko und Mittelamerika bis runter zum Panamakanal. Auf eine Reise in einem klapprigen VW-Bulli, und mit einer süßen jungen Frau, die mir bis heute als Lebenspartnerin treu zur Seite steht.
Was mir beim Schreiben auffiel war, dass, wenn man mit reichlich zeitlichem Abstand so ein Reisetagebuch ins Reine bringt, einem immer wieder so genannte Erkenntnisse in den Nacken springen.
Erkenntnisse, die man zwangsläufig erst jetzt im reiferen Alter machen kann. Einfach weil man die Geschehnisse vieler Jahre erlebt und überlebt hat, was natürlich kein großes Verdienst ist. Allerdings finde ich erwähnenswert, dass man bei so einem Unterfangen ab und zu gezwungen ist, sich selbst, oder seine Umwelt, nachträglich in Frage zu stellen. Schließlich liegt zwischen dem abenteuerhungrigen jungen Kerl von damals und dem heutigen Schreiber fast ein halbes Jahrhundert. In dieser Zeit haben sich Weltanschauungen und Zeitgeist immer wieder geändert. Oder sie festigten sich - manchmal unbemerkt. Besonders auffallend ist, wie sich das Antlitz der Erde verändert hat. Das hört sich lyrisch an, ist aber manchmal brutal, erschreckend, oder sogar schwer zu ertragen.
Vor allem in Mexiko und Mittelamerika mussten wir rückblickend, und mit der Erfahrung späterer Reisen feststellen, dass Veränderungen nicht unbedingt Verbesserungen sind. Besonders krass empfanden wir in diesem Zusammenhang das Beispiel Cancún auf der Halbinsel Yucatán. Im Kapitel 7 (Karibisches Ende der Welt) im zweiten Teil dieses Reisetagebuchs verarbeite ich die Tatsache, wie aus einem idyllischen 100-Seelen-Fischerdorf eine Anlage für Zehntausende von Touristen und abhängigen Dienstboten wurde.
Ich gebe zu, das klingt besserwisserisch, und nach Opa, für den früher sowieso immer alles besser war. Trotzdem hoffe ich, dass ich kritisch genug geblieben bin und kein im Rückblick erstarrter Nostalgiker.
Ja, früher war schon manches besser: es lebten nur 3,5 Milliarden Menschen auf der Erde; es gab kein Aids; kein Ebola; Malariamittel und Antibiotika wirkten noch bestens; Massentourismus und Islamismus waren noch keine Bedrohungen; der Sprit war billiger; weder im Auto noch im Alltag kontrollierte und bestimmte Elektronik unseren nächsten Schritt; und kein Smartphone verfolgte einen bis ans Ende der Welt, wo man dann allerdings auch in Ruhe vor die Hunde gehen durfte ohne jemals, nicht einmal von YouTube oder der NSA, gefunden zu werden.
Und - einverstanden - vieles ist heute besser: von der Kommunikation bis zum weltoffeneren Zeitgeist bei vielen Mitmenschen, von den Mitteln gegen Krebs und den preiswerten Reisemöglichkeiten für jedermann, von der hilfreichen Elektronik im Alltag und den unendlichen Möglichkeiten sein Wissen zu erweitern.
So hoffe ich, dass du lieber Leser dir dein eigenes Bild vom Drumherum bei so einer Individualreise machen kannst. Wir waren seinerzeit nicht viel anders gestrickt als die jungen Menschen heute. Wir wollten ein individuell bestimmtes Leben führen, wir waren neugierig und offen für neue Gedanken, Empfindungen und Erfahrungen. Wir waren abenteuerhungrig. Vielleicht waren wir unbelasteter mit den negativen Erfahrungen unserer heutigen Gesellschaft, die sich einer zunehmenden alltäglichen Brutalisierung entgegenstellen muss. Wahrscheinlich waren wir einfach blauäugiger in unserer Abenteuerlust, vermutlich sogar draufgängerischer und dümmer.
Aber wer damals die Chance ergriffen hat, sich neugierig ins Unbekannte einer fremden Welt zu stürzen, konnte sein Leben um Erfahrungen bereichern, die heute auf diese Weise viel schwerer zu machen sind. Vielleicht gelingt es mir ja, etwas davon auf den folgenden Seiten zu vermitteln...
"Mann! Was für ein Land! Da werde ich mir eines Tages ein Stück Land kaufen und ein Blockhaus bauen!"
"Du sagst es! Ich auch! Auf jeden Fall!"
So ähnlich mussten wir uns unterhalten haben, der Bordelektriker und ich, als wir an der Reling des Hamburger Frachters 'Geert Howaldt' lehnten und fasziniert der im Dunst der Ferne entschwindenden Kulisse von Vancouver-Island nachschauten. Kanada! Was für ein Land! Mann!
Lang ist es her. Ich war Funker auf meinem ersten Schiff, 1962, 1963, in der weltweiten wilden Trampfahrt, die mich zunächst nach Südamerika brachte. Von Peru aus sollten wir dann nach Britisch Kolumbien.
"Wo is dat denn?", höre ich noch meine Kameraden - und mich selbst - fragen. Ja, wir jungen Seeleute waren in Sachen Allgemeinbildung und Lebenserfahrung noch im Aufbau begriffen, auch – trotz des Berufes - in geografischer Hinsicht! Mal eben mit dem Smartphone 'B.C.' googeln und dann den schlauen Max machen? Nee, das lag noch in ebenso weiter Ferne wie heute dieser Rückblick...
Wir hatten dann auf zwei langen Seereisen jeweils schätzungsweise 10.000 Tonnen Schnittholz in kleinen malerischen Häfen rund um Vancouver-Island, und auch in Vancouver selbst geladen. Die Holzverladung war eine noch eher gemütliche Angelegenheit. Wir lagen mehrere Tage bis zu einer Woche in den Häfen und hatten die Chance, Land und Leute, wenigstens oberflächlich, kennen zu lernen.
So kam es, dass mich Kanada von Anfang an - ich fuhr ja gerade erst seit einigen Monaten zur See - in seinen Bann gezogen und bis heute nicht mehr losgelassen hatte. Diese abgeschiedenen Verladeplätze, wie beispielsweise Tahsis, wo man nur übers Wasser oder per Wasserflugzeug hin gelangte, waren für uns junges Seemannsvolk Abenteuer pur. Die umwerfende Kulisse der kanadischen Pazifikküste, die Weite, die Stille der Regenwälder, richtiger Urwälder voll gigantischer Bäume! Keinem von uns - und kaum jemandem sonst - kam damals die Idee, dass da bereits ein heftiger Raubbau an den Ressourcen eines großartigen Landes stattfand. Natur gab es angeblich in schier unermesslichem Überfluss! Heute hat der Ort rund 560 Einwohner und ist über eine ziemlich abenteuerliche Schotterpiste erreichbar. Wen es interessiert: hier ein Internet-link, der über die grandiose Landschaft in diesem Teil Vancouver Islands informiert: www.tahsisbc.com
1962 lebten in Kanada etwa 18 bis 19 Millionen Menschen. Auf einer Fläche so groß wie Europa, von Portugal bis zum Ural! Das waren knapp 2 Menschen pro Quadratkilometer. Mann, alleine diese Zahl war doch schon eine Art Nervenkitzel in sich! Das war Einsamkeit, wilde Natur, Auf-sich-gestellt-Sein! Herausforderung an uns Kerle! Ja, ja, Karl May und Lederstrumpf lassen grüßen...
Heute, 2015, liegt das alles über 50 Jahre zurück. Und? Was ist aus dem Blockhaus geworden? - Nun, zu einem echten Blockhaus hat es nicht ganz gereicht. Die Preise für Grundstück und Baumaterial sowie der steigende Dollarkurs brachten mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Aber es reichte für ein uriges Holzhaus, das aussieht wie ein Blockhaus und dessen Behaglichkeit uns - meiner Frau, unserer Tochter und mir - seit über drei Jahrzehnten jeden Sommer zur zweiten Heimat geworden ist. Es liegt allerdings am ganz anderen Ende von Kanada, und zwar rund 4.500 km östlich von Vancouver Island an der Atlantikküste von Nova Scotia.
Wie es dazu kam, dass wir uns eine Sommer-Hütte im Osten Kanadas bauten, und wie das alles bis heute funktioniert, ist eine lange Geschichte für sich. Sie lohnt, erzählt zu werden. Also werde ich mich nach Beendigung dieser Seiten gleich daran machen, ein kanadisches Hüttentagebuch ins Reine zu schreiben. Nach Möglichkeit auch mit Tipps und Tricks für interessierte Häuslebauer. Mit allerlei 'Geheimtipps' und Informationen über den malerischen Osten Kanadas. Und über die benachbarten USA, natürlich, denn landschaftliche Schönheit macht nicht vor Ländergrenzen halt
Zwei abenteuerlustige Kameraden und ich hatten an Bord des Frachtschiffes 'Geert Howaldt' ausgemacht, dass wir uns ein altes Segelboot in Schweden kaufen, es wieder in Schuss bringen und schließlich um die Welt segeln würden. Als der Zweite Offizier - einer von uns dreien - einen Navigationskurs für diejenigen Matrosen gab, die sich zum nautischen Offizier ausbilden lassen wollten, war ich als Außenseiter einer der eifrigsten Kursbesucher in der Offiziersmesse. Natürlich blieb sie ein Traum, unsere Weltumsegelung. Hat man erst mal abgemustert und sich in alle Winde zerstreut, dann verliert man als Seemann in aller Regel rasch seine Kameraden, selbst gute Freunde, aus den Augen und trifft sich vielleicht irgendwann mal irgendwo auf der Welt rein zufällig wieder.
Also gut, wenn schon keine Weltumsegelung, dann könnte man ja um die Welt trampen. Über Land per Daumen - und über See als sogenannter Überarbeiter, also als billige Arbeitskraft an Bord irgendeines Rattendampfers. Hauptsache er brachte einen von A nach B über die Weltmeere! Mit Rudi, dem Bootsmann, hatte ich verabredet, nach unserer Abmusterung diesen Traum zu verwirklichen.
Der Anfang klappte ganz gut. Ich jedenfalls nahm es noch sehr ernst mit unserer Verabredung und hob vom Großraum Stuttgart kommend artig den Daumen, bis ich endlich, nach vielen Tagen und einem mit dem Notwendigsten gefüllten Seesack, das Ziel unserer ersten Etappe erreichte: Barcelona, Spanien. Rudi wollte vom nordrhein-westfälischen Großraum Dortmund aus das Gleiche tun. In Barcelona also wollten wir uns treffen, um als nächstes gemeinsames Ziel erst mal die Karibik anzupeilen. Von Spanien oder Portugal oder Nordafrika aus würden wir bestimmt ein Schiff finden, das uns rüber brächte in die westindische Inselwelt...
Kommunikation auf Reisen war seinerzeit, 1963, noch eine schwerfällige Angelegenheit. Ein Telefonanschluss zählte noch lange nicht zum Alltagsstandard eines jeden Haushaltes. Über mobile Telefone für jedermann brauchen wir hier gar nicht erst anfangen zu spekulieren. Zwei Typen, die irgendwo unterwegs waren, konnten sich vielleicht bei ausgeklügelter Strategie von zwei im Voraus ausgemachten Standpunkten aus zu einem bestimmten Zeitpunkt telefonisch verabreden. Das war allerdings viel zu kompliziert und teuer. Ferngespräche kosteten eine tüchtige Stange Geld, die man in Form von Münzen auch reichlich zur Hand haben musste in den öffentlichen Groschengräbern, sprich Telefonzellen. Was blieb, war der Postweg. Ein Brief - postlagernd - 'poste restante'. Auf allen großen Postämtern bestand die Möglichkeit, einen Brief an eine Person XYZ postlagernd aufzugeben. Diese Person, XYZ, konnte dann den Brief abholen, wenn sie sich entsprechend ausgewiesen hatte.
In Barcelona hatte ich bereits ein preiswertes Zimmer gefunden und schrieb einen kurzen Brief an Rudi mit der genauen Anschrift und der Bitte, sich eventuell auch postlagernd zu melden. Ich hatte gerade eben den Brief, ordentlich frankiert, aufgegeben und stieg die Treppen vom Postamt hinab, als mir ein fröhlicher Rudi federnden Schrittes entgegenkam. "Hallo! Mensch, prima! Dann brauch ich ja gar nicht mehr nach deinem Brief nachfragen!"
"Nee, nee, so nicht! Du holst den Brief schön ab, schließlich habe ich mir damit auch Mühe gemacht und Porto bezahlt!"
Das war unsere fröhliche Begrüßung. Und dann gestand mir Rudi, dass er nicht per Anhalter, sondern mit dem Europabus von Dortmund in zwei Tagesetappen bis Barcelona gefahren sei! Dieser bequeme Drückeberger! Wo blieb da der Abenteuergeist?
Nun war Rudi zwei oder drei Jahre älter als ich und für mich 23-Jährigen schon fast eine Respektsperson. Zumal er mit mehreren Jahren Seefahrtzeit schon eine eher erfahrene Teerjacke war. In der paramilitärischen Bordhierarchie der Handelsmarine stand er allerdings als Bootsmann im Unteroffizierrang unter mir. Ich war auf der 'Geert Howaldt' zwar der Jüngste und ein totales Greenhorn, stand aber als Funkoffizier etwa im gleichen Rang wie ein Zweiter Offizier. Was für ein verzwacktes System, nicht wahr? Vor allem damals schworen Traditionalisten noch eisern darauf. Für einen Individualisten - für den ich mich hielt -, mit aufmüpfigen Idealen und nonkonformistischen Gelüsten, war das manchmal ein schlüpfriges Terrain. Aber ich kam immer irgendwie zurecht auf dieser Leiter überlieferter Hierarchie! Also respektierte ich Grünschnabel den älteren Rudi als den Erfahreneren. Ich akzeptierte ihn in unserem Zwei-Mann-Rudel als Leitwolf.
Bald sollten Zeiten kommen, da würde ich sämtlichen göttlichen Mächten danken, dass Rudi, die bequeme Socke, den Europabus genommen hatte!
Wir stürzten uns zunächst ins Nachtleben von Barcelona, das sich in den Nebenstraßen und Gassen bei der Prachtpromenade La Rambla abspielte. Zum Glück wohnten wir auch gleich dort, hoch oben in einer preiswerten Absteige.
"Ich habe übrigens eine ganz interessante Frau kennen gelernt im Europabus", erzählte Rudi als wir in einer Pinte Vino süffelten, der uns von einer glutäugigen Kubanerin serviert wurde, die Rudi gleich heftig anbaggerte.
"Und?", fragte ich.
"Na ja, 'ne Studentin, so 'ne Schlaue, studiert Mathematik und Sport und Musik, oder so was, Mann! Aber sie trifft sich mit drei Freundinnen irgendwo südlich von Tarragona. Hat mir die Adresse gegeben. Können ja mal vorbei schauen, vielleicht nicht uninteressant. Weiber, du weißt schon..."
Natürlich war ich mit diesem Vorschlag einverstanden. Wir jungen Kerle waren mehr als ungebunden. Meine letzte Freundin und große Liebe hatte mir längst den Laufpass gegeben. Ihr Abschiedsbrief hatte mich während unserer langen Liegezeit im Westen Kanadas erreicht. Im Nachhinein betrachtet hatte mir das Schicksal gar nicht so übel mitgespielt, denn zum Schwiegersohn eines Richters in Dortmund hätte ich bestimmt nicht viel getaugt, nee!
Also, ab nach Tarragona! Und dann noch 30 km weiter. Diesmal zünftig per Daumen. Zum Glück hatten Rudi und ich an Bord in der Südamerikafahrt fleißig Spanisch gebüffelt. So konnten wir uns verständlich machen, und erreichten Miami Playa, einen kleinen Badeort, wo sich schon seinerzeit einige Deutsche ein schlichtes Häuschen in die noch einsame, ursprüngliche Küstenlandschaft gebaut hatten. Wir fanden die vier deutschen Mädels, und ein preiswertes Zimmer mit Meerblick im nahen Hotel 'Miami Playa'.
Die vier Studentinnen, die anderen drei studierten an der Werkkunstschule in Bielefeld, wohnten im Haus der Eltern eines der Mädchen. Wir verstanden uns gut, unternahmen Ausflüge und trafen uns täglich am Strand. Ich verliebte mich prompt in die sportliche Mathematikstudentin, die mich zu Höchstleistungen beim Schwimmen verführte. So weit hinaus aufs Meer war ich noch nie - und bin ich seither auch nie wieder geschwommen. Schon irre, wozu einen Verliebtheit anzustacheln vermag!
Eines Abends feierten wir im Haus der Mädels. Aus der Nachbarschaft hatten sie eine Gitarre organisiert - und ich konnte endlich mal wieder Musik machen. Schließlich hatte ich mit einigen Bands in den Clubs der Amerikaner und in deutschen Tanz-Gaststätten rund um Stuttgart und Ludwigsburg mein Geld für die Ausbildung zum Schiffsfunker verdient. So ließ ich das alte 'Wimmerholz' tönen und sang all die schönen Songs jener Zeit, von Elvis, von Harry Belafonte, von Peter, Paul und Mary, Lieder, die ich in Lateinamerika und Kanada gelernt hatte.
Eines der vier Mädchen, Hildrun, setzte sich neben mich. Ich war begeistert, wie schön sie mitsang und genau den Takt der Lieder einhielt oder den Rhythmus klatschte, Caramba! Dass sie auch noch gut aussah, Mann, ich war hin und weg! Aber zunächst schien sie mir etwas unnahbar zu sein. Auch war sie des Öfteren mit einer Clique holländischer Jungs unterwegs. Doch das Schicksal hatte längst seine Knöchelchen gewürfelt und seine verworrenen Fäden gesponnen: Wir verliebten uns ineinander - und diese Liebe hält bis zum heutigen Tag!
Natürlich war für Rudi und mich der Traum von einer Trampreise um die Welt erst mal zu Ende. Rudi hatte allerdings darauf bestanden, dass wir nach etwa einer Woche weiterziehen sollten. Nach hartnäckigen Diskussionen ließ er sich jedoch überzeugen, vor allem durch die Unterstützung des freundlichen weiblichen Hotelpersonals, dass man dieser jungen Liebe eine Chance gewähren müsse!
"Okay", hatte Rudi gesagt, "dann bleiben wir aber bis Ende September hier!"
Mir sollte es recht sein. Unser Geld, vor allem meines, schmolz sowieso dahin und wir mussten uns einen Job suchen. Orangen pflücken unten in Valencia war im Gespräch. Vorerst ernährten wir uns aber mit spanischen Liedern im nahen Camping-Restaurant. Dessen Wirt hatte zwar eine Gitarre, konnte aber nicht spielen. So unterhielten wir abgemusterten Seeleute die Touristen und wurden mit freiem Essen, vor allem aber mit viel zu vielen freien Drinks entlohnt...
Es war also diese Weichenstellung des Schicksals gewesen, Rudis bequeme Europabusreise, dass ich in Hildrun meine zukünftige Frau, die beste Seemannsfrau und den treuesten weiblichen Reisekameraden gefunden hatte.
Und ich lernte Hildruns Wohnort, Gütersloh, kennen, der mir bislang so fern und unbekannt schien wie Ouagadougou. Deshalb diese etwas weitschweifige Einführung, denn ohne Hildrun hätte es keine elf Monate lange Hochzeitsreise von Kanada bis Panama, keine weiteren, oftmals Monate dauernde Reisen durch die schönsten Landstriche Nordamerikas bis hinunter nach Mittelamerika gegeben.
Es folgten Jahre, 1963 bis 1967, in denen Hildrun erfahren musste, dass das Zusammenleben mit einem Seemann alles andere als einfach ist. Zunächst brachte sie ihr Studium in Bielefeld zu Ende, während ich das mitunter wilde Leben an fernen Küsten zu meistern versuchte. Verliebt, aber für viele Monate getrennt zu sein, ist eine harte Erfahrung. Da gehen viele brave Vorsätze und gutbürgerliche Regeln über Bord. Wer aber all das übersteht, der hat das gefunden, was man vielleicht gemeinhin als Glück bezeichnen mag...
In diese Jahre fiel leider auch der plötzliche und viel zu frühe Tod von Hildruns Vater.
Nach einer abenteuerlichen Ostafrika-Reise auf dem Schlepper 'Rotesand', hatte ich dann im Januar 1967 abgemustert, um unsere weiteren gemeinsamen Lebenswege zu planen und vorzubereiten. Wir hatten ernsthaft vor, eine längere Reise mit einem VW-Bus durch den amerikanischen Kontinent zu machen. Wer übrigens meine und unsere gemeinsamen Seefahrtsjahre nachvollziehen möchte: es gibt bei 'www.neobooks.com' drei E-books über diese Zeit unter dem Titel 'Seefahrt - Abenteuer oder Beruf?'
Im März 1967 heirateten wir.
Zunächst standesamtlich, damit wir unsere persönlichen Reisepapiere rechtzeitig in Ordnung bringen konnten. Hildrun verlor ja ihren sogenannten Mädchennamen. Und ich war eigentlich arbeitslos. Ich hatte am 4. Januar 1967 nach rund 5 Monaten Fahrtzeit von meinem letzten Schiff, dem besagten Schlepper 'Rotesand', abgemustert und bekam noch bis zum 9. Januar Urlaub angerechnet. Tja, das waren noch sparsame Zeiten auf dieser Seite des Sozialsystems! Also musste ich mich rasch freiwillig krankenversichern lassen und irgendeinen Übergangsjob an Land finden. Es waren leider magere Zeiten für sogenannte Studentenjobs, die Bundesrepublik hatte eine Million Arbeitslose. Davon träumen wir allerdings heute, nicht wahr?
Wir benötigten Zeit für unsere Vorbereitungen. Zunächst musste ich den Führerschein machen. Den gab's damals noch nicht zum 18. Geburtstag von Papi geschenkt, außerdem war mein Vater noch 1945 in diesem Irrsinn von Weltkrieg geblieben...
Während meiner Seefahrtzeit hatte ich fleißig gespart, und Hildrun arbeitete seit dem Frühjahr 1965 als Grafik-Designerin in einer Werbeagentur in Bielefeld. Um unsere Ersparnisse für die Amerikareise zu schonen, nahm ich den Job eines Zeitungsverteilers an. Kein Führerschein, kein Auto, also per Fahrrad. Und dann noch das 'Westfalen-Blatt', dessen weit verstreute Kunden meist weit draußen in den Bauernschaften rund um Gütersloh wohnten. Zum Glück gelang mir die Führerscheinprüfung nach wenigen Fahrstunden, was unserem Budget gut tat. Am 1. April 1967 bekam ich den 'Lappen'. Das war der freundlichste Aprilscherz meines Lebens!
Zwei Wochen später kauften wir einen schlichten gebrauchten VW-Campingbus. Das Fahrzeug war wirklich spartanisch. Baujahr 1960, 34 PS, keine Isolierung, also das blanke Blechgehäuse, innen weiß, außen rot mit weißem Dach. Der VW-Bulli hatte einen Austauschmotor mit 4.000 km Fahrleistung und kostete 3.000,- DM. Die Innenausstattung bestand aus zwei Bänken mit Stauraum. Eine in Längsrichtung und eine quer. Ein großer Tisch wurde an der Rückseite der durchgehenden Fahrkabinenbank - es gab keine Einzelsitze - eingehakt. Abends wurde diese Tischplatte zwischen die Bänke eingepasst, die Sitz- und Rückenkissen entsprechend verteilt, und fertig war das Bett, welches fast den gesamten hinteren Raum des Bullis ausfüllte.
Hinter der hinteren Querbank war eine Ablagefläche, darunter ein Stauraum in den unsere zwei Koffer, meine Gitarre, Campingtisch und Campingstühle und allerlei Kleinkram passten. Hinter dem Beifahrer, gleich bei der hinteren Doppeltür, befand sich ein kleines Schränkchen, in dem Küchenutensilien untergebracht waren. In eine selbstgebastelte Hockerkiste passte alles, was im weitesten Sinne Kochgeschirr war, und ein Dachgepäckträger vervollständigte das Fahrzeug, mit dem wir über 30.000 km durch den amerikanischen Kontinent fahren sollten.
Auf unseren langen Reisen merkten wir bald, dass so eine einfache Ausrüstung wirklich die beste Lösung ist, wenn man preiswert und unabhängig die Welt kennen lernen will. Eingebaute Wassertanks, Wasseranschlüsse, Gas für Küchenherd, Kühlschrank und Heizung, Toilette, eventuell sogar Dusche, das mag alles erwünscht sein - ist aber ehrlich gesagt auf langen Touren platzraubend und unpraktisch. Handliche Wasserkanister kann man überall auffüllen und überall hinstellen. Ein Campingkocher ist an jedem Ort einsetzbar - auch mal weit vom Auto auf einem Picknicktisch im Schatten. Eis für eine Eisbox findet man in jedem Supermarkt, an jeder Tankstelle, und oft reicht kluges Stauen, um das Verderben von Lebensmitteln zu vermeiden. Toiletten, oft auch Duschen, sind auf den meisten Campingplätzen vorhanden. Weil wir vor allem in Mexiko und Mittelamerika fast ausschließlich wild campten, war der Gang zur Toilette sowieso naturverbunden urig, allerdings mitunter eine Erfahrung für sich. Ausschlaggebend war letztendlich, dass wir uns all diesen Luxus einfach nicht leisten konnten.
Wir hatten vor, quer durch Kanada und die USA, durch Mexiko, Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und Panama zu reisen. Daher war es nötig, sich rechtzeitig über die Ein- und Ausreisebestimmungen all dieser Länder zu erkundigen. Heute ist das Internet eine große Hilfe. 1967 mussten wir per Brief die einzelnen Botschaften, Fremdenverkehrbüros und Automobilclubs anschreiben und um Unterlagen bitten. Es gab dann einiges an Formularen und Erklärungen auszufüllen. Weil Hildrun Deutsche ist, ich aber Österreicher bin, damals also Angehöriger eines neutralen Staates war, benötigten wir nicht immer beide ein Visum. In manche Staaten durfte Hildrun ohne Visum einreisen, oder es war umgekehrt. Das alles war zeitraubend - aber wir hatten ja genügend Vorbereitungszeit einkalkuliert.
Zu den Vorbereitungen gehörten auch Informationen über notwendige Impfungen und gesundheitliche Fragen, zumal wir ja in die Tropen reisten. Ich befolgte den Tipp eines Onkels, der nach dem Krieg an einer der ersten Expeditionen nach Westafrika teilgenommen hatte: "Schreibe große Firmen an und bitte sie um Proben ihrer Produkte. Die kannst du gut auch als Gastgeschenke bei Begegnungen mit den Einheimischen verwenden. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, nicht wahr?"
Wir beschränkten uns auf Bittschreiben an die großen Pharmakonzerne und erklärten unsere Reise als tatkräftigen Beitrag im Sinne der Verständigung zwischen den Völkern, was damals noch als ein ernsthaftes Bestreben empfunden wurde. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war gerade mal 22 Jahre her. Und wir erhielten erstaunlich viel Hilfe: Pakete voller Medikamente und medizinischer Bücher, beispielsweise über Tropenkrankheiten. Unsere Hausärztin, an deren Adresse die Pharmafirmen die Pakete schickten, schlug die Hände überm Kopf zusammen: "Und das alles in den Händen von Laien!" Denn da waren nicht nur Kopfschmerztabletten, sondern auch Antibiotika, Sulfonamide oder Einwegspritzen dabei. Eine Ausrüstung im dreistelligen DM-Wert!
Was musste noch alles bedacht werden? Wir suchten nach einer preiswerten Möglichkeit, unseren VW-Bulli über den Atlantik transportieren zu lassen und selber möglichst umsonst mitzufahren. Als Seemann hatte ich zum Glück eine gewisse Möglichkeit, an entsprechende Türen zu klopfen. Wir benötigten Kartenmaterial und Reiseführer. Über die Automobilclubs mussten wir diese bestellen - und bezahlen. Günstiger war das vorzügliche Kartenmaterial des Ölkonzerns Texaco, nämlich großzügig umsonst.
Schwieriger war es, eine preiswerte Krankenversicherung zu finden. Auch eine Autoversicherung für Kanada und die USA abzuschließen war ein Problem. Die Prämien waren so extrem hoch, dass wir unsere Reise hätten nicht durchführen können. Da in den USA, und seinerzeit wohl auch in Kanada, eine Autoversicherung nicht vorgeschrieben war, riskierten wir in blauäugiger Zuversicht die lange Reise zum großen Teil ohne Versicherung. Immer mit der gebetsmühlenartigen Formel im Kopf: Wenn etwas passiert, dürfen wir niemals die Schuldigen sein!
Wir versicherten unseren VW-Camper trotzdem für die ersten zwei Monate und bezahlten dafür 500,- DM an Prämie. Der durchschnittliche Monatslohn lag damals bei rund 640,- DM!
Und wie sollten wir unsere Finanzen regeln? Wir konnten ja schlecht Bargeld für einen Zeitraum von 6 bis 12 Monate mit uns schleppen. Einen gewissen Betrag nahmen wir in Form von Dollar-Traveller-Schecks mit. Über meine Hausbank, Deutsche Bank, konnte ich Geldbeträge an eine 'befreundete' Bank z.B. in Vancouver und Mexiko-City vorausschicken, um sie dann dort abzuholen. Kreditkarten waren noch so gut wie unbekannt, ebenso Bankautomaten, wo man heutzutage ganz locker seine Bargeldreserven auffüllen kann.
Eigentlich wollten wir eine ökumenische Trauung zelebrieren. Leider waren auf kirchlicher, vor allem katholischer Seite, zu viele kleinkarierte Bedenken und pedantische Vorschriften im Wege. So entschlossen wir uns zu einer evangelischen Trauung in Gütersloh, und setzten den 31. Mai 1967 als Termin.
Wir ließen uns auch gegen Typhus impfen, was seinerzeit noch per Injektion gemacht wurde. Hildrun war als erste dran - und reagierte mit einer unerwartet heftigen und schmerzhaften Entzündung im Bereich Gallenblase und Leber. Sie musste rasch ins Krankenhaus, wo sie vom 29. Mai bis zum 2. Juni behandelt wurde. Unser Hochzeitstermin fiel ins Wasser. Hildruns Impfreaktion war natürlich ein Schock. Dank der medizinischen Pamphlete, die uns die Pharmafirmen hatten zukommen lassen, erfuhr ich, dass es eine ganz neue Schluckimpfung gegen Typhus gab. Das war unserer Hausärztin noch gar nicht bekannt. Aber sie bestellte die Schluckimpfung und ich konnte sicher gehen, nicht auch noch mit einem Impfschock zu reagieren.
Endlich, am 8. Juni 1967, fand im kleinsten Kreise und in einem nach heutigen Maßstäben sehr schlichten Festakt unsere kirchliche Trauung statt. Eine Nachfeier mit meinen katholischen Lieben in Süddeutschland, einschließlich eines von einem befreundeten Pfarrer vollzogenen Segens, besänftigte alle Gemüter, die vielleicht befürchtet hatten, ich sei in die Hände eines 'heidnischen' Mädchens gefallen!
Es war schon ein unverständlicher Zeitgeist, der damals noch das Leben zwischen 'Evangelen' und 'Katholen' belastete. Man sollte sich aber daran erinnern, wenn wir wieder mal die Nase rümpfen über das Verhalten unserer Mitbürger mit, beispielsweise, islamischem Hintergrund!
Und dann ging alles sehr schnell - endlich!
Am Donnerstag, den 22. Juni 1967, brachten wir einen vollgepackten VW-Bulli nach Bremen.
Die Bemühungen um eine günstige Passage nach Kanada hatten sich gelohnt. Meine letzte Reederei, die Unterweser Reederei aus Bremen, gewährte uns die Chance, als sogenannte Überarbeiter von Bremen nach Toronto auf der M/S 'Ginnheim' mitzureisen. Der Frachter, 9.717 BRT groß, brachte regelmäßig fabrikneue Volkswagen über den Atlantik. Die Deugro - Deutsche Großtransportgesellschaft m.b.H. - wickelte die Verschiffung unseres VW-Campers ab, und zwar zu einem Übernahmesatz von 145,- US-Dollar, was 580,- DM entsprach.
In der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1967 lief die 'Ginnheim' von Bremen aus. Erst am 9. Mai des folgenden Jahres sollten wir wieder in Deutschland ankommen. Vor uns lag eine räumliche und zeitliche Strecke voller Ungewissheiten und Abenteuer. Aber das wollten wir ja so, obwohl Hildrun gerne behauptet, dass ich es immer sei, der mit unmöglichen Ideen das Leben zu würzen versuche...
Wir nahmen es locker und sagten uns, die Reise geht eben so weit und so lange wie uns das ersparte Geld reicht. Uns standen rund 7.000,- DM zur Verfügung. Das war ein Betrag, den nicht jeder freiwillig bereit war, für so eine ungewisse Reise auszugeben. Wir würden noch Argumente zu hören bekommen, die uns in die Nähe von Spinnern und Hasardeuren rückte. Im Sinne von: "Dafür so viel Geld ausgeben? Was hättet ihr stattdessen in der Zeit für Geld verdienen können!"
Wir spekulierten auf jeden Fall mit der Möglichkeit, irgendwo zu arbeiten, um unsere Reisekasse aufzufüllen. Das sollte sich allerdings als Fehlkalkulation entpuppen. Es bot sich einfach keine Gelegenheit.
Der Abschied von unseren Lieben, unseren Müttern, Hildruns Schwestern, von Freunden und Bekannten, lag hinter uns. Für unsere Mütter war es bestimmt nicht einfach gewesen. Hildruns Mutter war erst seit zweieinhalb Jahren Witwe, zeigte sich aber sehr tapfer als ich ihr die Tochter im wahrsten Sinne des Wortes in eine ungewisse Zukunft entführte. Meine Mama war ihren vagabundierfreudigen 'Seeheini' bereits gewöhnt. Wir, vor allem ich, waren vom Gemüt und der Lebenserfahrung her einfach noch zu jung, um nachvollziehen zu können, wie schmerzhaft das Abschiednehmen für zurückbleibende Elternteile gewesen sein musste.
Der Abschied von Freunden fiel leichter. Einige hatten, wenn wir von unseren Weltreiseträumen sprachen, sinngemäß gesagt: "Davon reden viele, aber verwirklichen tut das dann keiner!"
Die Schiffsleitung der 'Ginnheim', allen voran der Erste Offizier, behandelten uns äußerst liebenswürdig. Als Überarbeiter hatten wir keinerlei Vorzugsbehandlung erwartet und hätten mit jeder normalen Matrosenkammer vorliebgenommen. Aber wir wurden in der Kabine des Supercargos einquartiert, die alle Qualitäten einer Passagierskammer hatte. Schließlich seien wir auf der Hochzeitsreise, sozusagen in den Flitterwochen. Ein Supercargo ist übrigens eine Art Ladungsexperte, der oft im Auftrag des Charterers mitreist und die Ladung überwacht.
Wir arbeiteten natürlich, schrubbten Gänge und Treppen und brachten die Räumlichkeiten auf Hochglanz, erledigten eben all die Tätigkeiten des sogenannten 'Feudelgeschwaders', wie Hein Seemann gerne die Stewards und Stewardessen bezeichnet. Etwas spannender war das Aufnehmen des Proviantbestandes. Da tummelten wir uns dann zwischen Regalen voller Konserven oder zwischen tiefgefrorenen Schweine- und Rinderhälften. Auch bei den Arbeitszeiten drückte der Erste Offizier seine freundlichen Augen zu und verdonnerte uns zu regelmäßigen langen Mittagspausen. Ob er um unser Liebesleben besorgt war?