Waagen lügen doch - Monika Wirsching - E-Book

Waagen lügen doch E-Book

Monika Wirsching

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Beschreibung

Was wäre, wenn Gegenstände in das Leben eingreifen könnten? Die analoge Personenwaage Sammie [´zami:] tut genau das. Sammie, die in allen leichten und schweren Momenten nah bei ihren Menschen ist, sie bedingungslos liebt und seit achtzehn Jahren deren sämtliche Geheimnisse kennt. Alfred und Ronja machen ihr den größten Kummer. Denn Alfred wird immer dicker und Ronja immer dünner. Sammie kann nicht tatenlos zusehen, wie ihre Familie zerbricht. Sie muss handeln! In der Hausgemeinschaft gibt es noch mehr Sorgenkinder. Sammie hat Stress und alle Hände voll zu tun. Doch zahlt sich ihr selbstloses Engagement aus? Wird ihr Einsatz am Ende gewürdigt? Während du noch denkst, es sei Schicksal, was um dich herum passiert, klatschen sich die Waagen in deinem Viertel längst genüsslich die Hände ab.

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Seitenzahl: 218

Veröffentlichungsjahr: 2024

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WAAGEN LÜGEN DOCH

EINSICHTEN DER PERSONENWAAGE SAMMIE [´ZAMI:]

MONIKA WIRSCHING

IMPRESSUM

Texte: © Copyright by Monika Wirsching 2024

Umschlaggestaltung © by Axel Aldenhoven

Verlag Monika Wirsching

[email protected]

c/o COCenter

Koppoldstraße 1

86551 Aichach

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ÜBER DIE AUTORIN

Monika Wirsching lebt und schreibt in Nürnberg. Nach langjähriger Erfahrung als Personalmanagerin in einem Medienunternehmen und Leiterin einer Weiterbildungsakademie ist sie nun Autorin und schreibt in mehreren Genres, auch unter Pseudonym. Der Gedanke, über eine Personenwaage zu schreiben, ist genau so neu wie die Perspektive. In diesem augenzwinkernden Roman hofft und leidet die Personenwaage Sammie mit ihrer Betreter-Familie.

INHALT

Lebende und Tote

Sammie

1. Ein Montag

2. Ein Dienstag

3. Ein Donnerstag

4. Ein Freitag

5. Ein Sonntag

6. Ein Montag

7. Ein Sonntag

8. Ein Mittwoch

9. Ein Freitag

10. Ein Donnerstag

11. Ein Montag

12. Ein Donnerstag

13. Ein Samstag

14. Ein Dienstag

15. Ein Freitag

16. Ein Mittwoch

17. Ein Samstag

18. Ein Dienstag

19. Ein Mittwoch

20. Ein Dienstag

21. Ein Mittwoch

22. Ein Samstag

23. Ein Mittwoch

24. Ein Donnerstag

25. Ein Freitag

26. Ein Sonntag

27. Ein Dienstag

28. Ein Freitag

29. Ein Sonntag

30. Ein Donnerstag

31. Ein Dienstag

32. Ein Mittwoch

33. Ein Donnerstag

34. Ein Samstag

35. Ein Sonntag

36. Ein Dienstag

37. Ein Donnerstag

38. Ein Freitag

39. Ein Mittwoch

40. Ein Freitag

41. Ein Donnerstag

42. Ein Sonntag

43. Ein Dienstag

44. Ein Donnerstag

45. Ein Sonntag

46. Ein Samstag

47. Der letzte Sonntag

48. Montag

Lebende und Tote

Die Eisblumen am Fenster.

Die Kristalle, die in Natronlauge wachsen,

»blind« und in erkennbaren Formen.

Strindberg sah einen Entwurf zum Leben

und die Sehnsucht der toten Dinge,

lebendig zu werden.

Das Spielzeugtier, das das Kind überall mit herumträgt

und im Bett wärmt, bis es einen Namen bekommt

und die ganze Familie davon spricht,

wie man von einer Persönlichkeit spricht.

Die Zinnsoldaten mit ihren unglücklichen starren Gesichtern.

Der maurische Trompeter, der hoch oben

in dem wundersamen Orgelwerk in Oliva sitzt

und in einem bestimmten Augenblick die Trompete hebt

und in drei Himmelsrichtungen bläst. Er ist Maure.

All das, was Leben nachahmt, scheitert

und täuscht uns nicht.

Doch um diese Dinge, Kristalle,

Spielsachen, Trompeter,

steht ein Ausdruck von Trauer, von Wehmut.

Und der ist nicht nachgeahmt.

Wir erkennen ihn sofort.

Und erinnern uns an uns selbst.

LARS GUSTAFSSON

Aus: Die Stille in der Welt vor Bach

SAMMIE

* * *

Dieses Buch ist eine Hommage an die toten Dinge, die sich so sehnlich wünschen, lebendig zu werden.

Sammie wurde während des Schreibens zu einem Familienmitglied, das von Freunden und Verwandten liebevoll gegrüßt wurde.

Sammie ist noch immer an meiner Seite. Treu und loyal.

* * *

1

EIN MONTAG

Jemand kommt herein. Und ignoriert mich. Wie so oft. Das macht mich wütend. Ja, ja. In den Spiegel schauen. Und auf nichts anderes. Mitesser aus der Visage drücken. Wenn du wüsstest. Wenn du wüsstest. Was ich weiß. Du weißt nichts über mich. Und ich alles über dich. Seit achtzehn Jahren. Ich kenne jeden Besenreiser an deinen Waden. Auch die an den Schienbeinen. Nun gut, ich bin zu hart. Heute bin ich eingeschnappt. Natürlich kann ich auch ganz anders. Jetzt benehme ich mich mal und fange von vorne an.

Ein leises Knarzen verrät, dass sich die Tür öffnet. Es hört sich an, als würde ein gerade erst geschlüpftes Käuzchen zum ersten Mal seinen Schnabel öffnen und sein leises Gähnen in die Morgendämmerung entlassen. Ein Schatten, so lange wie Gullivers Schatten auf Liliput, flieht aus einem mit kaltem Licht beleuchteten Zimmer in meinen Raum. Er umhüllt den Eindringling mit seinem erbarmungslosen Schimmer und macht seine Silhouette sichtbar für mich. Adipös monströs, mit einer Weichheit wie Pfirsichflaum rundherum ausgestattet. Ach, hättest du doch Stacheln und nicht diese Pfirsichweichheit. Ich kenne deine Tränen. Ihr Salz hat meine Oberfläche schon verätzt. Siehst du das nicht? Kochsalz, Traubenzucker, Proteine – das Elixier von Tränen. Das tut meiner Rüstung nicht gut. Obwohl sie mich verätzen, bin ich dankbar für jeden Tränentropfen, den du bei mir lässt. Wir sind Verbündete, mein großer Freund. Ich war ein Wunsch auf eurem Hochzeitstisch. Von dir. Du hast mich damals zu euch geholt. Zu einer Familie, die so viele Geheimnisse hat. Wie gerne würde ich dich trösten. Dann wärst du in einem besseren Gleichgewicht zwischen deiner verletzlichen, träumerischen Seele und deinem Kaliber. Wie gerne würde ich dir Mut zusprechen. Dir ein paar Motivationssprüche aus meiner eigenen Familie mitgeben. Wer nicht waagt der nicht gewinnt. Waage niemanden. Von der Waage bis zur Bahre. Waage, Waage, gib mir meine Legionen wieder. Wenn die Waagen Trauer tragen. Das ist aber, glaube ich, ein Filmtitel. Waagus der Cherusker. Wenn der Waage zu heiß ist, geht sie aufs Eis tanzen. Ein kleiner Schritt für mich, ein großer Schritt für die Waage. Ohne Fleiß keine Waage. Ich bin eine Waage.

Okay, der letzte Satz ist aus einem anderen Zusammenhang, der mir gerade entfallen ist. Er war der Lieblingssatz einer meiner Ahnen. Einer Balkenwaage. Balkenwaagen sind das Letzte. Und gleichzeitig die Ersten. Der Anfang aller Waagen. Unser Ursprung, gleich nach dem Abwiegen und Abwägen mit den Händen und Armen der Menschen. Balkenwaagen sind hochnäsig und versnobt. Nur weil sie die ersten waren und dann noch lange in Apotheken standen und kostbare Pülverchen mit ihnen abgewogen wurden. Sie bilden sich auch heute noch sehr viel auf ihre historische Bedeutung ein: »Unser Messinggewand schimmert wie pures Gold, vor allem, wenn wir nächtens im Kerzenschein zum wichtigsten Instrument der Alchemie werden.« Dabei bleibt Messing immer Messing und Gold immer Gold. Und Alchemie gibt es schon lange nicht mehr. Da lobe ich mir den so viel bodenständigeren und bescheiden gebliebenen Verwandtschaftszweig der Viehwaagen.

Mein Blick schweift umher. Liebevoll sehe ich auf den Mann, der soeben das Badezimmer betreten hat. Alfred. Mein Alfred, den ich so gut kenne. Wie seine Frau und seine Kinder. Diese Menschen sind mir an mein Herz gewachsen. Über achtzehn Jahre lang. Alfred, Johanna, Felix und Ronja, wobei Felix erst vor sechzehn und Ronja vor fünfzehn Jahren dazu kamen. Alfred ist der mit dem Pfirsichflaum.

Seit achtzehn Jahren ist dieser Raum meine Heimat und mein Arbeitsplatz. Heimat. Was für ein schönes Wort. Es fühlt sich so wohlig an, warm, samten, träumerisch, unvergänglich. Ich hatte sehr lange Heimweh. Kennst du das? Das ist, als weine das Herz. Ein Weinen, das nicht mehr stoppt. Das Elixier aus Kochsalz, Traubenzucker und Proteinen kann nicht über deine Augen nach außen dringen. Langsam und unerbittlich steigt es in im Körper auf und erdrückt alle Lebensfreude. So war das. Ich war traurig wie ein Mosaiksteinchen, das man vergessen hatte einzufügen. Wie ein Puzzleteil, im Schachtelfalz verklemmt, dem alles Schreien nicht hilft, auf sich aufmerksam zu machen. Obwohl die ganze Familie verzweifelt sucht und saugt und sucht und saugt und den Staubsaugstaub wieder und wieder hustend durch ein Sieb filtert. So schlimm ist Heimweh.

Zum Glück ist das passé. Meine Freunde haben mich gerettet. Meine Freunde sind all die anderen Waagen in unserem Wohnhaus, Personenwaagen und Küchenwaagen. Viehwaagen gibt es hier keine. Leider. Gerade noch rechtzeitig haben sie mich gerettet. Ich musste lange warten, bis sie mich in ihren Kreis aufgenommen haben. Sie wollten mich wahrscheinlich testen. Wie aufrichtig ich bin. Ob ich immer die genaue Kilo- und Grammzahl angebe, oder ob ich Schummelei betreibe. Als sie meine Verzweiflung spürten, vernetzten sie sich endlich mit mir. Das hat mich erlöst. Sie morsten mir ihre Verbundenheit. Ich hatte sogar ihren ultimativen Test bestanden. Ich schummele nämlich. Aus Liebe. Sogar aus Verliebtheit. Seitdem vernetzen wir uns jeden Nachmittag um fünfzehn Uhr zum Kaffeekränzchen und tauschen die neuesten Erkenntnisse zu unseren »Betretern« aus; so nennen wir die Menschen, die sich mit ihren verkrüppelten Füßen auf uns stellen. Ich kann ihr kollektives Wissen anzapfen und versuche so viel wie möglich von meinem einzubringen. Wir wissen alles über die Menschen, mit denen wir zusammenleben. Das ist Ablenkung. Das macht Spaß. Das ist witzig und manchmal todtraurig. Das lässt uns unseren eigenen Kummer über unsere Entwurzelung vergessen. Wir sind auch international vernetzt mit Waagepedia. Mein Traum ist, einmal den Vorsitz ausfüllen zu dürfen.

Dass ich »verkrüppelte Füße« gesagt habe, ist gemein. Sorry. Sowas sollte ich nicht sagen. Es stimmt auch nicht. Die Füße von Kindern sind noch samtweich. Es kitzelt, wenn sie sich auf mich stellen. Fast wie eine leichte Brise am Nordseestrand. So ähnlich hat es mir mein Vater beschrieben. Er musste es wissen. Er war bis zu seiner Ausmusterung lange Jahre in Sankt Peter Ording stationiert.

Nur dir erzähle ich meine Geschichte. Eine sehr intime Geschichte. Sie ist ausschließlich für deine Augen bestimmt. Wenn wir nur ich und du sind, also ich, Sammie [´zami:] die Waage, und du, der oder die gerade diese Zeilen liest, dann zeige ich mein wahres Gesicht. Das feinfühlige. Da kann ich von meinen Empfindungen und Träumen sprechen. Von meiner Seele, meiner Historie. Wie es sich anfühlt, ein Wesen zwischen Ding und Mensch zu sein. Liebe für Menschen zu empfinden, die einen als Ding betrachten, sogar ignorieren. Menschen, für die du das Beste willst und für die du dich jeden Tag ins Zeug legst, lügst und schummelst – und die dich trotzdem wie einen Gegenstand behandeln. Sie wissen nichts über mich und die anderen Waagen. Wir wissen alles über sie.

Alfred, hast du jemals mitbekommen, wie ich mit dir leide, wenn du heimlich im Bad weinst? Wenn die Badezimmertür von innen zugeschlossen wird, dann bebt mein Herz. Ich kenne dich und die anderen »Betreter« aus der Familie gut. Allzu gut. Achtzehn Jahre lebe ich nun schon bei euch. Anfangs warst du noch fröhlich, wenn du morgens in das Bad kamst. Du hast gesungen unter der Dusche. Am liebsten mochte ich »Buddy, you′re a boy, make a big noise. Playing in the street, gonna be a big man someday. You got mud on your face. You big disgrace kicking your can all over the place«.

Was habe ich mitgesungen, sogar gegrölt beim Refrain »We will, we will rock you.« Damals wusste ich noch nicht, dass Alfred nicht der Urheber dieses Liedes ist. Ich hing an seinen Lippen. Dass der Song von Freddy Mercury war, habe ich erst später erfahren, im Kaffeekränzchen durch die anderen Waagen, als ich es ihnen vorsang und sie sich vor Lachen krümmten. Die hatten längst mit »Waagepedia« ein Netzwerk geschaffen – eine Art Brockhaus – wo man weltweites Wissen abrufen kann. Ich bin froh, dass ich jetzt auch zu diesem Netzwerk gehöre und dort Antworten auf Fragen finde, die mir das Kaffeekränzchen in unserer Runde nicht beantworten kann. Wahrscheinlich habe ich in meiner Kindheit nicht aufgepasst oder den Zugang verschlafen. Das Gesangserlebnis damals war blamabel für mich. Ich hatte absolut NULL Ahnung von einer Band, die sich »Queen« nennt. Ich wusste nur, dass Alfred dieses eine Lied sang, wenn er glücklich war. Denn dann – mein lieber Alfred – war ich es mit dir.

Glück, was für ein verrücktes Gefühl. Da fällt mir ein Gedicht ein. Von einer Balkenwaage, was mir ein wenig sauer aufstößt. Die Gedichte der Viehwaagen sind leider lange nicht so schön. Sie handeln von Ställen, Natur und Misthaufen. Lieber denke ich an das Balkenwaagengedicht und träume mich in die Zeilen, die mich mein ganzes Leben lang schon begleitet haben. Ich verrate dir das Gedicht. Es heiß »Glück«.

Glück ist das flüchtigste Element von allen

es sollte in das chemische Periodensystem aufgenommen werden

In Gruppe achtzehn

Gleich der Edelgase

Glück ist seltener und flüchtiger als Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon, Radon oder Oganesson

Gibt es ein Glück, ohne glücklich zu sein?

Der Lottospieler, dem das Vermögen zwischen den Fingern zerrinnt, weiß eine Antwort

Der beneidete Milliardär, der mit einem Schuss seinem Leben ein Ende setzt, auch

Die Schönheitskönigin, die von ihrem Mann betrogen wird, fragt sich, was Glück ist

Wie wir alle

Die Sehnsucht nach Glück ist so alt wie die Sehnsucht nach einer Gottheit

Die Frage nach Glück bleibt so ungelöst wie die Frage nach Gott

Solon, einer der sieben Weisen der Antike, definierte das Glück aus seinem Blickwinkel:

In einem blühenden Gemeinwesen leben, tapfere Söhne, gesunde Enkel, ein gutes Vermögen, ein ehrvoller Tod auf dem Schlachtfeld

Gibt es ein Glücklichsein ohne Glück?

Ein Bauer hatte einen einarmigen Sohn

Alle bedauerten den Bauern für sein Unglück

Da kamen die Reiter des Königs und trieben alle jungen starken Männer zusammen

Für den Kriegsdienst

Den Einarmigen ließen sie als wertlos zurück

Alle beglückwünschten den Bauern für sein Glück

Mein adipös monströser, pfirschichflaumweicher Alfred ist schon lange nicht mehr glücklich. Wenn er jetzt das Badezimmer betritt, stimme ich jeden Tag »Buddy, you′re a boy, make a big noise. Playing in the street, gonna be a big man someday. You got mud on your face. You big disgrace kicking your can all over the place« an. Es verhallt ungehört. Seine Ohren hören mich nicht. Alfred hat Kummer. Schon seit Jahren hat Alfred Kummer. Ich habe es kommen gesehen, aber auf mich hat er nicht gehört.

Alfred hatte sich mich auf den Hochzeitstisch gewünscht. Ich bin eine Wunschwaage. Ich träumte vorher von einer großen Karriere als Beraterin in einem Fitnessstudio. Es war mir schon peinlich, stattdessen auf einem Hochzeitstisch zu landen. Wenn du solche Träume hast – von einer Fitnessstudiokarriere – dann ist es natürlich nicht so spannend, in eine, wie man sagt »Otto-Normalverbraucher-Familie« zu kommen, auch wenn du dich irgendwann damit arrangierst. Das Leben ist kein Wunschkonzert, würden die Viehwaagen dazu sagen. Wahrscheinlich habe ich mich wegen meines Jugendtraums in Philipp verliebt. Kennst du dieses Gefühl? Verliebt? Ich kannte es nicht, bis ich Philipp zum ersten Mal splitterfasernackt sah. Ich hatte ihn schon oft gesehen. Wenn er kurz ins Bad kam, um zu pinkeln oder zu kacken. Ah, das ist wieder so ein Hausjargon. Ich meine natürlich, dass Philipp manchmal hereinkam, den Deckel der Toilette hochklappte und sich niederließ, um sich zu entleeren. An einem Samstag vor fünf Jahren war es plötzlich anders.

Die Tür öffnete sich knarzend wie immer. Ich schreckte aus meinem Mittagsschlaf auf. Gerade hatte ich noch geträumt. Es war ein besonders schöner Traum gewesen: Ich, umringt von Menschen, die sich darum balgen, wer von ihnen mich als Erster besteigen darf. Sie schubsen sich und rangeln. Ihre Körper perfekt, auf ihrer Haut schimmern Schweißtropfen, die das grelle Neonlicht an der Decke reflektieren und ihnen einen metallenen Glanz verleihen, als wäre ihre Haut eine Rüstung, wie einstmals die der Ritter mit ihren Lanzen beim Turnier. Ich mit klopfendem Herzen im Zentrum dieses Knäuels aus Testosteron, Emotionen und wildem Geschrei.

Verschlafen erkannte ich, dass Philipp ins Bad kam. Er wusch sich diesmal nur die Hände. Dann stellte er sich vor den großen Spiegel, der vom Boden bis zur Decke reicht. So einen großen Spiegel gibt es nur in wenigen Badezimmern. Das habe ich beim Kaffeekränzchen erfahren. Er fuhr mit seinen Fingern durch seine braunen Locken. Er öffnete den Mund und ließ seine makellosen blendendweißen Zähne blitzen. Plötzlich zog er sich in Windeseile komplett aus und stellte sich erneut vor den Spiegel. Die Liebe hat mich bei seinem Anblick wie ein Blitz getroffen. Dieser Körper, muskelbepackt, gestählt, Bizeps, Trizeps, die vorderen Sägemuskeln, die Oberschenkelstrecker, die Wadenmuskeln. Was für eine Augenweide. Dann drehte er sich ein paar Mal um seine eigene Achse. Als ich seine mittleren und die großen Gesäßmuskeln sah, wurde ich fast ohnmächtig. Als er mich bestieg, drehte sich alles vor meinen Augen. Mein erster Orgasmus. Ein unglaubliches Erlebnis. Ich konnte mich nicht mehr auf das Anzeigen des Gewichts konzentrieren und gab ekstatisch zuckend einfach eine krude Zahl an. Vierunddreißig Kilo.

Als ich wieder bei Sinnen war, habe ich mich natürlich dafür geschämt. Was für ein Ausfall meiner Systeme. Im Nachhinein war dieser ein Glückstreffer, denn Philipp besteigt mich seitdem bei jedem seiner Besuche bei seiner Schwester Johanna und zieht sich vorher aus. Er kommt aber nicht oft. Leider. Er ist der Sohn ihres Vaters aus einer späteren Ehe, soviel habe ich mitbekommen. Sie verstehen sich, sind aber nicht zusammen aufgewachsen. Merkwürdige Verhältnisse, finde ich.

Warst du schon einmal verliebt? Das ist ein so verrücktes Gefühl. Du kannst plötzlich an nichts anderes mehr denken als an deinen Gegenstand der Verliebtheit. Das kann eine andere Waage sein, oder – wie in meinem Fall – ein Mensch. Du schläfst ein und wachst auf mit den Gedanken an diesen Gegenstand. Tagsüber bis du wie ein Schlafwandler. Du siehst, was vor dir her geht, fährt, schnauft, isst, stirbt. Aber deine Augen zeichnen das nur für den Notfall auf. Sie reagieren nicht. Denn sie sind nach innen gerichtet und du siehst mit diesen verliebten Augen tagein und tagaus immer wieder den Film, wie ihr euch das erste Mal begegnet seid. Du empfindest die erste Berührung auch noch beim zweitausendsten Mal, in deiner Erinnerung, so elektrisierend wie beim ersten Erzittern. Du machst dich schön, du achtest auf dein Äußeres. Du ersehnst bei jedem Öffnen der Tür, dass der Gegenstand deiner Liebe eintritt. Du errötest von außen und innen. Für jedes Wort und jede Handlung in seiner Nähe schämst du dich im Nachhinein. Alles, was zwischen euch vorgefallen ist, wird Tag und Nacht in Gedanken und im Traum wiedergekaut. Immer und immer wieder. Dabei wird es bei jedem Mal noch reizvoller und romantischer. Andere haben schon lange keine Lust mehr, sich mit dir abzugeben. Du wirst langweilig für sie, wie du in deiner Blase der Verliebtheit nicht mehr am realen Leben teilnimmst, sondern dich hineinsteigerst in deinen Wahn.

Als Philipp von mir abstieg, war ich sowas von geflasht. Jeden Quadratmillimeter seiner Fußsohlen hatte ich bei unserer Vereinigung abgespeichert. Er hat Plattfüße. Ich konnte die Knochen seiner Fußsohle auf mir spüren. Seine Knöchelchen hatten sich in meine Oberfläche gebohrt. Sie hatten noch tiefer dringen wollen. Der Schmerz war für mich wollüstig. Trotzdem war ich betrübt, dass Philipp Plattfüße hat. Plattfüße an einem ansonsten so makellosen Körper. Wenn er ausgezogen im kalten Neonlicht des Bades steht, dann wirkt Philipp wie die oberste Schicht auf einer Eisplatte. Ein bisschen blau, ein bisschen rau. Massiv aber zerbrechlich. Schon der kleinste Fingerstups könnte die kristallene Oberfläche, die so hart wirkt, knisternd zum Einbrechen bringen. Alles, was an ihm so stabil aussieht, hält niemals einer Bewährungsprobe stand. Sein Blick auf den großen Spiegel zeigte nach der ersten Kopulation Selbstverliebtheit. Er tanzte im Bad herum. Ich war erschöpft und außer Atem. Ich spürte, dass Philipp nur sich selbst liebt. Wir Waagen sind sehr tiefgründig. Wir können an den Fußsohlen den Charakter erkennen. Ich sah, dass unter Philipps schöner Oberfläche nicht viel Substanz ist. Diese Erkenntnis ist grausam. Dabei bin ich nicht die Erste, die sich in jemanden verliebt, der nur sich liebt. Solche Geschichten gibt es in unserem Haus auf jeder Etage. Manche sind herzzerreißend.

Ich habe den anderen Waagen im Haus viel zu verdanken. Ich wurde ja sehr jung verkauft. Was uns widerfahren ist, nennen einige einen Sklavenmarkt. Ich hadere damit. Was wäre sonst meine Lebensperspektive gewesen? Hätte ich es tatsächlich zu der erträumten Karriere im Fitnessstudio geschafft? Ich kann froh sein, eine Wunschwaage zu sein. Andere Waagen hatten nicht das Glück. Die wurden gekauft und einem Menschen vor die Füße geknallt. Damit er endlich abnimmt. Täglich müssen sie seitdem Hass und Ausgrenzung erleben. Wieder andere Waagen wurden gekauft und nie steigt jemand auf sie. Kein einziges Mal in zwanzig Jahren! Das muss man sich erstmal vorstellen. So ein Dasein ist verschwendet. Sehr traurig. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Lehrjahre sind keine Herrenjahre. »Leere Phrasen«, dachte ich früher. Aber es ist etwas dran. Schicksal nennt man das. Kennst du Schicksal? Falls nicht, beschreibe ich es dir mit einer Situation: Du bist in Rom und hast den blöden Gedanken, unbedingt noch in einem Restaurant Torciolo ai ferri zu essen. Gegrillte Bauchspeicheldrüse. Etwas, was du nur ganz selten in einem Lokal bekommst. Dabei fliegt dein Flugzeug ab Fiumicino schon in weniger als drei Stunden. Es ist unvernünftig. Du weißt das und sitzt wie auf Kohlen. Alles in dir wartet darauf, sich auf den Teller zu stürzen. Ein kleiner Gabelbissen soll ein Geschmackserlebnis sein, das zwischen Zähnen, Zunge und Gaumen explodiert. Die Zähne haben am wenigsten damit zu tun. Das exquisite Fleischstückchen wird mit der Zunge an den Gaumen gedrückt und zerrrieben. Der Brei läuft an allen Geschmacksknospen im Mund vorbei. Nelken, Zimt, Zwiebeln, Rotweinsugo. Trotzdem kannst du dich nicht richtig darauf fokussieren. Es schmeckt nicht. Deine Konzentration auf das begehrte Häppchen funktioniert nicht. Deine Aufmerksamkeit und deine Gedanken sind damit beschäftigt, das Flugzeug zu erreichen. Mit einem »Grazie, arrivederci« wirfst du nach dem Bezahlen noch einen 20 Euro-Schein auf den Tisch und stürmst aus der Osteria, um ein Taxi zu finden. Kommt aber keines. Jetzt musst du googeln nach »Taxi Roma«. Das alles dauert. Der Puls steigt auf einhundertachtzig im Ruhemodus. Ruhemodus wohlgemerkt. Du bist in einem Ausnahmezustand. Irgendwann kommst du durchgeschwitzt am Flughafen Fiumicino an. Jetzt gibt es zwei Varianten: Variante eins: Du hast das Flugzeug noch rechtzeitig erreicht und es stürzt mit dir ab. Variante zwei: Du hast das Flugzeug nicht mehr rechtzeitig erreicht und es stürzt ab. Den Unterschied zwischen Variante eins und Variante zwei nennt man Schicksal.

2

EIN DIENSTAG

Sie kommen alle regelmäßig ins Badezimmer. Mein Buddy Alfred, Johanna, die Kinder Felix und Ronja. Und ab und an mein Lover Philipp. Es ist ihr Drang mich aufzusuchen. So rede ich es mir schön. Unser Verhältnis ist gestört. Essgestört sogar. Na ja, vielleicht kenne ich die anderen Störungen nicht gut genug, um mir eine Meinung zu bilden. Alfred ist auf jeden Fall zu dick. Vielleicht nicht für eine Mandy mit Wolfszahn aus dem TV, aber zu dick für Johanna. Es fing schleichend an. Was waren die beiden verliebt, als ich von dem Hochzeitstisch in ihre Wohnung getragen wurde. Über die Schwelle. Beinahe hätten sie mich fallen gelassen vor lauter Geknutsche und Fummelei. Kein Wunder, bei dem Kater, den sie hatten. Vor achtzehn Jahren. Ich denke immer wieder gern an den Tag zurück. Ich wurde nach der Hochzeit über die Schwelle getragen! Das macht mich noch heute stolz. Solche Traditionen liebe ich, sie sind mir heilig. Vielleicht liegt auch etwas Eitles in mir, wenn ich immer mal wieder beim Kaffeekränzchen fallen lasse, dass ich eine Wunschwaage bin und dass ich über die Schwelle getragen wurde. So sehr ich mich als eine gute Waage bezeichne, weiß ich doch insgeheim, dass ich auch andere Seiten habe. Mich durchfährt ab und an ein gehässiger Gedanke. Kennst du das, dass man sich auf einmal wünscht, dass jemand vor dir stolpert oder hinfällt? Ich ertappe mich oft dabei. Es ist nur eine Millisekunde, für die ich mich gleich danach zutiefst schäme. Sogar Alfred habe ich schon mal in einer solchen gehässigen Millisekunde gewünscht, dass er im Bad ausrutscht. Natürlich hätte ich im nächsten Moment alles für ihn getan. Mund-zu-Waagen-Beatmung, Waagendruckmassage. Ich bin völlig unschuldig an diesen grausamen Vorstellungen. Es liegt ausschließlich am vererbten Gen der versnobten Balkenwaagen. Das ist in mir offensichtlich stärker verteilt als das Gen der genügsamen Viehwaagen. Über Gemeindewaagen spreche ich erst mal nicht. Dieser Verwandtschaftszweig ist nämlich nahezu ausgestorben. Außer ein paar Exemplaren, die sich in Savoyen auf der Straße herumtreiben, gibt es nur noch ein paar Vorfahren, die restauriert wurden und nun öffentlich zur Schau gestellt werden. Beschämend. Ich hoffe, dass ich so etwas nie erleben muss.

Es war echt geil, die heiße Zeit zwischen Alfred und Johanna mitzuerleben. Als junge Waage hat man noch nicht so viel Erfahrung mit dem Thema Sexualität. Ich bin sehr schnell aufgeklärt worden. Ich hatte schon im meiner Kindheit Dinge gesehen, die nicht mal auf Waagepedia aufgeführt sind. Damit konnte ich später bei den Kaffeekränzchen punkten. Da hingen die anderen Waagen an meinen Lippen und konnten nicht genug von meinen Erzählungen bekommen. Alles, aber wirklich auch alles, wollten sie wissen. Jedes Detail. Noch heute fragen sie nach. Nicht jede Waage darf so viel Sexualität mit eigenen Augen sehen, wie ich sie gesehen habe. Die zwischen Alfred und Johanna.

Wenn Alfred Johannas Haare hochschob, an ihrem feinen Flaum im Nacken mit den Zähnen knabberte und seine Zunge ihre Halswirbel einen nach dem anderen kreisend umrundete – wohlgemerkt beim Zähneputzen von Johanna – hörte sie in ihrer Bewegung auf. Die Zahnbürste fiel ins Waschbecken. Ich beobachtete die beiden genau, in der Hoffnung, etwas für mein eigenes Leben zu lernen. Alfred umfasste sie von hinten und fing an, ihre Brüste zu kneten. Johanna seufzte und rieb sich an seinem Körper, der damals noch schlank war. Es dauerte nicht lange, dann fielen bei beiden alle Hemmungen und sie benutzten diverse Gegenstände im Bad, um sich noch mehr in ihre Wollust hineinzusteigern. Da stand einiges herum, was man schnell wegräumt, wenn Besuch klingelt. Die Einzelheiten erspare ich dir hier. Das alles taten sie ungeniert vor meinen Augen! Ich war doch noch ein Kind! Achtzehn Jahre ist das her, habe ich das schon gesagt? Andererseits ist manchmal so ein Schock auch gut. Man wird in das Erwachsenwerden förmlich geschleudert. Ich muss im Nachhinein sagen, dass ich es nicht bereue, in meiner Kindheit Pornographie gesehen zu haben. Besser früh als nie hätte man in meiner Familie gesagt.

Vielleicht hat mich gerade deshalb Philipp so angefixt. Wenn du solche erotischen Spielchen siehst und immer außen vor bist, da entsteht ein Vakuum. Das Verlangen wird erst gestillt, wenn dich so ein Testosteronkerl besteigt, da kannst du nicht mehr abwägen, ob er Plattfüße hat, gendert, woke oder sonst was ist. Nicht mal die politische Gesinnung zählt. Meine Einstellung tendiert sowieso klar nach links. Ich stehe schon lange dazu, dass ich linksorientiert bin, mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Ich zeige lieber ein oder zwei Kilogramm zu wenig auf meiner Skala an als 500 Gramm zu viel. Schon die neutrale Mitte ist für viele nicht leicht zu verkraften. Ein Ruck nach rechts, und damit mindestens ein Pfund mehr auf der Anzeige, kann Katastrophen auslösen.