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Die Tanzwut (italienisch: "tarantismo") ist ein historisch-religiöses Phänomen, das bis vor wenigen Jahrzehnten hauptsächlich in kleinen Dörfern Süditaliens vorkam. Es geht auf das griechische Zeitalter zurück. Berichten zufolge wurden einige Tagelöhnerinnen in der Sommersaison auf den Tabakfeldern von einer Spinne, der sogenannten Vogelspinne, gebissen. Der Biss verursachte eine Reihe von Symptomen, wie beispielsweise einen Zustand psychischer und körperlicher Abwesenheit, Appetitlosigkeit und sexuellen Verlangens. Es handelt sich somit um eine Art physischer Katalexie. Einige Dorfbewohner hielten diese Frauen für geistig gestört. Die sogenannten "Tarantate" oder "Pizzicate", auf Deutsch die "Gebissenen" genannt, waren arme junge Bäuerinnen, die in verlassenen Landhäusern ohne Licht und Toiletten lebten, von den Männern ihrer Familien gedemütigt wurden und ein Leben voller Arbeit und sozialer, emotionaler und sexueller Einschränkungen führten. Um den 29. Juli, das Fest des Heiligen Beschützers, Sankt Paulus, zeigten die Frauen eine unerwartete körperliche Vitalität. Sie wurden aggressiv, legten erotische Haltungen an den Tag und bewegten sich wie Spinnen, indem sie auf Möbel kletterten oder am Boden herumkrabbelten. Einige Musikanten besuchten sie in ihren armseligen Häusern, um ein musikalisches Ritual durchzuführen. Dann wurden sie zur Kirche des Heiligen Paulus nach Galatina geführt. Dann zeigten andere Frauen dieselben Symptome, obwohl sie nicht auf den Tabakfeldern arbeiteten und daher nicht von der Vogelspinne gebissen worden waren. Mit anderen Worten lehnten sich diese Frauen gegen ihren Zustand existenzieller Armut auf, in dem ihnen alles, auch Zuneigung und Sexualität, vorenthalten wurden. Die folgende Erzählung berichtet von einer "Tarantata", die in den 1960er Jahren des italienischen Wirtschaftswachstums immer noch anachronistische Verhaltensweisen an den Tag legt, die von der Kirche und auch von der Medizin nicht länger toleriert werden.
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Seitenzahl: 46
Veröffentlichungsjahr: 2021
Einleitung
Die Tanzwut (italienisch: „tarantismo“) ist ein historisch-religiöses Phänomen, das bis vor wenigen Jahrzehnten hauptsächlich in kleinen Dörfern Süditaliens vorkam. Heute wird es aber auf sporadische Episoden abgetan, die als Folklore gelten. Dennoch wurde das Phänomen nicht nur in Italien eingehend untersucht. Es war im Besonderen in der Region von Salento Gegenstand universitärer Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet. Die Region von Salento befindet sich in der Provinz von Lecce in der geografischen Region Apuliens in Süditalien. Das Phänomen ist uralt und geht auf das griechische Zeitalter zurück. Berichten zufolge wurden einige Tagelöhnerinnen in der Sommersaison auf den Tabakfeldern von einer Spinne, der sogenannten Vogel-spinne, gebissen. Der Biss verursachte eine Reihe von Symptomen, wie beispielsweise einen Zustand psychischer und körperlicher Abwesenheit, Appetitlosigkeit und sexuellen Verlangens. Es handelt sich somit um eine Art physischer Katalexie. Der Körper war sich selbst überlassen. Einige Dorf-bewohner hielten diese Frauen für geistig gestört. Die sogenannten „Tarantate“ oder „Pizzicate“, auf Deutsch die „Gebissenen“ genannt, waren arme junge Bäuerinnen, die in verlassenen Landhäusern ohne Licht und Toiletten lebten, von den Männern ihrer Familien - Brüdern, Vätern und Ehemännern - gedemütigt wurden und ein Leben voller Arbeit und sozialer, emotionaler und sexueller Einschränkungen führten. Kurz vor der Sommersaison, der Erntezeit und der Zeit der Gewinne durch den Verkauf der Früchte der Erde, mit denen man dann die Schulden des Jahres begleichen konnte, änderten sie ihre Verhaltensweisen. Im Besonderen, wenn sich der 29. Juli, das Fest des Heiligen Beschützers, Sankt Paulus, näherte, der als der Beschützer der „Tarantate“ galt, zeigten die Frauen eine uner-wartete körperliche Vitalität. Sie wurden aggressiv, als würden sie von einem unbändigen motorischen Bedürfnis angetrieben. Sie strebten danach, sich in den Mittelpunkt des Geschehens zu stellen, um der Unterdrückung eines ganzen Jahres entgegen-zuwirken. Sie legten erotische Haltungen an den Tag und bewegten sich wie Spinnen, indem sie auf Möbel kletterten oder am Boden herumkrabbelten. Einige Musikanten besuchten sie in ihren armseligen Häusern, um ein musikalisches Ritual durchzu-führen, bei dem sie stundenlang im Rhythmus von Akkordeon, Gitarre und Tamburin tanzten. Nachdem diese Form des Exorzismus einige Tage durchgeführt worden war, begannen die Frauen wieder zu lächeln und ihr Appetit kam zurück. Dann wurden sie, wie die Tradition es wollte, auf Pferdewagen gelegt und zur Kirche des Heiligen Paulus in ein kleines Dorf in der Nähe von Lecce, nach Galatina geführt, um dem Heiligen für die erfahrene Heilung zu danken. Hier kletterten sie vollkommen zerzaust und schmucklos in langen weißen Röcken, wie betrun-ken, auf die Altare. Hier sprangen sie herum wie die Grillen, die vom von den Musikanten angegebenen Rhythmus beherrscht waren. Die dröhnende Musik veranlasste sie zu immer gewaltige-ren Bewegungen. Einige von ihnen erlitten sogar Verletzungen, weil sie in der Kirche zu Boden fielen oder auf dem Bürgersteig des Platzes vor der Kirche stürzten. Es kam sogar dazu, dass die öffentliche Gewalt einschreiten musste. Am Ende dieser Art von Erntedankfest, das aus Musik und Tanz bestand, tranken sie das Wasser aus dem heiligen Brunnen der Kirche von San Paolo und erbrachen das Gift der Vogelspinne, von der sie auf den zu erntenden Tabakfeldern gebissen worden waren. Dann nahmen sie erneut ihre üblichen Verhaltensweisen auf und wurden von ihren Familienmitgliedern umarmt. Im Laufe der Jahre zeigten zahlreiche arme Frauen, die auch ein Leben als Opfer der Männer und der dörflichen Subkulturen lebten, dieselben Symptome, obwohl sie nicht auf den Tabakfeldern arbeiteten und daher nicht von der Vogelspinne gebissen worden waren. Welcher war wohl der Grund dafür? Nun war die Rede vom virtuellen Biss der fürchterlichen Spinne. Mit anderen Worten lehnten sich diese Frauen gegen ihren Zustand existenzieller Armut auf, in dem ihnen alles, auch Zuneigung und Sexualität, vorenthalten wurden. Sie versetzten sich in ein und denselben Trancezustand wie die von der Spinne gebissenen Frauen. Sie befreiten sich somit in dieser Sommerzeit von allen emotionalen und körperlichen Einschränkungen und von den im Laufe des Jahres angesammel-ten Entbehrungen. Es erfolgte somit dasselbe wie mit der Zahlung der angesammelten Schulden durch die Ernte der Früchte der Erde. Die folgende Erzählung berichtet von einer „Tarantata“, die in den 1960er Jahren des italienischen Wirt-schaftswachstums immer noch anachronistische Verhaltenswei-sen an den Tag legt, die von der Kirche und auch von der Medizin nicht länger toleriert werden. Kirche und Medizin wollen diese Frau, die das Opfer einer unglücklichen, unerwiderten Liebe ist, loswerden und für verrückt erklären.
Zusammenfassung
Im Juni geschah im Dorf etwas Unvorhersehbares, das man gleichzeitig fast als Ritual bezeichnen konnte. Der Friseur schloss seinen Laden und die Frauen versteckten sich im Haus und warteten auf die Musikanten. Felicia hatte entdeckt, dass sie eine Frau geworden war, aber die respektlose Bezeichnung, die ihrer Mutter vorbehalten war, blieb für sie ein Rätsel. Zu jener Zeit gegen Ende der 1950er Jahre trugen die Jungs in dieser Gegend von Salento auch im Winter kurze Hosen, während die Mädchen unbedingt Röcke tragen mussten, die ihre Knie bedeckten. Die Menarche enthüllte eine Welt aufkommender Leidenschaften, die aber durch ein schwer auszumerzendes Gesetz verhindert wur-den. Das Rätsel wurde im Juni 1959 gelöst, als ihre Mutter krank wurde und die Musikanten zu sich bat. Das Orchester des Friseurs spielte den so geschätzten Basston, der für seinen befreienden Rhythmus bekannt war. War Catanina eine „Gebissene“? Felicia sah sich mit einer Realität konfrontiert, die Jahrein Jahraus gleichzeitig gefürchtet und erhofft wurde. Denn der Exorzismus des Tanzes, der Klänge und Farben ermöglichte die Austreibung des Giftes von den Tagelöhnerinnen, die während ihrer Arbeit auf den Tabakfeldern von der Vogelspinne gebissen worden waren. Auch Felicia verliebte sich zum ersten Mal. Aber ihr Geliebter war unerreichbar, denn er war der Prinz