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Die Kontinente werden durch die Mauern getrennt, es gibt nur die Heimat. Die Erde dreht sich dennoch weiter. Als Wiederholer an einer belgischen Schule findet sich Frederic Blanc in einem Leben voller Unsicherheit wieder. Doch als sein bester Freund Will Rogers, ihm von einem geheimnisvollen Paradies in Südamerika erzählt, beschließt Frederic seinem Freund auf eine lebensverändernde Reise zu folgen.
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Seitenzahl: 419
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Voyager
Wortart: Substantiv (Maskulinum)
Aussprache: [ˈvɔɪɪdʒər]
Bedeutung:
1. Ein Reisender oder Abenteurer, der eine lange und oft epische Reise unternimmt, sei es physisch oder metaphorisch.
2. In der Literatur und Popkultur: Eine Figur oder ein Thema, das mit Entdeckungsreisen, Abenteuern im Weltraum oder anderen epischen Reisen in Verbindung steht.
Wortart: Verb
Aussprache: [vwa.ja.ʒe]
Bedeutung:
1. Im Französischen: reisen, eine Reise unternehmen.
Eigenverlegt
Mit Liebe und Geduld geschrieben und gezeichnet, um zu begeistern
Voyager
Die ewige Reise des Frederic Blanc
Der Mythos beginnt
Story: Robin Hochhausen
Illustrationen & Cover: Sushiroid
Für Susi und Thilo
Kapitelübersicht
I. Die Ruhe vor dem Sturm .....................................................................9
II. Weiß ................................................................................................ 20
III. Ein Junge namens Will ................................................................... 26
IV. Die Welt außerhalb der Mauern ...................................................... 34
V. Die Entscheidung ............................................................................. 49
VI. Der leere Abschied ......................................................................... 59
VII. Aufbruch ....................................................................................... 71
VIII. Eine andere Perspektive ............................................................... 83
IX. Welcome to Ireland ........................................................................ 93
X. Schöner Horizont ........................................................................... 116
XI. Mirai (未来) ................................................................................. 127
XII. Ein Angebot, dass man nicht ablehnen kann................................. 140
XIII. Trügerischer Schein ................................................................... 152
XIV. Pantheon.................................................................................... 169
XV. Alles nur ein einziger Traum ....................................................... 181
XVI. Die Leere – The Void ................................................................ 185
XVII. Eine neue Routine .................................................................... 195
XVIII. Die Suche nach Will ................................................................ 202
XIX. Fetzen........................................................................................ 208
XX. On the Road to West End ............................................................ 211
XXI. Will-o‘-Wisp ............................................................................. 242
XXII. Zuhörer .................................................................................... 256
XXIII. Das Gesicht der Unterwelt ....................................................... 274
XXIV. Ein Umweg für Ruben............................................................. 297
XXV. Quid pro Quo ........................................................................... 351
Prolog
I. Die Ruhe vor dem Sturm
Ich gehe langsam auf das ins Dunkel getauchte Gebäude zu. Es ist eisig, aber keine Kälte, an die ich mich mittlerweile nicht schon gewöhnt hätte. Ich stehe nun unmittelbar vor der Taverne – eigentlich suche ich doch nur einen Ort, wo ich den Rest des Abends verweilen kann, und doch schwebt nur dieser eine Gedanke in meinen Kopf: Was wäre wohl geschehen, wenn das Blatt damals nicht leer gewesen wäre?
Diesen Gedanken werde ich bis zu meinem letzten Tag wohl nicht aus meinem Gedächtnis bekommen. Lasst mich euch von einer Geschichte erzählen, die jeder kennt, aber niemand ihren Ursprung …
»Und ganz wichtig ist der Vertrag von 1883, ohne ihn gäbe es heute nicht die großen Mauern und …«
»Hey, wach auf, bist du wieder am Träumen oder was ist mit dir los?«, flüsterte Patrik. Ich schnellte hoch und begriff erst wenige Sekunden später, dass es nicht der Lehrer war, der mich in meinem Tagtraum störte.
»Jo, seit wann stört es dich denn, wenn ich bei einem langwei-ligen Schülerreferat nicht aufpasse? Ich bin in pre-modern-history sowieso ein Ass, give me a break.« Ich versuchte einerseits frech zu sein und andererseits ihm in seiner Muttersprache deutlich zu machen, dass ich heute keine Lust auf Gespräche hatte. Patrik Williams war ein Aus-tauschschüler aus Großbritannien und sowas wie ein Freund von mir –
nicht, dass ich nicht schon genug britische Freunde gehabt hätte, aber ich hatte ihn an meiner Schule herumgeführt und wir verstanden uns von Anfang an ganz gut und seitdem hingen wir ab und an ab. Aber die ganzen Mädchen, die um ihn herumflogen, nervten schon ein wenig.
Die konnten uns nicht mal für fünf Minuten in Ruhe lassen. Na ja, das ist wohl eine andere Sache.
»Schau dir die Karte an«, sagte Patrik, der nicht gewillt war, meinem Wunsch zu folgen. Er blickte spannend auf die Europakarte, die der vortragende Schüler zu seiner Unterstützung nutzte. »Ist es nicht faszinierend, dass solche Dinger wie die Mauern existieren?«
»Mir ist egal, wo eure Faszination für die Dinger herkommt«, erwiderte ich. »Laufen in Belgien nicht genug zusammen?« Obwohl ich fragte, war mir Patriks Antwort einerlei.
In Belgien kamen echt allerlei Menschen aus den verschiedensten Ländern zusammen. Schließlich traf man hier auf Personen, die vielerlei Sprachen sprechen konnten. Da Französisch, Englisch, Deutsch und Spanisch fast gleich weit verbreitet waren, konnte so ein wenig Sprachübung ja niemandem schaden. Ich persönlich kann neben den Hauptsprachen noch Niederländisch und Flämisch, aber das brachte mich außerhalb meiner Heimat nicht viel weiter.
»Aber nur aus Europa! Alles andere bekommen wir nicht mit!«, echauffierte sich Patrik, der den müden Nagel einen weiteren Hieb auf den Kopf bescherte.
Immer dieselbe Leier, dachte ich.
»Seitdem genießen wir einen glorreichen Aufschwung der Konjunktur und haben die längste Friedensperiode seit den Dunklen Zeiten …«, so klingelte es in meinen Ohren. Seit mich Patrik aus meinem Tagtraum gerissen hatte, konnte ich dem einlullenden Geschwafel des Vortragenden nicht mehr entkommen.
»Danke, Patrik …«, murmelte ich ihm entgegen, um ihm zu zeigen, dass ich gar nicht erpicht über die Situation war.
»Frederic! Gibt es etwas, dass du zum Thema beizusteuern hast?«, unterbrach Frau Karlsbach – meine Lehrerin – den
Vortragenden, der sich scheinbar nicht an meiner gedanklichen Abwe-senheit gestört hatte. Sie wiederum schon.
»Nein, Frau Karlsbach. Ich wollte lediglich …«
»Es ist mir egal, was du wolltest! Du störst den Unterricht!
Kannst du uns eben noch erklären, in welche Teile sich das Fach History teilt, damit wir alle noch feststellen können, ob du noch anwesend bist?« Sie formulierte die Bitte fragend, aber jeder wusste, dass es mehr als nur eine Aufforderung war. Ich musste mich beugen.
»Es spaltet sich in das Dunkle Zeitalter und die Helle Moderne«, ich folgte der Aufforderung, machte aber keinen Meter mehr als von mir verlangt wurde.
»Und von welcher Zeit handelt das Referat?«, bohrte sie weiter.
»Natürlich der Hellen Moderne. Also der Zeit nach 1883 und der Konferenz von Genf. Und damit begann der Beginn der Mauern.«
»Gut, dann machen wir mit dem Referat weiter«, sie wendete die Aufmerksamkeit von meiner Person ab und zurück zum Schüler, der starr vor der Klasse stand und wartete fortfahren zu dürfen.
Ich schaltete sofort wieder ab.
Aufschwung der Konjunktur … Längste Friedensperiode … esist einfach nichts mehr passiert, dachte ich.
»Was hast du Frederic?«, fragte Patrik, nachdem die Luft wieder rein war.
»Das ist doch lächerlich!«
»Was meinst du?« Patrik runzelte die Stirn.
»Im 19. Jahrhundert haben die Europäer versucht sich die ganze Welt unter den Nagel zu reißen. Schön und gut, dass die USA als Leitwolf zusammen mit der größten Koalition der Welt gegen die Bestrebungen vorgegangen sind, aber wenn wir uns die Karte ansehen, siehst du es doch, oder?«
Patrik musterte die Karte, die er eben schon angesehen hatte, aber es wurmte ihn, dass ich etwas sah, was ihm scheinbar entging.
»Ich sehe es nicht«, gestand er ein.
»Darum geht es gerade«, flüsterte ich und musste ein erfreutes Lächeln unterdrücken. »Außerhalb von unserem europäischen Gebiet ist da nichts mehr. Durch die Konferenz der Mitte in Genf, 1883, begann der Umbruch und damit der Bau der Mauern, die alle Kontinente trennen würden.«
»Achso«, sagte Patrik, der noch nicht Begriff vorauf ich hin-auswollte.
»Richtig, und nur deswegen zu behaupten, alle würden in friedlicher und harmonischer Isolation leben, ist doch pervers!«
Patrik rieb sich die Stirn und dachte intensiv nach.
Er denkt tatsächlich darüber nach. Im Endeffekt ist mir dasGanze aber egal, dachte ich. Was die anderen Kontinente machen, sollihre Sache sein. Ich habe genug Probleme in meinem kleinen Bezirk inder belgischen Stadt Löwen. Im Vergleich zu Europa oder der restlichen Welt ist der Ort nicht größer als ein Vogelschiss, aber trotzdem
habe ich hier mehr nervige Probleme, als einem 19-Jährigen lieb war.
Dennoch hat mir diese Darstellung der Geschichte noch nie gefallen.
»Und deshalb konnte die Helle Moderne beginnen, und wir den Frieden und den Wohlstand der neuen Zeiten hervorbringen«, hallte es triumphierend durch den Klassenraum, gefolgt vom stumpfen Klopfen auf die Tische knallender Fingerknöchel. Der Vortrag war beendet und die Stunde beinahe vorbei.
»Einen Moment noch! Bevor ihr alle, wie auch sonst immer, aus der Klasse flitzt, habe ich hier noch eure Bögen zur Berufsbera-tung, die ihr bis zur nächsten Sitzung ausfüllen sollt. Macht euch schon mal ein paar Gedanken. Wir können danach in den Beratungsgesprä-chen intensiver über eure Vorstellungen sprechen. Bis dahin arbeitet fleißig, die Abschlussprüfungen stehen bereits in zwei Wochen vor der Tür, aber ich sehe bei keinem von euch die Gefahr, durchzufallen, also gebt euer Bestes!«, gab uns Frau Karlsbach zum Abschluss der Stunde mit auf den Weg.
Patrik nutzte die Gelegenheit, neigte sich erneut zu mir und spaßte. »Hey, sag mal, bist du schon vorbereitet? Ich meine, ich schreibe meinen Abschluss erst, wenn ich wieder zu Hause in Großbritannien bin … aber du … du wirkst verdächtig gelassen.«
»Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich bin schon zweimal durchgerasselt … Ich habe nicht vor, ein weiteres Mal hier zu hocken und mir diesen Vortrag zu geben – immerhin bin ich schon 19«, ich lachte, wusste aber genau, dass ich weder vorbereitet
war noch den geringsten Schimmer hatte, wo ich morgen oder gar übermorgen stehen würde. Ich war nie der Typ gewesen, der sich vorstellte, wo der linke Fuß aufsetzt, während ich den rechten gerade erst abgesetzt hatte. Meine sorgenfreie Art lag möglicherweise daran, dass ich als Neugeborenes von meinen Eltern ausgesetzt wurde und meine Adoptiveltern versucht haben, mit einer Mixtur aus bedingungsloser Liebe und Einfühlsamkeit mein Trauma zu kompensieren. Versteht mich nicht falsch, ich habe Gefühle, aber ich habe nie begriffen, warum ich mir über Eltern Gedanken machen sollte, die ich nie gekannt habe?
Ich habe das Glück, keine Erinnerungen daran zu haben, weil ich noch ein Baby war, und kenne nur meine Adoptiveltern. Glück im Unglück, behaupte ich.
*BAMM*
Laryssa, unsere selbsternannte Göttin des Kampfsports und Top-Athletin der Klasse, stand plötzlich vor mir. Stark mochte sie zwar sein, aber musste sie das Blatt so harsch auf meinen Tisch knallen?
»Du kannst dich wenigstens für das Austeilen bedanken, Run-dendreher!«, stachelte sie unnötig.
»Vielen Dank, Gnädigste«, erwiderte ich.
Sie warf mir einen verwirrten Blick zu. Da ich schon zwei Mal sitzengeblieben war, war meine Verbindung zu den neuen Stufen nie gut gewesen. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich mir keine Mühe
gegeben hatte, mich zu integrieren, aber stören tat mich die Situation auch nicht. Solange Laryssa mich weiter mit Wörtern bekämpft undnicht beginnt, ihre Fäuste und Beine zu nehmen, bin ich sicher, flog es durch meinen Kopf.
Ich nahm den Beratungsbogen von meinem Tisch und blickte das erste Mal seit 45 Minuten durch den Raum und nach draußen. Ich hatte nicht wahrgenommen, dass der Regen aufgehört hatte und sich ein Regenbogen über das Feld neben der Schule erstreckte. Eins kann ich garantieren, eine Aussicht wie von Altdorfer gezeichnet. Aber im Sommer roch das Düngemittel so streng, dass man die Fenster schließen musste und dann am fehlenden Sauerstoff erstickte. Übrigens, glaubt nicht, dass ich die hellste Leuchte gewesen war. Ich meine, ich war zweimal durchgefallen, das sollte für sich sprechen. Der Grund, weshalb ich einiges über Geschichte weiß oder so Namen wie Albrecht Altdorfer kenne, liegt schlichtweg daran, dass ich mich in einem Min-destmaß für Geschichte, vor allem für den Teil, der als Dunkles Zeitalter bezeichnet wird, interessiere und Kunst ganz schön finde. Also, wenn ihr mal Zeit findet, schaut euch mal Altdorfers Donaulandschaftmit Schloss Wörth an, schon ein schönes Gemälde.
Wo war ich nochmal stehengeblieben? Ach ja, wie ihr seht, laufen die meisten Prozesse in meinem Kopf ab, während alles um mich herum einfach vorbeizieht. Vielleicht hätte ich Patrik damals sogar dankbar sein sollen, dass er mich ab und an in die Realität
zurückholte. Wie wäre die Geschichte wohl ausgegangen, wenn er gar nicht da gewesen wäre?
Ich drehte mich um, schaute weg vom Fenster und in Richtung Flur. Patrik wartete in der Tür, wie immer eingeengt von Sylvia, Mo-nique und Anna. Ich schlich zu den Vieren und packte Patrik am Ärmel seines Pullovers. »Schluss für heute. Patrik hat noch andere Verehre-rinnen …«, sagte ich freudig lächelnd.
»Ooooi, Frederic, musste das wirklich sein?«, murmelte Patrik.
»Ja, musste es«, lachte ich ihm ins Gesicht.
Spätestens jetzt ist es Zeit für eine Vorstellung: Ich heiße Frederic Blanc, war zu dem Zeitpunkt 19 Jahre alt und wiederholte zum zweiten Mal meine Abschlussklasse. Ich war nicht der Typ für große Worte, streiten konnte ich mich gut, und im Endeffekt hatte ich nur wenige Freunde, mit denen ich mich wiederum klasse verstand. Was ich später machen wollte, wusste ich noch nicht. Auch wenn ich nicht gut in der Schule war, war eine dritte Extrarunde immer noch eine Option, denn was da draußen in der Welt auf einen wartete, konnte nur schlimmer sein als die jugendliche Hölle, die sich Abschluss machen schimpfte, richtig?
Auf dem Weg heraus aus dem Schulgebäude erzählte mir Patrik, welches Mädchen aus Belgien ihm am besten gefiel, dass er aber niemals seine britischen Gals betrügen würde. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob er auch in der Heimat so ein Ladies-Man war, aber ein
britischer Akzent kam hier schon immer gut an, und so viel Selbstbewusstsein, wie der Junge hatte, sollte einfach verboten sein …
»Ah, endlich hat der Regen aufgehört und langsam lässt auch die Schwüle nach. Was für ein schöner Spätsommertag! Hast du für heute noch irgendwelche Pläne, Frederic?«, fragte Patrik, die Antwort antizipierend.
»Pläne habe ich keine, aber ich werde mich zunächst mal zu Hause sehen lassen, falls du später noch was starten möchtest, weißt du ja, frag mich als Letztes und erwarte nicht zu viel«, rief ich meinen Standardtext perfekt ab.
»Oh, man, irgendwann bekomme ich dich mal spontan nach draußen und dann feiern wir, bis die Nacht zum Tag wird.«
»Bist du unter die Dichter gegangen?«, fragte ich schmunzelnd.
»Man sollte zumindest wissen, was man sagt, da können so ein paar feine Sprüche doch nicht schaden, oder?« Patrik strahlte bis über beide Ohren.
Erschreckend, welch eine Ausstrahlung manche Menschen mitso wenigen Worten haben können. Charisma oder so nennt man das,aber das Wort beschreibt mit Nichten die Wirkung einer solchen Fähigkeit. Ein solcher Gedanke fuhr mir bei zwei Personen, die ich kannte, durch den Kopf. Eine davon war Patrik.
»Und wenn wir schon dabei sind, davor gehen wir selbstverständlich einkaufen, verstehe mich nicht falsch, ich feiere dich, aber mit deinen wilden Looks bekommst du keine rum …«
Mein Blick fiel an mir herunter: enge Jeans, vielleicht ein bisschen zu lang; ein rotes T-Shirt und darüber meine orangene Strickja-cke. »Was meinst du?«, fragte ich.
»Also, zum einen sind deine Schuhe ein bisschen alt, oder nicht? Deine Haare liegen immer so faul auf deinem Kopf herum, damit kannst du sicher eine Menge anstellen, und deine Farbkombination an Klamotten … ist einfach viel zu viel!« Patrik brach fast in einem Lachanfall aus, aber ich wusste, er meinte alles in keinem Fall böswil-lig.
»Meine Schuhe mag ich eben, die Klamotten nehme ich mir morgens einfach aus dem Schrank und meine Haare, gut, das kann ich verstehen, aber zum Friseur zu gehen, ist immer so nervig. Vielleicht rasiere ich mir die einfach ab.«
»Ah, Glatze und dann so Springerstiefel, ne? Der Trend ist aktuell voll in Mode, den tragen ja quasi alle, du alter Kenner, du!«
Ich blickte ihn verdutzt an. »Ja … genau, ich kenne mich natürlich mit Mode aus, so einer bin ich.« Wir fingen beide lauthals an zu lachen, bis wir bemerkten, dass wir nun schon eine ganze Weile vor der Schule standen und sich die Wolken wieder zusammenzogen. Wir verabschiedeten uns und versprachen uns, dass wir uns am Wochenende nochmal treffen würden …
II. Wei ß
Ich saß in meinem Zimmer. Das Licht war aus, die einzige Lichtquelle war meine alte Schreibtischlampe, sie hüllte mein kleines Zimmer in ein trübes gelb. Ich starrte nun schon seit geraumer Zeit auf meinen Tisch, auf dem sich nichts befand, außer einem weißen Blatt.
Ich starrte es an, das Blatt starrte zurück.
»Ich kann nicht glauben, dass ich mir um halb zwölf nachts ein Blickduell mit einem verdammten Blatt Papier liefere … und anscheinend auch noch verliere. Ah, ich verliere langsam den Verstand«, heulte ich durch mein Zimmer.
Ich zuckte auf. »War das gerade zu laut? Ich hoffe, ich habe meine Eltern nicht geweckt, wenn Papa seinen Schlaf nicht bekommt, ist er morgen wieder mies gelaunt. Seine Arbeit macht ihm schon genug zu schaffen.« Ich ließ mich in meinen Schreibtischstuhl
zurückfallen, schob die Lehne nach hinten und starrte nun gegen die leicht gelblich erhellte Decke.
»Es ist schon faszinierend, was wir alles von da drüben impor-tiert haben, ob die wohl auch etwas von uns importieren? Wahrscheinlich nicht, die haben doch hundertprozentig alles und noch mehr, das können wir Europäer uns gar nicht alles vorstellen …«
*PLING* *PLING*
Die Stille der Nacht war durch ein lautes Geräusch zerschnitten worden.
»Meine Güte, wer spielt hier so mit meinem Herz, ich erschrecke mich doch schon sowieso so leicht.« Ich lief in den Flur, die kleine Treppe herunter und fand eine zerbrochene Vase im Wohnzimmer. Ich hörte den Wind durch das offen gelassene Fenster heulen und dachte mir nur, dass hoffentlich nicht ich derjenige war, der vergessen hatte es zu schließen. Ich ging zum Fenster und begutachtete das Wetter.
Aus dem Regen von heute ist ein kleiner Sturm geworden, dachte ich, schloss im Anschluss das Fenster und versuchte die Scherben bestmöglich zu entfernen. Da meine Eltern bisher noch nicht her-untergekommen sind, werden sie wohl noch schlafen. Ich hoffte, dass meine Gedanken die Realität spiegelten.
Langsam und behutsam räumte ich auch die letzten Reste weg und schlich mich auf leisen Sohlen wieder zurück in mein Zimmer.
»Wie kannst du nur so hell strahlen, wenn der Rest des Raumes in tiefste Finsternis gehüllt ist?«, fragte ich das weißstrahlende Blatt Papier, das wohl auch weiterhin keine Liebe von meinem Füllfederhal-ter erfahren würde. »Okay, ein letztes Mal probiere ich es noch. Bis Mitternacht und keine Minute länger!« Den Blick auf das diabolisch dreinschauende Blatt Papier richtend begutachtete ich es erneut, es schrieb:
Liebe Eltern, liebe Schüler,
auch dieses Jahr stehen unsere Beratungsgespräche mit euch an. Wir bieten Ihnen die Möglichkeiten mit professionellen Arbeitnehmern und
-gebern aus verschiedensten Branchen in Kontakt zu kommen, um die richtige Berufung für euch oder Ihr Kind zu finden. Für uns ist es wichtiger als alles andere, dass ihr, wenn ihr unsere Schule verlasst, nicht nur in einen Beruf geht, sondern euren Traum lebt. Das Arbeitsleben ist ein integraler Bestandteil eures weiteren Lebens, wir stolzen Europäer sind von Anbeginn der Zeit Vorreiter in der Weiterentwicklung gesellschaftlicher Traditionen und besonders der Technik. Aber jeder Topf findet seinen eigenen Deckel. Und gemeinsam finden wir deinen.
Beantworte folgende Fragen, um dir schon mal einen Überblick über deine Situation zu machen. In eurem Beratungsgespräch können wir mit Fachleuten auf eure Antworten eingehen und zusammen die richtige Branche für eure Zukunft finden!
»Ich falle gleich nach hinten weg. Egal, wie häufig ich mir diesen Schmarrn durchlese, er wird von Mal zu Mal immer übertriebener«, stöhnte ich und ließ meinen Kopf in meine Hände fallen.
Warum Schulen einer Abschlussklasse so einen pathetischenKram unterjubeln wollen, ist mir nicht ganz klar. Selbstverständlichsollte man sich über seine Zukunft Gedanken machen, aber gleich wegen solcher Gespräche eine Party zu schmeißen, käme mir nicht in denSinn.
Ich überwindete meine Müdigkeit und wendete meinen Kopf zum Wecker. Er zeigte 23:48 Uhr.
»12 Minuten, das schaffe ich auch noch …«, bisher hatte ich es immer geschafft, mich um diese Angelegenheit zu drücken. Die ersten beiden Versuche den Abschluss zu machen, waren bereits im Ansatz so aussichtslos, dass mir klar gewesen war, dass ich sowieso ein weiteres Jahr dranhängen musste. Daher war der Zettel direkt in den Papierkorb gewandert. Dieses Jahr sah es ein wenig besser aus und deswegen fürchtete ich, nicht erneut, um das legendäre Gespräch mit den Herrschaften aus der Arbeitswelt herumzukommen.
Ich nahm das Schreiben in beide Hände, um meine Aufmerksamkeit zu erhöhen, und begann zu lesen:
»Frage 1: „Welche Fächer begeistern dich und in welchen siehst du deine Stärken …“ Frag doch einfach mal bei meinem Zeugnis nach, das kann man da doch gut ablesen, tss.« Ich war innerlich am Verzweifeln, dass ich eines meiner berühmten Selbst- bzw. Gespräche
mit leblosen Objekten führte. Keines meiner Fächer hat mich je begeistert, was für ein Wort ist „begeistern“ überhaupt? Als würde derLeib des menschgewordenen Gottes in dich auffahren und dich mit seiner Einsicht und Weisheit erleuchten …
Also, begeistern tut mich kein Fach wirklich, ich bin ganz gutin Geschichte und Sport. Sport habe ich nie großartig betrieben, binaber auch keine Niete. Wie man eben im Schulsportunterricht sodurchkommt: Immer brav den Anweisungen folgen und am Tag der Be-notung keinen Komplettausfall erleiden … Ich kann diese Fragen wirklich nicht leiden …
»Frage 2: „Es gibt soziale Tätigkeiten wie Dienstleister, die in engem Kontakt mit ihren Klienten stehen und kraftspezifischere Tätigkeiten wie Fabrikarbeiter und Landwirte, welchem Bereich würdest du dich intuitiv zuordnen?“«
Was ist daran intuitiv? Es wird einem die Wahl zwischen Pestund Cholera gegeben. Mach was mit Menschen oder verkriech dich ineiner Ecke, in der du deine Arbeit erledigst, aber keine Menschenseeleantreffen musst.
Ich weiß, dass diese Fragen Anhaltspunkte schaffen sollen,aber selbst mir ist klar, dass Berufe mehr sind als nur einseitige Tätigkeiten. Die müssen dieses Schreiben einem Landwirt oder Fabrikarbeiter zeigen und sie dann fragen, was sie von der Aussage halten.
Aber selbst, wenn es so einfach gewesen wäre. Damals wusste ich keine genaue Antwort.
Soziale Tätigkeiten waren nicht so meins gewesen, ich machte nicht immer den besten ersten Eindruck, und nett war ich auch nicht gerade immer zu anderen. Keiner konnte etwas mit meinem Sarkasmus anfangen und niemand verstand Spaß. Mein Vater pflegte immer zu sagen: »Die Welt ist heute so fröhlich wie noch nie zuvor, wir haben die dunkelsten Jahre überstanden, da brauchen wir keinen Sarkasmus mehr.« Er – der Sarkasmus – wäre ein Schritt rückwärts, behauptete er stets.
Ich ließ das Blatt aus meinen Händen auf den Tisch gleiten.
Die Fragen verschwommen langsam vor meinen Augen. Ich begann sie zu reiben, richtete meinen Blick auf die Uhr und sank friedlich in den Stuhl.
»Mitternacht, du süße Rettung!« Mein selbstgesetztes Limit war erreicht, nun konnte ich endlich schlafen gehen. Ein letztes Mal nahm ich das Blatt in die Hand, starrte es böse an und drehte es um.
»Jetzt bist du richtig herum. Ein rechteckiges leeres weißes Blatt, genauso wie ich.«
III. Ein Junge namens Will
Ich war vergangene Nacht schnell eingeschlafen. Die Geräusche des Unwetters hatten mich in den Schlaf gewogen. Ich hatte nie sonderliche Probleme, bei Geräuschen oder Stürmen einzuschlafen.
Der bevorstehende Samstagmorgen sollte ein entspannter werden, doch war mir damals noch nicht bewusst, dass an jenem sonnigen Morgen im Jahr 2025 die Welt sich ein letztes Mal so drehen sollte, wie ich sie kennengelernt hatte …
Ich stolperte in den Flur und die Treppe hinunter. Meine Mutter stand voll im Tag und hatte den Tisch für das Frühstück gedeckt.
Ein benutzter Teller, der auf dem Tisch stand, deutete daraufhin, dass mein Vater bereits gegessen hatte und auf dem Weg zu seiner Arbeit war. Mein Vater war führender Forscher an einem Institut, das nach neuen Wegen forschte, um die Qualität und Quantität der Ernten zu
erhöhen. Seitdem die Industrien unsere Wirtschaft dominierten, verloren die Landwirte mehr und mehr Fläche. Insgesamt waren die Städte viel mehr in den Fokus unserer Gesellschaft gerückt als noch in den Dunklen Zeiten. Aber ob das immer so gut ist, fragte ich mich immer außerhalb des Unterrichts, weil im Unterricht niemand etwas davon wissen wollte. Ich war zumindest ganz froh, noch ein bisschen Natur in der Umgebung zu haben.
Ich wandelte langsam ins Esszimmer, wünschte meiner Mutter einen schönen Morgen und setzte mich an den gedeckten Tisch.
»Schatz, ich weiß, du magst deine Samstage entspannt und schiebst auch die geringste Menge an Arbeit immer auf die letzte Sekunde des Sonntags, aber jemand hat gerade für dich angerufen.«
Meine Mutter sagte mir dies, während sie Eier trennte und offenbar irgendein Backrezept verfolgte. Ich war verblüfft von ihrem Taten-drang und ihrer Koordination in der Küche. Unter der Woche betreute sie einen Kindergarten als Aushilfe und am Wochenende war ihr der Stress der Woche nicht zu viel, um früh aufzustehen und in der Küche Wunder zu wirken.
»Wer hat denn angerufen? Wer wagt es, meinen heiligen Samstag zu stören?«, fragte ich halb Ernst.
»Erstens, du weißt ganz genau, dass der Sonntag geheiligt werden sollte …«, sie hatte es noch nie so ganz mit Sarkasmus, » … und zweitens, wer soll schon für dich angerufen haben, das kann doch wohl
nur einer sein, oder nicht?«, zwinkerte sie mir zu, wohl bewusst, dass demnächst die Klingel läuten würde.
*KLING* *KLING* *KLING* *KLING*
»Ja, ja, ich komm ja schon, einmal reicht.« Ich wanderte zur Tür, setzte meine Hand an den Türknauf, atmete einmal ganz tief durch und öffnete sie.
»Hello everybodyyyyy, it’s meeeeee!«, schrie eine Stimme, noch bevor ich den Türknauf vollständig heruntergedrückt hatte. Es war Will. Will Rogers, mein bester Freund seit … quasi seit immer.
Wills Vater arbeitete für die britische Botschaft in Belgien, zusammen mit seinen Eltern wohnte Will schon seit er ein kleines Kind war in Löwen. Sein Vater wollte, dass er nicht in der Großstadt aufwächst, weil er da schnell auf die schiefe Bahn geraten könne. Deswegen nahm sein Vater das Pendeln von Löwen nach Brüssel in Kauf und verbrachte teilweise auch mehrere Tage entfernt von seiner Familie.
»Was riecht denn hier so wunderbar, Madame Blanc?«, schmeichelte Will.
»Du weißt doch ganz genau, dass du mich Michelle nennen sollst. Ich mache gerade Omelette Soufflés, eine Eigenkreation, noch sind sie aber nicht fertig.«
Die Eigenkreationen meiner Mutter waren das beste Essen, was ein jeder Mensch jemals speisen könnte.
»Was willst du hier, Will?«, fragte ich stirnrunzelnd, in der Annahme das mein gemütlicher Samstag Geschichte war.
»Heute ist der Samstag aller Samstage, Frederic. Ich habe einen Weg gefunden, wie wir dem öden Alltag für alle Zeiten auf Wiedersehen sagen können, aber mehr dazu in der Geheimbasis.« Die letzten Worte stammelte er beinahe so leise, dass ich sie nicht hätte verstehen können, hätte ich nicht gewusst, dass er immer dasselbe sagte. Will hätte ein ganzes Buch füllen können, was ihn begeistert. Er müsste nur jede Tätigkeit und jede Sache, die auf der Welt existiert oder noch erschaffen wird, aufschreiben. Er sah in jeder Sekunde des Tages eine Möglichkeit, ein Abenteuer zu erleben. Wie wir beide Freunde geworden sind, ist mir entfallen, aber er war gewissermaßen mein Gegen-stück. Die Energie, die mir im Alltag fehlte, hatte Will mir allem Anschein nach die Jahre lang gestohlen und setzte sie in jedem Moment, der vorbeiflog, frei. Will Rogers, ein Abenteurer und Freigeist wie er im Buche steht.
»Da du sowieso nicht aufgeben wirst, lass uns gehen, ich nehme mir nur noch eben was zu essen mit … Verdammt, Mama, haben wir noch irgendwo Frischhaltefolie oder so?«
»Ich glaube, im Schrank neben der Spüle, Schatz.« Sie zeigte mit dem Finger auf den Schrank, als würde ich mich sonst auf dem Weg dorthin verlaufen.
»Danke, aber ich wünschte echt, jemand würde eine Früh-stücksbox erfinden, die handlich ist und in die auch mal Essen rein-passt. Da würde ich glatt investieren …«, schnaubte ich.
»Oha, so enthusiastisch sehe ich dich echt selten, Frederic.
Vielleicht ist das mein Projekt für morgen, wenn ich mir Mühe gebe, schaffe ich es auch heute Abend noch.« Wills Augen funkelten. Er ähnelte Patrik in gewissen Zügen. Es ist dieses Charisma, das auch mich in ihren Bann zog. Die Fähigkeit, einen dahergelaufenen Satz aufzu-nehmen und daraus etwas zu ziehen, womit derjenige, der den Satz ausgesprochen hatte, selbst nicht rechnete. Ich hätte nur sagen müssen:
»Gib mir eine Millionen Euro!«, und Will hätte geantwortet: »Lass mich eben Geld verdienen, damit ich danach auch noch etwas übrig-habe.« Eine Art, sich in den Tag zu stürzen, und nichts konnte ihn aufhalten.
»Alles klar, Mama, wir machen uns auf den Weg in die Geheimbasis«, ich blickte Will tief in die Augen.
»Psssst!!!«, er presste seinen Finger mit voller Muskelkraft gegen seine Lippen.
»Habt viel Spaß ihr beiden und sag mir Bescheid, falls du aus-wärts isst, ja?« Mama sagte dies mit einer Mischung aus Wohlwollen und der Angst, mich heute nicht bekochen zu dürfen. Womit verdieneich nur so jemanden? , fragte ich mich dann immer.
»Klar doch, au revoir!«
Ich schleifte mein Fahrrad aus der Garage und hängte mich an Wills Hinterrad. Selbst beim Fahrradfahren kannte sein Ansporn, aus jeder Sekunde alles herauszuholen, kein Halten. Von meinem Haus bis zu Wills waren es ca. 13 Minuten mit dem Fahrrad. Dabei fuhren wir immer weiter in Richtung Stadtzentrum, denn auch Löwen konnte sich vor der Industrialisierung und der Verstädterung nicht schützen. Auch wenn unsere Generation es nicht anders kannte, dachte ich darüber nach, dass es eine Zeit mit mehr Natur und weniger Lärm gegeben hatte. Eine Zeit, in der alles entschleunigt war, keine Autos, keine Fabriken und keine Menschenmassen, die selbst am Wochenende durch die Straßen laufen würden, um sich bloß nicht zu irgendeinem Termin zu verspäten. Allerdings wäre das eine Zeit, in der die Wills der Welt vor Langeweile wahrscheinlich sterben würden.
Unsere Fahrräder trugen uns weiter. Mein altes Fahrrad spiegelte meinen Zustand wider, ich, der elendig versuchte, hinter Wills Tempo hinterherzukommen. Wir passierten einen Bahnübergang und gelangten in das Viertel, in dem Will wohnte. Der Bahnübergang war nicht nur ein physischer Weg von einer auf die andere Seite, sondern trennte auch das sehr wohlhabende von unserem Viertel, in dem die verschiedensten Wohlstandsklassen hausten. Aber dies hatte keine große Bedeutung. Der Unterschied im Wohlstand war zwar an der Innenausstattung der Häuser bemerkbar, aber im Grunde genommen ging es uns aus der Mittelschicht nicht viel schlechter. Schlecht traf es eher die Unterschicht, die häufig viel und lange in den Fabriken zu arbeiten
hatte. Die Technik war in Europa noch nicht so weit wie in Nordamerika, und das Importieren konnten sich nur die Allerreichsten leisten.
Die Schwerstarbeit, die in den Fabriken verrichtet wurde, war schweiß-treibend und zerrend, wurde aber dennoch nur gering entlohnt. Aber ein 19-Jähriger sollte nicht schon über sowas wie den Wert von Arbeit nachdenken, richtig?
Solche Gedanken ließen die 13 Minuten zu Will nach Hause, wie zwei Minuten wirken. Doch ob das so gut war, wusste ich nicht.
Wenn Will auf seinem Fahrrad saß, war es die einzige Zeit, in der er nicht redete, er genoss den Fahrtwind und die frische Luft. Ich würde gerne sagen, dass er komisch war, aber ich war ihm ähnlich, nur eben anders …
»Yippie, endlich angekommen. AB IN DIE GEHEIMBASIS.
SESAM ÖFFNE DICH«, schrie Will, obwohl er doch eigentlich die Basis geheim halten wollte.
»Erst Sesam, öffne dich sagen und dann auf einen elektrischen Türöffner drücken, ist aber auch nicht so das Richtige, oder?«, sagte ich, wissentlich, dass ich wie ein alter Opa ohne den letzten Hauch Fantasie klang.
»Du musst die Magie spüren, Frederic, sonst wird das nichts mit dem Abschluss. Ich warte nicht mehr lange, bald bin ich auf und davon.«
»Ja ja, dieses Jahr wird das schon irgendwie«, heuchelte ich ohne den geringsten Plan, ob dies Hoffnung oder Überzeugung war.
Die Situation zwischen Will und mir sollte ich trotzdem kurz erklären: Will war ebenso 19 Jahre alt wie ich. Wir waren gemeinsam zur Schule gegangen, bis … na ja, er den Abschluss gemacht hatte und ich in meine erste Extrarunde eingebogen war. Will war nun schon seit mehr als einem Jahr in einer Ausbildung zum Elektrotechniker. Die alten Züge und Dampfloks liefen langsam aus und Wills Liebe für Züge fand in den neuen elektrischen Modellen sein Ventil.
»Sie ist offen, lass uns endlich reingehen.« Will ging hinter mich und schob mich förmlich in die Garage.
»Ja, ist schon gut, was ist denn heute los mit dir? Ist heute irgendwas anders als sonst?«, fragte ich, ließ mich aber ohne Gegenwehr in die Garage entführen.
Wills Stimme wurde plötzlich ruhig, dunkel und er redete plötzlich langsam, verdächtig langsam. »Ich habe bei der letzten Ver-sammlung etwas mitbekommen, etwas, das alles verändern könnte.
Und wenn ich sage alles, dann meine ich wirklich alles. Es könnte sein, dass wir uns heute ein letztes Mal sehen oder wir gemeinsam zu dem größten Abenteuer unseres Lebens aufbrechen.«
Mir fehlten die Worte. Will redete mit einer derartigen Stimmlage, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte. Ich wusste, es würde irgendetwas Verrücktes folgen, aber dass er tatsächlich meine Welt auf den Kopf stellen würde, wurde mir erst bewusst, als ich die ersten Konsequenzen spürte …
IV. Die Welt au ß erhalb der Mauern
Es war zwar noch früh am Morgen, aber mir war so klar, wie die Sonne hell ist, dass dies keine gewöhnliche Blödelei in Wills Garage werden würde. Will drückte den Knopf auf seiner Fernbedienung und lief langsam zum Lichtschalter, um das Garagenlicht anzumachen, bevor sich das Garagentor hinter uns schließen sollte. Das automati-sche Tor schloss sich langsam und von nun an sollten es nur noch wir beide sein. Will öffnete die Tür, die Wohnung und Garage verband, und stellte sicher, dass seine Eltern nicht zu Hause waren. Er schloss die Tür und schob einen alten Gartenstuhl aus Holz vor die Tür, als würde er auf Nummer sicher gehen, jede Bewegung an ihr wahrnehmen zu wollen. Ich war zwar leicht zu erschrecken, aber diese Situation war so atypisch für Will, dass ich begann mir Sorgen zu machen.
Mein Blick wandelte durch die Garage. Obwohl ich mehrfach in der Woche mit ihm Zeit in seiner Garage verbrachte, schien an jenem Tag alles anders. Sie wirkte aufgeräumt. Das sonst so üblich voll-gehängte Reißbrett war geleert, Reißzwecken lagen bereit und mehrere noch verschnürte Rollen Plakatpapier standen unmittelbar daneben.
Ich fühlte mich, als wäre ich plötzlich in einen Heist-Movie geschmis-sen worden, und nun sollte der Plan für den finalen Akt geschmiedet werden.
»Hey, Will, langsam ist es nicht mehr lustig. Du hast jetzt locker seit mehr als fünf Minuten nichts mehr gesagt, so kenne ich dich gar nicht. Ist etwas vorgefallen? Ich kann gerne versuchen zu helfen, falls was passiert ist.« Im Bestreben Ruhe auszustrahlen, wollte ich Will, um Normalität bitten, während ich mir versuchte einzureden, dass ich mir alles nur einbilden würde.
»Es ist etwas passiert.« Endlich brach Will sein langes Schweigen und blickte mir direkt in die Seele. »Sag mir, Frederic, habe ich dir schon mal von meinem Onkel erzählt?«
Unerwartet zuckte ich verwirrt. »Also ich weiß, dass deine Familie väterlicherseits in Großbritannien lebt, und dann hast du irgendwann mal etwas von einem Onkel erzählt, der deinem Vater nach Belgien gefolgt ist, weil er hier von deinem Vater eine Anstellung versprochen bekommen hat.« Ich erinnerte mich sporadisch an diese Geschichte, aber die Datenmenge an Informationen, die Will an einem gewöhnlichen Tag erzählte, konnte kein Mensch aufnehmen.
»Exakt um den handelt es sich. Frederic, lass mich dir erzählen, was sich letzte Woche ereignet hat …« Er setzte sich auf den Ga-ragenboden, der nur von einem dünnen Teppich bedeckt war. Aber ich war so gespannt darauf, was folgen würde, dass er einen Handstand hätte machen können, und ich hätte nicht gefragt, warum er sich heute anders als gewöhnlich verhielt. Ich spürte, dass diese Geschichte wichtig sein musste.
»Wie du weißt, hat unsere Familie die Möglichkeit an Arbeits-treffen meines Vaters teilzunehmen. Die Botschaft veranstaltet verschiedene gatherings, um mit wichtigen Personen in Kontakt zu kommen, alte Bekanntschaften zu pflegen und so weiter. Für gewöhnlich sind meine Mutter und ich bei jeder dritten oder vierten Veranstaltung dabei, um uns und unsere Familie zu repräsentieren, wie es gang und gäbe ist. Aber dieses Mal wollte mein Onkel Sam unbedingt dazukom-men. Mein Vater hatte sich sehr darüber gefreut, da er sich immer so viele Sorgen um Sam machte. Aber seit er in Belgien lebt, was seit zwei Jahren der Fall ist, scheint es bei ihm besser zu laufen. Mein Vater hatte ihm eine Anstellung bei der britischen Post hier in Belgien besorgt, die wichtige internationale Frachten verschickt und sich auch um die Post der Botschaft kümmert. Kein unwichtiger Job, aber auch kein Beruf, mit dem man ein Vermögen verdienen sollte. Trotzdem wirkte Sam in den letzten sechs Monaten sehr glücklich und vor allem ver-schwenderisch. Deswegen begann sich mein Vater Sorgen zu machen und befürchtete, dass die Spielsucht ihn wieder eingeholt haben
könnte, aber nachdem sich Sam beim gathering präsentierte und ihm versprach, dass alles Bestens sei, schien er beruhigt. Was mein Vater jedoch nicht weiß, ist der Grund, weshalb mein Onkel so gemütlich durch das Leben zieht.« Beim Erzählen war Wills Stimme ruhig und klar. Ich lauschte mit voller Aufmerksamkeit, was für meine Verhältnisse eine Seltenheit darstellte. Unter anderen Umständen wäre ich ab dem zweiten Satz schon wieder in meinen Gedanken versunken, aber ich war gespannt zu hören, wie die Geschichte weitergehen würde.
»Kommen wir zum Knackpunkt der ganzen Sache: Mir war während der ganzen Veranstaltung langweilig, wie auch sonst und ich habe irgendetwas gesucht, um mich zu beschäftigen. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich Sam in einem Gespräch mit einer Person befand, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Was nicht selten vorkam, da auch neue Gäste zu den Treffen kamen, aber die beiden schienen sich nicht das erste Mal getroffen zu haben und wirkten verdächtig vertraut miteinander. Der Mann, der mit Sam gesprochen hatte, war ein schmächtiger Riese, sicher an die 190 cm. Er wirkte nicht sonderlich kräftig, und doch hatte er eine Ausstrahlung, als würde er Ärger bedeuten. Ich hatte bemerkt, wie Sam in sich zusammenzuckte und der Mann ihn an seinem Ärmel packte und in einen Nebenraum zog. Ich konnte nicht anders und folgte den beiden unauffällig und versteckte mich in einem anderen Nebenraum, in dem niemand war, und von dem aus ich die beiden belauschen konnte. UND DU KANNST DIR NICHT VORSTELLEN, WORÜBER DIE BEIDEN SPRACHEN!!!«, schrie Will
plötzlich, als wäre sein Körper die letzten zwanzig Minuten von einer anderen Person gesteuert worden, damit mich der alte Will mit seiner gewohnten Manier erschrecken konnte.
»Meine Güte, Will, komm zur Sache und schrei nicht aus dem Nichts so laut herum, ich sitze keine zwei Meter entfernt.« Ein Lächeln glitt über meine Lippen. Will ist wohl noch derselbe, dachte ich.
»Das kann ich nicht, Frederic.« Seine Stimmlage wechselte wieder zu einem ruhigeren Ton. Er stand kurz auf, überprüfte seinen ausgeklügelten Anti-Eltern-Stuhlmechanismus, mit dem er die Tür verbarrikadiert hatte, und nahm wieder Platz.
»Frederic, du bist doch ein kluges Köpfchen …«
»Äh, dir ist schon klar, dass ich seit drei Jahren versuche, meinen Abschluss zu machen, oder?«, schmunzelte ich und war froh, dass wenigstens mein bester Freund noch Hoffnung für meine Situation sah.
»Das meine ich nicht … Schule hin oder her, das zeichnet einen Menschen nicht aus. Du kannst gute Noten haben und in der Welt außerhalb des Schulgebäudes keinen Fuß fassen und genauso in der Schule keinen Fuß vor den anderen bekommen und trotzdem in der Außenwelt verstehen, wie man an sein Ziel kommt.« Seinem Gedan-kengang folgend wurde mir dennoch nicht bewusst, was genau er mir damit sagen wollte. »Okay, dann nochmal ganz langsam und so, damit es auch der Letzte versteht: Frederic, du bist doch ganz gut in Geschichte, nicht wahr?«
»Ja, schon«, sagte ich nickend.
»Dann sag mir doch, was du genau über den Vertrag von 1883
und die Mauern weißt?« Ich fühlte mich einen Tag in der Zeit zurück-versetzt und auf einmal war ich der Trottel vor der Tafel, der ein Referat halten sollte.
»Was soll das, Will? Ich habe schon in der Schule keinen Bock mehr auf das Thema, jetzt muss ich dir eine Rückblende in deine Schulzeit geben, oder was?« Enttäuschung zeichnete sich in meiner Körperhaltung ab, die bis eben noch elektrisch geladen schien.
»Frederic!«, schnaubte er, »Erzähl mir deine Sicht der Dinge!«, forderte er mich befehligend auf. Mit Augen, die einem Ziel folgten, zerschlugen sie meinen Widerwillen.
»Okay, ich habe verstanden. Also gut, aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, nicht jeder kann die Wahrheit vertragen …«, grinste ich schelmisch. Er grinste zurück. Ich streckte meine Arme nach vorne, ließ meinen Kopf kreisen und knackte mit meinen Finger-knöcheln, als würde ich mich bereitmachen, einen 100-Meter-Sprint hinzulegen. Meine Zeit war gekommen, einen Vortrag zu halten:
»1883 wurde mit der Konferenz der Mitte ein Abkommen von Vertretern eines jeden Kontinents ausgehandelt. Die Revolutionäre, die damals den Funken der Revolution entfachten und sich auf die Seite der unterdrückten Staaten stellten und bereit waren, sich kampfeswillig gegen die expandierenden europäischen Staaten zu stellen, waren nach Abschluss des Konfliktes ebenso Teil der Konferenz und schlossen sich der Seite ihrer jeweiligen Heimatkontinenten an, um dort für das
Einhalten des Vertrages zu sorgen. Das Abkommen beschloss, dass jeder Kontinent von nun an für sich allein, isoliert von den anderen Teilen der Erde, leben würde. Das heißt: Afrika, Süd- und Nordamerika, Europa, Asien und Ozeanien würden nichts mehr miteinander zu tun haben. Um dies zu gewährleisten, wurden Mauern errichtet, die die kontinentalen Grenzen voneinander trennten. Da viele Grenzen an Ge-wässern und Meeren liegen, wurden dort Küstenwachen, Festungen und weitere Gebäudekomplexe installiert, um Grenzüberschreitungen zu verhindern. Bei dem Versuch der Grenzüberquerung drohen massive Strafen und mehr noch, soweit ich gehört habe. Kontrolliert werden diese Grenzposten und auch die Mauern durch den Weltrat, der sich aus Vertretern der jeweiligen Kontinente zusammensetzt, sowie Nachfahren und Anhängern der Revolutionäre von damals …«
»Du meinst wohl eher Revoluzzer …«, unterbrach mich Will.
»Hey, kein Grund ausfällig zu werden«, sagte ich schroff, aber im Endeffekt war es mir egal, wie die Leute zu den Revolutionären standen.
»Es gibt zwei hauptsächliche Instrumente, wie trotzdem zwischen den Kontinenten kommuniziert wird. Das erste ist die Synchronisation. Alle vier Jahre erfolgt ein Abgleich der Kontinente, um si-cherzustellen, dass keine militärische Mobilisierung stattfindet, und um einen Austausch an nötigem Wissen und Technologie zu ermöglichen, der anderen Kontinenten unter Umständen weiterhelfen kann.
Das zweite Instrument ist der Berufszweig der sogenannten
Kontinentalhändler. Sie sind die Einzigen, die mit einer Erlaubnis zu anderen Kontinenten reisen dürfen, um dort Partnerschaften aufzubauen, wodurch Import und Export geregelt werden. Sie sind sowas wie die unsichtbaren Hände, die dafür sorgen, dass ihr Briten auch heute noch euren Tee aus allerlei Ländern schlürfen dürft …«
»Kein Grund persönlich zu werden …«, konterte Will.
Ich lächelte ihn frech an und setzte zum Abschluss an. »Also im Großen und Ganzen lebt jeder Kontinent für sich und profitiert von seinen Traditionen und dem Frieden, der dadurch geschaffen worden war. Auch wenn Friede ein sehr dehnbarer Begriff ist, gibt es auch in Europa noch kleinere Konflikte, und nicht jeder Staat ist prima auf den nächsten zu sprechen, aber militärische Einsätze haben sich in der Tat seit der Bildung der Mauern deutlich verringert. Das einzige Seltsame, worüber niemand spricht und worüber keiner wirklich was sagen will, ist Südamerika …«
»BINGO!«, Will konnte seine Stimme nicht mehr zurückhalten und fiel mir erneut ins Wort. »Auftritt: Will Rogers. Nach meinen ganzen Nachforschungen bin ich nun bestens im Bilde und weiß ganz genau, was da drüben vor sich geht. Ich habe gehört, dass Südamerika aus dem Abkommen ausgestiegen sei und heimlich ein Paradies für alle Bewohner aller Kontinente kreiert habe. Menschen aller Kontinente treffen sich dort, lachen gemeinsam und sind auf dem Abenteuer, das sich Leben nennt. Zusammen kultivieren sie neue Gerichte, neue
Sprachen, neue Sportarten und vieles mehr. Das ist die Macht der Kulturen, sage ich dir.«
Meine Gedanken begannen umgehend zu explodieren: Der Begriff der Kulturen. Will lehnt sich damit weit aus dem Fenster.
Der Begriff „Kultur“ ist seit dem Vertrag von 1883 zu einem Kampf-begriff geworden. Für die nicht-europäischen Staaten ist der Begriffder Kultur etwas, das bedeutet von angriffswütigen Europäern, den eigenen Sitten und Bräuchen beraubt zu werden. Für die Europäer wiederum steht der Begriff „Kultur“ für etwas, das sie sehr schätzen undmit anderen Bereichen der Welt teilen und austauschen wollen – dassdieser Austausch brutal und hierarchisch abgelaufen wäre, wollen sieaber nicht wahrhaben – und von eben diesen anderen Kulturen in ihreSchranken gewiesen wurden. Der Begriff kann vielseitig ausgelegtwerden, aber nur die eigene „Kultur“ wird in diesen Zeiten als erstre-benswert angesehen, in der Furcht vor einer anderen Kultur untergra-ben zu werden.
»Dir ist schon bewusst, dass das mit Südamerika nur ein Gerücht ist, oder? Wir erhalten beinahe keine Informationen über die anderen Kontinente, da sollte es nicht wundern, wenn solche Gerüchte entstehen und sich wie ein Lauffeuer verbreiten«, sagte ich, ohne viel von Will zu erwarten.
»Und was, wenn es doch wahr ist?« Sein Blick erreichte eine neue Schärfe. Funkelnde Augen starrten mich an, als würde er mich
fest von seinen Gedankengängen überzeugen wollen. Stillschweigend bot ich ihm die Gelegenheit, die Geschichte zu beenden.
»Also, wo war ich stehengeblieben … richtig, Onkel Sam nannte den seltsamen Mann James. Er schien irgendetwas gegen Sam in der Hand zu haben oder zumindest in der Hackordnung höher zu stehen.«
»Moment, ich dachte, das wäre eine Veranstaltung von Mitgliedern der Botschaft, und Sam war doch auch nur ein Gast gewesen, oder?«, fragte ich Will interessiert.
»Dazu komme ich jetzt. James fragte meinen Onkel plötzlich, wie es mit der Ware aussehe. Daraufhin wurde Sam plötzlich defensiv und meinte, dass er mehr Zeit bräuchte, weil sie sich noch unschlüssigseien. Ich belauschte sie weiter und der schmächtige Mann ließ nach einer kurzen Zeit meinen Onkel vom Haken und meinte nur, dass solche Treffen überflüssig seien, wenn Sam seine Arbeit vernünftig machen würde. Und dann kam's, er sagte wortwörtlich: Es ist leicht, heutzutage Trafficer zu finden, die ihren Job ernst nehmen und gutes Geld verdienen wollen.« Will pausierte. Ihm war bewusst, dass ich den Begriff Trafficer schon gehört hatte und den Schock erst verdauen musste.
Trafficer. Jeder, der in seiner Schulzeit kein vollständiger Außenseiter gewesen war, hatte Gruselgeschichten mitbekommen. Es war der gute Ton im Freundeskreis, Möchtegernmutproben zu veranstalten, und so begann der Mythos der Trafficer. Und wer mutig war, traf sich mit einem Trafficer, der einen aus dem Land oder gar dem Kontinent
schmuggeln würde … Es startete immer so, dass einer aus dem Freundeskreis behauptete, er kenne jemanden, der jemanden kennt, der jemandes Cousin kennt … ihr versteht, worauf ich hinaus will … und der kennt dann jemanden, der ein Trafficer sei. Jene sollen Leute sein, die zusammen mit korrupten Politikern oder Kontinentalhändlern, die sich Geld dazu verdienen wollen, zusammenarbeiten und Menschen in andere Teile der Welt verschiffen würden. Aber weil sich die Kontinente so strikt getrennt haben, war dies nicht so einfach.
Es müsste sich um Vorfälle handeln, von denen man in denNachrichten, allein aus Gründen der Abschreckung, hören würde. Damit alle wüssten, was mit Leuten passiert, die erwischt würden, dachte ich mir. Und außerdem hätte man ohne Wissen über andere Teile derErde oder Ressourcen keine Chance zu überleben.
»Neo-Pangea, es existiert, Frederic!« Will holte mich aus meiner Gedankenwelt heraus und fuhr fort. »Neo-Pangea, die verlorene Welt, wie sie manchmal genannt wird, den Ort gibt es wirklich und er soll sich in Südamerika befinden!«
»Warte kurz …«, sagte ich, um irgendwie noch hinterherzukommen, »Pangea, was war das nochmal?« Ich kramte in meinem Gedächtnis und versuchte mich an den Begriff zu erinnern, den ich irgendwo schon mal gehört hatte. »Ach ja, richtig, Pangea, der Urkonti-nent in einer Zeit, als die Erde noch aus einer einzigen Landmasse bestand und die Kontinente sich noch nicht voneinander getrennt hatten.
Wieso soll sich dieser Ort auf einmal in Südamerika befinden?«, fragte
ich und war ein bisschen stolz, dass mir der Begriff wieder eingefallen war.
»Hör mal zu, es heißt ja „Neo“, weil es eben nicht die Welt wie vor etlichen Jahrmillionen ist, sondern weil in Südamerika ein Ort geschaffen wurde, an dem alle Menschen aus allen Teilen der Erde zu-sammenkommen und, was weiß ich, wahrscheinlich die größte Party der Welt feiern. Ich bin so neidisch, ich will alles darüber lernen, was es noch so auf der Welt gibt. Fühlst du dich nicht auch in diesem Vo-gelkäfig eingesperrt?« Damit stellte mir Will eine der zentralen Fragen unserer Zeit, aber auch eine, die in der Öffentlichkeit mehr als nur kri-tisch beäugt wurde. Die Wenigen, die sich nicht von der Freiheit, dem Frieden und der unbegrenzten Möglichkeiten in Europa einlullen ließen, strebten nach mehr, sie wollten alles sehen, was die Welt zu bieten hat, und hassten die Mauern. Klassische Abenteurer, so wie ich sie nannte. Deshalb war auch Will für mich schon immer eine solche Person. Ich hatte mich dafür genauso wenig interessiert wie für meine Zukunft hier in Europa. Es gab ab und zu Gerüchte, dass sich Personen-gruppen zusammentaten, um aus ihrem Kontinent auszubrechen, aber diese waren mit der Zeit immer weniger geworden und die Geschichten darüber stammten auch eher aus der Zeit meiner Eltern.
»Was hast du jetzt vor?! Du musst deinem Vater davon erzählen, das kann nur illegal sein, was dein Onkel da tut«, sagte ich zu Will und versuchte wieder in die Konversation zu finden.
»Ich habe bereits etwas getan, Frederic.«
»Dann ist ja gut, dein Onkel hätte dir und deiner Familie sicher nur weiter Ärger beschert …«
»Ich habe meinen Onkel damit konfrontiert, dass ich ihn belauscht habe!«
»Warum hast du das getan, bist du jetzt von allen guten Geistern verlassen?«, fragte ich Will, beruhigt, dass ich ihn noch unverletzt vor mir sitzen sah.
»Frederic, es reicht mir mittlerweile … Meine Ausbildung ist schön und gut, aber so werde ich in diesem Leben nicht mehr glücklich.
Ich habe Sam gesagt, dass er mit der Sprache über alles herausrücken sollte, weil ich ihn sonst meinem Vater gegenüber verraten würde. Und er hat mir alles erzählt. Trafficer existieren und er arbeitet mit verschiedenen Leuten zusammen, die es möglich machen, nach Neo-Pangea zu gelangen. Er sucht nach Menschen, die aus Europa rauswollen, und ermöglicht gegen eine hohe Geldsumme ihren Wunsch. Zusammen mit den Leuten, die er kennt, kann er sogar dafür sorgen, dass niemand in Europa erfährt, dass die Personen verschwunden sind. Es wird behauptet, sie würden umziehen, werden aus dem Melderegister genommen und nirgendwo jemals wieder angemeldet, als hätten sie nie existiert.
So mächtig sind Trafficer und die Leute, die mit ihnen zusammenarbeiten. Frederic, ich habe meinem Onkel versprochen, nichts zu sagen
…«
»Bist du verrückt!?«, brach es aus mir heraus. »Wie kannst du deinem Onkel so etwas durchgehen lassen? Dein Vater, deine Mutter,
sie sind alle in Gefahr, wenn dein Onkel solche Geschäfte betreibt.
Hast du irgendetwas von ihm verlangt? Dass er aufhört oder sonst was?«
»Ja …«, Wills Stimme war ruhig und ein ehrliches Lächeln setzte sich auf seine Lippen. »Frederic, für die nächste Lieferung braucht mein Onkel noch zwei Personen, die überfahren …« Mein Herz blieb für einen Augenblick vollständig stehen. »Komm mit mir, Frederic. Ich weiß, dass dich tief in deinem Herzen nichts an diesem Ort hält, und in Neo-Pangea wirst du deine Berufung, nein, deinen Traum finden. Du wirst einen Beruf, du wirst eine Frau und du wirst endlich deinen Platz in der Welt finden. Du wirst finden, wonach du suchst, obwohl du es selbst noch nicht weißt, dass du es suchst … Du wirst dich selbst finden.«