Von nun an geht's bergauf - Wolfgang Schaub - E-Book

Von nun an geht's bergauf E-Book

Wolfgang Schaub

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Beschreibung

»Freistaat Flaschenhals«, Mönchsrepublik Athos und Baschkortostan: Der Pensionist und Abenteurer Wolfgang Schaub erkundet auf seiner zwölfjährigen Reise quer durch Europa die höchsten Erhebungen aller Staaten und autonomen Gebiete. Ein delikates Unterfangen, bei dem sich der vermeintliche Höhepunkt in Luxemburg als flacher Acker entpuppt und die Suche im Vatikan beinah einen internationalen Eklat auslöst. Und bei dem der Rentner in Tatarstan ins Visier des Geheimdienstes gerät, auf einem staatenlosen Fels im Atlantik Unterstützung von Greenpeace-Aktivisten erhält und für einen der Berge sogar auf Tauchgang geht. Der Autor nimmt uns mit auf eine bizarre Reise durch unseren Kontinent – für alle, die auch im gesetzten Alter noch Gipfel stürmen wollen.

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www.piper.de

Mit 43 farbigen Fotos und einer Karte

Mit einem Vorwort von Dominik Prantl

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96681-8

© Piper Verlag GmbH, München 2014 Redaktion: Antje Steinhäuser Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de Covermotiv und Fotos im Bildteil: Wolfgang Schaub Karte: cartomedia, Karlsruhe Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

DIE WAHRE ENTDECKUNGSREISE BESTEHT NICHT DARIN, DASS MAN NEUE LANDSCHAFTEN SUCHT, SONDERN DASS MAN SIE MIT NEUEN AUGEN SIEHT.

– MARCEL PROUST

Vorwort:Der Vogel des Herrn Schaub

Mal ehrlich, kennen Sie Inguschetien? Nein? Wie steht es mit Baschkortostan, Kalmykien, Rockall, Tschuwaschien? Noch nie davon gehört?

Ein kleiner Trost vorweg: Sie sind nicht allein. Garantiert.

Wolfgang Schaub kennt diese Orte nicht nur vom Hörensagen. Er war schon dort, denn er hat die höchsten Punkte Europas bestiegen. Bei ihm bedeutet das: nicht nur die höchsten Berge der – je nach Zählweise – etwa 50Staaten, sondern auch all der unabhängigen Regionen und Ländereien des so facettenreichen Kontinents. Unter »unabhängig« versteht Schaub unter anderem Gegenden, die einem Roman von Michael Ende entspringen könnten – Kalmykien, Tschuwaschien und Mordwinien etwa –, aber auch Helgoland, die Enklave Büsingen oder Memelland. Um all die Berge überhaupt einmal aufzulisten, stellte sich Schaub vor jedem Gipfelgang Fragen wie: Was ist Europa? Wann ist ein politisches Gebilde autonom? Wie finde ich den höchsten Punkt?

Viele Menschen, die davon erfahren, stellen sich dagegen höchstens Fragen wie: Hat der Mann einen Sprung in der Schüssel? Alle Nadeln an der Tanne? Oder doch einfach einen gewaltigen Vogel? Mir selbst ging es jedenfalls ein bisschen so, als ich Wolfgang Schaub für einen Beitrag in der »Süddeutschen Zeitung« einmal zu seinem Tun befragte.

Nun ist das mit dem Vogel im Oberstübchen so eine Sache. Allein die Geschichte des Bergsteigens ist voll mit Menschen, die zu der Zeit ihres Wirkens, so gar nicht normal schienen. Im Jahre 1786 zum Beispiel bestiegen Jacques Balmat und Michel-Gabriel Paccard als erste Menschen den Montblanc, den höchsten Berg der Alpen. Den beiden glückte diese Pionierleistung auch deshalb, weil sie nicht wie üblich aus geringer Höhe starteten, sondern den Mut besaßen, auf dem Gletscher zu übernachten. Komplett irre! Denn ein derartiges Biwak im Eis galt damals als garantiert todbringendes Vorhaben, was die beiden selbstverständlich widerlegten. Als Reinhold Messner und Peter Habeler 1978 den Mount Everest ohne Flaschensauerstoff bestiegen, rangierten die beiden bei vielen irgendwo zwischen geistesgestört bis hochgradig suizidgefährdet. Beide avancierten anschließend zu zwei der gefragtesten Vortragsredner der Alpinszene. An der Voreingenommenheit der Menschen gegenüber neuen Ideen hat sich in rund 200Jahren trotz all der Aufklärung und wissenschaftlicher Fortschritte also wenig getan.

Meistens ist es doch so: Jahre später werden jene Menschen, die gestern noch als verrückt galten, gerne als Visionäre verklärt, weil sie auf den Everest gerannt und zum Südpol gewandert sind oder eine vorgestern noch völlig unmögliche Wand ohne Sicherung durchstiegen haben. Und interessanterweise definiert sich auch der Begriff »Abenteuer« maßgeblich über das Verlassen der eingetretenen Pfade, des gewohnten Umfelds und der üblichen Verhaltensformen. Was für die einen also völlig verrückt erscheint, ist die Vision und das Abenteuer des anderen.

Oder anders: Der Sprung in der Schüssel ist relativ.

Nun muss und kann auch nicht jeder dank Everest, Südpol oder Steilwand unsterblich werden. Ein Abenteuer, das Ausscheren aus dem, was gemeinhin als normal erachtet wird, funktioniert auch in kleineren Dimensionen. Im Harz gibt es beispielsweise einen Mann mit dem Künstlernamen Brockenbenno, der seit mehr als 20Jahren auf den Brocken rennt. Fast täglich. Bei Regen, Schnee, Sturm. Er war inzwischen Tausende Male oben. Irgendwie scheint diese Sisyphusrolle eines Rentners die Menschen zu faszinieren, vielleicht weil er gerade mit dieser Routine einen Kontrast zum Hamsterradalltag bedeutet. Die Öffentlichkeit sucht die Nähe des Brockenbenno, erklärt ihn zum Vorbild, wenn auch nur indirekt: Er wurde gefilmt und befragt, wanderte mit Ministerpräsidenten und dem Messnerreinhold, erhielt die Ehrennadel des Landes. Auf seiner Website hat der Brockenbenno ein Zitat von Heinrich Heine platziert: »Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.« Er kokettiert mit seinem Ausscheren aus der Norm. Er kann sich sicher sein: Keiner kennt den Berg wie ich. Ich bin ein Unikat.

Auch Wolfgang Schaub weiß, dass er als Rentner nicht mehr auf die höchsten Berge dieser Erde steigen kann. Es gibt Jüngere, Schnellere, Fittere. Aber ihnen deshalb die gesamte Spielwiese namens »Abenteuer« überlassen, ausgerechnet in einer Zeit, in der die Grenzen, die das Alter setzt, immer weiter ausgedehnt und -getestet werden? Außerdem geht es Schaub weniger um die sportliche Herausforderung als um den Sammeltrieb. Und er braucht ein größeres Ganzes als Ziel bei seinem Ausscheren aus dem Hamsterrad, etwas, das er selbst als »eine Überschrift« bezeichnet. Hinzu kommt sein Faible für die Geografie, die Lust am Lesen von Landkarten. Während eines Vorhabens, bei dem Orte wie Inguschetien, Kalmykien oder Tschuwaschien eine Rolle spielen, bekommt das Studieren von Grenzen und Höhenlinien einen ganz anderen Wert als bei einem Wanderweg im Bayerischen Oberland. Hinweistafeln und Pfade sind in vielen Regionen Osteuropas eher spärlich gestreut, und die Tourensammlung über »Die Hausberge Baschkortostans« wartet wohl noch in den Schubladen der hiesigen Verlage auf die Erstauflage. Jedenfalls ließ sich das Werk trotz eingehender Recherche des Autors dieser Zeilen selbst in der Originalsprache nicht auftreiben, von einer deutschen Übersetzung ganz zu schweigen.

Oft musste Schaub erst einmal den höchsten Punkt einer Region definieren. Das Finden seiner höchsten »Berge« und das Hinkommen in einem Subaru Libero oder Opel Combo – Transportmittel wie Hüttenersatz gleichermaßen – wurden zum wichtigen Teil des Abenteuers. Schaub tauchte zu versunkenen Kuppen, durchquerte Bärenreviere und schlich sich in militärische Sperrgebiete. Die Berge an sich? Sind nur noch Endpunkte und Ansporn, seine persönliche Überschrift gewissermaßen. Und so entwickelte sich Wolfgang Schaubs Vorhaben zu weit mehr als einem bloßen Abhaken einzelner Gipfel. Er selbst sagt: »Das Unternehmen wurde bald zu einer Beschreibung Europas in seiner ganzen Spleenigkeit.« Schaub darf sich sicher sein: Keiner hat Europa so entdeckt wie ich. Ich bin ein Unikat. Ich habe die eingetretenen Pfade verlassen.

Ja, Schaub ist ein Abenteurer.

Wie war der Satz des Heinrich Heine noch mal? »Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.« Vielleicht gibt es ja den ein oder anderen Leser dieses Buches, der Wolfgang Schaubs Leidenschaft nach der Lektüre ein bisschen besser nachvollziehen kann, es ihm vielleicht sogar nachtun will. Jedenfalls ist der Mann garantiert nicht viel schwerer zu verstehen als all jene, die mithilfe von Sherpas auf Achttausender hecheln oder sich am Sonntag in die Kolonnen auf die Münchner Hausberge einreihen.

– FRÜHJAHR 2014, DOMINIK PRANTL

Mein Traum vom Siebentausender:Pik Lenin

Die Idee wurde in der Nacht vom 13.August 1999 geboren. An einem Freitag, den Dreizehnten! Das war die Nacht, in der Pik Lenin starb.

Wir waren eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Bergwütigen, die sich alle in den Kopf gesetzt hatten, diesen »leichtesten aller Siebentausender« im kirgisischen Pamir zu bezwingen. Zu uns gehörten ein Organisator, Christiane, die Lehrerin, ein unermüdlicher Fanatiker, der schon zum zweiten Mal gegen den Pik Lenin anrannte, ein Sozialarbeiter, ein Augenarzt, der genauso blind war wie wir alle, Edwin, immer um die wissenschaftliche Begründung all dessen, was wir taten, bemüht, Heinz-Peter, der uns gelegentlich ein Liedchen sang, wenn es gar zu karg zu werden drohte – und ich. Wir kannten uns vorher nicht, hatten keine Ahnung, ob und wie wir zusammenpassten. Nur eines verband uns: Es war vielleicht unsere letzte Chance, jemals auf einem Siebentausender zu stehen. Die Sieben vor den drei Nullen musste es sein, weniger war uninteressant. Und das nur, weil wir in Metern maßen. Jede andere Maßeinheit hätte den Pik Lenin wertlos gemacht.

Nachdem wir uns einigermaßen akklimatisiert und bereits die ersten Durchfälle und Schwächeperioden im Basislager Atschik Tasch hinter uns gebracht hatten, waren wir voller Elan und mit schweren Rucksäcken auf das vorgeschobene Lager in 4200Meter Höhe aufgestiegen. Wenig später hatten wir außerdem unsere Vorräte auf Lager 1 angelegt, das in 5200Metern der eigentliche Ausgangspunkt für die letzten Etappen zum Gipfel hätte werden sollen. Schlau, wie wir waren, hatten wir die Vorräte hoch- und uns selbst wieder runtergeschleppt: »Walk high, sleep down«, oder so ähnlich zitierte Edwin wissend aus dem Katalog der Höhenbergsteigerweisheiten.

Die Sonne brannte gnadenlos in den Schneekessel zwischen dem Advanced Base Camp (ABC) und dem Lager 1. Um wieder zu Kräften zu kommen, hatten wir uns ins ABC zurückgezogen. Es stand ein Ruhetag auf dem Plan: Wir wechselten Strümpfe, rieben uns mit Schnee ab, aßen uns satt, tranken unsere täglichen vier Liter Wasser und packten um. Dabei fuhren wir ständig mit unseren Blicken die Aufstiegsspur durch den Schneekessel entlang, denn wir konnten es kaum erwarten.

Am Nachmittag des 12.August begann es zu graupeln – das war neu, aber sicher nichts Ungewöhnliches. Edwin zog eine plausible Schlussfolgerung: Wo würde sonst der viele Schnee herkommen, der den Berg bedeckte? Das hörte bestimmt bald wieder auf.

Ein Blitz fuhr in der Ferne nieder, über der Alataukette jenseits des Alaitals. Krachender Donner. Gewitter ist normal im Sommer – auch das geht wieder vorbei.

Es graupelte aber weiter, den ganzen Nachmittag lang. Allmählich setzte die Dämmerung ein. Der Abend nahte, und es graupelte stärker. Atyun, unser russischer Koch, holte die Schneeschaufel aus seinem Zelt und machte zum ersten Mal die Runde, um kleine Verbindungswege zwischen unseren Zelten freizuschaufeln. Ich teilte mir ein Zelt mit dem Sozialarbeiter, irgendwie kamen wir uns wie in einem Gefängnis vor. Er erzählte von seiner Arbeit in Berlin.

»Was ist das für eine Erfahrung, wenn man einige Zeit im Gefängnis verbringt?«, wollte ich wissen.

»Oh, besser nicht«, warnte er. Wir einigten uns darauf, dass das genauso schlimm sei wie hier am Pik Lenin, eingeschneit im Zelt.

Als wir uns zum Schlafen zurückzogen, begann es richtig zu schneien. Ich hoffte, am nächsten Morgen würde wieder die Sonne scheinen, dann sollte es endgültig hinauf zu Lager 1 gehen.

In der Nacht wurde ich wach, weil ich keine Luft mehr bekam. Ich musste unbedingt raus. Doch der Zeltausgang war komplett zugeschneit. Beim Klopfen an die Zeltwand lösten sich kleine Lawinen, und der Reißverschluss ließ sich nur mit Mühe öffnen. Draußen herrschte völlige Stille. Ich taumelte und blieb bis zu den Knien in dem weißen Pulver stecken. Der Himmel darüber war schwarz, kein einziger Stern. Und immer dieses sanfte Geriesel um mich herum, fallender Schnee …

Ich kroch zurück in meinen Schlafsack. Was kümmerte mich der Schnee, ich wollte einfach nur weiterschlafen. Am nächsten Morgen würde es wieder besser sein.

4Uhr: Ich musste ein zweites Mal hinaus. Die Zeltplane am Ausgang wurde mittlerweile von den Schneemassen heruntergedrückt. Sie ließen sich nicht mehr von innen wegschlagen. Als ich den Reißverschluss aufzog, sah ich nur noch Weiß – bis oben hin. Energisch musste ich mir einen Weg nach draußen bahnen.

Das war’s. Den Rest der Nacht wartete ich nur noch auf den Morgen. Als es gegen 7Uhr immer noch dunkel war im Zelt, riss ich es mit Gewalt auf und befreite es vom Schnee. Gleißendes Licht blendete mich. Es schneite nicht mehr – blauer Himmel, Sonne! Von den Nachbarzelten war nicht mehr viel zu sehen, der Schnee hatte sie alle zugedeckt. Atyun stand mit der Schaufel am Küchenzelt und grub. Fröhlich grüßte er aus den ein Meter hohen Gängen herüber: »Dobroje utro – guten Morgen! Otschen horoschó – alles gut!«

Edwin stellte wissenschaftlich fest, was wir alle längst ahnten: »Die Verbrauchsgeschwindigkeit unseres energetischen Potenzials steigt dramatisch, wenn wir jetzt aufbrechen.« Das wäre in der Tat keine gute Idee gewesen, zumindest nicht in diesem Schnee. Abwarten also, bis sich alles gesetzt hatte, es war ja nur ganz lockeres Pulver. Aber auch abwarten, bis die Lawinen abgegangen waren.

Langsam begriffen wir: Das könnte an die vier Tage dauern. Vier Tage erzwungene Ruhe. Was würde das für Auswirkungen auf unseren Zeitplan haben? Rechnen. Abwägen. Oh je, vielleicht blieb uns nur eine einzige Chance – im letzten Moment. Hoffen.

Den ganzen Tag über schien die Sonne, bevor sich am Nachmittag die Wolken wieder zuzogen. Am Abend schneite es erneut, und die Nacht war wie gehabt: Schnee, Schnee, Schnee. Am Morgen des 14.August hatte sich über den Neuschnee von gestern noch einmal ein halber Meter gelegt. Nun war alles zu spät, alle unsere Versuche, gegen den Riesen anzutreten, waren gescheitert. Unser Führer und Christiane, die Lehrerin, kehrten immerhin erst gut 300Meter unterhalb des Gipfels um. Ich selbst folgte auf 5800Metern der höheren Einsicht, dass mir die Kräfte ausgingen und ich einfach zu langsam geworden war. Und wenig später schickte sich der Berg wieder an, im kristallklaren Zwielicht der Dämmerung in eisiger Schönheit auf uns herabzustarren. Er hatte uns gezeigt, wer der wahre Meister war, und die Stimmung hielt sich gerade noch zwischen der Ernüchterung, dass wir nicht mehr wollten, und der Erleichterung, dass wir nicht mehr mussten, als die morsche Moral vollends zusammenbrach: »Nie wieder«, stieß der Augenarzt hervor, und danach hörte man im Zelt nur noch Rascheln und Knistern vom Zusammenpacken.

Pik Lenin ade. Die ganze Vorbereitung, das Üben an Eiswänden, die langen Trainingsläufe, die unmenschliche Anstrengung, alles umsonst. Kein Siebentausender also – ich musste mir etwas Neues einfallen lassen.

Vom Spleen zum Projekt:Mein fünftes Leben

Wie war ich eigentlich zum Bergsteigen gekommen? Die Odenwaldberge um das heimatliche Heidelberg herum sind nicht der Rede wert. Und doch: Von unserer Wohnung konnte man den Heiligenberg sehen. Keltische Ringwälle umschlossen seinen Doppelgipfel. Die Römer hatten dort oben einen Altar errichtet, und später betrieben Mönche zwei Klöster auf seinen Kuppen. Schon früh hat sich da wohl eine Vorstellung von Bergen als Kultstätten gebildet, dass man auf ihnen beten kann, dass sie spirituelle Erfahrungen verheißen, zu denen ich in der ebenen Stadt nicht fähig war.

1952, als ich acht Jahre alt war, nahmen mich meine Eltern zu ihrem ersten Sommerurlaub nach dem Krieg ins Kleinwalsertal mit. Die Güntlespitze war mein erster Zweitausender. Heulend vor Widerwillen bewältigte ich den Aufstieg. Zu heiß schien die Sonne, zu langweilig waren die Grashänge. Doch oben auf dem Gipfel entdeckte ich ein Schneefeld, im August! 2092Meter – die erste Marke war gesetzt. Im selben Sommer folgte der Widderstein: 2536Meter. Ich weiß die Daten heute noch auswendig. Höhenangaben wurden plötzlich wichtig, denn für mich bedeuteten sie ein Leistungsmerkmal, einen Maßstab.

Das Kleinwalsertal reichte mir bald nicht mehr. Mein Vater hatte im Atlas einen interessant klingenden Namen entdeckt: Schesaplana im Rätikon. Eine weitere Etappe auf dem Weg nach oben: 2963Meter. Sie fiel 1957 im Sturm. Wir überquerten einen kleinen Gletscher, den Brandner Ferner, und das nach einer wildromantischen Hüttennacht in der damaligen Straßburger, heute Mannheimer Hütte. Die Dreitausendermarke war plötzlich zum Greifen nahe.

Meine ersten Berge dieser Größenordnung bestieg ich 1961: den Nederkogel im Ötztal, kurz danach die Kreuzspitze. Mit 3457Metern war das einer der letzten auf markierten Wegen erreichbaren Gipfel der Alpen. Doch von hier oben sah ich die nächsten Ziele schon majestätisch vor mir stehen: im folgenden Jahr der Similaun, ein gleichmäßiges Dreieck aus leuchtendem Schnee am Ende des Niedertals, unübertroffen rein und klar: 3606Meter, Höhepunkt der Berganbetung. Mittlerweile war ich 18Jahre alt, stand voll im Saft, und nichts konnte mich halten. Nur mit Mühe ließen sich meine Eltern noch überreden mitzumachen, mitzugehen auf den göttlichen Berg – auch gegen die Bedenken meines Vaters. Ab jetzt führten keine markierten Wandersteige mehr hinauf. Ab jetzt musste ich auf meiner Jagd nach Höhenrekorden die gewohnten Pfade verlassen.

Drei Tage später erklomm ich die Wildspitze mit 3774Metern. »Wannds aufm Similaun warts, könnts a uff die Wildspitzn«, hatte ein alter Bergführer in Vent verlauten lassen. Er kannte die Situation: junger Mann mit besorgten Eltern. Nur meine Mutter war hier noch mitgegangen.

1963 bestieg ich den ersten Viertausender, den Mönch im Berner Oberland, mit Führer. 1964 das Breithorn bei Zermatt. Dann begegnete ich Anje, 1966 in Berlin. Sie war damals im Wanderverein des Teutoburger Waldes. Aber wie konnte sie meine Frau werden, ohne dass sie auf »richtige« Berge stieg? Ich musste ihr wohl zu begeistert von meinen Großtaten berichtet haben. Sie besuchte jedenfalls schnellstens und ohne mir etwas davon zu verraten einen Kletter- und Eiskurs, und als wir uns wiedertrafen, war sie fit und bereit, alles mitzumachen, was mir gerade im Sinne stand: die Viertausender der Alpen.

Zusammen folgten 1967 Gran Paradiso und Dufourspitze und 1970 Dôme de Neige des Écrins zum »Eingehen« und das Matterhorn auf der Hochzeitsreise. Das Limit in den Alpen war fast erreicht. Das Ende meines Studiums ebenso. Und der Eintritt ins Berufsleben legte mich erst einmal für eine Weile lahm. Der nächsthöhere Berg außerhalb der Alpen war der Ararat im militärischen Sperrgebiet in der hinteren Türkei. Das roch nach Abenteuer, doch unser erster Sohn kündigte sich an – und drei Jahre danach der zweite. Ich war als Familienvater gefragt. Kein Platz mehr für Berge? Kein Ararat?

Zunächst schien das so. Der Ararat sollte auch erst 1990, 20 Jahre später, folgen. Es war Anjes einziger Fünftausender. Dann war ihre Grenze erreicht. Aber sie war für die Idee gewonnen; danach hielt sie mental mit und unterstützte mich nach Kräften, wenn ich manchmal wochenlang von zu Hause weg war.

Doch schon vorher kam eine rettende Lösung für meine Bergsucht von ganz anderer Seite: Meine Firma war unvorsichtig genug gewesen, mir eine Stelle anzubieten, bei der Dienstreisen nach Übersee nötig waren. In Lateinamerika folgten so 1974 der rauchende Popocatépetl und 1977 der Pico de Orizaba, der Sternenberg. Das waren schon veritable Fünftausender, abgehakt im Schnellgang zwischen geschäftlichen Terminen, immer Bob Dylans »Knockin’ on Heaven’s Door« als Mantra im Ohr. Alles ohne spezielles Bergsteigergepäck, alles ohne besonderes Training, alles ohne Akklimatisation, alles allein.

Per Dienstreise folgte Ecuador: 1979 der Cotopaxi, der angeblich höchste aktive Vulkan der Erde, auf alten Atlanten mit 6005Meter Höhe verzeichnet. Beides trifft nicht zu, wie ich erst später herausfand. Die Kriterien sind aber auch schwammig und bieten keine klaren Anhaltspunkte. 5897Meter jedenfalls soll der Cotopaxi heute nur noch hoch sein – behaupten zumindest neuere Karten. Deshalb musste ich mit einem unumstrittenen Sechstausender nachhelfen.

1980 folgte also der Chimborazo mit 6310Metern, ein gewaltiger Bolzen. Es ist der höchste Berg der Erde, vom Erdmittelpunkt aus gemessen. Jawohl! Die Fliehkraft der Erde beult die Erdkruste entlang des Äquators, wo die Drehgeschwindigkeit am höchsten ist, deutlich aus. Deswegen sind Berge wie Chimborazo und Kilimandscharo vom Mittelpunkt der Erde weiter entfernt als der Mount Everest, den ich sowieso nie erreichen würde. Was kümmerte mich also, von wo aus die Höhe sonst gemessen wird? War das das Höchste, was ich jemals erreichen konnte? War das mein Ziel?

Natürlich hätte ich mich damit zufriedengeben können. Es gab keine höheren Berge mehr, die ich auf Dienstreisen so nebenbei hätte besteigen können. Jetzt gab es nur noch »ernste« Ziele. Und für die musste ich mich sorgfältig vorbereiten, trainieren, akklimatisieren sowie regulär Urlaub nehmen.

Die Selbstbeweise wurden immer schwieriger und ich immer älter. Doch ich wollte es noch einmal wissen.

Dreimal bin ich gegen den Aconcagua angerannt, den höchsten Berg außerhalb Asiens, einen ungeheuren Brocken an der argentinisch-chilenischen Grenze. Beim dritten Mal, endlich, gelang es mir, alle Faktoren in Einklang zu bringen: die eigene Verfassung, die Akklimatisation, das Wetter, den Wind, die Kälte, alles stimmte am entscheidenden Tag. Und außerdem war ich allein, ungestört, Herr meiner selbst: Das Beste für ernste Unternehmungen! Das Dumme ist, dass irgendwann auch die Höhe des Aconcagua neu vermessen wurde. Hätte man doch die alten Angaben gelassen, nach denen er 7010Meter hoch war! Jetzt, da man Satelliten hatte, eröffneten sich plötzlich neue Messmethoden, und alles geriet ins Wanken: Der »Aco« war nur noch 6962Meter hoch! 38Meter fehlten zur magischen Grenze! Wenn es also jemals noch etwas an der verdammten Höhenfront zu holen gab, musste es ein einfacher Siebentausender sein, einer wie der Pik Lenin etwa, der schon in Katalogen vermarktet wird und auf den offenbar jeder hochkommt, der nur ein bisschen seine Knochen beisammenhält.

Und wieder musste ich hecheln, keuchen, schlecht schlafen, Kopfweh und Schwindel, Hunger und Durst, Kälte und Hitze ertragen. Immer wieder neu – das forderte die Sucht.

So langsam begriff ich, dass Höhe allein nicht das eigentliche Ziel sein konnte, so schön es auch war, mir trotz fortschreitenden Alters immer wieder zu beweisen, dass es noch höher ging. In der Nacht des Freitags, des Dreizehnten, war der Scheitel erreicht. Ab jetzt ging es endgültig bergab. Was sollte in meiner verbleibenden Zeit noch kommen? Was würde sich überhaupt noch lohnen?

Die willkürliche Konvention, vom Meeresspiegel aus zu messen, wird offenbar überall akzeptiert und verinnerlicht. Seit 1849 weiß man, dass die Ehre des »Höchsten« einem Berg gebührt, den Sir George Everest vermessen hatte. Der Everest gilt als Maßstab, alle rennen gegen ihn an, doch viele kommen nie oben an. Was für ein Irrsinn! Man steigt auf einen Berg, dessen Gipfel man wahrscheinlich gar nicht erreichen wird, zahlt Unsummen dafür und kehrt unbefriedigt zurück. Und das auch nur, wenn man überlebt.

Am Chimborazo dagegen wäre der Ruhm, auf dem höchsten Berg der Erde zu stehen, viel einfacher zu haben. Würden die Höhenfanatiker nur am Erdmittelpunkt Maß nehmen, würden sie alle auf den Chimborazo steigen, ja steigen müssen, denn sie sind ja genauso süchtig wie ich. Aber ich war ja bereitsauf dem Chimborazo, und niemals würde ich in Höhen über 7000Meter vordringen können. Das war mir nach der Nacht am Pik Lenin unumstößlich klar.

Was sollte ich also tun?

In der Nacht am Pik Lenin ließ ich mein Bergsteigerleben Revue passieren. Ich fand vier Abschnitte: Zuerst war ich ein Kind und scheute die Berge und Anstrengungen (das war die Phase der Güntlespitze). Dann öffneten sich mir die Berge als Herausforderung: die Sturm- und Drangperiode. Sie blieb nicht auf die Alpen beschränkt und überlappte so mit der dritten Phase: der Familienpause. Hier wurden meine Kinder an die Bergwelt herangeführt. Wenn es gar zu heiß, langweilig und trocken ist, werden es die Kinder ihr Leben lang nicht mögen. Der Grat zwischen Ablehnung und totaler Begeisterung, ja Sucht, ist schmal und scharfkantig. Nur wenige sehen in den Bergen ihren Lebensinhalt, dafür dann aber heftig und ungestüm wie bei einer Sucht.

Der vierte Abschnitt war dem Spleen gewidmet, dem Ausleben von Fiktionen, dem Nachlaufen hinter Schimären. Höhe, in Metern ausgedrückt, bis zum Exzess, bis es nicht mehr weiterging. An diesem Ende war ich gerade angekommen. Und meinen fünften Lebensabschnitt sollte ich jetzt eröffnen – davon handelt dieses Buch. Ich war knapp 60Jahre alt.

An den sechsten Abschnitt in der Ferne möchte ich gar nicht denken. Da schaut sich der Bergsteigeropa nur noch seine Dias an und erzählt seinen Enkeln von seinen Großtaten. Da bleibt ihm lediglich die Angst, dass die eigenen Kinder, die sich jetzt in Phase 4 tummeln, abstürzen könnten, erfrieren oder was auch immer. Es gibt viele Möglichkeiten, an Bergen zugrunde zu gehen. Ziemlich jämmerliche dazu.

Dabei hatte sich der Pik Lenin von unserer Gruppe noch sanft verabschiedet. Sein Unwillen hatte sich in Etappen ausgedrückt: Erst überfiel er einige mit Magenverstimmung und Kreislaufproblemen. Als das nichts nützte, überschüttete er uns leise mit Neuschnee. Dann brauchte er nur noch abzuwarten, wie wir uns zwischen 4200 und 6800Metern leerliefen – bis wir am Ende unserer Kräfte angekommen waren.

Keiner von uns Helden hatte den Gipfel erreicht. Er war einfach eine Nummer zu groß für uns.

Musste das also sein? Gab es nicht noch andere, garantiert erreichbare Ziele? Geringere, aber umso ungewöhnlichere Herausforderungen? Für Vorruheständler geeignete? Ich lag in meinem Zelt, draußen rieselte der Schnee, Stunde um Stunde verstrich, so wie die Chance, den Pik Lenin zu bezwingen, verstrich. Noch lebte ich!

Und da war sie, die Idee: die Ruhelosigkeit als Angestellter einer Großfirma in selbstbestimmte Ruhe verwandeln; die Hierarchie hinter mir lassen. Einem Ziel nachgehen, das erreichbar war, das aber noch nie vor mir durch irgendwen erreicht wurde. Einen Spleen durch ein kühl durchdachtes Projekt ersetzen. Bergsteigen menschlicher machen, altersgerechter. Allein sein. Mein fünftes Leben mit Inhalt füllen. Mitten in der Nacht, am Pik Lenin, wusste ich, was zu tun war: Ich würde die Landkarte Europas anschauen, würde abzählen, wie viele Staaten und klar abgegrenzte Gebiete mit herausragenden Unabhängigkeitsmerkmalen es gab, und würde dort auf alle jeweils höchsten Berge steigen. Eigentlich gar nicht so anders, der neue Spleen: Nach wie vor würde Höhe eine Rolle spielen. Doch diesmal würde Höhe nicht mehr nur einfach in Metern zu messen sein, jetzt würde sie sich an Staaten und Partikeln mit staatlichen Eigenschaften orientieren. Das Projekt würde mehr in die Breite als in die Höhe gehen und damit für mich auch im Rentneralter zu bewältigen sein.

Ich lebe meine Tage jetzt bewusster. Die Zeit, die mir noch bis zum Ende bleibt, ist ausgefüllt. Dabei sind alle meine Tage völlig frei. Nie schrillt der Wecker. An den Sonntagen begrüße ich die aufgehende Sonne. An den Montagen leuchtet mir der Mond bei nächtlichen Wanderungen. An meinen Donnerstagen entladen sich die Gewitter der sommerlich schwülen Nachmittage. Und an meinen Sonnabenden gehe ich mit der untergehenden Sonne am Wegesrand unter einer Eiche schlafen.

Jetzt bin ich seitwärts getreten, bescheidener geworden, suche in Nischen meine Kostbarkeiten. War denn schon irgendjemand auf die Idee gekommen, alle höchsten Berge eines jeden europäischen Staates zu besteigen? War das der typische Plan eines Verlierers? Abgewiesen von einem Siebentausender? Unwillig, mich noch ein zweites Mal herausfordern zu lassen? Oder würde mich die neue Idee mit ungeahnten neuen Hindernissen konfrontieren?

Wie viele Staaten gibt es überhaupt in Europa? Gehören Georgien, Armenien und Aserbaidschan dazu? Und was ist mit Russland und der Türkei? Wo fängt der Kontinent an, dessen Name von einer phönizischen Prinzessin der Antike abgeleitet ist, wo hört er auf? Da gibt es sogar noch eine Kolonie auf europäischem Gebiet: Gibraltar. Mitzählen oder ignorieren? Und was ist mit der seltsamen Enklave um Königsberg herum, diesem Teil des ehemaligen Ostpreußen? Als eigenständiges Gebiet ansehen oder nicht? Alle autonomen Gebiete mitbedenken? Dann würde auch Spitzbergen zu berücksichtigen sein, wie viele andere Randgebiete auch; Tschetschenien ebenso. War das überhaupt noch Europa? Wie auch immer: Definitionen würden sich später finden lassen. Das Ziel war gesteckt. Die Planung konnte beginnen. Ich machte mich auf Merkwürdiges gefasst. Einige richtige Berge würden es sein, mächtige. Manchmal jedoch nur sanfte Buckel, kaum als hoch zu bezeichnen. Aber immer würden sie den höchsten Punkt ihres Landes markieren. Das Unternehmen würde eher mit Sammeln als mit Bergsteigen zu tun haben. Ich würde abhängige und autonome Gebiete, ja solche mit unklarer politischer Zuordnung oder Zukunft, Enklaven und Exklaven kennenlernen, Diktaturen und Demokratien in allen Schattierungen, Republiken und absolute Monarchien, ja sogar Theokratien und nicht anerkannte Staaten. Möchtegernstaaten würden in meine Sammlung aufgenommen, Staaten ohne Staatsgebiet, Sprachinseln mit besonderem politischen Status, herrenlose Gebiete, Gebiete mit halbjährlich wechselnder Souveränität, zwischenstaatliche Verschiebemassen, Zollausschlusszonen, alle politisch auffälligen Partikel. Allein schon beim Aufzählen deutet sich die bunte Vielfalt Europas an, seine ausufernde Grenzenlosigkeit und oft groteske Kleinstaaterei.

Von nun an wird es immer bergauf gehen, verhalten zwar, aber hartnäckig, und vor allem oft in Gegenden, in die sich kein normaler Bergsteiger verirrt. Dabei werde ich immer wieder fragen: Was will ich hier? Was ist ein Berg? Was ist Höhe? Was ist ein Staat? Wo verlaufen seine Grenzen? Was ist überhaupt Europa? So ist es weniger ein Anliegen dieser Sammlung, Berge und Anstiegsrouten zu beschreiben, als vielmehr über Erlebnisse und Kuriositäten auf dem Weg zu merkwürdigen Ländern und Gebieten zu berichten. 130Ziele sind es insgesamt. Ein paar davon werde ich herausgreifen.

Aller Anfang ist komisch:Freistaat Flaschenhals

Januar 2000: Noch arbeite ich jeden Tag von morgens 7Uhr bis abends 7Uhr in einem Pharmaunternehmen. Dort habe ich Arzneimittelprüfungen an Patienten zu organisieren – keine Zeit also für irgendwelche Sperenzchen.

Da schickt mich mein Chef zu einem Kundenbesuch gen Düsseldorf. Es stehen Vertragsverhandlungen an. Weil die Sonne so herrlich scheint, fahre ich nicht auf der Autobahn, sondern auf der Landstraße durchs Rheintal. Hier sieht man mehr, und auf Schnelligkeit kommt es mir nicht an: Wiesbaden – Rüdesheim – Assmanshausen …

Bevor ich nach Lorch komme, muss ich mich besonders auf die Fahrbahn konzentrieren – zu gefährlich ist es, im Rheintal einfach alles fahren zu lassen, das mussten schon die alten Schiffer lernen, als sie dem Gesang der Loreley lauschten!

Was stand da?

Ich muss umdrehen – ein gefährliches Unterfangen auf der Bundesstraße 42, aber es muss einfach sein: Da führt eine niedrige Unterführung unter einem Bahndamm hindurch, und ein Schild weist in Richtung »Camping Suleika – Historischer Freistaat Flaschenhals«.

Auf der anderen Seite des Bahndamms halte ich erst mal an und studiere die Landkarte. Im Moment befinde ich mich am Eingang des Bodentals in unmittelbarer Nähe des Rheins – von einem Freistaat keine Spur. Und wieso Flaschenhals?

Ich erinnere mich an meine Idee, alle höchsten Berge eines jeden europäischen Staatsgebildes zu besteigen, warum habe ich von diesem Staat also noch nichts gehört? Spontan verlege ich meinen Termin in Düsseldorf. Stattdessen fahre ich die enge Straße weiter talaufwärts und lande nach 300Meternbeim Empfang des Campingplatzes. Alles macht einen verschlossenen Eindruck: Außer ein paar unverwüstlichen Dauercampern sind so gut wie keine Campinggäste anwesend, auch das Empfangshaus macht nicht den Eindruck, als sei man auf Gäste eingestellt. Eine Frau schaut vom Balkon herunter: »Kann ich Ihnen helfen?«

Ja, sie kann. Sie bittet mich hereinzukommen und holt ihren Mann, der mir alles erklärt. Frank Sulek ist der Besitzer des Campingplatzes, was auch erklärt, warum der Platz nach Goethes Suleika benannt ist. In der Gaststube hängen die Wände voller Requisiten und Landkarten.

Herr Sulek nimmt sich viel Zeit. Er ist Mitglied der Lorcher Freistaat-Flaschenhals-Initiative und erklärt mir, dass das, was sich heute wie ein launiger Scherz anhören mag, noch vor nicht einmal 100Jahren ein einzigartiger Kleinstaat war, entstanden in den Nachwirren des Ersten Weltkriegs. Er existierte vom 10. Januar 1919 bis zum 25.Februar 1923. Wie es dazu kam? Die westlich des Rheins gelegenen Provinzen Deutschlands waren von den alliierten Armeen besetzt. Um auch östlich des Rheins militärisch präsent zu sein, wurden von den Siegermächten mit Zirkelschlag bei Köln, Koblenz und Mainz halbkreisförmige Brückenköpfe mit einem Radius von je 30Kilometern eingerichtet. Die Linien schnitten den Rhein unmittelbar südlich von Bodental beziehungsweise am Rossstein gegenüber von Oberwesel, liefen dann von beiden Punkten taunuseinwärts, um sich bei Laufenselden fast zu berühren.

Die Besetzung durch alliierte Truppen hatte für die Bevölkerung eine noch eingeschränktere Lebensmittelversorgung zur Folge, da die Soldaten mit verpflegt werden mussten. Zum anderen wurde durch neue Erlasse der alliierten Verwaltungsbehörden besonders in den ersten Monaten das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben sehr kompliziert. Der Postverkehr zwischen unbesetztem und besetztem Gebiet war vorläufig abgeschnitten, da eine Postsperre verhängt wurde. Rentner erhielten ihre Leistungen nicht mehr und Beamte kein Geld, wenn sie in einer unbesetzten Gemeinde lebten, die zu einer besetzten Stadt gehörte. Telefon und Telegraf waren vorübergehend verboten, der Reiseverkehr stark eingeschränkt, und man konnte sich nur mit einem extra zu beantragenden Pass zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet bewegen; auch der Eisenbahngüterverkehr war unterbrochen, und durch die unbedachte Grenzziehung wurden ganze Gemeinden von der Wasserversorgung abgeschnitten, da das zuständige Wasserwerk sich im unbesetzten Gebiet befand. Gesetze, die vom Reich nach dem Waffenstillstand erlassen wurden, wurden in den besetzten Gebieten von den Alliierten als nicht rechtskräftig angesehen. Erst als der Versailler Vertrag am 10.Januar 1920 in Kraft trat und die Zivilverwaltung in deutsche Hände zurückkehrte, entspannte sich die Lage.

Kreise, die sich nicht ganz berühren, hinterlassen einen freien Raum. So geschah es mit den Zirkelschlägen von Koblenz und Mainz. Die Kreise schufenein unbesetztes Gebiet in Form eines Flaschenhalses. Dieses »freie« Gebiet war nur durch einen schmalen, wenige Hundert Meter breiten Korridor mit dem deutschen Kernland verbunden. Aber nur geografisch! Verkehrstechnisch war der Flaschenhals völlig abgeschnitten, denn es führte damals keine Straße durch den Korridor.

Ob es sich um eine absichtlich eingerichtete Pufferzone oder um einen Vermessungsfehler handelte, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Jedenfalls wählten die Abgeschnittenen der insgesamt zehn betroffenen Orte den Lorcher Bürgermeister Edmund Pnischeck zu ihrem »Präsidenten« – und der rief am 10.Januar 1919 den grotesken »Freistaat Flaschenhals« aus und organisierte eine Eigenverwaltung.

Unter chaotischen Umständen etablierte sich ein Gebilde, begrenzt durch die Brückenköpfe Mainz und Koblenz, den Rhein und das Kontinuum eines mehr oder weniger undurchlässigen Flaschenhalspfropfens zwischen Egenroth und Laufenselden, abgeschnitten von seinen Kreis- und Gerichtsorten, abgeschnitten auch von seiner Bezirks- und Gerichtshauptstadt Wiesbaden. »Verwaltungssitz«, Hauptstadt sozusagen, war Lorch. Durch die unterbrochene Verbindung zum unbesetzten Deutschland blühte dort der Schwarzmarkt. Dabei handelte es sich vor allem um Lebensmittel und Heizmaterial, alles, was zum Überleben notwendig war, zudem wurden heimlich Postsendungen befördert. Als Gegenleistung hatte der Flaschenhals Wein anzubieten.

Mindestens zehn Jahre Dauer schien ihm beschieden zu sein, dann würden die Amerikaner die Kreiszone um Koblenz räumen und so den Flaschenhals einseitig öffnen. Weitere fünf Jahre später würden die Franzosen, hoffentlich, mit ihrem Kreis um Mainz nachziehen. So war die Ausgangslage.

Und doch blieb der Freistaat Teil des Deutschen Reichs, wenn er sich auch äußerlich als losgelöst gab. Es herrschte Hyperinflation. Das Papiergeld war rar geworden, weil die Reichsdruckerei Berlin nicht mehr mit dem Drucken und die Reichsbank nicht mehr mit dem Verteilen nachkam. Jede kleinere und größere Stadt in Deutschland prägte ihr eigenes buntes Notgeld. Im Flaschenhals verschärfte sich die Situation: Nicht einmal das Notgeld der benachbarten Großstädte kam herein, weil das Gebiet ja abgesperrt war. Also schuf sich der Flaschenhals seine eigene Münze. 8000 Einwohner um Lorch und Kaub waren damals eingekapselt und ihrer Bewegungsfreiheit beraubt. Aber die Flaschenhälsler behielten ihren Galgenhumor und ihren Wein. Auf einem Notgeldschein lesen wir: »In Lorch am Rhein, da klingt der Becher, denn Lorcher Wein ist Sorgenbrecher.«

Besonders den Franzosen missfiel das Treiben im unbesetzten Flaschenhals: Am 25.Februar 1923 – parallel zur Ruhrbesetzung – bemächtigten sie sich völkerrechtswidrig der Stadt Lorch und bereiteten dem politischen Gebilde ein schnelles Ende. Endgültig geräumt von fremder Besatzung wurde das Gebiet am 16. November 1924 – damit war der Flaschenhals wieder vereint mit dem Reichsgebiet.

Der unabhängige Geist der Flaschenhälsler lebt heute in der Freistaat-Flaschenhals-Initiative fort, in der auch Herr Sulek Mitglied ist. Sogar eine Botschaft hat die Initiative bereits eröffnet: passend zu ihrem Hauptexportartikel, dem Wein, in einem Lokal in Mainz. Doch die Freistaatler planen eine zweite Botschaft in Berlin! Zur Einweihung wollen sie die Botschafter von Australien bis Zypern einladen.

Herr Sulek gibt auch Reisepässe für 15Euro aus, mit Gutscheinen für Gasthäuser und Wirtschaften im Flaschenhals! »Beim Besuch im Freistaat darf eine kleine Tour ins Hinterland nicht fehlen«, steht da auch. Das bringt mich auf eine Idee: Warum nicht meine Tour zu den »Höchsten« aller europäischen Staaten hier und heute beginnen? Zusammen mit Herrn Sulek beuge ich mich über Wanderkarten und Messtischblätter. Weiter hinten, dort, wo der Flaschenhals sich nach Nordosten hin verjüngt, muss ich suchen. Zwischen Egenroth und Laufenselden entdecken wir schließlich in einem Waldgebiet mit dem Namen Kemeler Heide einen scheinbar namenlosen Punkt 537 in der Gewann Gesteinteheck. Das ist er. Dort muss ich hin.

Ich bin froh, dass ich nicht in Düsseldorf beim Kundenbesuch bin. Klinische Prüfungen und Verträge ade! Von meinem viel wichtigeren, spontanen »Termin« mit Herrn Sulek begebe ich mich auf die Fahrt zu Punkt 537. In Lorch biege ich auf die Wispertalstraße ein und von dort bald nach links in das Tal des Tiefenbachs hinein. Durch dichten Wald führt die Straße nach Sauerthal, einem kleinen, versteckten Dorf im engen Talgrund. Hoch über Sauerthal thront stolz die Sauerburg.

Weiter geht die Fahrt über Ransel, Wollmerschied und Lipporn nach Strüth. Mir scheint, ich bin in einem der ärmsten Teile Deutschlands. Die Ortschaften auf der Hochfläche machen einen vernachlässigten, verlassenen, müden Eindruck – nichts bewegt sich mehr in diesem vergessenen Winkel.

Bei Strüth lag damals die engste Stelle des Flaschenhalses mit nur wenigen Hundert Metern. Die Bauern konnten das Land, das sich im besetzten Gebiet befand, nicht bestellen. Die einzige existierende Straße von Lorch nach Limburg führte mehrfach durch besetztes Gebiet. Neue Wege mussten angelegt werden, teilweise querfeldein. Und selbst diese Straßen konnten an manchen Tagen nicht befahren werden, da über Nacht Grenzlinien verschoben wurden.

Je weiter ich in den Flaschenhals vordringe, desto enger wird mein Blick: Wie mit Scheuklappen stürme ich meinem Ziel entgegen. Der nächste Ort ist auf ziemlich direktem Weg zu erreichen: Zorn.

Zu Zeiten des Flaschenhalses war es hier so eng, dass es überhaupt keine Verbindungen zu Nachbardörfern gab. Schlagbäume und Verbotsschilder in Deutsch und Französisch versperrten alles. Die Algenrother Kinder, die seit jeher zur Zorner Schule gingen, konnten den Unterricht nicht besuchen. Die Post war über längere Zeit stillgelegt, die Bauern hatten keinen Zugang zu ihren Feldern. Wie alle anderen neutralen Orte wurde Zorn provisorisch dem Landratsamt Limburg unterstellt. Nachts kam es hier zu lebhaftem, geheimnisvollem Tauschverkehr. Das sonst so verträumte Dörfchen blühte zu merkwürdiger Betriebsamkeit auf – von der heute nichts mehr zu spüren ist.

Ich fahre vier Kilomter weiter durch den Wald, überquere die Bundesstraße 260 und falle in den Wald gegenüber ein, in dem die Landesstraße 3031 weiterzieht. Von den »Treibjagd«-Schildern lasse ich mich gar nicht stören. Nach einem Kilometer macht die Straße eine sanfte Rechtskurve, vor der links ein Waldweg abzweigt, in dem ich meinen Dienstwagen abstelle.

Von jetzt ab gerät meine Tour zu einer richtigen Bergbesteigung – ganze 47Höhenmeter habe ich zu überwinden. Durch den Buchenwald steige ich auf dem nach Nordwesten hin ansteigenden Waldweg bis an dessen höchste Stelle. Von dort schlage ich mich auf der linken Seite durch das Dickicht bis zu einer Freifläche von etwa 50 mal 50Metern, mit einem Hochsitz im Eck. Das könnte der Gipfel sein. Könnte. Solange mir niemand das Gegenteil beweist, werde ich behaupten, ich sei hier auf dem höchsten Punkt des Flaschenhalses gewesen. In der Kemeler Heide. Kann eine Dienstreise so skurril enden?

Genauso sollen alle meine Fahrten zu den höchsten Punkten Europas und seiner autonomen Gebiete verlaufen: nicht akribisch vorbereitet, mit Aufgeschlossenheit gegenüber allem, was ich entlang des Weges sehe, und wenn ich auf Geheimnisse und Rätsel stoße, will ich gleich an Ort und Stelle geeignete Leute fragen oder nach meiner Rückkehr vom Schreibtisch aus nachforschen.

Das ist also das Resultat meines ersten Gipfelversuchs. Ich pfeife auf die Dienstreise, ja sogar auf die ganze Arbeitsstelle und erkläre meinem Chef, dass ich ihn höherer Ziele wegen verlassen und mich nach 28Jahren Fron in der Pharmaindustrie in den Vorruhestand absetzen werde. Ganz ungelegen scheint ihm das nicht gekommen zu sein: »Hm«, war seine einzige Reaktion.

Auf geht’s! Die wahre Reise meines Lebens kann endlich beginnen.

Einsam im Rummel:Die Zugspitze

Worauf habe ich mich da eingelassen? Alle höchsten Berge aller europäischen Staaten? Da gibt es ja auch Staaten, die haben gar keinen Berg! Haben Sie mal an Holland gedacht? Dänemark? Alles flach. Aber irgendwo muss selbst in einem Land, von dem ein Großteil der Fläche unter dem Meeresspiegel liegt, ein höchster Punkt auszumachen sein.

Oder Monaco! Oder der Vatikan! Kennt man eigentlich den höchsten Berg von Weißrussland? Von Albanien? Vom Kosovo? Ist der Kosovo überhaupt ein Staat? Montenegro sollte erst noch als Staat geboren werden. Und was ist mit Transnistrien? Abchasien? Und Tschetschenien, ist das noch Europa? Ich habe insgesamt 49 unabhängige Staaten abzuklappern, darunter zwei, die nicht anerkannt sind, und mehrere, die es sein wollen, aber nicht schaffen; drei Kolonien und eine Reihe autonomer oder sonst wie politisch dubioser Gebilde. Unter den »Höchsten« Europas gibt es majestätisch herausragende, verborgen-vernachlässigte und nicht existente, solche, die keiner kennt, die man erst suchen muss.

All die will ich einsammeln. Ich fange am besten vor der eigenen Haustür an: in Deutschland.

Jedes Kind kennt die Zugspitze als den höchsten Berg Deutschlands. Sie ist Pflicht in meinem Programm. Und doch war sie nicht immer unser höchster Punkt, genau genommen erst seit der Reichsgründung 1871, vorher war sie allenfalls der höchste deutsche Berg. Und als Ende des 19.Jahrhunderts der Wettlauf um die Gebiete in Afrika entbrannte, wurde die Zugspitze in den deutschen Kolonien erst vom Kamerunberg und gleich danach vom Meruberg und dann vom Kilimandscharo an Höhe übertroffen. Spitzfindigkeit: Das mögen Berge des Deutschen Reiches gewesen sein, sicher aber nicht »deutsche« Berge! Vom 12. März 1938 bis 8.Mai 1945, in der Zeit, als Österreich an das nationalsozialistische Deutschland »angeschlossen« war, war der Großglockner der höchste Berg »Großdeutschlands«. Doch das waren nur Arabesken am Rande, die zeigen, wie verletzlich der Status des »Höchsten« ist, wenn sich die Weltpolitik auswirkt. Gerade in Europa ändern sich Grenzen immer wieder. Nichts ist beständig, alles im Fluss. Heute taucht Montenegro empor, morgen Schottland und Katalonien, und die Ukraine zerfällt. Was ich vorhabe, ist nur eine Momentaufnahme von Europa.

Immerhin ist die Zugspitze fast 3000Meter hoch, 2962 genau. Teilen müssen wir sie uns mit Österreich, denn die Grenze zu unserem Nachbarstaat verläuft über ihren Gipfel. Halt! Nein! Die Grenze geht 140Meter neben dem Gipfel vorbei, hinter dem Münchner Haus. Die Zugspitze ist also eigentlich unser, da sich der Ostgipfel auf deutscher Seite befindet und höher ist als alles andere dort droben. Den Österreichern bleibt dafür der Großglockner als »Höchster«, der ja die Zugspitze weit überragt.

Ähnlich wie die Zugspitze gibt es in Europa noch eine ganze Reihe anderer Berge, die als jeweils »Höchste« ihres Landes ihre Gipfel mit einem Nachbarland teilen. Doch ich muss vorsichtig sein: Manchmal läuft wie hier die Grenze nicht exakt durch den höchsten Punkt. Ich werde also im weiteren Verlauf meiner Reise immer ganz genau hinsehen müssen.

An einem schönen Septembertag fahre ich von Frankfurt aus Richtung Süden. Hier ist noch alles überschaubar, und bei der vorbeiziehenden Monotonie werden meine Gedanken ganz flach – so flach wie der Asphalt vor mir.

Auch in den Bergen gleicht die Denke eher einer Autobahn. Alles ist geradeaus, bergauf, gerichtet. Keine Ablenkung. Für Stunden dasselbe Gekeuche, immer weiter aufwärts. Wenn man so angestrengt vor sich hin steigt, werden die Gedanken platt und wirr. Ich möchte die Wirklichkeit beschreiben, also erwarten Sie hier keine glorifizierenden Bergsteigersprüche von mir …

Wie dem auch sei, es bleibt noch eine wichtige Frage: Wo übernachte ich heute? Da es langsam dämmrig wird, steuere ich mein Auto einem Industriegebiet entgegen. Und es entpuppt sich als wahres Paradies mit ein paar ruhigen Übernachtungsparkplätzen. Die angrenzenden Häuser werden von niemandem bewohnt. Weder arbeitet hier abends jemand, noch läuft jemand auf der Straße herum. Es herrscht absolute Abendstille. Bei so viel Friedlichkeit werde ich doch als Bergsteiger nicht in einem Hotel nächtigen! Wozu habe ich denn meinen Minivan?

Schwarz glänzende Krähen schauen mir scheel dabei zu, wie ich meinen Gaskocher heraushole, und hüpfen erschreckt zur Seite, als ich den Erbsenpampf aus der Dose in das Kochgeschirr befördere. Das Ganze wird im Windschatten der Beifahrertür platziert und mit einer Rotweinflasche aus dem Aldi garniert. Zum Festessen gehören außerdem ein bisschen Brot, Margarine, Käse und Wurst – die herabgesetzte aus dem Supermarkt. Als Werkzeug dient mir ein abgebrochenes Messer, etwas anderes ist gerade nicht zur Hand. Wieso braucht der Mensch aber auch einen Griff am Messer, wenn es nur Margarine zu streichen gibt? Auch einen Löffel habe ich dabei, der zum Kaffeeumrühren und Suppelöffeln gleichermaßen geeignet ist.

Ich lasse mir mein fürstliches Mahl auf dem Fahrersitz meines Vans schmecken und stelle das Radio an. Es gibt nichts Besseres als Radio Nostalgie im Stuttgarter Industriegebiet. All die scharfen Hits aus den Sechzigern und Siebzigern, »It Started With a Kiss« oder »Just Another Day«, sie treiben mir die Tränen in die Augen. Solche Glücksgefühle habe ich sonst nur, wenn ich einen Berggipfel geschafft habe. Nun gut, das Glück tritt bei fortschreitendem Alter vielleicht früher ein, mir soll’s recht sein. Vielleicht ist es auch nur die Erinnerung an vergangene Zeiten? Oder ist es die Gewissheit, dass ich wieder einmal etwas mache, das nicht jeder macht?

Die Dunkelheit bricht heute früh herein – zum Glück, muss ich sagen, denn dann sieht man mich kaum noch. Ich stehe unbeobachtet zwischen den ganzen Glaspalästen und ziehe die karierten Vorhänge an den Fenstern meines »Schlafzimmers« zu. Jetzt bin ich ganz allein. Schläft der Mensch schon um halb neun? Normalerweise nicht. Ich schon, denn nach solchen Fahrten durch riesige Städte, regen Verkehr und teilweise ohne genauen Plan bin ich ziemlich müde. Bei meinem Van lassen sich die Rückbänke umlegen. Der Schlafsack ist schon darauf ausgebreitet, ich muss nur noch hineinschlüpfen. Die Seitenfenster sind einen Schlitz weit geöffnet, damit die frische Nachtluft hereinstreicht. Ich lasse das Radio leise noch ein paar Songs spielen und liege mit auf dem Bauch gefalteten Händen im Schlafsack.

Eingeschlafen bin ich schnell. Aufgewacht dafür auch. Ein grelles Licht blendet mich. Irgendjemand steht draußen und leuchtet zwischen den Vorhängen durch. Jetzt klopft es sogar: »Kontrollä. Bollizei. Könnet mir bitte Ihrn Ausweis sähe?« Aber natürlich! Die Polizisten sind ganz gerührt, als sie hören, dass ich auf menschliche Art und Weise auf die Zugspitze will. Sie versprechen mir, gut auf mich aufzupassen. Schwaben sind eben beeindruckt von meiner Sparmethode.

Ende der Leseprobe