Von Männern und Menschen - Olli Jalonen - E-Book

Von Männern und Menschen E-Book

Olli Jalonen

4,9

Beschreibung

Der Sommer, in dem alles zum ersten Mal geschah Sommer 1972 in der finnischen Provinz: Als sein Vater erkrankt, wird der 17­-jährige Erzähler von einem Tag auf den anderen in die Pflicht genommen – vorbei sind die unbeschwerten Tage seiner Kindheit. Anstatt Krebse zu fangen, verbringt er die Ferienmonate mit dem Bau von Regenrinnen und taucht ein in die bislang fremde und oft raue Welt der Erwachsenen. Doch der Arbeit am Tag folgen lange, warme Abende und Nächte, in denen heimliche Unternehmungen zu Abenteuern ganz anderer Art führen . . . Mit großer menschlicher Wärme, Weisheit und subtilem Witz erzählt der preisgekrönte Autor Olli Jalonen in seinem neuen Roman von einem finnischen Sommer in den Siebzigern, in dem Piratensender ihre Hochphase erleben, die ganze Welt von den Olympischen Spielen in München redet – und der un­vergessliche Held der Erzählung zum Mann wird.

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mare

Olli Jalonen

VON MÄNNERN UND MENSCHEN

Roman

Aus dem Finnischen von Stefan Moster

mare

Die Übersetzung wurde gefördert von FILI – Finnish Literature Exchange.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Miehiä ja ihmisiä bei Otava Publishing Company Ltd.

Copyright © 2014 Olli Jalonen and Otava Publishing Company Ltd.

© 2016 by mareverlag, Hamburg Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg Abbildung [M]: plainpicture / Millennium / Walker Hilary Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg Datenkonvertierung eBook bookwire ISBN eBook: 978-3-86648-327-9 ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-241-8

www.mare.de

INHALT

Sommer mit Krebsen

Schlangenhäute

Sommerregen Regenwasser Wasserglocke Glockenblume Blumenkleid

Samtmilben

Muminlicht

Jeder Mann fünf Frauen jede Frau fünf Männer

Der Teufelsknoten

Radio Satan

Wieso Maus, wo er doch ein Mann ist?

Schon versinkt die Nacht im Schoß der Dämmerung

Zur finnischen Politik im Sommer 1972

Glossar

Zitatnachweis

SOMMER MIT KREBSEN

 

»Herr Präsident! Wenn Sie erlauben, möchte ich mich bei Ihnen, Herr Präsident, nach Ihrer geschätzten Meinung über die Probleme unseres Landes erkundigen. Wie sehen Sie die gegenwärtig schwierige Lage?«

»Mitbürger! Mit großer Genugtuung. Wichtig ist die Sicherung eines stabilen Wirtschaftswachstums und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, denn nur so schaffen wir eine feste Grundlage für unsere Wirtschaft und können bessere Lebensbedingungen garantieren.«

Ja, da muss eine Mischbatterie her. Man kann nur noch auf einer Stelle direkt darunter stehen und muss sich ständig drehen, damit es sich wenigstens einigermaßen richtig anfühlt. Die Schlauchenden sind mit Kupferdraht und Nägeln an der Saunawand befestigt. Aus dem einen Schlauch kommt es glühend heiß und aus dem anderen so kalt, dass im Frühjahr sogar Eissplitter mit im Wasser sind und sich auf der Haut rote und weiße Striemen bilden.

Die Dusche ist erst letzten Sommer installiert worden und auch nur, weil Vetter Lampinen kam, um bei der Erneuerung des Bodens in der Sauna zu helfen, nachdem mein Vater seinen ersten Infarkt gehabt hatte und über der Deichsel des Betonmischers zusammengebrochen war. Vorher hatte er nie jemanden um Hilfe gebeten, aber da hat er dann Lampinen angerufen.

Lampinen gehört die Installationsfirma Volles Rohr KG, allerdings machen sie mehr Dächer und Regenrinnen, weil man dabei leichter auf seinen Schnitt kommt und keine Fachmänner fürs Warten bezahlen muss, sondern den vollen Lohn nur zahlt, wenn Installationsaufträge reinkommen. In den Zwischenzeiten können sie nebenbei ein bisschen Blecharbeiten machen. So hat mein Vater es gesagt, ich weiß nicht, ob er vielleicht neidisch auf Lampinen ist.

Gleich am ersten Tag schlug Lampinen vor, wie es wäre, vom Heizungsraum aus zwei Gartenschläuche durch die Apfelbäume über das ganze Grundstück und durch ein Loch in der Wand in die Sauna zu ziehen, dann hätten wir schnell eine billige Dusche. Man muss die Schläuche bloß an einen Duschhahn anschließen. Der Plan war gut, ging aber kurz vor Schluss doch nicht auf, weil mein Vater nach dem zweiten Infarkt für eine Woche ins Krankenhaus musste und anschließend alles unsicher geworden ist. Die Schläuche hängen offen in der Sauna, es gibt keine Hähne, sondern man muss die Stärke so gut es geht mit einer Klemme regulieren. Duschhähne und Mischbatterien sind teuer, wenn man sie neu kauft, aber Lampinen hat versprochen, an uns zu denken, wenn sie bei der Arbeit in der Firma auf eine alte stoßen, die noch in Ordnung ist.

Lampinen hat zwei Namen. Vetter Lampinen wird er nur von meinem Vater und meiner Mutter genannt, obwohl er gar kein richtiger Vetter von meinem Vater ist, sondern bloß ein Großcousin oder etwas in der Richtung, aber es ist besser, ihn um Hilfe zu bitten als die Brüder meiner Mutter oder die Männer ihrer Schwestern, auch wenn die in der Nähe wohnen und Lampinen weiter weg in seinem neuen, vornehmen Haus hinter Parola.

Im Winter ist es mit der Dusche so gewesen, dass man jedes Mal die Gartenschläuche umständlich leeren musste, indem man sie von den Ästen der Apfelbäume nach oben hievte und aus beiden Enden leer laufen ließ, damit sie nicht zufroren, aber trotzdem verstopfte der Kaltwasserschlauch nach dem Jahreswechsel immer stärker. Schließlich tröpfelte das kalte Wasser nur noch, und das heiße wurde ab Februar zu heiß, außer an den Fußsohlen. Zwar war der Fußboden bis in die Ecken ausgebessert worden, aber durch die Wände und unter der Tür hindurch zog es noch immer, sodass auch der neue Fußboden bei Minusgraden mit Reif überzogen war. Wenn man duscht, ohne vorher die Sauna geheizt zu haben, ist der grau gestrichene Beton anschließend glasglatt gefroren.

Trotzdem ist es eine Verbesserung gegenüber früher. Den ganzen Winter hindurch habe ich jeden Mittwoch eine Volldusche genommen, und Samstag ist Saunatag. Bei zwei ordentlichen Waschgängen pro Woche behält man die Haut an den Schultern und im Gesicht besser unter Kontrolle. Was man sich am kleinen Waschbecken im Klo ins Gesicht spritzt, reicht nicht aus, trotz noch so viel Seife, Rexona oder Clearasil.

Wenn die Kaltwasserleitung wieder Stück für Stück zu funktionieren beginnt, ist das ein erstes Anzeichen für den Frühling. Knisternd löst sich das Eis in den schwarzen Gartenschläuchen. Die Haut bekommt beim Duschen wieder Streifen und ist nicht mehr überall so rot wie die Krebse, die im großen Topf totgekocht werden.

Ekelhafterweise muss ich mitten beim Duschen an sie denken. Ich mag das zähe Krebsfleisch überhaupt nicht, auch wenn man es umsonst bekommt. Im August gibt es das zu oft, manchmal jeden zweiten Tag, weil in den Seen, die unter Naturschutz stehen, die Krebse so leicht zu kriegen sind. Man muss bloß mit der Taschenlampe auf den Köder leuchten und dann von unten mit dem Kescher kommen. Nach einer halben Stunde ist der Eimer voll, und zu Hause werden sie dann an einem schattigen Platz in einem Bottich aufbewahrt. In den Holzbottich kommen ein bisschen Wasser und ein paar Lock-Karauschen, dann ein Stück Hühnerdraht und Wasserpflanzen drüber, damit die Krebse nicht an den Wänden hoch- und rausklettern.

Manchmal entkommt trotzdem einer und kriecht aufs Nachbargrundstück, wo er dann stirbt. Am schlimmsten war es, als es mal einer, und zwar ein ziemlich großer, schaffte, sich bei schwerem Gewitter aus dem Bottich zu befreien, mehr als hundert Meter weit den Hügel hinunterzukriechen, oder vielleicht auch sich mit dem Regenwasser hinunterschwemmen zu lassen, und dann das Kunststück zu vollbringen, in den Saab des Pfarrers zu klettern. Da spreizte er dann, noch immer lebendig, auf dem Vordersitz die Scheren, als Pfarrer Numminen am Samstag zu einer Beerdigung musste. »Scheiße, da ist ein Krebs im Auto«, brüllte der Pfarrer so laut, dass man es bis zu seinem Nachbarn hörte.

Der Nachbar hat es dann seinen Bekannten erzählt, und die haben es ihren Nachbarn weitergesagt. Solche wichtigen Neuigkeiten verbreiten sich hier schnell. Seitdem wird der Pfarrer hintenrum der Scheiße-Numminen genannt, so wie die eine liberale Stadtverordnete seit einer stürmischen Sitzung nur noch die Scheiße-Villgren heißt.

Unser Geschichtslehrer hat gesagt, dass zwar nicht die Pflicht besteht, aber dass jeder guten Grund hat, sich einmal eine Sitzung der Stadtverordnetenversammlung anzuhören. Ich bin hingegangen, obwohl es die anderen nicht getan haben, aber es war nichts anderes als das Auflisten von Zahlen und dann der Reihe nach Punkt eins und zwei und angenommen. Ich habe mit dem Stift eine weiße Linie in den Stuhl auf der Empore geritzt und versucht vorherzusehen, wann Schluss ist mit der sinnlosen Wiederholerei.

Bei dieser Ansammlung von Schafen könnte ich durchaus auf die Idee kommen, Maritta Villgren zu wählen, weil die wenigstens einmal richtig widersprochen hat, habe ich mir gedacht, obwohl sie diesmal nichts gesagt hat, aber im Herbst darf ich noch nicht wählen, und das nächste Mal ist erst in zwei Jahren, und dann wähle ich Kekkonen. Beziehungsweise er wird dann ja nicht gewählt, sondern seine Amtszeit wird per Sondergesetz verlängert. Unser Lehrer hat darüber in mehreren Gesellschaftskundestunden gesprochen und gesagt, anderswo auf der Welt wäre so etwas durchaus üblich, zum Beispiel in Albanien und in Uganda.

Im Vorraum der Sauna hängt ein Spiegel, dessen Versilberung stellenweise schon ganz trüb geworden ist, aber man sieht gerade noch genug. Nachdem ich mich mit dem Frotteehandtuch abgetrocknet und so das Blut zum Zirkulieren gebracht habe, drehe ich mir mit den Fingern meine feuchten Haare ein. So kriegt man fast eine Welle rein, und im Spiegel überprüfe ich dann, ob mir das überhaupt steht oder ob es nicht doch zu weiblich ist.

Als ich letzten Herbst in die Oberstufe kam, hatten nur zwei Jungen eine Mini-Vague, aber jetzt gibt es schon mehr, die es haben, als solche, die es nicht haben. Es ist teuer, und man muss sich die Haare zuerst fast bis auf die Schultern wachsen lassen.

Ich ziehe die restlichen Kleider an und gehe hinaus. Weil ich es vom Winter noch gewohnt bin, löse ich die Schlauch enden am Heizungsraum, nehme mir die Stange mit dem Haken an der Spitze und hebe die schwarzen Schläuche in den Apfelbäumen an, sodass keine Knicke entstehen und das Wasser in beide Richtungen ablaufen kann.

Unter den Bäumen liegen noch Schneereste in unordentlichen Kreisen, und überall dort, wo sie nicht zu hohen Haufen zusammengeschoben worden sind, sowie unter den Regenrinnen ist bis auf etwas feuchten Matsch alles geschmolzen. Gegen die Sonne am hinteren Hang sieht man, wie die Erde dampfend trocknet. Mit alldem fängt der Frühling an, der an sich ja gut ist, wie man weiß, aber trotzdem hat man so ein flattriges Gefühl und weiß nicht ganz genau, warum.

Der Mittwochabend ist hier der kleine Samstag und der Donnerstag der Vorabend vom Freitag. Für mich bedeutet das allerdings nichts, ich gehe ins Haus und mache meine Schulaufgaben weiter. Morgen ist Freitag, freitags haben wir einen kurzen Tag, in der letzten Stunde Sport, drinnen, weil draußen Tauwetter und der Sportplatz noch nicht trocken ist, sodass Tyry mit der Kalkmaschine keine Linien und Markierungen für das Baseballfeld aufmalen kann.

Ich kann Baseball nicht ausstehen, aber im Mai lässt es sich noch schwerer vermeiden als das Krebsessen im August.

Ich kann es auch nicht leiden, dass mein Vater jeden Sommer mindestens einmal wieder die Geschichte vom blauen Saab und vom erschrockenen Gesicht des Pfarrers erzählen muss. Schon mittendrin muss er dabei laut lachen, obwohl er es bestimmt nicht sehen konnte, aber er bildet sich ein, es gesehen zu haben, und wiederholt immer wieder, was der Pfarrer gesagt hat, und schnippt mit den Fingern, als wären sie große stumpfe Scheren.

Als ich fast fertig bin und nur noch ein bisschen Biologie lerne, weil es möglicherweise einen unangekündigten Test über die Vererbungsregeln gibt, höre ich draußen das wimmernde Motorengeräusch einer Hundertfünfundzwanziger. Ich kenne das Geräusch so gut, dass ich, auch ohne nachzusehen, weiß, dass Jukka am Hang beschleunigt und erst fünf oder zehn Meter vor der Einfahrt runterschaltet und dabei mit einem schnellen Dreh am Griff Zwischengas gibt. Daher das Wimmern. Andere Bremsgeräusche hört man nicht, wenn er bremst, dann so, dass die Räder nicht blockieren.

Ich lasse das Buch auf dem Tisch liegen und gehe in den Flur. Mein Vater hat im Wohnzimmer schon den Fernseher eingeschaltet, das macht er immer, damit die Bildröhre sich ordentlich erwärmt, bis in fünf Minuten die Kurznachrichten kommen.

Jukka sitzt auf seiner Yamaha und wartet. Ich hole das kurze Brett unter der Treppe hervor, damit er das Motorrad stabil abstellen kann und sich der Ständer nicht in die feuchte Erde bohrt.

Er hat seitlich am Sattel mit Lederriemen eine Werkzeugtasche befestigt, die macht er auf und zieht ein handliches Päckchen heraus, eine orange Plastiktüte. Er wirft einen Blick auf die Fenster, ich ebenfalls, aber da ist niemand.

Jukka lässt die Tüte direkt vor meinen Augen baumeln. Sie ist von Renlunds Eisenwarenhandlung und enthält etwas Eckiges.

»Kannst du mir einen Gefallen tun und das hier aufbewahren?«

»Was ist da drin?«, frage ich sofort und versuche, Genaueres zu erkennen.

Jukka macht die Tüte so weit auf, dass ich das klobige Kofferradio und die runden Batterien daneben sehen kann. Aus dem Radio kommt an der Seite das Netzkabel heraus, aber da gibt es noch ein anderes, eines mit einer kleinen Spule am Ende.

»Wozu?«, frage ich mit genauso tiefer und leiser Stimme wie Jukka.

»Sagen wir mal … Sagen wir: Wie wäre es, wenn da ein kleiner Satan drinstecken würde«, sagt Jukka und scheint zufrieden zu sein, weil ich zusammenzucke.

Ich will wissen, ob es gestohlen ist.

»Nein.«

Ich frage, ob es aus dem Kirchenpark stammt.

Ich habe es selbst noch nicht gesehen, aber gehört, dass dort alles Mögliche verkauft wird. Das Zeug kommt mit dem Schiff in Helsinki oder Naantali an, und von dort ist es bis zu uns nur eine kurze Strecke auf geraden Straßen.

»Da ist nix faul. Ich will es bloß nicht mehr zu Hause haben. Nimm es einfach für kurze Zeit an dich. Wir verstecken es so, dass wir beide wissen, wo es ist, wenn wir es brauchen«, sagt Jukka und blickt auch schon auf das Nebengebäude, in dem sich die Sauna, der Saunavorraum und der Holzschuppen befinden.

Ich frage nicht, was er mit dem Satan gemeint hat, weil er will, dass ich ihn danach frage. Das ist Jukkas Humor und seine Art, alles zu vermengen, weil es ihm Spaß macht, wenn der andere Fragen stellt. Es ist immer besser, wenn man nur wenig braucht, um Bescheid zu wissen, als wenn man dumm ist und sich alles dreimal erklären lassen muss. So kommt man klar, und normalerweise kriegt man auch ohne viele Fragen alles heraus. Man muss nur in Ruhe beobachten und richtig kombinieren.

Auch von Motorrädern habe ich nichts gewusst, aber als sich zuerst ein paar andere aus der Klasse und dann auch Jukka eines angeschafft haben, habe ich zugeguckt, wenn sie die Motoren verglichen haben. Außerdem bin ich allein in die Bibliothek gegangen und habe die Namen der einzelnen Teile auf möglichst einfachen Schemadarstellungen nachgelesen, weil man so etwas besser nicht auf die komplizierte Art lernt, das hätte mir gar nichts genützt, aber so kann ich bei Achtzigern und Hundertfünfundzwanzigern mitreden, obwohl ich nicht mal ein frisiertes Moped habe, ich habe nie eins gehabt und werde nie eins haben, weil ich mir nichts daraus mache.

Wir bringen die Tüte auf den Dachboden über dem Raum zwischen Sauna und Holzschuppen. Dort kommt nie jemand hin, die Leiter ist wacklig, und oben wird nichts weiter aufbewahrt als ein alter Wasserschlitten und kaputte Zinkeimer. Ich zeige auf die Stelle, an der man ein Brett zur Seite schieben kann, so als würde man ein Schränkchen öffnen. Jukka wickelt das Plastik fest um das Radio und schiebt es hinter das Brett.

»Kann man mit dem hören?«, frage ich, als wir oben im Halbdunkel stehen.

»Nicht mehr.«

»Hast du’s ausprobiert?«

»Seit dem Trio nicht mehr«, sagt Jukka.

Das weiß ich. Ich habe auch so einen silbernen Trio-Empfänger im Zimmer. Die haben wir letzten Sommer per Gemeinschaftsbestellung von zehn Stück gekauft. Ich hatte dafür zuerst auf dem Zuckerrübenacker Schosser ausgerupft, dann für die Stadt Straßengräben freigesichelt und im August noch einmal Disteln und sonstiges Unkraut zwischen den Rüben ausgerissen. Der Lohn für all diese Arbeiten zusammen reichte für einen Weltempfänger und gute EE-45-Kopfhörer, und es blieb sogar noch etwas zum Sparen für den Herbst und Winter übrig.

»Die Bedingungen für die Lateinamerikaner werden schlechter, weil die Sonne so früh aufgeht, die Dunkelheit reicht nicht mehr aus. Es kommt darauf an, wie die Radiowellen über dem Atlantik verlaufen, und auf die letzten Abpraller der Ionosphäre und die Wolken«, sagt Jukka. Er hat schon immer mehr von Technik verstanden als ich und gibt gerne Lehrstunden. Als Erster von uns hat er in den Kiefernwipfeln richtige L-Antennen installiert und für deren Kupferdrähte dicke Isolatoren aus Porzellan besorgt, und den Winter über hat er angefangen, für verschiedene Meterbänder Dipole zu basteln.

»Im Sommer geht Amerika verloren, aber dafür kommt Afrika rein.«

Wir reden über verschiedene Stationen, und ich sage, dass ich letzten Sonntag Ouagadougou in Obervolta gehört habe. Ich gebe nicht zu, dass ich mir nicht ganz sicher bin, aber es wurde Französisch gesprochen. Jukka fragt nach der Frequenz und verspricht, es auszuprobieren.

»Es muss aber gutes Wetter sein«, sage ich sofort.

»Wenn da was ist, finde ich es schon.«

Wir steigen die Leiter hinab, aber Jukka kehrt noch einmal um und prüft, ob das lose Brett noch immer an Ort und Stelle ist. Er zündet ein Streichholz an und vergewissert sich, dass kein oranges Plastik durch die Ritzen schimmert.

Etwas an der Sache stimmt nicht ganz, aber was geht mich das an, geht es mir eine Weile durch den Kopf, bis ich es zu Ende gedacht habe. Und am Abend, nachdem Jukka sein Motorrad umgedreht hat und den Hang hinuntergefahren ist, sehe ich nicht einmal im Versteck nach. An der feuchtesten Stelle der Zufahrt bleibt ein Abdruck des glatten Reifens zurück, wie die Spur eines schweren Tieres.

Mein Vater sieht sich Alias Smith und Jones an. Er hat die Fernsehbrille mit dem schwarzen Gestell auf, konzentriert sich aber nicht darauf, weil auf dem kleinen Tisch neben ihm Unterlagen liegen, in denen er nachsieht, was in den nächsten Tagen an Arbeit anfällt, und er schon die Toleranzgrenzen fürs Schleifen ausrechnet. Er hat es sich angewöhnt, es so zu machen und auf Nummer sicher zu gehen, seit mindestens einem Jahr macht er das so. Wenn er Frühschicht hat, so wie morgen, sieht er am Abend vorher die Vorlagen durch, und in den Spätschichtwochen macht er das Gleiche nach dem Frühstück.

Im Betrieb sind neue Männer direkt von der Berufsschule weg eingestellt worden, und die sind normalerweise in allem schneller als er, aber mein Vater bezeichnet sie als Bengel, die schusseln und Ausschussware produzieren und die Scheibe vorzeitig kaputt machen. Mein Vater will die Maße und Toleranzen vorab wissen, damit er nicht mehr alles durchzugehen braucht, sondern das Werkstück direkt einspannen kann und bloß noch die Mikromillimeter prüfen muss.

Über den Schusselausschuss, den die Bengel produzieren, weiß ich nichts, kann sein, dass es stimmt, kann sein, dass nicht. Denn wenn mein Vater über seine eigenen Angelegenheiten spricht, verändert sich seine Stimme, und das höre ich sofort, weil er dann auf diese andere Art redet, als wäre er sich selbst nicht ganz sicher.

»Was habt ihr da in der Sauna gemacht?«, fragt er, ohne sich umzudrehen oder den Blick vom Bildschirm zu heben.

»Nichts. Wir haben bloß ein Stück Holz aus dem Schuppen geholt, damit die Yamaha nicht umfällt«, antworte ich mit der falschen Antwort auf seine direkte Frage.

»Ich hab schon gedacht, ihr raucht«, sagt er.

»Nee!«, antworte ich unnötig laut und abrupt.

Sofort bereue ich es, ihn angefahren zu haben, aber weil ich es so gesagt habe, als wäre ich sauer, bleibt mir nichts anderes übrig, als das Wohnzimmer zu verlassen. In der Küche merke ich, dass er mir nichts hinterherruft. Deshalb kann ich jetzt nicht mehr zurück, um im Wohnzimmer etwas zu holen, und etwas Normales und Einfaches sagen, mit dem das unnötig Gesagte weggewischt wird.

Eine Zeit lang fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren, aber dann nehme ich das Biologiebuch vom Tisch, gehe in mein Zimmer und mache die Tür ganz zu. Ich gehe noch einmal die großen und kleinen Buchstaben der vererblichen Eigenschaften durch und wie sie dominieren und wie sie unterdrückt werden. Sobald ich weiß, dass ich die Regeln auch dann kann, wenn man mich mitten in der Nacht weckt, schlage ich den Sorsa-Mattila-Leikola-Sorsa zu, schalte den Trio ein und setze die Kopfhörer auf. Sie bedecken die Ohren samt Ohrmuschel, sodass man nichts von außen hört.

Ich drehe langsam an den Knöpfen und gehe von Band zu Band. Ich suche nichts Bestimmtes, überprüfe nur sicherheitshalber, ob sich direkt nach Süden etwas auftut, aber es ist zu früh, und man hört nur die Altbekannten. Am frühen Abend und bei Helligkeit überlagern die leistungsstarken europäischen Sender mit ihren vielen Hundert Kilowatt noch alle besonderen von weiter weg.

Eine Weile höre ich dem ewigen Rattern von RIAS Berlin zu. Wenn man mit einem Geräusch hypnotisiert werden kann, dann mit diesem, dem Geräusch einer schnellen Mühle, die Körner fallen im Takt der Maschine und werden gemahlen. Aber das ist es nicht, es sind zwei Sender übereinander. Der Störsender walzt von Osten her über das westliche Programm hinweg, kann es aber nicht zum Schweigen bringen, weil der RIAS bis hin zum Namen eine Station des amerikanischen Sektors ist. Die Amis haben so viel Geld, die könnten statt Napalm auch von der Zentralbank gedruckte Inflationsdollars in dicken Bündeln abwerfen.

Ich habe in der chinesischen Zeitung einen Artikel über die nie stillstehende Geldmaschine der Amerikaner gelesen und ihn zur Übung mithilfe des Finnisch-Englisch-Wörterbuchs übersetzt. Das Wörterbuch hat die gleiche Farbe und ist genauso klein wie Maos Rotes Buch, das ich von Radio Peking bekommen habe, zusammen mit der Antwortkarte und dem Wimpel. Nach einem Monat wurde mir dann auch regelmäßig die auf Bibelpapier gedruckte Peking Review zugeschickt. Als die erste Nummer da war, klingelte der Postbote an der Tür, um sich bei meiner Mutter zu vergewissern, dass auch alles in Ordnung und okay sei.

Die Jahre haben immer den gleichen Rhythmus, die gleichen Veränderungen, die gleichen Aussichten, und die Gerüche folgen im immer gleichen Verlauf den Jahreszeiten. Zum Frühling gehört, dass von allem plötzlich viel mehr da ist. Alles ist von Licht durchflutet, und draußen hört man neue Stimmen.

Dementsprechend gibt es im Frühling weniger Nuancen. Das Licht ist stark und grell, und da die Natur noch nicht allzu viele Sommerfarben hat, herrscht im Jahreslauf von uns Finnen gerade jetzt eine sehr farblose Zeit. Sie fängt damit an, dass der Schnee schmilzt und das Weiß verschwindet, und endet eigentlich schon damit, dass an den Böschungen und warmen Südhängen die ersten frischgrünen Gräserspitzen herauskommen und ein paar Tage später der gelbe Huflattich und dann auch schon die Leberblümchen.

Warum ändert sich nichts im gewöhnlichen Jahreslauf. Früher ist mir diese Unveränderlichkeit nicht so stark aufgefallen …«

Das ist ein großartiges Wort. Ich stoppe den Bleistift und betrachte mitten im Aufsatz die Unveränderlichkeit: muuttumattomuutta. In der Mitte matto, wie der Teppich, rechts und links davon fast das gleiche Wort. Hieße es muuttamattomuutta, dann stünde rechts und links vom Teppich das Gleiche: muutta. Kein Palindrom, aber vielleicht ein Symmetrom, falls es so etwas gibt. Über Palindrome stand ein Artikel mit Beispielen in der Kundenzeitschrift Wir aus dem Lebensmittelladen. Ich versuche mir die finnische Unveränderlichkeit einzuprägen, auch wenn es nicht einfach ist, sich etwas zu merken, das nichts Gewöhnliches und Vernünftiges bedeutet.

Von fünf Themen habe ich das dritte gewählt: »Das Wachstum des Menschen, der Rhythmus der Jahre, der Lauf des Lebens«.

»Warum ändert sich nichts im gewöhnlichen Jahreslauf?« Ich ersetze den Punkt durch ein Fragezeichen, obwohl ich nicht weiß, ob es richtig ist, weil das vielleicht eine rhetorische Frage ist, nach der im Finnischen kein Fragezeichen steht. Aber die Grammatik liegt im Pult, und es zu öffnen wäre Spicken, auch wenn Aufsatzschreiben eigentlich keine Klassenarbeit ist, jedenfalls keine wie die Arbeiten in den anderen Fächern, weil man dafür nichts auswendig lernen muss. Es reicht, wenn man aufschreibt, was in diesem Moment von innen kommt.

»Warum ändert sich nichts im gewöhnlichen Jahreslauf? Früher ist mir die Unveränderlichkeit nicht so aufgefallen, jedenfalls nicht so deutlich wie dieses Jahr. Man muss vielleicht lange genug gelebt haben, damit einem so etwas auffällt.«

An der Stelle könnte man anstatt des Punktes auch ein Fragezeichen setzen. Oder ein Ausrufezeichen. Keines der drei Satzzeichen scheint mir vollkommen richtig zu sein. Man müsste die wichtigsten Regeln der Grammatik auswendig lernen und dann blind anwenden können, ohne lang zu überlegen. Wird man unsicher, geht der Aufsatz schief.

Weil ich nicht ganz sicher bin, radiere ich den kompletten Satz weg und schreibe einen neuen, etwas schlechteren. »Für die Wahrnehmung einer solchen Tatsache muss man lange genug gelebt haben, damit man im Leben Vergleichspunkte von früher hat, aus den Jahren, die oft für die besseren gehalten werden.«

Stück für Stück und zwischendurch hier und da etwas verbessernd fülle ich so die erste Seite des Konzeptpapiers, dazu die inneren zwei Seiten komplett und von der letzten Seite noch fünf Zeilen.

Alle Aufsätze werden gleichzeitig eingesammelt. Im Herbst durften wir sie noch selbst zum Lehrerpult bringen, jeder, wenn er fertig war, aber das hat dazu geführt, dass sich alle beeilt und darum gewetteifert haben, wer sich traut, als Erster die Klasse zu verlassen.

Unsere Finnischlehrerin ist auch unsere Klassenlehrerin und trotz hochhackiger Schuhe sehr klein, aber fröhlich und gutgläubig. Im Abwesenheitsheft kann man die Unterschrift der Eltern ganz leicht fälschen, und es ist wohl noch nie zu Kontrollen, Briefen, Anrufen oder gar Hausbesuchen gekommen.

Sobald die Aufsätze Reihe für Reihe eingesammelt worden sind, bekommen wir die Erlaubnis, zu gehen. Nur mich bittet die Lehrerin darum, noch zu bleiben. Das ist mir sehr unangenehm. Eines der Mädchen dreht sich an der Tür noch einmal neugierig nach mir um, aber die Lehrerin wartet ab, bis man keine Geräusche mehr von den Kleiderhaken hört.

»Im Sekretariat ist eine Broschüre angekommen, die dich interessieren könnte. Es geht um ein Stipendium für einen Amerikaaustausch. Da würdest du innerhalb kürzester Zeit Englisch und noch viel mehr lernen. In dem halben Jahr würdest du auch nicht weit hinter die anderen zurückfallen und könntest nach Weihnachten in deiner alten Klasse weitermachen. Das ist ein ziemlich gutes Stipendium, man muss nur die Reise selbst zahlen und einen kleinen Teil der Übernachtungskosten«, sagt Frau Niskanen und schaut mir direkt in die Augen.

Ich nehme die in blauen, roten und normalen Buchstaben gedruckte Broschüre in die Hand. »Das muss ich mir genauer ansehen, vielen Dank.«

»Überlege es dir gut und sprich mit deinen Eltern darüber! Es ist zwar ein Stipendium der Freunde Amerikas, aber man muss nirgendwo Mitglied sein.«

Ich nicke ein paarmal, gebe ihr so das Versprechen. Dann öffne ich das Seitenfach meines Ranzens und lasse die Broschüre hineinfallen. Die Lehrerin sammelt ihre restlichen Sachen ein und verstaut sie in der Handtasche, nimmt den Stoß mit den Aufsätzen in die andere Hand und verlässt mit mir das Klassenzimmer. Hintereinander gehen wir bis zum Sekretariat.

Der Gang hat sich geleert; wenn er leer ist, scheint er noch länger und enger zu sein, als er sollte. Vor den Zeichenübungen hatten wir einfache Perspektivlehre, aber bildende Kunst ist ein Fach, in dem man für die Arbeiten nichts auswendig lernen kann, weil es gar kein Buch gibt, und wahrscheinlich weiß ich deshalb nicht mehr so genau, warum der Gang so ist, wie er ist.

Die Broschüre im Ranzen macht mich so nervös, dass ich auf die Toilette gehe. Auf dem Fußboden liegt zerknülltes Klopapier, und auf die Kacheln über der wie ein Spiegel glänzenden Rinne ist gelbliche Pisse gespritzt oder mit Absicht gespritzt worden.

Es ist mir überhaupt nicht angenehm, dass meine Mutter auch hier die feste Putzfrau ab und zu vertreten soll. Davon ist daheim die Rede gewesen, meine Mutter hat auf einem Blatt Papier alle möglichen neuen Stellen aufgeschrieben, nach denen sie fragen kann, wenn bei den alten Schluss ist. Weil ich es gehört und mich eingemischt habe, hat sie versprochen, nicht in die Schule zu kommen, bevor auch wirklich niemand mehr da ist, niemals vor vier, oder sie geht so früh am Morgen hin, dass auch diejenigen, die mit dem Bus vom Land kommen, noch nicht da sind.

Trotzdem ist es keine gute Idee, aber meine Mutter hat die Stelle noch nicht bekommen und auch nicht einmal vorgesprochen, kann also sein, dass nichts daraus wird, und es sollte auch nichts daraus werden, wenn man mich fragt.

Es ist zwar nicht Freitag, der Dreizehnte, aber Freitag, der Zwölfte und somit der Vorabend des Unglücks.

Mein Vater kommt mitten am Arbeitstag um Viertel nach eins mit dem Taunus nach Hause. Am Freitag ist mein Schultag so viel kürzer als die anderen, dass ich schon daheim bin. Zufällig sehe ich aus dem Fenster, als mein Vater mit vollem Tempo zwischen den alten Torpfosten einbiegt und nicht einmal den Blinker gesetzt hat.

Die Firma Widing liegt auf der anderen Seite der Stadt, die Fahrt dauert mindestens fünfzehn Minuten. Er kann also nicht um Punkt eins gegangen sein, außerdem war nicht die Rede davon, dass er wegen eines Arztbesuchs oder sonst etwas freimachen muss. Er hat Frühschicht von sechs bis zwei gehabt, muss aber schon vor eins gegangen sein.

Ich entriegle die Tür, warte aber nicht im Flur, sondern schiebe das Geometriebuch und das Übungsheft auf meine Seite des Küchentischs und warte. Ein Milchfleck auf dem violetten Wachstuch sieht aus wie graues Mehl. Meine Mutter hat ihn nicht bemerkt oder keine Zeit gehabt, ihn wegzuwischen, weil sie zum Putzen ins Theater musste. Diese Stelle kam im Winter dazu, und sie muss nur ab und zu hin, aber über die ganze Spielzeit verteilt, die zum Glück bald um ist. Seit dem Herbst hat sich meine Mutter neue Stellen suchen müssen, weil mein Vater immer länger krankgeschrieben worden ist.

Die Infarkte sind klein gewesen, sagt zumindest mein Vater, aber jedes Mal hat es ihn umgehauen, und inzwischen redet er auch undeutlicher. Wenn man sich erinnert, wie es früher war, merkt man, dass die Wörter etwas langsamer kommen und dass er mehr stottert.

Ich höre ganz genau hin, welche Laune er hat, als er im Flur die Schuhe und die Jacke auszieht. Er pfeift nicht vor sich hin, und man hört nicht einmal seinen Raucherhusten. Es ist nicht alles so, wie es sein soll.

Er kommt in die Küche und räumt an der Spüle seine Provianttasche aus. Den letzten Rest aus der Thermoskanne kippt er in eine Tasse, stellt die Kanne umgedreht ins Spülbecken und faltet die Butterbrotpapiere auf einem Stoß zusammen. All das macht er wie immer, aber es ist trotzdem nicht alles wie sonst.

»Na, Junge?«, sagt er und bemerkt mich vielleicht erst jetzt richtig, erwartet aber gar keine Antwort, weshalb ich auch nicht antworte, sondern abwarte, was er zu sagen hat, weil das überflüssige Zeug, das ich zu sagen hätte, jetzt keine Bedeutung hat.

Er setzt sich mir gegenüber hin, legt die Hände auf das Wachstuch und trinkt die Tasse mit dem kalten Kaffee in einem Zug aus. Die großen Hände, die im Winter ein bisschen zu zittern angefangen haben, zittern auch jetzt, und der eine Augenwinkel zuckt.

»Ich hab ja Zuckungen«, stellt mein Vater fest und tippt sich an den Rand der Stirn. Ich sage nichts, warte aber ab und schaue genau hin, als würde ich seine Zuckungen beobachten.

»Die kommen manchmal, die sind ein bisschen wie Schluckauf. Oder wie ein kleiner Krampf«, sagt mein Vater und sieht dabei wie ein alter Mann aus.

Draußen ist der Frühling in vollem Gange. Darüber könnte man jetzt etwas sagen.

»Die muss man verschrecken«, sagt mein Vater noch, tippt sich ein weiteres Mal an die Stelle neben dem Auge und sitzt dann wieder still da, dreht sich zum seitlichen Fenster und blickt in den Garten.

»Sie haben mich rausgeschmissen.«

Ich erschrecke mich derart, dass ich mich räuspern muss.

»Einmal ist immer das erste Mal, sagte der Hammel, als man ihm den Kopf abschnitt und sich die Nackenhaare sträubten.«

»Wieso jetzt?«, frage ich.

»Warum wohl? Widing hat einfach mit dem Bleistift ausgerechnet, dass es sich nicht lohnt, mich zu behalten und abzuwarten, bis die Infarkte aufhören. Er hat in seinem Heft mit dem Lineal Spalten für jeden Mitarbeiter gezogen, in einem blauen Schulheft, wie ein kleines Kind. Bei mir hat er unterstrichen, wie viele Tage ich seit Anfang Januar versäumt habe, jeden Tag und jede Stunde und jede Minute wahrscheinlich. Ein Arschloch auf zwei Beinen ist das und kein Mann, steht im karierten Sakko in der dreckigen Werkstatt, leck mich, was für ein Geck und Schönling.«

Er steht auf, spült die Kaffeetasse aus, lässt Wasser aus dem Hahn hineinlaufen und trinkt mit zurückgelegtem Kopf, sodass man sieht, wie sein Adamsapfel auf und ab gluckst.

»Und jetzt?«, frage ich.

»Irgendeine Stelle werde ich schon finden. Und wenn es als Zaunpfosten ist.«

Er setzt sich nicht mehr hin, sondern geht langsam in der Küche auf und ab und denkt wahrscheinlich nach. Zwischendurch geht er ins Wohnzimmer, schaut aus dem Fenster und wartet, dass Mama nach Hause kommt. Das aufgeschlagene Geometrieheft liegt vor mir auf dem Tisch, es ist kariert, mit fertig gedruckten, ganz dünnen blauen Linien und zwischen den Linien exakte leere Quadrate, auf die ich eine Ellipse zeichnen müsste.

Mein Vater ist stehen geblieben und blickt auf den Ford Taunus. Das Auto hat er unmittelbar vor Weihnachten anschaffen müssen, weil mein Vater, wenn es glatt ist, nicht mehr mit dem Fahrrad durch die Stadt zur Arbeit fahren kann, vor allem aber deshalb, weil es im Kopf jederzeit aussetzen kann. Der Bruder von Vetter Lampinen verkauft in einer Wellblechhalle Autos. Er ist bereit gewesen, den grauen Taunus, der in ziemlich gutem Zustand und weit weniger als hunderttausend Kilometer gefahren war, per Ratenzahlung zu verkaufen, fällig an Mittsommer und Weihnachten. Zum Freundschaftspreis gehörten fünfhundert Mark Anzahlung auf die Hand, aber sonst ist noch nichts bezahlt.

Mein Vater tut nichts anderes, als auf und ab zu gehen und aus verschiedenen Fenstern nach draußen zu schauen. Während des halben Tages ist der Rand des Pflanzbeetes noch grüner geworden, die Pfütze am zusammengeschobenen Schneehaufen ist verschwunden, bald ist der ganze hintere Garten trocken, auch wenn er viele Senken hat und die Bäume Schatten werfen. Ich versuche mir auszudenken, was ich über den Frühling oder was anderes sagen könnte, damit wenigstens eine Stimme da ist, wenn schon die Normalität nicht wieder kommt.

Dann bleibt mein Vater plötzlich stehen und sieht aus, als wäre er mit seinen Überlegungen zu einem Ende gekommen.

»Alles halb so schlimm, das wird schon wieder. Aber wir müssen die Mama nicht unnötig erschrecken. Abgemacht? Wir stellen einen Plan auf, ich kümmere mich darum. Und du bist zum Glück ja auch schon alt genug und fast …«, sagt er, bricht aber mittendrin ab, als wäre er vor etwas erschrocken.

Ich frage nicht, was fast. Fast was? Es lässt mir lange keine Ruhe, aber im Nachhinein kann man nicht mehr nach etwas fragen, was man nicht gleich gefragt hat, und das habe ich eben nicht.

Fast fertig. Das hat er gemeint. Oder er hat gemeint, ich bin fast volljährig, fast erwachsen, fast ein erwachsener Mann. Fast durch mit der Schule, also fast fertig. Vielleicht hat er es so gemeint.

Fast fertig, reicht es nicht langsam mit der Schule, aber nichts in der Art ist mir zu Ohren gekommen, obwohl ich nach dem Rauswurf genauer hinhöre, worüber sie miteinander reden.

Das Fast geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich kann meinen Vater nicht im Nachhinein danach fragen, weil ich es nicht gleich getan habe. Und von sich aus kommt er nicht mehr darauf zurück. Er würde sich nicht einmal mehr daran erinnern, weil man sich Abgebrochenes nicht so gut merkt wie zu Ende Gesagtes. Aber ich merke es mir trotzdem ganz genau.

Ich denke darüber nach. Was ich tun müsste. Ob ich sagen müsste, ich kann ja nach diesem Schuljahr aufhören, und wir können später sehen, ob vielleicht die Abendschule infrage kommt. Oder ich könnte vielleicht ein bisschen lügen, dass mich die Schule nicht mehr interessiert und dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, abzugehen, weil ich ein gutes Zeugnis kriege.

Mein Vater macht keine Pläne, nicht einmal für sich, obwohl er es gesagt hat.

Er bleibt von einem Tag auf den anderen zu Hause und macht die ganze Woche über nichts als ein bisschen in den Garten gucken, geht aber nicht einmal hinaus, außer abends, damit die Nachbarn nicht fragen können, warum der Taunus sich weder zur Frühschicht noch zur Spätschicht bewegt.

»Man hätte das karierte Sakko von diesem verdammten Schnösel in Schmieröl tunken und kräftig umrühren sollen, da hätte der Gockel schön was zu krähen gehabt«, hat mein Vater gesagt. Widing wurde allerdings schon wütend, als mein Vater ihn wegen des Rauswurfs nur ein bisschen schubste. Er verlangte deshalb von ihm, dass er sofort die Schlüssel und Pfandscheiben fürs Lager abgibt, und brüllte, jetzt braucht es auch die Kündigungsfrist nicht mehr, er kann auf der Stelle gehen und die Tür hinter sich zumachen, bevor ihn die Polizei holt.

Jedes Mal, wenn mein Vater an diesen Punkt kommt, bremst ihn meine Mutter und sagt, immerhin gut, dass es keine Folgen gehabt hat, und noch besser, dass er von so einer Stelle weggekommen ist. Sie sucht nach den guten Seiten, auch wenn es nicht viele gibt.

Mein Vater trinkt nicht. Er ist ein arztgläubiger Mensch und hat sofort gehorcht, als der Doktor es ihm im Krankenhaus nach dem ersten Infarkt verboten hat, obwohl er auch vorher nur in Gesellschaft getrunken hat, wenn Gäste da waren oder wir irgendwo zu Besuch.

Aber weil er auch jetzt nicht trinkt, findet er keinen Abstand und denkt immer, was wäre, wenn. Er kommt mit dieser Leere nicht zurecht und kann keine Pläne machen, zumindest nicht schnell mit der Arbeitssuche anfangen, weil er fünfzehn Jahre im selben Betrieb gewesen ist. Er ist jetzt siebenundfünfzig Jahre alt und seit fünfzehn Jahren hier. Ich war zwei oder fast drei, als wir hergezogen sind, und kann mich nicht erinnern, dass es je etwas anderes gegeben hätte als Widing. Früher hat sich mein Vater auch nie abfällig über das karierte Sakko geäußert, jedenfalls nicht soweit ich mich erinnern kann.

Bald ist es nur noch ein Monat bis Mittsommer. Am Esstisch reden wir immerhin davon, dass wir den Taunus vor der ersten Ratenzahlung loswerden müssen, aber obwohl wir darüber reden, bringt es mein Vater nicht fertig, den Bruder von Vetter Lampinen anzurufen.

Meine Mutter schlägt vor, zuerst Vetter Lampinen anzurufen, aber mein Vater sagt Nein, weil das peinlich ist. Wenn man ein Geschäft rückgängig macht, bricht man sein Wort. Und das Schlimmste ist, wenn man sich auf das Wort eines Mannes nicht verlassen kann.

»In dieser Situation werden sie es schon verstehen«, sagt meine Mutter.

»Kann sein, aber dann sind Ruf und Kreditwürdigkeit dahin.«

Ich höre nur zu und mische mich nicht ein, denn ich weiß nicht, wer von beiden mehr recht hat. Das ist keine Angelegenheit, bei der es Richtig oder Falsch gibt, es sind zwei verschiedene Sachen, einerseits der Zwang und andererseits der Name des Mannes. Es muss eine Entscheidung getroffen werden, aber dabei kann man das Vertrauen und den Namen verlieren. Egal für was man sich entscheidet, man verliert auf jeden Fall.

Wenn man etwas vereinbart und verspricht, muss man es halten, hat mir mein Vater beigebracht.

»Wer sein Wort bricht, verbiegt sich wie ein Wurm an der Angel«, sagt er später, als wir zu zweit sind. Meine Mutter putzt in der Sparkasse die Fenster. Die müssen am Wochenende geputzt werden, damit das Putzen und Hin-und-her-Schieben der Stühle niemanden stört.

Als meine Mutter im Januar zum ersten Mal allein in der Bank war, ging die Alarmanlage los, und die Polizei rückte an. Meine Mutter erschrak so sehr, dass sie noch daheim weinte, dabei war ihr niemand böse oder machte ihr Vorwürfe, aber ihrer Meinung nach war es ihr Fehler, dass der Schlauch des Staubsaugers gegen die falsche Tür schlug.

In der Nacht bekommt mein Vater einen neuen Infarkt. Einen kleinen, harmlosen, so sagt er es jedenfalls am Morgen, obwohl er aufgestanden ist und es gerade noch zum Brechen aufs Klo geschafft hat.

Meine Mutter zwingt ihn, zum Arzt zu gehen, obwohl er nicht will. Aber mit dem Taunus fährt er nicht, sondern geht zu Fuß den Hügel hinunter zur Haltestelle und nimmt den Bus.

Als ich um drei aus der Schule komme, liegt er im Wohnzimmer auf der Couch und hat die Augen zu. Ich gehe zu ihm und versuche, seinen Atem zu hören. Ich erschrecke mich unnötig, aber was noch nicht da gewesen ist, jagt einem eben einen Schreck ein, und mein Vater hat noch nie auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen.

Er ist hemdsärmelig und scheint zu frieren, weil er die Arme über der Brust verschränkt hält. Ich nehme die Stola, die meine Mutter gemacht hat, vom Sessel und decke meinen Vater so vorsichtig damit zu, dass er nicht erschrickt und aufwacht.

Dann schließe ich die Tür und suche im Telefonbuch die Nummer vom Autohandel, der Vetter Lampinens Bruder gehört. Ich schreibe sie auf einen Zettel, rufe aber nicht an.

Der Kloß in meinem Bauch wird größer, und ich muss tiefer atmen. Ich gehe vor die Tür und überlege. Ich übe auch schon mal für das Gespräch, aber da wächst die Anspannung noch mehr, und ich muss aufs Klo.

Als ich rauskomme, wähle ich einfach, ohne noch einmal nachzudenken, schnell alle fünf Ziffern. Ich lege mir nicht einmal zurecht, was ich sagen will und in welcher Reihenfolge.

Er meldet sich nicht selbst. Kurz hört man, wie es in der Halle dröhnt und hallt, jemand ruft »Lampinen« und »Telefon«.

»Hallo«, meldet er sich außer Atem.

Ich nenne meinen Namen und den Namen meines Vaters und berichte, was passiert ist.

»Üble Sache«, sagt er.

»Ja. Was machen wir jetzt?«, frage ich.

»Das hier ist eine Autofirma und kein Ärztezentrum, also was, zum Teufel, glaubst du, können wir da machen?«, sagt er ziemlich laut.

Aber irgendwie werde ich in dem Moment nicht sauer und schere mich auch nicht darum, dass er mir ins Wort fällt, sondern sage genauso laut und unfreundlich, dass der Kauf des Taunus rückgängig gemacht werden muss, und zwar sofort und noch vor der ersten Rate.

Er fängt an zu fluchen und schreit dabei fast. Ich halte den Hörer weiter weg, und obwohl mir der Bauch wehtut, weiß ich, dass ich nicht nachgeben werde. Zwischendurch ruft er Hallo, weil ich keine Lust habe, Antworten zu geben, und erst als er kurz still ist, sage ich ihm, dass wir den Taunus spätestens morgen zurückbringen.

»Sag deinem Vater, er soll mich anrufen, und zwar schnell, du verdammter Bengel«, schreit er in den Hörer und legt auf.

Ich ziehe den gepolsterten Hocker unterm Telefontisch heraus und setze mich. Ich betaste beide Beine über dem Knie, weil sie zittern, als wäre es kalt und als würde ich im kalten Wind sitzen.

Mein Vater kann den Wagen nicht zurückbringen. Er sagt, er traut sich nicht mehr, zu fahren, weil ihm beim kleinsten Anlass schwindlig wird und der Arzt es ihm verboten hat. »Launo hat gesagt, absolut nicht und auf keinen Fall, bevor wir alles untersucht und abgeklärt haben«, sagt mein Vater ein bisschen so, als hätte er Angst, doch zu müssen.

Er ist nicht wütend geworden, weil ich angerufen habe, hat mich aber auch nicht gelobt, und er hat den Bruder von Vetter Lampinen nicht selbst anrufen wollen, sondern ist ohne ein Wort ins Wohnzimmer gegangen und hat mitten am Tag angefangen, im Radio Musik zu hören. Als meine Mutter von der Arbeit gekommen ist, habe ich es ihr schon im Vorraum gesagt.

Weil man sonst nicht reden kann, schaltet Mama das Radio aus. Zunächst gibt mein Vater einen Laut von sich, als würde er gleich böse werden, aber dann sitzt er einfach in seinem tiefen Sessel und stößt den Atem aus.

»Dann bitten wir eben jemanden, den Wagen hinzubringen, meinetwegen Eelis«, sagt Mama.

»Nein«, sagt mein Vater.

»Warum nicht?«

»Darum nicht, weil ich es sage!«

Meiner Mutter gefällt sein Ton nicht, darum geht sie auf der Stelle in die Küche und fängt an zu spülen, es klimpert und klappert im Becken, das Wasser läuft, alles ein bisschen zu viel und zu laut.

»Es geht dann wohl nicht anders«, sagt mein Vater, aber gar nicht mehr laut, sondern geknickt.

»Na ja«, antworte ich, weil irgendwas geantwortet werden muss.

»Bring du ihn hin, dann sind wir ihn auf einen Schlag los.«

Ich erschrecke und schaue ihn an, als würde er gar nicht meinen, was er sagt, aber anscheinend meint er es doch ernst, denn ich sehe kein Anzeichen für einen Scherz in seinem Gesicht.

»Ich hab doch gar keinen Führerschein und bin auch nicht alt genug«, sage ich.

»Aber fast. Und man fährt ein Auto auch nicht mit dem Führerschein. Es ist nicht anders als bei Jukkas Motorrad, Kupplung, Gang rein, Kupplung kommen lassen und Gas geben. Wenn man am Lenkrad dreht, drehen sich die Räder mit. Du sagst dem kleinen Lampinen, dass wir nichts mehr bezahlen. Dann kommst du mit dem Bus nach Hause.«

»Ich kann das nicht«, sage ich, stehe auf und blicke aus dem Fenster und nicht zu meinem Vater.

»Doch, du kannst das. Und wenn du es nicht kannst, dann lernst du es. Die ganzen Bestimmungen, wer was kann und was nicht, sind für Minderbemittelte. Wer schlau ist, lernt alles, auch den Kopfstand, und man lernt nur, wenn man nicht klein beigibt und große Augen macht«, sagt mein Vater in einem anderen Ton und kommt zu mir und legt mir die Hand auf die Schulter. Nebeneinander betrachten wir das graue Dach des Taunus, er steht so dicht an der Wand, dass man fast nur das Dach sieht.

»Jetzt gehen wir, aber so, dass deine Mutter nichts hört«, sagt mein Vater und dreht sich um, und da bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Er zieht nicht einmal die Schuhe an, sondern läuft barfuß nach draußen. Ich ziehe die Hirvi-Turnschuhe an und binde sie sorgfältig zu, falls ich doch fahren muss. Als ich hinauskomme, sitzt mein Vater schon am Steuer und macht mir von innen die Beifahrertür auf.

Er sagt, er fährt rückwärts raus, wendet und fährt bis zum Hang, dann geht das Starten leichter, und ich kann vor der Kreuzung das Schalten üben. Dann zeigt er mir schnell alles, beschreibt mit dem Schaltknüppel einen Buchstaben und sagt, den Rückwärtsgang brauchst du nicht, weil man da nicht rückwärts reinfährt.

Als ich aussteige und um den Taunus herumgehe, steigt mein Vater auch aus, lässt den Motor aber laufen. Ich setze mich auf den Ledersitz und probiere die Bremse und das Gas aus und mit dem linken Fuß die Kupplung, die Gangschaltung ist im Leerlauf, das erkennt man daran, dass sich der Schalthebel waagerecht bewegt. Mein Vater stellt den Rückspiegel besser ein. »In die Außenspiegel brauchst du auf der kurzen Strecke nicht zu gucken«, sagt er und rät mir, wie ich fahren soll, nämlich auf geraden Straßen, am besten nach Pullerinmäki und durchs Militärgebiet Parola.

»Setz dich wenigstens daneben«, versuche ich es noch einmal.

»Nein, das musst jetzt du erledigen. Lass allen die Vorfahrt, auch wenn sie von links kommen. Das würde gerade noch fehlen, dass du die Scheiße zu Schrott fährst.«

Dann kurbelt er das Seitenfenster ein Stück herunter, drückt die Tür zu und gibt mir durch den Fensterspalt Anweisungen, was ich als Erstes tun soll. »Handbremse lösen, Fuß noch auf dem Bremspedal, dann hoch, aber noch kein Gas.«

Das Auto rollt los, mein Vater läuft stolpernd nebenher und gibt mir weiter Anweisungen, Kupplung treten, zweiter Gang rein, »isser drin«, fragt er, »ja, ja«, sage ich, obwohl ich keine Ahnung habe, wie ich wissen soll, dass nicht der vierte drin ist, weil sie direkt nebeneinanderliegen, »dann langsam die Kupplung kommen lassen und Gas geben, nicht zu viel und nicht zu wenig, damit es nicht ruckelt. Fahr vorsichtig, gute Fahrt«, ruft er mir nach, als er nicht mehr hinterherkommt. Der Taunus wird schneller, sobald ich Gas gebe, ich hebe den Fuß an, und die Geschwindigkeit nimmt etwas ab, ich trete erneut aufs Pedal, und es wird wieder schneller. Ich blicke kurz in den Rückspiegel, mein Vater steht mitten auf der Straße und guckt mir nach, wird ständig kleiner und fremd wie irgendein Jemand.

Als ich an die große Kreuzung in Poltinaho komme, schaffe ich es, die Kupplung durchzutreten und die Geschwindigkeit komplett abzubremsen. Zum Glück kommt niemand, sodass ich in Ruhe den ersten Gang einlegen und gucken und mich noch mal vergewissern kann. Als ich die Kupplung kommen lasse, fängt der Taunus an zu ruckeln, aber der Motor geht nicht aus, und ich gebe einfach etwas mehr Gas, da hört das Ruckeln auf. Von Poltinaho führt eine lange gerade Straße über die Hügel nach Parola.

Am schwierigsten ist es, das Lenkrad nur ein bisschen zu drehen und dabei darauf zu achten, dass man die parkenden Autos mit ausreichend Abstand überholt, damit man ihnen nicht die Seite oder den Spiegel kaputt fährt. Ich umklammere das Lenkrad so fest, dass es in den Fingern wehtut, und der Gasfuß fängt an zu zittern, weil ich versuche, ihn ständig genau in der richtigen Position zu halten und nicht zu bewegen.

Ich kenne den Weg. Wir sind ihn oft gefahren, und einmal auch mit dem Fahrrad hin und zurück, als ich Verwandten das Panzermuseum gezeigt habe. Ich gehe schon vorab die Kreuzungen durch. Auf gerader Strecke fahren geht inzwischen recht gut, aber die Kreuzungen sind schlimm. Schon hinter Viisari verringere ich die Geschwindigkeit und bereite mich auf die Überquerung der großen Straße vor. Dort fließt der Verkehr zwischen Helsinki und Tampere, und ich muss ganz anhalten.

Ich warte so lange, bis ein Militärlastwagen hinter mir steht. Ich schaue genau, ob aus beiden Richtungen nichts kommt. Ich schaue zu lange. Das Militärfahrzeug hupt. Ich lasse die Kupplung kommen, und der Taunus ruckt und hoppelt über die große Straße. Gleich auf dem nächsten geraden Abschnitt überholt der Lastwagen, und obwohl ich den Kopf kein bisschen zur Seite drehe, spüre ich, dass mich der Beifahrer von oben durchs Fenster mustert.

Vom Fahren läuft mir der Schweiß den ganzen Oberkörper hinunter. Als ich an die Stelle komme, wo hinter den Bäumen das Löwendenkmal steht, rieche ich ihn so stark wie noch nie zuvor.

Durchs Militärgelände fährt es sich leicht geradeaus, obwohl es rechts und links staubt, weil die Panzer im grauen Sand durch die Furchen und Senken pflügen. Zwischendurch probiere ich aus, wie es ist, nur mit einer Hand zu lenken, weil man zum Fahren keine zwei Hände braucht. Mein Vater hat das gesagt, auf genau so einem geraden Abschnitt, als meine Mutter Angst bekommen und ihn aufgefordert hat, die Hände am Lenkrad zu lassen und keine Sperenzchen zu machen. Ich gebe mehr Gas, und als die Straße ganz frei ist, wage ich es zum ersten Mal, in den Dritten zu schalten, worauf auch das laute Heulen des Motors endlich aufhört.

Ich weiß, wo am Rand von Parola die Halle vom kleinen Lampinen liegt.

Ohne warten zu müssen, fahre ich über die Bahnschienen, die Schranken sind oben, und die Warnglocke läutet nicht. Links steht eine halb leere Fabrik, in der wir mit dem Auto von Mamas großem Bruder einmal gummiummantelten Kettfaden geholt haben, weil Mama angefangen hat, aus zerschnittenen Milchtüten Fußabtreter für den Vorraum zu knüpfen.

Hinter der Netzfabrik biege ich ab, entferne mich von den Gleisen, finde hinter einem Wald mit roten Kiefernstämmen die Halle und fahre direkt auf den Hof. Ich kann jetzt schon fast so gut mit den Pedalen umgehen, dass der Motor nicht aufheult und das Auto beim Bremsen nicht so ruckartig stoppt.

Mir tun die Arme von den Handgelenken bis zu den Schultern weh. Ich versuche gar nicht erst, richtig zu parken, sondern lasse den Taunus ein bisschen seitlich stehen, damit man noch an ihm vorbeikommt.

Dann stelle ich den Motor ab und nehme den Schlüssel mit. Das ist jetzt nicht mehr unser Auto, aber ich habe keine Zeit, etwas zu fühlen, weil mir schon im Kopf herumgeht, was ich gleich sagen muss.

Lampinen hat mich wahrscheinlich vom Fenster aus gesehen, denn er kommt heraus und baut sich vor der Halle auf. Er sieht aus wie sein großer Bruder, stemmt die Hände in die Hüften und guckt zu, wie ich auf ihn zugehe. Er hat sogar noch Zeit, sich eine Zigarette anzustecken, bevor ich nahe genug bin, um ihn zu verstehen.

»Dein Vater hat sich also nicht getraut, ihn selbst zurückzubringen?«, fängt er an.

»Nein, der Arzt hat es ihm verboten. Er hat absolutes Fahrverbot, weil es in seinem Kopf jederzeit aussetzen kann.«

»Ach, eine richtige ärztliche Anordnung?«

»Ja, Launo hat es verboten.«

»Launo ist ein Pferdedoktor, der gibt allen das gleiche Liniment wie den Pferden. Die Menschenärzte arbeiten im Bezirkskrankenhaus.«

Ich sage, dass mein Vater auch dort gewesen ist, im Herbst eine ganze Woche auf Station. Lampinen drückt seine North State an der Wand neben der Tür aus, das graue Blech hat viele schwarze Stellen.

Ich halte ihm den Taunus-Schlüssel hin, aber er nimmt ihn nicht, sondern bedeutet mir mit dem Zeigefinger, dass ich ihm in die Halle folgen soll. Dort wird gerade so heftig mit einem schwarzen Gummihammer auf einen ausgebauten Kotflügel eingeschlagen, dass es von allen Wänden widerhallt.

»Bist du überhaupt schon alt genug? Hast du einen Führerschein?«

»Ein Auto fährt man nicht mit dem Führerschein«, sage ich.

»Und es ist gut gegangen?«

»Na klar.«

»Leck mich, was für eine Bagage«, sagt er und kramt in der Schreibtischschublade.

»Nimmst du die Rechnung für deinen Vater mit, oder soll ich sie per Post schicken?«

Ich fange an zu antworten, wie ich es mir in der kurzen Zeit zurechtgelegt habe, aber Lampinen täuscht seine Gelassenheit nur vor und unterbricht mich sofort.

»Bildet ihr euch, verdammt noch mal, ein, damit wäre der Fall erledigt, oder was? Zuerst ein gutes Auto durch den Winter fahren, bis es durchgerostet ist wie ein Sieb, und dann bringt man es einfach zurück, wie wenn man sich den Arsch abwischt, und sagt, danke fürs Leihen, es reicht. Zum Kotzen, wie mich das ankotzt.«

Er scheint von seinen eigenen Worten noch wütender zu werden und geht ein Stück weg, sucht etwas zwischen den Stapeln mit den abgefahrenen Reifen, findet es aber nicht und zischt immer wieder das mit dem Sieb und dem Kotzen vor sich hin.

»Ich muss los«, sage ich.

»Du gehst hier nicht weg, bevor das geklärt ist. Ich rufe meinen Bruder an, der soll herkommen. Alles nur wegen ihm, er hat versprochen, für den Mann zu bürgen.«

Auf einem Bord an der Wand steht ein schwarzes Telefon. Vetter Lampinens Bruder wählt die Nummer und fängt an zu reden, aber ich verstehe kein Wort, obwohl ich nicht weit weg bin, denn das Dröhnen des Gummihammers auf dem Blech hat wieder angefangen.

Ich kann jetzt nicht mehr gehen, habe aber auch nichts mehr zu sagen und Lampinen anscheinend auch nicht. Er behält mich mit etwas Abstand im Auge und sagt nichts, nicht einmal, ob sein Bruder kommt oder nicht.

Ich gehe wieder näher zum Tisch, auf dem eine Rechenmaschine steht. Daneben liegen geöffnete und ungeöffnete Briefumschläge und dreierlei Formulare auf niedrigen Stapeln. Neben den Schlüsseln hängt ein Kalender an der Wand. Auf dem Maibild zieht eine Frau mit schwarzen Haaren gerade ihren Büstenhalter aus.

Als Lampinens Bruder durch die Seitentür in die Halle kommt, nehme ich die Hände aus den Hosentaschen, für den Fall, dass er mir die Hand gibt, denn manchmal hat er solche Manieren, wenn er zu Besuch kommt, aber jetzt nicht, er grüßt nicht einmal, sondern fragt als Erstes, was es gibt.

Blech-Lampinen ist einen halben Kopf größer als sein Bruder, darum wird Auto-Lampinen auch der kleine Lampinen genannt, kann ich noch denken, bevor ich mich verteidigen muss, oder eigentlich mehr meinen Vater, denn der kleine Lampinen schimpft ihn einen frechen Dieb.

»Was heißt hier Dieb, der Taunus steht doch vor der Halle«, entgegne ich ihm direkt.

Lampinen versucht zu beschwichtigen und fragt, wie viele Kilometer im Winter gefahren worden sind. Ich weiß es nicht, und so gehen wir hinaus, um nachzusehen. Der kleine Lampinen geht noch mal rein und holt den Kauf- und Teilzahlungsvertrag, in dem die Kilometer eingetragen sind, und sobald wir zu zweit sind, sagt Vetter Lampinen, ich soll mich nicht aufregen, »das wird sich schon regeln, alles regelt sich, wenn man es regelt«.

Nicht einmal dreitausend neue Kilometer sind auf dem Zähler. Der kleine Lampinen behauptet, da sind zehntausend Kilometer zurückgedreht worden.

»Dann soll der Junge es eben bei dir abarbeiten«, schlägt Lampinen schließlich vor, weil wir zu keiner Einigung kommen.

»So einen Scheißkerl und Verbrecher soll ich einstellen? Nicht einmal umsonst«, erwidert sein Bruder.

Lampinen fragt, ob ich schon eine Arbeit für den Sommer habe. Ich sage, für einen Monat oder anderthalb hat mir die Stadt Arbeit beim Sensen und Ausholzen versprochen, und normalerweise wird es verlängert, weil die anderen im Juli in Urlaub fahren.

Lampinen erkundigt sich nach dem Stundenlohn und verspricht, mir das Gleiche zu zahlen, sogar zehn Pfennig mehr. Seinem Bruder verspricht er für die ganzen drei Sommermonate das Geld, das ich zwischen dem Fünfer als Hilfskraft bei ihm und den zwei Mark fürs Ausholzen bei der Stadt nicht kriege. Der kleine Lampinen winkt ab, ihm sind solche Versprechungen einerlei, er ist nicht einmal bereit, die Differenz auszurechnen, obwohl neben den Formularstapeln eine Rechenmaschine steht.

Lampinen fragt mich, ob ich damit umgehen kann. Ich setze mich auf den Drehstuhl seines Bruders und sehe mir die Maschine eine Weile an, dann schalte ich an der Seite den Strom ein und fange an, Zahlen zu tippen, aber vorher rechne ich im Kopf ungefähr die Werktage aus, vier Wochen mal fünf Tage macht zwanzig, und das mal drei Monate sind sechzig, das mal acht Stunden am Tag macht 480, und dann muss ich mit der Rechenmaschine nur noch die letzte Multiplikation durchführen:

Mit der Maschine geht es so leicht, dass ich noch ausrechne, wie es bei einem Stundenlohn von 2,10 wäre, wenn die Differenz zum Hilfsarbeiterlohn also zehn Pfennig weniger als drei Mark betragen würde:

»Aber eigentlich sind es mehr Stunden, weil der Monat mehr Tage hat«, sage ich.

Lampinen liest die Zahlen auf dem Rollenpapier. Er verspricht seinem Bruder 1500 Mark, wenn ich den ganzen Sommer bei ihm arbeite und keinen einzigen Tag blaumache. Weil sein Bruder den Vorschlag nicht sofort abschmettert, nennt Lampinen als Zusatzbedingung, dass er ihm entsprechend viele Quittungen ausstellt, zum Beispiel für die Reparatur des Firmen-Lkws oder für was auch immer.

»Aber dann profitierst du ja davon«, sagt der kleine Lampinen.

»Du kriegst dann eben genauso viele Quittungen für die Hallendachreparatur, die fallen dann unter Ausgaben«, verspricht Lampinen.

Darüber denken sie eine Zeit lang nach und besprechen die Feinheiten. Beide haben denselben Steuerberater. »Der kann rechnen und alles so verbuchen, dass es stimmt«, sagt der große Lampinen schließlich, und erst nachdem sie sich untereinander geeinigt haben, fragt er mich, ob das in Ordnung geht.

»Ziemlich langer Weg jeden Tag«, fällt mir als Erstes ein.

»Natürlich nicht, du wohnst im Wohnwagen wie die anderen auch. Wir machen nicht jeden Tag um vier Feierabend«, sagt er.

Bevor ich noch richtig sagen kann, dass es sich nicht richtig anhört, verspricht er, dass Überstunden natürlich extra gehen, für einen ganzen Fünfer die Stunde.

Damit bin ich einverstanden. So einen Lohn habe ich noch nie bekommen. Lampinen streckt die Hand aus und sagt, so werden bei uns die Arbeitsverträge gemacht, das Wort hält besser als Papier, weil wenn Papier nass wird, dann leckt es und reißt, eine Hand aber wird nur oberflächlich nass und leckt ganz bestimmt nicht.

Damit kommt es zu einer Art Einigung. Trotzdem geht der kleine Lampinen um den Taunus herum, überprüft, dass er keine Dellen hat, macht die Motorhaube auf und murmelt was von Fett und ob da überhaupt mal das Öl gewechselt worden sei. Er nimmt ein Stück Putzwolle aus der Tasche, zieht den Ölpeilstab heraus, wischt ihn ab und steckt ihn wieder hinein und zieht ihn erneut heraus. Wir schauen alle auf den zitternden Stab. Das Öl sieht relativ frisch aus, es ist noch nicht sonderlich schwarz, und der Pegel liegt so zwischen den Markierungen, dass es auch hier nichts zu beanstanden gibt.

Lampinen verspricht, mich an der Bushaltestelle abzusetzen. Im Auto redet er alles Mögliche, so wie er es immer tut, und irgendwann zwischendurch sagt er, das mit dem Vertrag bleibt aber unter uns.

»Damit sich dein kranker Vater nicht den Kopf zerbrechen muss. Es könnte ihm schon an die Nieren gehen, dass sein Sohn seine Schulden abstottern muss. Wo ja eigentlich nicht einmal welche offen sind, aber mein Bruder spinnt ein bisschen und ist zu sehr hinter dem Geld her. Und versprochen ist versprochen, so ist das eben.«

Dann will er wissen, wie die Dusche den Winter über funktioniert hat. Ich sage ihm, wie es ist, aber ich sage auch, dass es besser war als im Winter zuvor, als nur kaltes Wasser aus dem kleinen Hahn an der Seitenwand kam, dass jedoch kein richtiger Druck drauf ist, wie beim Wasser aus der Wasserleitung.

In der ganzen letzten Woche passiert in der Schule nicht mehr viel, aber man kann auch nicht wegbleiben. Die aufeinanderfolgenden Biologie- und Sportstunden werden zusammengelegt. Tyry kommt am Tag vorher in die Klasse.

»Morgen Kekkonen-Hosen anziehen und Hannuch mitnehmen«, sagt er. Er sagt immer Hannuch, und keiner weiß, was für ein Dialekt das sein soll. Er schreibt die Anweisungen und das Programm mit Kreide an die Tafel:

1) Geländelauf 2,850 Kilometer