Von Norden rollt ein Donner - Markus Thielemann - E-Book

Von Norden rollt ein Donner E-Book

Markus Thielemann

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Beschreibung

Der Wolf ist zurück in der Lüneburger Heide. Und während Jannes – wie schon sein Vater und sein Großvater – täglich seine Schafe über die Heideflächen treibt, kochen die Emotionen im Dorf hoch. Kann Heimatschutz Gewalt rechtfertigen? Wo es vordergründig um Wolfspolitik geht, stößt er bald auf Hass, völkische Ideologie – und auf ein tiefes Schweigen. "Von Norden rollt ein Donner" ist eine Spurensuche in der westdeutschen Provinz, die Geschichte eines brüchigen "urdeutschen" Idylls. Täglich treiben der 19-jährige Jannes und seine Familie die Schafe über die Flächen der Lüneburger Heide. Doch es herrscht eine gärende Unruhe in der Gegend, der Wolf ist zurück. Es mehren sich Schafsrisse und mit ihnen Konflikte im Dorf, die schnell politisch werden. Während völkische Siedler versuchen, das Thema für ihre Zwecke in Beschlag zu nehmen, die Situation sich zuspitzt und in Selbstjustiz der Bevölkerung zu eskalieren droht, flüchtet sich Jannes zu seinen Schafen in die Heide. Doch dort wird durch eine gespenstische Begegnung plötzlich die düstere Ortsgeschichte aufgefächert, die ihren langen Schatten in die Gegenwart wirft. Markus Thielemann schreibt mit seinem Anti-Heimatroman das Psychogramm einer Sehnsuchtslandschaft und zeigt auf ebenso subtile wie fesselnde Weise, wie sich ein Idyll in sein Gegenteil verkehren kann.

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EPUB

Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Titel

MARKUS THIELEMANN

VON NORDEN ROLLT EIN DONNER

ROMAN

C.H.BECK

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Motto

Karte

1

2

3

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5

6

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9

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EPILOG

QUELLEN

DANK

Zum Buch

Vita

Impressum

Motto

Es ist so still; die Heide liegt Im warmen Mittagssonnenstrahle, Ein rosenroter Schimmer fliegt Um ihre alten Gräbermale;

Theodor Storm

Karte

1

Sie erscheinen auf der Oktoberheide, auf einem Rücken der Ebene, hinter dem es nichts zu geben scheint als immerzu treibende Wolkenmaserung: zwei Hundeschemen, dann der Hirte. Den Stecken in der Rechten, bleibt er im Gegenlicht, seine Gestalt so gebeugt, dass man ihn für einen alten Mann halten könnte. Erst als er einen Schritt macht, wird sein Gesicht erkennbar. Er hat glatte, wettergerötete Wangen, leicht abstehende, ebenso gerötete Ohren, eine Böe scheitelt haferfarbene Strähnen. Im Nacken ist sein Haar flusig und dunkler, in der gleichen Farbe wie seine Augen, die auf den Boden gerichtet bleiben. Hinter ihm formiert sich sein Vieh, Hunderte Tiere. Er geht voran, und nach und nach bildet die Herde in seinem Rücken eine breite graue Schleppe.

Von Norden rollt ein Donner und verhallt. Blitzlos. Keines der Tiere zuckt, auch der Hirte nicht. Er schaut nicht einmal auf, trottet weiter. Langsam, als würde die Zeit um sie träger fließen, ziehen sie hinaus über das verblühte Land, sacht gewellte Ödnis, gefärbt von braun verholztem Kraut und Sand, wo nichts emporragt außer den Wacholdersträuchern, zerbrochenen Säulen gleich.

Sein Name ist Jannes Kohlmeyer, er ist neunzehn Jahre alt. Das Krachen der Panzermunition, die tagsüber auf dem Fabrikgelände des Waffenherstellers Rheinmetall getestet wird, nimmt er kaum wahr. Es gehört für ihn zur Arbeit wie das Zischen des Windes und das Blöken des Viehs. Er hat andere Sorgen.

An einer Senke hält er, lässt die Herde an sich vorbeiziehen, zählt fast automatisch, kontrolliert ganz beiläufig die Beschaffenheit der Flanken, den Zustand der Wolle, der Schnauzen, ihren Gang, die Zitzen, die Klauen. Es sind 42 Ziegen und 357 Heidschnucken; archaische Wesen mit verdrehtem Gehörn, graubraunen Wollzotteln und tiefschwarzen Schädeln, aus denen die Augäpfel hell hervorstechen. Sie sind zäh und genügsam, geben gerade genug Milch für die eigenen Lämmer, von denen die Familie dieses Jahr nur sechs Stück behalten hat. Die anderen sind verkauft oder geschlachtet.

Unten drängen sich die Tiere aneinander. Hera und Kasch, die beiden Hütehunde, umkreisen den Pulk. Jannes blickt hinunter, die Bewegungen erinnern ihn an Bilder aus einer Dokumentation über den Weltraum. Wie Monde oder Planeten kreisen sie um die Herde, das Zentrum des Alls. Und dann schweift er ab; er hat seinen eigenen dunklen Wanderer, einen Gedanken, der seit Tagen kommt und geht auf elliptischer Bahn, dessen Gravitation drückt und lähmt und Jannes in die Leere schauen lässt, bis ihn die Fliehkraft einmal mehr zurück in die Nacht schleudert: Papa geht zum Arzt.

Sie sind jetzt gerade beim Arzt, denkt Jannes. Wahrscheinlich genau jetzt. Das ist ja an sich nichts Schlimmes, nein, gar nicht. Er kann sich nur nicht erinnern, dass das je vorgekommen wäre. Sein Vater wird nicht krank. Er beschwert sich nie, nicht mal über Kopfschmerzen oder den Rücken.

Eine der älteren Schnucken löst sich aus der Herde, setzt an und schießt den Hang auf der anderen Seite hinauf. Wie ein Organismus beginnt der Rest hinterherzufließen, flankiert von den beiden Collies.

Es kann nichts Schlimmes sein, denkt Jannes noch einmal, oder eher: versucht es zu denken, während er mit dem Stecken als Stütze den Hang hinabsteigt. Es sind ja nur diese Aussetzer. Wahrscheinlich irgendein Mangel oder so was, das hatte seine Mutter gesagt, oder der Stress. Er folgt den letzten Tieren mit dem Blick, die halb hüpfend, halb galoppierend den Anschluss suchen. Die Herde, denkt er. Das Zentrum des Alls.

Der Boden in der Senke ist feucht und von Klauenspuren vertreten. Er betrachtet das Gewirr im Sand zu lange und entdeckt etwas, das ihn beunruhigt: Abdrücke, die nicht von den Klauen der Schnucken stammen, sondern von Pfoten.

Die sind von den Hunden, ist sein erster Gedanke. Aber schon im selben Moment überlegt er, ob die Spur nicht seltsam aufgereiht wirkt; könnte sein, könnte aber auch am Vertritt liegen. Wer soll so was sagen? Er sucht den Hang nach den schlanken Silhouetten der Collies ab, findet sie nicht im Gewimmel, und er erinnert sich, dass er die Hunde dort im Inneren der Senke nicht gesehen hat. Und mit einem Mal wirkt ihm die Spur auch zu tief und nicht frisch genug, im Vergleich zu den Klauenabdrücken der Herde. Er pfeift.

«Kasch! Hera! Bei!»

Die Hunde schießen nacheinander den Hang hinunter, und bevor er ihnen befehlen kann zu warten, pflügen sie durch die Spur. Sie kommen vor ihm zum Stehen, er starrt in durchscheinende, tatbereite Augen.

«Was geht da drin vor?», fragt er. «Ihr kleinen Verbrecher, was denkt ihr?»

Er hockt sich hin, packt sie nacheinander bei den Schnauzen und kabbelt sie, spürt die Wärme des Atems an den Fingern und die Kraft der feinen Nackenmuskeln, dann lässt er los. Kasch schüttelt sich, Hera tippelt auf der Stelle. Jannes wendet sich ab. Sein Smartphone vibriert. Er klemmt sich den Stab unter die Achsel und ruft:

«Na los!»

Die Hunde hetzen den Hang wieder nach oben, Jannes zieht das Smartphone aus der Tasche seines Überwurfs, ihre frischen Spuren genau im Blick; sieht doch verdammt ähnlich aus. Warum hat er kein Foto gemacht? Idiot, denkt er noch, während er die Nachrichten liest. SMS von seiner Mutter, die Jannes im Handy unter Muddern eingespeichert hat.

«Kommen die Genesenen gut mit? Wie lange braucht ihr noch ca.? Gruß, Mama»

Jannes tippt, während er der Herde den Hang hinauf folgt. Sein Muskelgedächtnis kennt das Gelände, seine Augen ruhen meist auf den Tieren oder auf dem Smartphone.

«So zwei Stunden und jau sieht gut aus. Machen keine mätzchen», tippt er und dann, nach kurzem Innehalten, eine zweite Nachricht:

«Wie wars beim arzt?»

Er scrollt die Unterhaltung nach oben, schaut, ob sie noch etwas anderes geschrieben hatte, aber findet nichts als die kurzen, sich abwechselnden Absätze, dazwischen verwackelte Fotos, die angehobene, verschorfte Klauen zeigen oder mit dem Daumen hochgezogene Schafslippen, die freigelegten Zahnreihen immer wieder erschreckend menschenähnlich. Fotos von Pferchschäden, Fotos von rötlichen oder verflüssigten Kötteln. Dazwischen vereinzelte Okays, Guts und Gruß, Mamas.

Auf der Kuppe angekommen, schaut er vom Gerät auf, aus einem Gefühl heraus. Die Herde bewegt sich nicht. Auch die Hunde sind still, kein Wind. Nur das Rascheln der Tiere, vereinzeltes Blöken. Sofort erinnert er sich an die Spuren unten. Gleichzeitig fällt ihm auf, dass ein paar der gehörnten Schädel sich Richtung Waldrand wenden. Die Ziegen heben die Köpfe, die schwarzen Schlitze in den Augen in die Leere gerichtet. Plötzlich brechen ein paar Tiere zur Seite aus.

«Hey!»

Hera jagt los und treibt sie zurück in die Traube. Jannes lehnt sich wieder auf seinen Stock, kneift die Augen zusammen und folgt den Blicken der Tiere. Die Wolken hängen schwer und tief über dem Land, der angrenzende Forst bildet eine dunkle Mauer. Im Grunde könnte alles dahinter lauern, sich verbergen, bis der Hunger es hinaustreibt. Er denkt an die körnigen, verwackelten Videos aus den Facebook-Gruppen, auf einem war das Tier zu sehen. Es bewegte sich ruhig am Straßenrand entlang, federnder Lauf, geduckter Schädel, fixierender Blick, neugierig vielleicht, dagegen schwer der Atem des Filmenden, in der Stimme heisere Panik Haust du wohl ab! Hau ab du! Hau ab jetzt!, immer wieder, und es löste nicht mal ein Zucken beim Tier aus, dann flog ein Stein, knirschte über die Landstraße, der Wolf duckte sich weg, drehte ab und jagte über den Acker davon, war innerhalb von Sekunden zum Fleck am Waldrand geworden, grau in braun, kaum zu unterscheiden von einem jungen Reh oder einem streunenden Hund.

Jannes denkt an den Riss vor drei Wochen auf der Standweide der Steinbecks, kaum dreißig Kilometer entfernt, sieht die schlecht fotografierten Bilder des dahingestreckten Kalbs in Siegrid Steinbecks Facebook-Galerie vor sich, viermal das gleiche Motiv im Gitterquadrat. Klick, der Mauszeiger über den angefressenen Stellen zwischen den Hinterbeinen, die fransigen Hautlappen, die Worte seines Vaters: Guck dir die Scheiße an, keine hundert Meter vom Haus entfernt. Guck dir diese Scheiße an.

Kasch hat den Schädel auf dem Boden zwischen den Schultern und fixiert eine Schnucke, Hera hechelt mit heraushängender Zunge. Jannes erkennt keine Anzeichen von Angst an ihnen. Allmählich treibt die Anspannung aus ihm heraus. Er schiebt den Gedanken fürs Erste beiseite, geht voran, ruft:

«Ko-om!»

Und die Herde setzt sich langsam in Bewegung.

Oben beschreibt die Sonne ihren Bogen hinter Wetter und Dunst, unten zaust der Wind Wolle, Fell und Haar, fegt das letzte Laub von den Birken, die an den Rändern der Heide wachsen. Wie Goldsprenkel leuchtet es auf den Sandwegen. In ein paar Tagen wird es sich den Farben des Landes fügen und ebenfalls zu Braun faulen.

Heute bleiben sie nicht mehr stehen. Jannes treibt den Trott stetig voran, über das Werk seinesgleichen von Jahrzehnten und Jahrhunderten: Zwischen ausgedehnten Aufforstungen übrig gebliebene Heideflächen, auf denen sich die Trittpfade des Viehs wie dunkle Adern abzeichnen und über die alle fünfzehn Minuten der Geschützdonner pocht; Abschuss, Einschlag. Ein altes, träges Herz.

Am Abend hat er die Tiere in den Stall gebracht und die Hunde gefüttert. Er schält sich aus dem grauen Überwurf, wischt sich mit dem Stoff grob die Hände und hängt ihn im Vorraum des Stalls neben die muffigen Regenjacken und Mäntel. Dumpf die Geräusche der Herde hinter der Betonwand, sirrend die antike Elektronik. Auf Werkbänken liegen Klauenzangen, Spritzen und Scheren in abgeteilten Plastikkisten. Regale aus dünnem Blech, darin Medikamentenflaschen, Kanister voll Desinfektionsmittel, Löschkalk, ineinandergestapelte Bottiche zum Anrühren von Lämmermilch. Winkel, bespannt mit Spinnenfäden, in den Zwischenräumen hängen knallgelbe Klebestreifen, bepunktet mit dicken toten Fliegen. In der Ecke des Raumes lehnen Futtersäcke auf mäusekotbedeckten Pappen gegen die Feuchtigkeit. Jannes nimmt seinen Stecken und stellt ihn zu den anderen in eine aufgesägte Plastiktonne an der gegenüberliegenden Wand, die matten Aufsätze klacken aneinander.

Sie haben alle ihren eigenen, denn sie alle machen die gleiche Arbeit: Seine Mutter Sibylle und sein Vater Friedrich, von Opa Wilhelm stehen sogar welche drin, die über fünfzig Jahre alt sind. Sie werden kaum noch genutzt, es sind halbe Museumsstücke, die Jannes’ Vater nur noch bei Hofführungen rausholt. Jannes’ eigener Stab ist unlackiert und knotig. Er hat ihn zusammen mit seinem Großvater gemacht. Er liebt es, wenn er Wuchs und Jahre eines Gegenstands unter seinen Fingern spüren kann. Als Kind hat er alle Knochenstücke und Geweihreste aufgehoben, die er auf Streifzügen im Wald oder auf der Heide gefunden hatte, und sie in seinem Zimmer aufgereiht. Dass etwas derart Steinhartes aus einem Lebewesen gewachsen sein konnte, findet er bis heute wunderlich.

Die einzigen Mitglieder seiner Familie, die nie einen Stecken in dieser Tonne besessen haben, sind seine Oma Erika, die wegen ihrer Demenz schon lange im Heim ist, und seine neun Jahre ältere Schwester Janine, die an einem anderen Ort ein anderes Leben lebt.

Neben der Tür zum Stallgewölbe ist unter einem direkt aus der Wand ragenden Schlauchende ein kleines Waschbecken angebracht. Jannes dreht den Hahn auf, krempelt die Ärmel seines dunkelgrünen Fleecepullovers hoch, drückt mit dem Handgelenk zweimal auf einen großen beinfarbenen Seifenspender und wäscht sich den Dreck des Tages von den Händen. Von der Decke hängt eine rohe Glühbirne; Schlaglicht auf Nacken und Schultern. Im Dunkel des Fleecestoffs schimmern sein eigenes Haar und das der Hunde auf, als er sich die Nässe von den Händen schüttelt.

Draußen, unter der verlängerten Dachkante, knackt die Beleuchtung an, als er aus der Tür tritt, und schlägt die Schatten zweier kleiner Traktoren auf den Beton, die dort unterstehen. Einer ist uralt und Kernschrott und wurde seit Jahren nicht von der Stelle bewegt, überzogen mit einer Kruste aus Altöl, Staub und Schwalbenkot. Der andere ist keine drei Jahre alt, glänzend, sauber rückwärts eingeparkt, die Gabel gerade so hochgefahren, dass man unten durch spazieren kann. Ein moderner, knallroter Weidemann-Hoflader für Mist, Einstreu und Futter. Jannes liebt den kleinen Wendekreis, und er putzt ihn öfter, als er müsste.

Während er sich vom Stall entfernt, verschwindet der Maschinenduft von Rost und Schweröl aus seiner Nase, weicht dem herben Geruch des Jauchetanks und des Misthaufens, auf dem sich feine Dampffäden kräuseln, bis hinter Jannes die Stallbeleuchtung wieder ausgeht.

Weiter Richtung Wohnhaus hängt ein Hauch Zwiebel im Hof, vermischt mit gedünsteter Butter. Das Essen seiner Mutter, denkt er. Obwohl er hungrig ist, hat er es nicht eilig. Denn in der Küche wartet sein Vater. Jannes ist unerträglich neugierig, und gleichzeitig hat er Angst, was der Arztbesuch bedeuten könnte. Er will mit niemandem darüber reden. Am liebsten wäre ihm, jemand würde ihm alles, was er wissen muss, unpersönlich aufschreiben, denkt er, während er um die Ecke biegt und an der Frontseite des alten Hallenhauses vorübertrottet.

Sein Opa wurde darin geboren, hat jahrzehntelang mit Oma Erika in den kaum beheizbaren Räumen gelebt. Sogar Jannes’ Mutter und sein Onkel Uwe haben noch ein paar Jahre in dem alten Haus verbracht, bis die Familie in den Siebzigern den Neubau bezogen hat, in dem später auch Jannes und Janine aufgewachsen sind. Seitdem ist das Hallenhaus unbewohnt, umfunktioniert, halb Scheune, halb Abstellkammer, in der großen Diele und den davon abgehenden Räumen stapelt sich der Schrott: platte Fahrräder, Brennholz, Bauholz, Tonnen von Zaundrahtrollen und kaputten Aluminiumgattern.

Das Gebäude ist baufällig und denkmalgeschützt. Auf dem Heuboden wächst Knöterich zwischen den Sparren hinein, streckt seine Ranken hellgrün in die Lichtbalken, die durch die winzigen Schrägfenster und Ritzen fallen. Von außen hängt das Dach sichtbar durch, an den Längsseiten reicht es tief hinunter, fast bis an Jannes’ Stirn, und dort, wo es der ewige Schatten der beiden alten Hofeichen trifft, sind Schindeln und Fugen zentimeterdick mit Moos bewachsen.

Eine Renovierung können sie sich schon lange nicht mehr leisten, und mit fortschreitendem Verfall rückt sie immer ferner. Trotzdem steht sie alle paar Monate zur Diskussion. Jannes’ Vater würde es gerne machen, als zusätzliche Tourismusattraktion. Er sagt, die lieben das doch, dieses Alte, Rustikale. Eine Ladenzeile könne hinein für die bessere Direktvermarktung des Schnuckenfleisches, ein paar Ferienwohnungen im Obergeschoss und unten in der Diele eine Art Ausstellung über die Schnucken und das Heidebauerntum. Opa Wilhelm, dem der Hof auf dem Papier immer noch gehört, will davon nichts hören. Er ist der Meinung, dass sie nach wie vor Landwirte seien und keine Ausstellungsobjekte oder Zirkusclowns, auch wenn das hier manche vielleicht anders sehen. Wenn man sich also schon so verschulden wolle, behauptet er, dann müsse erst mal ein größerer und modernerer Stall her, und sowieso: größere Herde, mehr Flächen und nicht nur die ollen Schnucken, auch welche, die Milch und Käse und Wolle bringen, und dann Deichpflege, in die Auen müsst ihr, da liegt das Geld, mit diesem Kleinkram hier pustet es euch sonst irgendwann weg, sagt er, schaut euch doch nur mal um.

Jannes wird langsamer. Im Finstern unter der Portaleinfassung, am Eingang zur alten Diele, bleibt er schließlich stehen. Auf der anderen Seite des Hofes das Küchenfenster; warmes Licht. Er schaut noch einmal seine SMS durch. Die Nachrichten sind gesendet worden, aber seine Frage hat seine Mutter nicht beantwortet. So kann er sich nicht einmal vorbereiten. Während er auf den Bildschirm schaut, fällt ihm auf, dass er sich im WLAN befindet, Whatsapp-Benachrichtigungen ploppen auf, Spam-Mails. Statt weiterzugehen, scrollt er durch seinen Facebook-Feed. Zwei Benachrichtigungen. Fynn Antelmann und Phillip Maschwitz, die beiden Freunde von der Berufsschule, die ihm geblieben sind, haben für eine Halloweenparty im Ort nun doch auf Nimmt teil geklickt. Fynn, der im September nach Göttingen zum Studieren gezogen ist, kommt also das Wochenende über zu seinen Eltern nach Unterlüß. Jannes’ Laune bessert sich minimal. Er scrollt weiter. Ein Mann, den er von der Ausbildung kennt, kommentiert einen Artikel der Lokalzeitung über eine Straßensperrung, eine vermisste Katze in Faßberg, eine Bekannte aus Hermannsburg verkauft eine Einbauküche. Wolfssichtung im Landkreis Uelzen. Mediamarkt-Werbung. Möbelhauswerbung. Bundeswehrwerbung.

Hoch über Jannes’ blassbläulich gefärbtem Gesicht ragen die morschen Pferdeköpfe vom Dachfirst, Sachsenrösser, tiefschwarz vor steingrau marmoriertem Wolkenmatsch, einander abgewandt wie im Streit. Drei Meter darunter prangen fünf Kreise am Fachwerk, Königsscheiben vergangener Schützenfeste, von Altertum und Wetter absteigend verdüstert, wie bebilderte Mondphasen.

Die dunkelste, älteste ganz rechts hat Opa Wilhelm geschossen, in den Fünfzigern, kurz nachdem die in der Nachkriegszeit verbotene örtliche Schützengilde mit ihm als Mitglied neu gegründet worden war. Jannes weiß, dass die Eichenkränze und das Rehgeweih auf der Scheibe auch bei Tageslicht kaum sichtbar sind, die Farbe ist lange abgeblättert und verblichen, Formen und Kontur verschwunden unter Flechten. Die drei Scheiben daneben sind etwas jünger, aber fast ebenso vergilbt, aus den Siebzigern, als Jannes’ Onkel Uwe zweimal das Jugendschießen gewann und ein Jahr später der jüngste Schützenkönig der Vereinsgeschichte wurde, bevor er Anfang der Achtziger Hof und Herde den Rücken kehrte, zum Bund ging und für immer dortblieb.

Die hellste Scheibe ganz links hat seine Mutter vor fünf Jahren gewonnen, 2009. In diesem Jahr waren erstmals Königinnen ausgeschossen worden, Sibylle hatte sich mit aufstellen lassen. Wie sehr das auf Bitten seines Opas hin geschehen war, weiß Jannes bis heute nicht so richtig. Was er sicher weiß, ist einzig, dass der Verein damals nur eine weitere Frau gefunden hatte und dass der Wettbewerb ohne seine Mutter nicht hätte stattfinden können.

Jannes betrachtet die Scheibe, den Kopf im Nacken. Neben den anderen scheint sie fast zu glänzen. Er erinnert sich an das feierliche Anbringen vor fünf Jahren. Die Leiter am aufgesprungenen Fachwerk, Männer mit grünen Hüten und weißen Handschuhen schwankten darauf empor, Flecken auf den Hosen, Blasmusik, das blecherne Klirren des Schellenbaums. Alles war voll von halb fremden alten Menschen, ein paar Nachbarn, ein paar Gruppen Halbstarker aus dem Dorf, gaffend auf den Rädern, unsicher ob der Öffentlichkeit der Veranstaltung. Er war damals vierzehn, aber seit dem Frühjahr konfirmiert, und so trank er, was ihm angeboten wurde: durchscheinende Fanta-Korn-Mischungen aus kleinen, seltsam leichten Gläsern, scharfe Ratzeputze von den kreisrunden Tabletts der Freunde seines Großvaters. Das Geklimper und Geblitze der Abzeichen, wenn sie sich mit ihren Uniformen am Ausschankanhänger nach ihren Gläsern vorbeugten. Der Geruch von Altmännerschweiß und Bier, gesogen in schrankmuffigen Stoff. Schulterklopfer, trübe Augen, seliges Grinsen. Wann er denn endlich eintrete? Es liege ihm ja im Blut.

Er erinnert sich an seinen Vater, der dem Treiben den ganzen Tag fernblieb, mit der frühmorgendlichen Behauptung, dass man die Pferchzäune nun wirklich alle mal kontrollieren und aussortieren müsse. Später verschwand er im Stall und kam erst im Abendlicht wieder heraus, als der Hof leer und still war und die ersten Rauchschwalben zogen, lautlos, im Tiefflug. Obwohl Jannes damals ziemlich betrunken war, kann er sich bis heute genau daran erinnern, wie sein Vater ihm mit einem unlesbaren Gesichtsausdruck einmal zunickte und dann kommentarlos begann, Scherbenreste und die winzigen Deckel der Klopfer aus den Rillen des Kopfsteinpflasters zu fegen.

«Tja. Bei Mutti wurd das auch nicht mehr besser», sagt Wilhelm laut genug, dass Jannes es durch die angelehnte Küchentür hören kann.

«Vadder, das ist ja wohl ne ganz andere Sache.» Die Stimme von Jannes’ Mutter Sibylle.

Er öffnet die Tür mit ausgestrecktem Arm, geht mit Unbehagen hinein, wahrscheinlich reden sie über seinen Vater. Opa Wilhelm sitzt zurückgelehnt an seiner Ecke des Tisches, die Arme verschränkt, hinter ihm die große Pinnwand, dicht gespickt mit ausgeschnittenen, verblassenden Zeitungsartikeln, auf Papier gedruckten, zerfalteten Fotos, Imbissflyern und Zettelchen mit handschriftlich notierten Telefonnummern, Einkaufslisten und gestempelten Terminen. Vor ihm auf dem Tisch ein dampfender Becher mit dem Logo des Naturparks Südheide; die Spirale eines Schnuckenhorns läuft aus zum Profil eines Bocks. Der alte Mann beugt sich vor, greift den Becher mit einer sehnigen, altersfleckigen Hand, dreht den Druck zu sich. Auch abends trinkt er noch seinen schwarzen Tee.

«Das hört sich aber alles ganz ähnlich an. Und sieht auch genauso aus. Haben wir doch alles schon mal gesehen. Muss man sich drauf gefasst machen.»

«Jetzt red doch kein Quatsch», sagt Sibylle, und Jannes registriert, wie sie am Ende des Satzes lauter wird, eine Aufforderung zum Schweigen hineinlegt.

Wilhelm schaut auf, sieht Jannes in der Tür und nickt seinem Enkel zu. Sein Großvater wirkt immer grimmig, auch wenn er bester Laune ist. Die Haut an den Wangen und unter den Augen hängt herab, seinen Unterkiefer hat er, solange Jannes denken kann, immer leicht vorgeschoben, als habe er ständig noch Essen zu kauen. Jannes nickt zurück. Das Geschirr der beiden ist bereits abgeräumt, nur an seinem Platz steht ein einsamer Teller. Stille. Jannes geht zur Spüle, wäscht sich die Hände ein weiteres Mal, spürt ihre Blicke im Nacken.

«Da ist auch noch Auflauf mit Geschnetzeltem im Ofen von heut Mittag», sagt Sibylle, als er sich zu den beiden an den Tisch setzt.

«Brauch nichts Warmes.»

Auf dem Tisch steht Aufschnitt in einer großen Tupperbox, Käse und Wurst in Fettpapier. Ein Korb geschnittenes Sauerteigbrot. Sülze im Glas, zwei gekochte Eier in einer kleinen Schale. Ein paar geschälte Möhren in einer anderen Schale. Jannes nimmt sich ein Ei, klopft es auf der Tischkante an, beginnt es zu schälen. Sibylle schenkt ihm Apfelschorle in sein Glas. Sie schäumt, wird leiser, bitzelt.

«Und?», fragt Wilhelm.

«Sind gut mitgekommen.» Jannes spricht mit vollem Mund. «Am Anfang hat man’s noch gemerkt, aber dann ging’s ganz normal eigentlich. Und die anderen sahen ganz in Ordnung aus. Weiß nicht, wie es wird, wenn es weiter so nass ist.»

Wilhelm nickt.

«Was macht Papa?», fragt Jannes.

«Guckt Wetterbericht.» Sibylle macht eine Bewegung mit dem Kopf in Richtung Stube. Jannes schaut seiner Mutter ins Gesicht, dann betrachtet er das halbe Ei in seiner Hand. Er will es hinter sich bringen und presst alle Beiläufigkeit, die er aufbringen kann, in den nächsten Satz.

«Und? Was sagt die Ärztin?»

Die Sekunden verrinnen. Seine Mutter antwortet nicht direkt, Jannes linst zur Seite. Sie zieht einen Mundwinkel nach oben, als würde sie an etwas kauen, saugt die Luft ein, beugt sich leicht vor. Er ist sich sicher, dass sie lügen oder zumindest beschönigen wird, und bereut seine Frage.

«Wissen sie nicht genau. Kann Stress sein, kann was anderes sein. In zwei Monaten geht es zum Neurologen nach Soltau.»

Jannes nickt abgeklärt, aber das Wort Neurologe brennt sich in sein Hirn.

«Stress kann ja sein», sagt er und überlegt für einen Moment, von den Spuren im Sand zu erzählen. Er nimmt eine Brotscheibe, legt eine Salamischeibe darauf, beißt hinein, kaut. Das Gespräch ist beendet.

Nach ein paar Minuten kommt Jannes’ Vater aus dem Wohnzimmer. Er tritt in den Lichtkegel am Essenstisch; die Lesebrille in die Stirn geschoben, darunter kräuselt sich das Haar, durchscheinend und dünn wie die Wolle eines räudigen Tieres.

«Na.»

«Na», sagt Jannes. «Hat sich was getan mit morgen? Bleibt bei Regen?»

«Nö, ja, bleibt so.» Sein Vater schaut einen Moment ins Nichts, dann sagt er:

«Aber guck mal, diese Scheiße wieder hier.»

Friedrich schiebt sich die Brille auf die Nase, scrollt und wischt auf seinem Smartphone herum, Jannes denkt, bitte nicht schon wieder, schaut zu seiner Mutter, aber die scheint auch nicht zu wissen, was er ihm zeigen will. Sein Vater geht um den Tisch.

«Hier.»

Er hält Jannes das Smartphone hin, der Zeigefinger seines Vaters ruht über einem Facebook-Beitrag. Jannes kann eigentlich nur den Schmutzkreis unter seinem Nagel erkennen.

«Bei Steinbecks hat er ein Kalb geholt. Angefressen, liegen gelassen.»

Jannes ist für einen Augenblick ehrlich erstaunt.

«Was? Schon wieder? Da war doch vorgestern erst was», spricht er laut aus, versteht die Situation im selben Moment und bereut seine Aussage sofort, schaut über seine Schulter. Wie Jannes erwartet hatte, passiert etwas im Gesicht seines Vaters. Die hellen, von der Heizungsluft sanft tränenden Augen zucken umher, für eine Millisekunde auf der Suche nach der Auflösung eines Scherzes. Jannes weiß genau, dass seinem Vater jetzt völlig klar ist, dass sie alle hier schon lange von diesem Riss wissen, dass er selbst ihnen wahrscheinlich schon mindestens einmal davon erzählt hat, wenn nicht öfter. Jannes merkt, wie die anderen auf den Tisch schauen und schweigen, dröhnend. Er schämt sich für seine eigene Dummheit und, auch wenn er es eigentlich nicht will, für seinen Vater.

Es ist Friedrich selbst, der das Schweigen bricht, betont arglos. Er zieht das Smartphone weg, klappt die Schutzhülle zu, steckt es ein.

«Also, ja», sagt er. «Bleibt beim Regen morgen. Den ganzen Tag. Hier Dings.»

Eine lange Pause, in der er nach einem Wort sucht.

«Gott. Tief. Atlantisches Tief, Sturmböen und so was. Aber gar nicht so kalt.»

«Ich würd trotzdem gern raus», antwortet Jannes, dankbar für jede Ablenkung.

«Wolltest du nicht zu dieser Faschingsparty?», fragt Sibylle von der Seite.

«Fasching ist im Frühjahr», wirft Wilhelm ein.

«Halloween, Mama. Das ist was anderes. Mal sehen. Kann ich auch gut später hin.»

Jannes steht auf.

«Schon fertig?», fragt sein Vater. «Da ist noch Auflauf im Ofen.»

«Weiß ich. Ich will erst mal duschen. Vielleicht hol ich mir später noch was raus.»

Jannes’ Teller ist sauber, ein paar Eierschalenstücke, ein paar Brotkrumen, sonst nichts. Er geht und stellt ihn auf die Spüle, Porzellan auf Blech in Stille. Erst als er aus der Tür und halb auf der Treppe ist, merkt er, dass seine Kiefer vor Verkrampfung schmerzen.

Später klopft es an seiner Tür. Jannes liegt ungeduscht und in seinen Arbeitsklamotten auf dem Bett, starrt an die Decke. Neben ihm, eingesunken in die Bettdecke, sein Smartphone, darauf fünf offene NetDoktor-Tabs. Er betrachtet eine herabhängende Ecke seines Der Herr der Ringe – Die zwei Türme-Posters. Der von Staub stumpfe Tesastreifen tänzelt im Nichts. Wie kann das sein, denkt Jannes. Es weht doch nichts. Er schiebt sich mit dem Rücken die Wand hoch.

«Jannes?» Es ist die Stimme seines Vaters.

Links steht sein Schreibtisch, darauf ein quadratischer Computerbildschirm, graue Tastatur, graue Maus, der Rest ist vollgemüllt; einzelne Arbeitshandschuhe, Papiere mit Flusen in den Briefknicken, Hundehaar, tote Fliegen. An einen Stapel Spiele und DVDs lehnen drei Bücher, eins über Betriebsrechnungswesen, eins über Schaf- und Ziegenkrankheiten und das Gesangbuch aus dem Konfirmationsunterricht. Seine Sammlung aus Geweihstücken und Knochen verstaubt auf einem Brett an der Wand. Auf der anderen Seite des Zimmers steht ein Flachbildfernseher, die angeschlossene PlayStation 3 ist umwuselt von Wollmäusen. Es gibt keine Bilder und keine Pflanzen. Es klopft noch einmal, der Spiegel an der Zimmertür vibriert. Er sieht sich selbst auf dem Bett, sich anstarren.

«Bist du noch wach?»

«Jap.»

«Ich komm rein.»

«Ist gut.»

Jannes dreht sein Smartphone um. Die Tür schwingt auf, im Spiegel rauscht das Innere des Zimmers vorüber, kurz blendet Jannes das Licht auf dem Nachttisch, wie ein Kamerablitz. Sein Vater stellt einen Teller mit Auflauf auf einen Papierstapel auf dem Schreibtisch. Jannes fällt auf, dass das Besteck fehlt. Er hat eh keinen Hunger.

«Hier.»

«Danke.»

«Hast du schon geduscht? Vom Geruch her könnte man die Herde nämlich sonst auch einfach hier unterbringen.»

Jannes kämpft sich ein Lächeln ab.

«Bin ich noch nicht zu gekommen.»

Sein Vater schaut ihm ins Gesicht. Jannes schaut auf seine Socken. Da ist etwas Stroh in der Wolle oder Heu.

«Hör mal», sagt Friedrich und macht einen Schritt auf das Bett zu, der Lichtreflex des Nachttischlichts zuckt in der Lesebrille, er bleibt stehen. Er steckt die Hände in die Taschen, drückt die Schultern durch, dann nimmt er sie wieder raus.

«Ich geh morgen los. Geh du man zu deiner Feier.»

«Die ist eh erst spät.»

«Trotzdem. Willst ja nicht nach Stall stinken.»

«Ich mach’s aber gerne. Ich brauch ja die Erfahrungen. Hast du selbst gesagt.»

«Aber ja nicht jeden Tag. Lass mich das morgen machen. Du dann Sonntag wieder, wie geplant.»

Jannes denkt an die Abdrücke im Sand. Er denkt, wenn er sie schon nicht unterscheiden kann, wie soll sein Vater es dann in seinem Zustand? Was würden sie auslösen bei ihm? Wie soll er die Tiere zählen, den Überblick behalten? Wieder malt er sich Szenarien aus: Wie sein Vater vergisst, dass er die Tiere gezählt hat, wie er es immer wieder tut, wie er Zahlen auslässt, wie er wahnsinnig wird, weil es nie aufgeht, wie in seinem Inneren der Gedanke gärt, dass ein Tier fehlt. Was dann passiert, hat Jannes erst zweimal miterlebt. Sein Vater verwandelt sich zu einem anderen Mann. Er wird herrisch, mit wild aufgerissenen Augen und zu lauter Stimme. Als würde sein Körper jede Angst sofort in Wut umwandeln. Dann würde jede Pfote im Sand sofort und unwiederbringlich verdächtig groß und wölfisch. Jannes sagt nichts davon, stattdessen:

«Die haben doch gesagt, das kann vom Stress kommen.»

«Was meinst du?»

«Ihr», sagt Jannes, macht eine Pause, wägt seine Worte ab, «wart ja nicht einfach so da heute.»

Jannes wagt es nicht, seinem Vater dabei ins Gesicht zu sehen. Er will es nicht sehen, das Ringen und Runterschlucken.

«Ach, das. Hab ich doch nur gemacht, damit deine Mutter endlich mal Ruhe gibt. Weißt du doch selbst. Ist doch lächerlich wegen so was.»

«Und warum dann noch zum Neurologen?», fragt Jannes.

Stille. Jannes ist sich sofort unsicher, ob sein Vater diese Information gerade zum ersten Mal gehört hat, ob die Ärztin das vielleicht nur seiner Mutter erzählt hat. Warum sollte sie das machen? Das wäre ein schlechtes Zeichen, oder nicht? Als er sich irgendwann überwindet und von seinen Socken hochschaut, hat sein Vater den Blick gesenkt. Jannes tut er schrecklich leid, und das macht ihn wütend.

«Das ist doch kein Stress», sagt Friedrich dann. «Die Arbeit mit der Herde, das ist doch das Gegenteil von Stress. Zumindest für mich. Solltest du wissen.»

«Ja», antwortet Jannes.

Dann schweigen sie, Jannes atmet lange aus, dann spricht er weiter, mit langen Pausen, jeder Satz ein Fels, den er über einen Berg wuchten muss.

«Ich mein nur. Wegen allem. Auch den Rissen und so. Muss man jetzt ja nicht fünfmal die Woche raus.»

«Was? Wieso? Was ist passiert?», fragt sein Vater.

«Nichts. Gar nichts. Ich mein ja nur, an sich, die Zeit jetzt. Das ist ja schon stressig.»

«Was? Dass die hier seit Monaten ungehindert die Tiere wegholen? Und keiner was macht?»

«Ja, auch.»

«Es ist mörderisch.» Er macht eine Pause. «Hier. Blauäugig. Mensch. Blauäugig, dass die das einfach zulassen. Die lassen uns ja ganz alleine damit.»

Jannes schweigt. Mit jedem Wort wird Friedrichs Stimme lauter und schneller.

«Aber das brauch ich ja mit dir nicht zu bereden», fügt er hinzu. «Weißt du ja selbst alles.»

«Ja, Papa.»

«Und ich bin ja auch wirklich der Letzte, der das kritisiert. Streite ich mich ja auch gerne mit deinem Großvater drüber. Aber dass die uns so alleine lassen. Das ist das Schlimme. Das ist Wahnsinn. Jannes. Ich könnte jetzt einmal durch die Dritten schalten und kriege da mindestens einen Beitrag über die süßen Wolfswelpen. Mama Wolf und Papa Wolf, die sich rührend um den Nachwuchs sorgen. Ja. Aber wo sind wir?»

«Papa. Keine Ahnung.»

«Ja. Eben. Keine Ahnung. Die hat nämlich anscheinend keiner mehr hier. Ich mag die Filme ja auch gerne sehen, aber dann sollen die auch mal zeigen, was der Preis dafür ist. Ein Wahnsinn ist das doch.»

«Papa», sagt Jannes und versucht ihn zu beruhigen: «Zum Glück gab’s bei uns noch keinen Riss.»

«Was?» Sein Vater braucht eine Weile, um sich zu fangen.

«Ja. Ja, zum Glück.»

«Papa?»

«Ja?»

«Ich geh morgen raus, in Ordnung?»

«Ja, ist gut. Wieso nicht?»

Jannes schließt die Augen.

2

Jannes träumt unzusammenhängend und schlecht. Ein Klopfen am Fenster reißt ihn aus dem Schlaf, sein Herz rast. Immer wieder redet er sich ein, dass da draußen niemand sein kann. Doch er kann sich nicht überwinden, nachzusehen, hält die Augen fest geschlossen.

Nach dem Aufwachen spürt er den Nachhall des Traums in Knochen, Fleisch und Geist. Wind dröhnt ums Haus, presst gegen das Fensterglas, an der Decke zittert Schattenlaub. Er atmet durch die Nase, seine Ohren schmerzen, und seine Kiefergelenke knirschen, als hätte etwas Sand darin abgelagert. Er blendet sich selbst mit seinem Smartphone, regelt die Helligkeit aufs Minimum. Keine Neuigkeiten. Freitag, 31.10.2014, 06:07. Er schreibt in die Whatsapp-Gruppe mit Phillip und Fynn, die sie seit der Berufsschule haben, havana brigade division südheide, fragt, wann die beiden heute Abend loswollen und wo sie sich zum Vorglühen treffen werden. In T-Shirt und Boxershorts steht er auf, schnappt sich den Teller mit dem kalten Auflauf vom Schreibtisch und isst ihn auf der Bettkante sitzend mit den Händen.

«Morgen», sagt Jannes, als er die Küche betritt.

«Moin, Junge.»

Wilhelm sitzt am Tisch, auf der Sitzecke aus dunkler Eiche, das dünne, weiße Haar angefeuchtet und nach hinten gekämmt, die Lesebrille auf der riesigen Nase, vor ihm auf dem Tisch die aufgeschlagene Cellesche Zeitung. Es riecht nach über Nacht erkaltetem Fett, nach Filterkaffee und Tee, dem Papier und der Tinte der Zeitung, nach dem Staub in den Polstern. Jannes schenkt sich eine Tasse ein, kippt einen Schuss H-Milch dazu, setzt sich seinem Großvater gegenüber.

Wilhelm dreht die Zeitung zu Jannes, einen Finger auf einem Artikel aus dem Lokalteil. Er schaut ihn über den Rand der Brille an.

«Pack das bloß weg», sagt Jannes.

«Vom Weggucken wird’s nicht besser.»

«Wusst ich noch gar nicht.»

«Tja.» Sein Großvater faltet den Lokalteil, legt ihn beiseite. «Drei Rudel. Eins drüben in Bergen, eins oben in Munster und jetzt auch noch auf dem Fabrikschießplatz. Und unser Umweltminister findet das natürlich herzallerliebst. Ein großer Erfolg für den niedersächsischen Naturschutz.»

«Wenn die man da bleiben würden.»

«Granaten und Panzergeschosse werden die wohl nicht fressen. Blöd sind die Viechers ja nun nicht.»

«Leider nicht», sagt Jannes.

«Vielleicht musst du nu doch noch in den Verein eintreten. Das Schießen gehört ja wohl bald zur Arbeit dazu. Wie bei den Cowboys in den Staaten. Kannst du schon mal üben.»

«Ihr sauft da doch mehr, wie ihr schießt.»

«Ha.» Wilhelm lacht auf. «Lass man einen von den Viechern bei einem Schützen übern Hof laufen. Da läuft der aber kein zweites Mal.»

«Müsst ihr da nicht vorher erst mal ein Protokoll verlesen?», sagt Jannes.

«Du bist wieder ein ganz Schlauer heute Morgen. Am Ende rührst du auch nur inne Köttel rum wie wir alle.»

Wilhelm widmet sich den Todesanzeigen und dem beiliegenden Netto-Prospekt. Unter seinem Wollpullover ragt der Kragen eines seiner alten, verwaschenen Arbeitshemden hervor, ohne die Jannes ihn nie gesehen hat. Auf der Brust zeichnen sich unter dem Stoff die Formen eines Bleistifts und zweier Schraubenzieher ab. Solange Jannes sich erinnern kann, scheint Opa Wilhelm immer etwas zu reparieren. Eine alte Lampe außen am Stall, auf einer wackeligen Leiter stehend, Kabelstücke im Mund, die Kneifzange in der Hand. Opas spiegelnde Brillenovale über dem zerlegten Radio auf dem Küchentisch. Dicke, schwielige Finger. Wie er Jannes’ Bobby-Car-Anhänger mit dem blauen Pressgarn der Heuballen zusammenflickte. Ein Meerschweinchenstall aus altem Hühnerdraht. Ein Flitzebogen, eine kleine hölzerne Flinte, die mit einem Gummizug Erbsen und Bohnen verschoss.

«Opa? Die wollen ja bald auch Hunde fördern. Könnte man auch mal überlegen», sagt Jannes.

«Futter wollen sie einem aber nicht bezahlen, so wie ich das verstanden habe. Diese Riesenbiester fressen dir ja die Haare vom Kopf. Und Arbeit ist es obendrein.»

«Aber vielleicht hilft’s ja.»

«Hilft bestimmt. Die Frage ist ja aber, ob es sich auch lohnt. Helfen tut einiges. Helfen würd’s auch, denen ihre Gebiete zu lassen, aber dann eine vorn Latz knallen, wenn sie rauskommen. Sonst lernen die ja, dass sie alles machen können.»

«Na ja.»

«Klingt wieder nur schlimmer, wie es dann ist. Wenn man denen einmal zeigt, wie es zu laufen hat, braucht man kein Steuergeld für Zäune, Hundefutter und Entschädigungen verpulvern. Weißt du ja selber, die Viechers sind ja blöde nicht. Die lernen das schon, funktioniert woanders ja auch. Jedem seinen Lebensraum. Da würden alle besser mit durchkommen. Aber wenn du heute so was sagst, kommen ja gleich die Tierfreunde aus der Stadt wieder an und wollen dir den Kopp abhacken. Ist doch so.»

«Opa.»

«Ist doch so. Auf der Heide gehören Heidjer und Schnucken. Wölfe nicht. Klappt nicht. Hat nie geklappt.»

«Früher gab’s doch Wölfe hier.»

«Und die hat man aus gutem Grund gefürchtet und ausgerottet. Und wenn sich doch mal einer her verirrt hat, wie damals ’48.»

«Ja. Ist ja gut.»

«Da ist aber einer mucksch heute. Iss man erst mal dein Brot.»

Dann schweigen sie. Wilhelm trinkt aus seiner Naturparktasse. Jannes greift nach einer Brotscheibe und belegt sie mit Käse, obwohl er eigentlich keinen Hunger mehr hat. Seine Mutter kommt in die Küche, einen türkisenen Cardigan über ein Schlafshirt geworfen. Ihre Pantoffeln sind schmuddelige Schafsgesichter, die bei jedem Schritt mit einem flüsternden Geräusch über den Vinylküchenboden schlurfen. Friedrich hat sie ihr vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt und sie trägt sie seitdem jeden Morgen, ausnahmslos. Jannes erinnert sich, wie sein Vater ihr die schlecht eingepackten Puschen mit den unter Kichern hervorgebrachten Worten Für meine kleine Schnucke überreichte, woraufhin sie nach dem Auspacken nur Ernsthaft? antwortete, mit diesem halb ernsten Augenrollen, das seinen Vater wie immer zum Grinsen brachte und seine Mutter dann schließlich zum Lachen. Obwohl es Jannes damals unendlich peinlich war, denkt er nun gerne daran.

«Moin, Männer.» Sibylle wendet sich an Jannes. «So früh musst du auch nicht los.»

«Dachte, ist vielleicht besser mit dem Wetter.»

«Ja, vielleicht. Warte. Ich mach dir Brote.»

Draußen schlägt ihm die feuchte Luft entgegen. Der Wind ist nicht kalt, aber klatscht ihm den Regen fast horizontal ins Gesicht. Seltsames Wetter, denkt er. Während er über den Hof zum Stall geht, spürt er die Gummistiefelschäfte durch den Stoff der neuen regendichten Arbeitshose an den Waden scheuern. Unter den fünf Königsscheiben, deren Holz jetzt im Regen quillt, bleibt er stehen und pfeift nach den Collies.

Die Geräusche des Stalls beruhigen ihn. Das von Wand zu Wand rollende Blöken, das wie von einem Regler hochgedreht anhebt, sobald er eintritt, Strohrascheln, das Surren der Halogenlampen, irgendwo kracht ein Horn gegen ein Holzgatter. Das Brummen der Lüfter. Der bekannte Geruch der Schnucken nach feuchtem Stroh und Mist, die Wärme der Tiere.