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Bei Doktor Heberts im alten Schloß draußen vor dem Tor war Taufe. Gerade nichts Neues in dem kinderreichen Hause, war doch Klein-Kathrinchen, die Heldin des Tages, das siebente Kindchen und die vierte Tochter. Susanne, die älteste dieses Siebengestirns, hatte mit noch drei Freundinnen Gevatter stehen dürfen bei der kleinen Schwester. Die vier jungen Mädchen waren am Palmsonntag zusammen konfirmiert worden, und Frau Hebert hatte zuerst den glorreichen Gedanken gehabt, ihnen die Ehre der Patenschaft zuteil werden zu lassen. Suse nahm die Eröffnung aber durchaus nicht mit dem Enthusiasmus auf, den ihre Mutter erwartet hatte. Die kleine Schwester schien ihr nur eine neue Last zu den vielen, die schon auf ihren jungen Schultern ruhten und die sich, seit sie die Schule verlassen, täglich zu vermehren schienen. "Suse, hilf mir doch bei meinen Rechenexempeln! – Suse, ich hab'n Loch im Strumpf! – Suse, geh nach der Küche und hilf der Johanna Äpfel schälen!" So suste das vom Morgen bis zum Abend an ihre Ohren. Das Baby zu tragen, schien man ihr noch als eine Bevorzugung anzurechnen, und wenn sie dann Pate war, würde sie es wohl den ganzen Tag tun müssen; denn Henny, das Kindermädchen, hatte mit dem zweijährigen Bubi gerade genug zu tun. Die vier jungen Mädchen in weißen Kleidern boten einen lieblichen Anblick, als sie um den blumengeschmückten Taufstein standen. Susi hielt den Täufling im spitzenbesetzten Kleid, das einst ein Ballkleid der Mutter gewesen, als der Segen gesprochen wurde. Eine tiefe Bewegung erfaßte sie in diesem feierlichen Augenblick. Ihr war, als schauten die blauen Augen Klein-Kathrinchens sie vorwurfsvoll an, als fragten sie: "Warum hast du mich nicht lieb? Ich tat dir doch nichts zuleide!" Heiß wallte es auf in ihrem Herzen. Gewiß, sie wollte es liebhaben, schrecklich lieb, das kleine, süße Geschöpf, sie gelobte es in dieser weihevollen Stunde. Als sie aber später mit den Freundinnen an dem gemütlichen Kaffeetisch saß, da kamen ihr doch schon …
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Bei Doktor Heberts im alten Schloß draußen vor dem Tor war Taufe. Gerade nichts Neues in dem kinderreichen Hause, war doch Klein-Kathrinchen, die Heldin des Tages, das siebente Kindchen und die vierte Tochter.
Susanne, die älteste dieses Siebengestirns, hatte mit noch drei Freundinnen Gevatter stehen dürfen bei der kleinen Schwester. Die vier jungen Mädchen waren am Palmsonntag zusammen konfirmiert worden, und Frau Hebert hatte zuerst den glorreichen Gedanken gehabt, ihnen die Ehre der Patenschaft zuteil werden zu lassen.
Suse nahm die Eröffnung aber durchaus nicht mit dem Enthusiasmus auf, den ihre Mutter erwartet hatte.
Die kleine Schwester schien ihr nur eine neue Last zu den vielen, die schon auf ihren jungen Schultern ruhten und die sich, seit sie die Schule verlassen, täglich zu vermehren schienen.
»Suse, hilf mir doch bei meinen Rechenexempeln! – Suse, ich hab’n Loch im Strumpf! – Suse, geh nach der Küche und hilf der Johanna Äpfel schälen!« So suste das vom Morgen bis zum Abend an ihre Ohren. Das Baby zu tragen, schien man ihr noch als eine Bevorzugung anzurechnen, und wenn sie dann Pate war, würde sie es wohl den ganzen Tag tun müssen; denn Henny, das Kindermädchen, hatte mit dem zweijährigen Bubi gerade genug zu tun.
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Die vier jungen Mädchen in weißen Kleidern boten einen lieblichen Anblick, als sie um den blumengeschmückten Taufstein standen.
Susi hielt den Täufling im spitzenbesetzten Kleid, das einst ein Ballkleid der Mutter gewesen, als der Segen gesprochen wurde. Eine tiefe Bewegung erfaßte sie in diesem feierlichen Augenblick. Ihr war, als schauten die blauen Augen Klein-Kathrinchens sie vorwurfsvoll an, als fragten sie: »Warum hast du mich nicht lieb? Ich tat dir doch nichts zuleide!«
Heiß wallte es auf in ihrem Herzen. Gewiß, sie wollte es liebhaben, schrecklich lieb, das kleine, süße Geschöpf, sie gelobte es in dieser weihevollen Stunde. Als sie aber später mit den Freundinnen an dem gemütlichen Kaffeetisch saß, da kamen ihr doch schon wieder recht rebellische Gedanken. Wie gut hatten es ihre Freundinnen im Vergleich zu ihr, besonders Herta und Grete. Hertas Vater war Fabrikant und wohl der reichste Mann in der Stadt. Sie hatte auch keine jüngeren Geschwister, die ihr das Leben sauer machten, sondern nur zwei ältere Brüder, die das hübsche Schwesterchen auf Händen trugen.
Gretes Eltern waren allerdings nicht so reich, ihr Vater war Schriftsteller, und sein Töchterchen war sehr stolz auf ihn. Schätze schien er mit seiner Feder bis jetzt noch nicht errungen zu haben, er wartete immer noch auf den großen Wurf. Einstweilen schrieb er für Tageszeitungen und Zeitschriften, sein Name war nicht unbekannt, das höchste aber hatte er noch nicht erreicht, das sollte die Zukunft erst bringen. Seine Frau und Tochter glaubten ebenso an den Zukunftstraum wie er. Sorgen machten sie sich nicht. Waren die Einnahmen einmal geringer, dann machte es ihnen durchaus keinen Kummer, einfacher zu leben. Kam aber einmal unverhofft eine größere Einnahme, dann kannte der Jubel keine Grenzen.
Ein solch glücklicher Tag war vor einigen Wochen gewesen, und Grete hatte infolgedessen ein neues, weißes Kleid zu der Tauffeier bekommen. Ein seidenes, wie das von Herta war es ja nun freilich nicht, aber sehr hübsch und modern sah es aus. Die einfachste von den vier jungen Mädchen war Hilde von Bork. Ihr weißes Kleid stammte noch aus der Schulzeit, es war nur etwas verlängert worden. Sie sah aber doch, trotz der Einfachheit, sehr vornehm aus, nur etwas zu schlank und blaß, besonders neben Suse, die mit ihren roten Backen so recht ein Bild der Gesundheit war. Hilde wurde von ihr auch nicht beneidet, denn die hatte es eigentlich wohl noch schlechter als sie. Ihr Vater war Offizier gewesen, war bald nach dem großen Krieg gestorben und hatte Frau und Kind in ziemlich traurigen Verhältnissen zurückgelassen. Zwei ältere Schwestern Hildes verdienten sich ihren Lebensunterhalt schon längst selbst, die eine als Lehrerin, die andere als Gesellschafterin. Der einzige Bruder war der Abgott von Mutter und Schwestern, für den ihnen kein Opfer zu groß erschien. Er sollte Offizier werden. Jetzt stand er vor dem Examen, alle Tage könnte eine Depesche kommen, hatte Hilde den Freundinnen erzählt.
»Den Tag des Examens hat er uns nämlich nicht verraten«, berichtete sie dann weiter. »Er behauptet, wir würden dann weder essen noch trinken.«
»Das tätet ihr auch sicher nicht«, rief Herta lachend, »und kein Schlaf würde in eure Augen kommen. Da hat er ganz recht getan, daß er euch darüber im unklaren ließ!«
»Ich fürchte nur, ihr eßt, trinkt und schlaft die ganze Zeit nicht«, spottete Grete, »denn er ist doch nun einmal euer ein und alles, der schöne Jünger des Mars!«
»Ja, das ist er!« erklärte Hilde strahlenden Blickes. »Hättet ihr einen solchen Bruder, würdet ihr gewiß auch nur für ihn leben.«
»Meine Brüder sind ja eigentlich auch ganz nett«, meinte Herta, »aber daß ich jemals ihretwegen nicht schlafen und nicht essen sollte, das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Na, um meine drei Brüder werde ich das wohl auch schwerlich jemals tun«, sagte Susi.
»Ich habe weder Bruder noch Schwester«, versicherte Grete. »Für meinen Vater aber, das weiß ich bestimmt, würde ich noch viel mehr tun, als nicht essen und schlafen.«
Ein Strahl heller Begeisterung brach aus den dunklen Augen Gretes. Ihr Vater! Ja, er war denn doch ein ganz anderer Mann als die Väter und Brüder ihrer Freundinnen. Auch der schöne Wolfgang konnte sich nicht mit ihm vergleichen; ein Ritter des Geistes würde der niemals werden, wenn seine Erscheinung auch noch so ritterlich war.
»Natürlich, dein Vater ist und bleibt der Idealmann!« rief Herta lachend. »Ich möchte aber doch nicht tauschen mit unsern Vätern. So recht, recht viel Geld haben, das bleibt das einzig Wahre!«
»Wie kannst du nur so materiell denken, Herta!« sagte Grete ganz entrüstet. »Es gibt höheres als das Geld, was man sich dann allerdings auch mit allem Gelde nicht erkaufen kann.«
»Was denn? Da wäre ich doch neugierig!«
»Ach, du würdest es doch gar nicht verstehen, wenn ich dir unsere höchsten Glücksstunden schilderte. Wenn mein Vater uns vorliest aus seinen Werken und wir uns dann ausmalen, wie herrlich es sein wird, wenn er erst ganz berühmt ist! Der schönste Traum meiner Eltern ist eine Villa in der Nähe von Berlin, vielleicht in Wannsee oder Schlachtensee.«
»Meine Zukunftsträume sind um vieles bescheidener«, meinte Suse. »Geld gehört auch dazu. Am liebsten möchte ich das Gymnasium besuchen. Meine Eltern aber wollen davon nichts hören. Wäre ich ein Junge, dann würde natürlich keiner etwas dagegen haben, und das Geld würde auch beschafft werden für irgendein Studium. Bei einer Tochter aber, der ältesten von sieben Geschwistern, ist es schon mehr Schicksal zu nennen, so immerfort die kleinen Geschwister tragen zu müssen, den Größeren bei ihren Schulaufgaben zu helfen und im Hause vom Morgen bis zum Abend hin und her gejagt zu werden. Ich ertrage es auch nicht länger, ich will hinaus in die Welt, und wenn ich Stütze oder Gesellschafterin werden soll!«
Suse bemerkte in ihrer Erregung nicht, daß, während sie sprach, die Tür des Nebenraumes leise geöffnet wurde. Als sie jetzt aufblickte, schaute sie gerade in die sanften, blauen Augen der Mutter, die im Türrahmen stand, Klein-Kathrinchen im Arm.
»Suse, welch törichte Worte!« sagte sie vorwurfsvoll. »Eigentlich müßten wir dich einmal hinausschicken, weit fort aus der Heimat, dann würdest du wohl zur Erkenntnis kommen, wie es doch das Schönste und Beste ist, Eltern und Geschwister zu haben. Tausende von armen Waisenkindern würden alles dafür hingeben.«
Suse war dunkelrot geworden.
»Soll ich Kathrinchen nehmen?« stammelte sie in ihrer Verlegenheit.
»Ja, das kannst du. Ich wollte sie ihren jungen Paten doch noch bringen, ehe sie in ihr Bettchen gelegt wird.«
Die jungen Mädchen sprangen auf.
»Ich möchte einmal nach Hause laufen«, sagte Hilde zögernd. »Vielleicht ist eine Depesche von Wolfgang gekommen.«
»Bitte, geniere dich nicht«, rief Suse lachend. »Du hast ja doch keine Ruhe mehr; bleib aber nicht zu lange, es gibt noch Abendbrot.«
Hilde eilte davon, ihre Wohnung lag ganz in der Nähe und war schnell erreicht. Nach einer halben Stunde kam sie mit strahlendem Gesicht wieder zurück.
»Oh, die Freude, die Freude!« rief sie. »Er hat das Examen bestanden! Mit dem Depeschenboten zusammen betrat ich unser Haus. Mamas und meine Hände zitterten so, daß wir das Telegramm kaum öffnen konnten, aber dann der Jubel! Das ist der schönste Tag meines Lebens!«
Die anderen jungen Mädchen, die ihr nun herzlich gratulierten, wurden auch ganz aufgeregt über das große Ereignis. Grete meinte, der Tauftag Klein-Kathrinchens hätte dadurch eine ganz besondere Weihe erhalten, eigentlich müßten das süße Baby und der neugebackene Leutnant dereinst ein Pärchen werden.
»Arme Doktorstöchter dürfen überhaupt nicht ans heiraten denken«, erklärte Suse da. »Unser Patenkind soll einmal etwas Ordentliches lernen; wir Paten wollen es uns geloben, dafür zu sorgen, denn meine Eltern denken an so etwas nicht. Wenn ich als älteste einmal zur Hausunke bestimmt bin, will ich wenigstens alles daransetzen, daß meine Schwestern etwas lernen.«
»Ich will es auch!« rief Grete.
Frau Hebert rief die jungen Mädchen jetzt zu Tisch, aber nicht nach dem Eßzimmer an die Familientafel, das wäre kein großes Vergnügen für die junge Gesellschaft gewesen. Sie hatte für sie auf einem Balkon, deren das alte Schloß mehrere besaß, ein Tischchen decken lassen. Der Juniabend war köstlich.
Die Gläser, mit der leichten Erdbeerbowle gefüllt, klangen zusammen, das Patenkindchen mußte man doch leben lassen, und dann Wolfgang von Bork, den jungen Leutnant. Herta hatte diesen Toast ausgebracht.
»Na, Hertachen, du siehst ja so gedankenvoll aus!« rief Grete neckend. »Vor deinen Augen steht wohl der schöne Marsritter in all seiner Unwiderstehlichkeit?«
Herta wurde dunkelrot, als hätte man sie auf etwas Unrechtem ertappt.
»Ach der, der wird ja doch nie eine von uns ansehen«, seufzte sie dann so recht aus tiefstem Herzen.
»Mein Bruder hat sich eben von Jugend auf hohe Ziele gesteckt«, sagte Hilde, »daß er für Nebensächliches wenig Zeit gehabt hat.«
»Das Nebensächliche sind natürlich wir«, bemerkte Suse bitter.
Es war ziemlich spät, als Suses Freundinnen den Heimweg antraten. Suse war wieder nach dem Balkon zurückgekehrt. Die Nacht war so wundervoll. Träumerisch blickte sie auf das vom Mondlicht beleuchtete graue Gemäuer des Schlosses.
Stolze Reichsgrafen hatten einst hier residiert, lange Jahre hatte es dann zum Gerichtsgebäude der Stadt gedient. Nun trippelten kleine Kinderfüße darin treppauf, treppab.
In dem einen Seitenflügel waren von der praktischen Frau Doktor einige Räume vermietet worden. Ein junger Musiklehrer wohnte dort mit seiner Mutter. Kurt Sello hatte Musik studiert und gab Klavierunterricht in der Stadt. Auch Suse hatte Stunden bei ihm und ging sehr gern hinüber.
Es war so still und friedlich in der kleinen Wohnung, ganz anders als bei ihnen, wo ewige Unruhe herrschte und sie von den Geschwistern fortwährend in Trab gehalten wurde. Hier konnte man sich doch einmal ausruhen und so schön träumen, wenn der junge Musiklehrer auf dem Flügel fantasierte. Auch heute klang sein Spiel durch die stille Nacht zu ihr herüber.
Deutlich sah sie im Geiste sein blasses, nervöses Gesicht vor sich, das lockige Haar, die großen, dunklen Augen, die immer über die Welt mit ihren Sorgen und Mühen hinwegzublicken schienen, in eine bessere, von ihm erträumte.
Wer auch so spielen könnte! Eine Künstlerin werden und dann in die Welt hinausziehen! Unsinn, sie, Suse Hebert, eine Künstlerin! Solche törichte Gedanken konnten ihr auch nur an diesem zauberischen Sommerabend kommen.
Und glücklich soll sie ja auch nicht machen, die Kunst; Kurt Sello hatte das neulich erst ausgesprochen und dabei so traurig ausgesehen. Sie, mit ihren sechzehn Jahren im Schoße einer glücklichen Familie lebend, verstehe das allerdings nicht.
Da war es losgebrochen bei ihr, ihr ganzes bedrücktes Herz hatte sie ihm ausgeschüttet; wie sie sich fortsehne hinaus in die Welt und etwas Tüchtiges lernen möchte wie andere jungen Mädchen. Sein ganzes Leben lang das Aschenbrödel der Familie zu sein, denn als älteste von sieben Geschwistern sei man das – es wäre schrecklich!
Nicht jede Natur eigne sich zu einem selbständigen Dasein, hatte er erwidert. »Hunderte stehen vor, hinter und neben einem, denselben Zielen zustrebend, einer sucht den andern zu überholen, zurückzudrängen. Ich war froh, als ich endlich zu dem Entschluß gekommen war, den aussichtslosen Kampf aufzugeben.«
Er sei krank, furchtbar nervös, hatte Frau Sello gesagt, und dann war sie an einem trüben Novembertag nach der Bahnstation gefahren, ihn abzuholen.
Alle Doktorskinder, Suse an der Spitze, hatten sich an der Gartenmauer hinter den Taxushecken aufgestellt, den Einzug des jungen Künstlers mit anzusehen. Ein heißes Mitleid war in Suses Herz aufgestiegen, als sie das blasse, traurige Gesicht Kurt Sellos gesehen.
Unter der Pflege seiner Mutter hatte er sich dann ja ziemlich schnell erholt. Nun war er schon beinahe drei Jahre ihr Hausgenosse, gab Klavierstunden in der Stadt, komponierte, leitete den klassischen Gesangverein, und jetzt bewarb er sich um die Musikdirektorstelle am Gymnasium, wo auch sein Vater früher Lehrer gewesen war.
Das Klavierspiel im Seitenflügel brach plötzlich ab. Suse atmete tief auf. Sehnend blickte sie in die Ferne. Dort, hinter der Hügelkette lag die Welt, nach der ihr junges Herz krampfhaft verlangte. Sie würde sicher nicht flügellahm zurückkehren, dürfte sie hinausziehen. Sie war ja keine Künstlerin, nur ein ganz gewöhnliches Menschenkind. Aber – sie durfte ja nicht ziehen!
»Die älteste Tochter gehört ins Haus, wenn sechs jüngere Geschwister vorhanden sind!« hatte ihr Vater erklärt, als sie gewagt, ihre Zukunftsträume wieder einmal laut werden zu lassen. Unter ihrer Mutter Leitung könne sie alles lernen, was zu einer tüchtigen Hausfrau gehöre, und weiter sei nichts nötig.
Wenn sie aber nun nicht heirate, was sie dann mit solchen Hausfrauenkenntnissen solle, wagte sie einzuwenden.
»Vorläufig bleibt meine älteste Tochter im Hause und hilft der Mutter«, wurde ihr kurz und bündig erwidert. Wenn Martha die Schule verließe, könne man ja die Sache wieder ins Auge fassen. Martha, die kleine Träumerin, die immer so still mit Puppen und Blumen spielte, sie sollte dereinst ihre Nachfolgerin in der Aschenbrödellaufbahn werden! Ordentliches Mitleid erfaßte sie mit dem kleinen, sinnigen Geschöpf. Aber ehe es erwachsen, war ja noch endlos lange Zeit, bis dahin hatte sie alle Zukunftsträume wohl längst begraben.
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Vorläufig wurden diese Zukunftsträume nun allerdings von Suse noch nicht begraben. Mit einer gewissen Ergebenheit ertrug sie ihr Schicksal, die älteste zu sein, und besorgte ihre vielen Pflichten.
Sehr häufig erschienen ihre Freundinnen, sich nach ihrem Patenkindchen umzusehen Herta und Grete hatten ja kaum andere Pflichten, besonders Herta, das Kind des Reichtums.
Grete Bonin führte weniger in materieller, als in geistiger Hinsicht ein glückliches, reiches Leben. Wirkliche Sorgen hatte von den vier jungen Mädchen bis jetzt nur Hilde kennengelernt. Sie war zwölf Jahre alt gewesen, als ihr Vater starb. Aber sie hatte tapfer ihren Schmerz zurückgedrängt und war der Sonnenschein der armen, schwergeprüften Mutter geworden. Den kleinen Haushalt besorgte sie nun schon ganz allein ohne Mädchen, sparte, soviel sie konnte, so daß für Wolfgang die nötige Unterstützung stets vorhanden war. Was sie für sich brauchte, verdiente sie sich mit Handarbeiten. Sie war eben eine jener immer seltener werdenden selbstlosen Frauennaturen, die ganz in Liebe und Sorge für andere aufgehen.
Über Suse kam immer eine gewisse Beschämung, wenn sie sich mit ihr verglich. Warum konnte sie nicht auch so selbstlos sein, warum tat sie alles, was von ihr verlangt wurde, mit Unlust? Es drängte sie hinaus aus den engen Kreisen, aber niemand fand sich, der rechtes Verständnis für sie hatte.
Die einzige war noch Herta, die ihr wenigstens darin recht gab, daß ihr Dasein ein recht schweres und mühseliges sei und man es ihr nicht verdenken könne, wenn sie versuchte, es zu ändern.
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Auch heute hatte Suse wieder einmal Herta gegenüber ihrem Herzen Luft gemacht. Diese lag, in ein weißes Morgenkleid gehüllt, das blonde Haar aufgelöst, auf der Couch in ihrem Zimmer. Suse saß am Tisch und ließ sich die Schokolade und den Kuchen, die der Diener gebracht, herrlich munden. Das frische, blühende Doktorskind hatte immer Appetit, und Schokolade war für sie das Köstlichste, was es gab. Trotz der süßen Beschäftigung plauderte das kecke, rote Mündchen unaufhörlich. Herta hörte ihr zu, wie sie von all ihren Pflichten, die sie tagaus, tagein zu erfüllen hatte, erzählte. »Ja, du hast es wirklich recht schwer«, stimmte sie ihr dann zu. »Du wirst nie dazu kommen, dich recht auszuleben.«
»Ausleben!« Suse schaute etwas verblüfft auf die Freundin.
»Ja, ausleben«, fuhr diese fort. »Der moderne Mensch soll das nämlich. Neulich in einer Gesellschaft wurde dieses Thema erörtert, das war interessant, sage ich dir! Der Landrat und seine junge Frau, ach, das sind moderne Menschen! Ein Hauch von Großstadtluft umgibt sie, sie sind ja auch direkt von Berlin hierhergekommen.«
Sich ausleben! Das war wieder eins der Schlagwörter, wie sie Herta schon öfter in den Gesellschaften aufgeschnappt hatte. Suse gefiel das Wort ausnehmend; sich ausleben, das war es ja, was sie wollte und nicht konnte, nicht durfte.
»Wer das könnte!« seufzte sie. »Großstadtluft atmen, sich ausleben, das klingt so modern, so gar nicht kleinstädtisch.«
»Um das Kleinstädtische abzustreifen, muß man eben notwendig in jedem Jahr einmal nach Berlin fahren.«
»Ja, das könnt ihr reichen Leute wohl ausführen, ich aber bin festgebannt in grauen, öden Mauern. Hätte mein Vater wenigstens das alte Schloß nicht gekauft! Da ist man ja wie begraben, da dringt nichts hinein von Großstadtluft.«
»Man muß sich sein Schicksal selbst schmieden, so ähnlich sagte der Landrat, als von der Persönlichkeit die Rede war. Versuche es doch, schmiede dir dein Schicksal, geh nach Berlin! Wir haben Verwandte und viele Bekannte dort, vielleicht kann ich dir irgendeine Stelle als Gesellschafterin, Kinderfräulein oder sonst einen Posten verschaffen. Dann sagst du zu deinen Eltern, du wärest ein modernes Menschenkind, wolltest dich ausleben! Schließlich werden sie das schon begreifen und nachgeben.«
»Schwerlich«, seufzte Suse, indem sie ein Stück knusprigen Kuchen in den Mund steckte. Als aber Herta jetzt von ihrem Geburtstag zu Plaudern begann, der in vierzehn Tagen war und mit einem Tanztee gefeiert werden sollte, leuchtete es hell auf in ihren braunen Augen, tanzte sie doch für ihr Leben gern.
»Werden denn auch genug Tänzer da sein?« fragte sie.
»Oh, Hildes Bruder kommt ja!«
Suse lachte. »Der Herr Leutnant, der schöne Wolfgang? Die Aussicht ist ja überwältigend. Leider kann er aber auch immer nur mit einer tanzen, mehr leistet ein Leutnant, mag er noch so schön sein, auch nicht.«
»Mehr soll er auch nicht leisten. Wenn er überhaupt nur da ist, das gibt doch erst dem Ganzen die rechte Weihe. An anderen Herren wird kein Mangel sein, meine Brüder und ihr Freund, unser Chemiker, Herr Sello. Wolfgang von Bork aber wird sie natürlich alle überstrahlen.«
»Aber Herta, wie kann man sich so von der äußeren Erscheinung bestricken lassen?«
»Oh, er ist sicher auch ein guter Mensch; Hilde ist doch immer seines Lobes voll.«