Wahnsinn im Kopf - Lori Schiller - E-Book

Wahnsinn im Kopf E-Book

Lori Schiller

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Beschreibung

Als Lori siebzehn ist, ändert sich ihr Leben schlagartig: Stimmen dringen zu ihr und verschaffen sich ungebeten Gehör. Sie machen Lori Vorwürfe, stacheln sie auf und stiften sie zu Taten an, die ihr vorher nie in den Sinn gekommen wären. Zuerst versucht Lori, die Stimmen einfach zu ignorieren, doch schon bald kann sie den Schein der Normalität nicht mehr länger aufrechterhalten. Sie wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und der lange Kampf gegen die Schizophrenie beginnt. Wird Lori es schaffen, die Stimmen zu besiegen?

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Inhalt
CoverÜber dieses BuchTitelImpressumWidmungAnmerkungen der Autorin und DanksagungVorwortTeil I123Teil II45678910Teil III1112131415Teil IV1617181920Teil V21222324252627Nachwort Lori Hartsdale, New York, 1994
Über dieses Buch

Als Lori siebzehn ist, ändert sich ihr Leben schlagartig: Stimmen dringen zu ihr und verschaffen sich ungebeten Gehör. Sie machen Lori Vorwürfe, stacheln sie auf und stiften sie zu Taten an, die ihr vorher nie in den Sinn gekommen wären. Zuerst versucht Lori, die Stimmen einfach zu ignorieren, doch schon bald kann sie den Schein der Normalität nicht mehr länger aufrechterhalten. Sie wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und der lange Kampf gegen die Schizophrenie beginnt. Wird Lori es schaffen, die Stimmen zu besiegen?

Lori Schiller

mit Amanda Bennett

WAHNSINN IM KOPF

Gefangen in meiner eigenen Welt. Doch ich nahm den Kampf gegen die Schizophrenie auf

Aus dem Amerikanischen von Karin Miedler und Christine Neugebauer

BASTEI ENTERTAINMENT

Digitale deutsche Erstausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1994 by Lori Schiller and Amanda Bennett

Originalausgabe: »The quiet room. A journey out of the torment of madness«

This edition published by arrangment with Grand Central Publishing [or other applicable HGB Division], New York, USA. All rights reserved.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung eines Motives © shutterstock: Adam Gregor

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3206-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für meine Mom

und meinen Dad,

die nie die Hoffnung

aufgegeben haben.

Ich danke euch …

ich bewundere euch …

ich liebe euch.

Anmerkungen der Autorin und Danksagung

Obwohl dies die Geschichte meines Lebens ist, habe ich beschlossen, sie nicht allein zu erzählen, sondern auch die Stimmen von Menschen einzubeziehen, deren Leben eng mit dem meinen verflochten ist. Die Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen – Lori Winters, mit der ich im College ein Zimmer teilte, meine Psychiaterin Dr. Jane Doller, meine Eltern und meine beiden Brüder – haben, neben vielen anderen, mit unter meiner Krankheit gelitten.

In meinem eigenen Erfahrungsbericht habe ich mich nach Kräften bemüht, zu zeigen, was es für einen Betroffenen heißt, schizophren zu sein, während ich die anderen Personen aus ihrer Perspektive erzählen ließ, um zu vermitteln, wie Eltern und Freunde von Schizophrenen die Auswirkungen dieser Krankheit erleben. Außerdem dienen mir diese Berichte in mehrfacher Hinsicht als Gedächtnisstütze. Denn meine Krankheit und wohl auch einige Behandlungsmethoden, denen ich unterzogen wurde, haben große Teile meiner Erinnerung an einige Phasen meines Lebens ausgelöscht. Ich habe die Schilderung dieser Zeitabschnitte daher jenen Menschen überlassen, deren Erinnerung genauer ist als meine.

Je besser es mir geht, desto besser werden auch mein Gedächtnis und meine Fähigkeit, zwischen Tatsachen und Phantasiegebilden zu unterscheiden. Beim Schreiben dieses Buches haben Amanda Bennett und ich alles getan, um die Geschehnisse so genau wie möglich wiederzugeben. Alle Menschen, Orte und Ereignisse in diesem Buch entsprechen der Wirklichkeit, und ich habe sie exakt so dargestellt, wie ich mich an sie erinnere. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind auch die Namen beibehalten worden. Allerdings habe ich wegen ihrer Nähe zum Kokain Raymonds und Nicoles Namen sowie andere Details, die eine Identifizierung ermöglicht hätten, geändert. Das gleiche gilt für Robin, Carla und Claire, deren Privatsphäre als Mitpatientinnen in der Psychiatrie ich nicht verletzen wollte.

Aus Gründen der Genauigkeit haben wir mit so vielen Menschen wie möglich gesprochen, die etwas mit meinem Leben, meiner Krankheit oder meiner Behandlung zu tun hatten. Und wir haben versucht, ihre Sicht der Dinge in die Darstellung mit einfließen zu lassen. Letztendlich spiegelt das Buch jedoch zwangsläufig vor allem meine Perspektive wider.

Der einzige Punkt, an dem sich meine Erinnerung und die äußeren Indizien bis heute substanziell widersprechen, betrifft das, was sich auf der Lincoln Farm während der ersten Monate meiner Krankheit ereignet hat. Deshalb besteht das erste Kapitel aus einer Kombination meiner Erinnerung an die damaligen Vorgänge mit Aufzeichnungen von der Lincoln Farm und den Erinnerungen verschiedener Betreuer des Camps, meiner Eltern und einiger Freunde unserer Familie.

Wir möchten uns in diesem Zusammenhang bei Jackie Pashkes, einer Betreuerin des Sommerlagers, für ihre besondere Hilfe bedanken. Sie hat es uns ermöglicht, die Camp-Unterlagen ausfindig zu machen. Mrs. Beatrice Loren, der Besitzerin der damaligen Lincoln Farm, danken wir für die Bereitstellung dieser Unterlagen. Und Amy Potozkin, einer weiteren Betreuerin, sind wir dankbar, weil sie uns ihre Erinnerungen an diese Zeit mitgeteilt hat.

Zahlreiche Menschen haben uns geholfen, meine Erinnerungen an die Zeit vor meinen Krankenhausaufenthalten zu vervollständigen. Zu ihnen gehören: Lori Winters Samuels, Michele Crames, Dr. Richard Dolins, Janey und Louis Klein, Dr. Philip Moscowitz, Bonnie Smith, Barbara A. Kobre, Tara Sonenshine Friend und Bradford A. Winters. Besonders möchte ich Gail Kobre Lazarus für ihre bis heute andauernde Hilfe und ihre Freundschaft danken.

Amanda Bennett und ich schulden auch dem New York Hospital/Cornell Medical Center, der Payne-Whitney-Klinik und dem New York Hospital/Cornell Medical Center, Westchester Division, Dank dafür, dass sie uns den Zugang zu meinen Krankenblättern ermöglichten. Diese Aufzeichnungen halfen mir, bestimmte Geschehnisse, Medikationen und Behandlungsverfahren genau zu datieren. Außerdem zeigten sie mir, wie andere Menschen den Verlauf meiner Krankheit wahrnahmen. Dank gebührt außerdem Dr. Otto Kernberg, dem Medizinischen Direktor des New York Hospital/Cornell Medical Center, Westchester Division, der es uns gestattete, die vielbeschäftigten Mitarbeiter seiner Abteilung zu befragen.

Viele Menschen haben ihre Erinnerungen zu diesem Buch oder zu dem zuvor im Wall Street Journal vom 14. Oktober 1992 erschienenen Artikel beigesteuert, der das Projekt erst ins Rollen brachte. Für ihre Hilfe, die Zeit meiner ersten Krankenhausaufenthalte zu rekonstruieren, bedanke ich mich bei Dr. Eugenia Kotsis sowie bei Jody Shachnow, Dr. Richard Munich, Dr. Michael Selzer, Dr. Kenneth Turkelson, Kay Dinoff und Ronald Inskeep vom New York Hospital. Für Erinnerungen an andere Lebensabschnitte danke ich Eddie Mae Barnes und Rochelle Forehand.

Des weiteren haben zahlreiche Personen das Manuskript zu diesem Buch gelesen und wertvolle Anregungen gegeben, etwa Lisa Ames, Janet Bennett, Nancy Ehle, Deborah Gobble, Betsy Julien, Shelly Benerofe oder Sidney Rittenberg. Mein besonderer Dank geht an Anne Schiff, die nicht nur die ersten Fassungen des Manuskripts gelesen, sondern sie auch sorgfältig abgeschrieben hat.

Für verschiedene Hilfestellungen und fachlichen Rat bedanken Amanda Bennett und ich uns bei Mark Berman, Dr. Frederick Goodwin, dem Direktor des National Institute of Mental Health, Dr. John Kane, dem Vorsitzenden der Psychiatrischen Abteilung des Long Island Jewish Medical Center, Dr. Carmela Perri, Dr. Daniel Weinberger vom National Institute of Health und Dr. Richard Weiner, außerordentlicher Professor für Psychiatrie am Duke University Medical Center.

Auch dem Chef vom Dienst des Wall Street Journal, Paul Steiger, und den dortigen Redakteuren Jane Berentson, Roger Ricklefs und David Sanford sind wir dankbar.

Unser Dank geht selbstverständlich auch an unseren Agenten Michael Cohn sowie an unsere großartige Lektorin Jamie Raab.

Außerdem möchte ich den Ärzten, Krankenschwestern, Pflegern, Sozialarbeitern und Freunden danken, die meine Genesung erst ermöglicht haben: Jane Levkoff, Nancy, Carol und Gladys, Penny und Michael Horgan, Phyllis Mossberg, Kathleen McDermott, Ron Kavanaugh, Andrew und Susan Sklarz, Nathaniel Goldberg, Maria Tivey, Myrt Armstrong, Julie Alkaitis, Hall Houston. Ein besonderes Dankeschön geht an Jacquie Aamodt, weil sie mir aus dem Treibsand geholfen hat, in dem ich zu versinken drohte. Gedankt sei auch Debbie, Jeannine und Rosemary aus Sandoz und Deanna vom Futura House; Michael Rustin von der Mamaroneck-Station des Search for Change und allen seinen Mitarbeitern; Beth Harris und Luba Spikula von der New York Hospital Patient Education, die mir beigebracht haben, wie ich durch meinen Unterricht anderen Menschen Hoffnung geben kann; den Mitarbeitern des New York Hospital, vor allem Jay Jay, Gladys, Danny, Jean, Margo, Barbara, Cathy, Debbie, Rose, Peter, John, Glen und ganz besonders Sorin Weiss, der auch dann noch an mich glaubte, als ich mich schon aufgegeben hatte.

Dr. Diane Fischer wird immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen einnehmen. Sie hat mir Wege eröffnet, von denen ich zuvor nicht wusste, wie leicht sie zu gehen sind. Ihre Hilfe beim Aufbau dieses Buches – und meines Lebens – werde ich nie vergessen.

Danken möchte ich natürlich auch Dr. Jane Doller, einer wunderbaren, besonders aufopferungsvollen, aufrichtigen und offenen Psychiaterin. Sie hat mir die Bedeutung von Partnerschaft klargemacht. Was wir auch tun, wir tun es gemeinsam.

Besonderer Dank geht auch an Dr. Lawrence Rockland für die fünf Jahre der Zuwendung, Fürsorge und Aufmerksamkeit, die er mir geschenkt hat. Ohne ihn wäre ich heute vielleicht nicht mehr am Leben. Außerdem schulden wir ihm großen Dank für die zeitraubenden Vorarbeiten zu diesem Buch.

Schließlich möchten wir noch unseren Familien danken. Unser Dank geht an Amandas Ehemann Terence Bryan Foley und ihren Sohn Terence Bennett Foley für ihre Geduld und ihr Verständnis. Der allergrößte Dank aber geht natürlich an meine Mutter, meinen Vater und meine Brüder. Sie alle haben jahrelang an meiner Seite gelebt, während meine Welt die reinste Hölle war. Gedankt sei Steven und Mark und ihren Ehefrauen Ann und Sally für ihre Freundschaft; ebenso meinen Neffen Mason, Jake und Austin.

Mom und Dad – danke! Ihr seid wunderbare Menschen. Ich liebe und umarme euch.

Lori Schiller und Amanda Bennett, 1. März 1994

Vorwort

Als ich Lori kennenlernte, war sie Patientin und ich Psychiaterin am New York Hospital. Ich betreute sie in einer Phase, in der sie am schwersten mit ihrer Krankheit zu kämpfen hatte. Ich habe sie durch alle Höhen und Tiefen bis zu ihrer Genesung begleitet. Heute bin ich ihre Therapeutin.

Obwohl ich Lori so gut kannte, hat mich ihr Bericht über ihren Kampf gegen die Schizophrenie überrascht und bewegt. In diesem sehr persönlichen Buch eröffnet Lori Schiller uns einen Zugang zu einer fremden und erschreckenden Welt. Ihr Buch ermöglicht uns einen der bisher eindrucksvollsten Einblicke in diese Welt.

Am Anfang dieses Jahrhunderts waren solche persönlichen Schilderungen psychischer Krankheiten in der medizinischen Literatur häufiger zu finden. Damals wussten die Psychiater kaum etwas über die Funktionsweise des Gehirns oder über die Ursachen psychischer Erkrankungen und analysierten diese Patientenberichte, um Anhaltspunkte für eine Behandlung zu finden. Die Schilderungen der Psychiatrie-Patienten verschafften den Ärzten zumindest einen Einblick in das subjektive Erleben psychisch Kranker.

Inzwischen hat sich die Psychiatrie insgesamt verwissenschaftlicht. Wir haben unsere Aufmerksamkeit vor allem den biologischen Ursachen von psychischen Krankheiten wie der Schizophrenie zugewandt und behandeln diese Krankheiten zunehmend medikamentös. Unsere Hoffnung für die Zukunft vieler psychisch kranker Patienten richtet sich in erster Linie auf eine ganze Palette neuer, noch in der Entwicklung befindlicher Medikamente.

Derartige Medikamente haben bereits heute das Leben Hunderttausender, vielleicht sogar Millionen psychisch kranker Menschen verändert. Auch Lori bekam den letzten, endgültigen Anstoß zur Rückkehr in die Realität durch ein damals noch in der Erprobungsphase befindliches Präparat, das Clozapin. Inzwischen wissen wir, dass sich die unerwünschten Nebenwirkungen des Clozapins, die wir zuerst befürchteten, weit leichter beherrschen lassen als wir es zunächst vermuteten. Daher kann heute ein erheblich größerer Patientenkreis von diesem Medikament profitieren als wir zunächst angenommen hatten. Andere neue Wirkstoffe werden dieses Spektrum noch erweitern.

Ärzte, Familien, Freunde sowie die Kranken selbst können angesichts dieser beachtlichen Fortschritte in der Medizin nur dankbar sein. Aber Lori Schillers Geschichte hilft uns auch, uns an etwas zu erinnern, was wir in unserem wissenschaftlichen Eifer möglicherweise aus den Augen verloren haben. Bei einer psychischen Krankheit geht es um mehr als um Biologie und Medikamente. Es geht vor allem um den betroffenen Menschen selbst. Das Clozapin hat Loris Genesung ermöglicht, aber es war Lori selbst, die diese Genesung auch zu einem dauerhaften Erfolg hat werden lassen.

Meiner Meinung nach lag der Wendepunkt in Loris Krankengeschichte lange vor der Zeit, in der das Clozapin eingesetzt wurde. Es waren die ersten Monate ihres letzten Klinikaufenthalts, in denen sie schließlich begann, sich ihre Krankheit einzugestehen, und sagen konnte: »Ich bin sehr krank, ich brauche Hilfe.« Erst jetzt konnte sie das Risiko auf sich nehmen, sich wirklich aktiv an der Behandlung zu beteiligen, anderen ihre Gefühle mitzuteilen und Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.

Loris Erfahrungen mit der Schizophrenie sind einerseits typisch, andererseits aber auch sehr ungewöhnlich. Der Krankheitsverlauf war ausgesprochen typisch: Der Ausbruch in der späten Jugend nach einer normalen Kindheit, die anfängliche Schwierigkeit, die Krankheit richtig zu diagnostizieren, die Leugnung der Krankheit durch sie selbst und ihre Eltern. Auch die zuerst erfolglose Behandlung ist leider ziemlich typisch. Der durchschnittliche junge Schizophrenie-Patient durchläuft wie Lori wiederholte Krankenhausaufenthalte, zahllose Medikationsversuche und verschiedene Behandlungsmethoden bei unterschiedlichen Ärzten, bevor die Krankheit zutreffend diagnostiziert und angemessen behandelt wird. Wie Lori wenden sich viele dieser jungen Leute dem illegalen Drogenkonsum zu und versuchen, die erschreckenden Symptome auf diese Weise unter Kontrolle zu bringen.

Ungewöhnlich ist diese Geschichte wegen des großen persönlichen Mutes, mit dem Lori ihrer Krankheit entgegentrat. Sie wurde kein Opfer ständigen Drogenmissbrauchs. Sie war vielmehr fähig, ihr Problem zu erkennen und es zu lösen. Als sie schließlich erkannte, dass sie krank war, setzte sie alle Hebel in Bewegung, um ihre Krankheit zu besiegen.

Sie erhielt viel Unterstützung, hatte liebevolle Eltern, eine gute klinische Betreuung und die bestmögliche medizinische Versorgung. Aber ohne ihre eigene Willenskraft und Entschlossenheit hätte sie es nie geschafft, in das Leben, wie sie es jetzt führt, zurückzukehren. Sie hat ganz konkret dazu beigetragen, ihre Krankheit zu überwinden. Loris Geschichte enthält viele wichtige Botschaften. Psychiatern und Angehörigen der medizinischen Berufe gibt sie Einblick in die innere Welt eines Psychiatrie-Patienten, in eine Welt, der wir manchmal zu wenig Beachtung schenken. Sie gemahnt daran, dass wir auch in unserer Zeit der High-Tech-Medizin die traditionellen Therapien nicht gänzlich vernachlässigen sollten, die das Ziel haben, die hinter der Krankheit verborgene Persönlichkeit des Patienten zu erreichen. Meiner Erfahrung nach ist die Beziehung zu einem anderen Menschen ein sehr wirkungsvolles Instrument in dem vorhandenen Arsenal von Behandlungsmethoden, zu denen auch die medikamentöse Therapierung gehört. Psychisch Kranken zeigt Loris Geschichte die Möglichkeit auf, durch den Einsatz geeigneter Medikamente ebenfalls eine Chance für ein neues Leben zu erhalten und wie Lori ihre Krankheit zu besiegen. Für alle anderen ist Loris Geschichte die bewegende Beschreibung einer sehr persönlichen Reise. Sie ist nicht nur die Geschichte einer psychischen Erkrankung, sondern die Geschichte eines Menschen. Sie erzählt von persönlicher Entschlossenheit, Mut und Hoffnung.

Jane Doller, M.D.

Clinical Assistant Professor of Psychiatry

Cornell University Medical College

New York Hospital, Westchester Division

Teil I

Ich höre was, was du nicht hörst

1

Lori, Roscoe, New York August 1976

Es war in einer heißen Augustnacht 1976, als die Stimmen kamen. – Ungebeten und überraschend brachen sie in mein Leben ein und begannen, es zu beherrschen.

Ich war damals siebzehn Jahre alt und hatte nur noch ein Jahr High School vor mir. Mein letzter Sommer im Ferienlager hatte begonnen. Bald würde ich aufs College gehen, einen Beruf ergreifen, erwachsen sein und Verantwortung tragen. Erst einmal aber blieb mir noch ein Sommer voller Spaß. Ich war überhaupt nicht darauf gefasst, dass sich mein Leben ausgerechnet jetzt für immer verändern würde.

Ich war seit einigen Jahren jeden Sommer auf der Lincoln Farm, zuerst als Teilnehmerin, später als Gruppenleiterin. Tagsüber betreute ich die Neun- und Zehnjährigen beim Segeln, Kanufahren und Bogenschießen. Abends, wenn die Kleinen sicher im Bett lagen, saßen wir Betreuer immer in den langen, flachen Bungalows aus Holz, die wir »Motels« nannten, spielten Karten, aßen Kekse und tranken ein Gebräu, das wie Kool-Aid schmeckte. Wir nannten es Käfersaft. Manchmal fuhren die älteren Leiter auch mit uns in die Stadt zum Roscoe-Imbiss. Wir lachten, erzählten uns Witze und alberten herum.

Es war ein ganz normaler Sommer, und ich war ein ganz normales Mädchen. Doch irgendwann in diesem Sommer begann sich alles zu verändern.

Anfangs war die Veränderung ganz angenehm. Irgendwie kam mir alles viel schöner vor als bisher, aber ich wusste nicht, warum. Der See schien blauer, die Schaufelräder größer und die Segelboote schnittiger als zuvor. Das Grün der Bäume auf den Catskill-Bergen rund um unser Camp wirkte intensiver, als ich es aus den vorhergehenden Sommern in Erinnerung hatte. Das Camp erschien mir auf einmal als der schönste Ort der Welt.

Von diesen Eindrücken war ich völlig überwältigt. Ich hatte das Gefühl, ich müsse schneller laufen, weiter schwimmen und länger aufbleiben, um all das in mich aufnehmen und intensiv erleben zu können. Ich war voller Energie, aktiv und überschäumend vor Glück, und jedermann mochte mich. Um mich herum war die Welt hell, rein und klar. Und ich fühlte mich als Teil dieser Schönheit, stark und attraktiv, interessant und mächtig. Mir kam es vor, als müssten mich alle anderen nur ansehen, um mich ebenso zu lieben wie ich sie liebte.

Außerdem lebten meine Erinnerungen wieder auf. Auf der Lincoln Farm hatte ich mich vor zwei Jahren verliebt. Im Rückblick erschien mir auch dieser Sommer wild und hell und wundervoll. Ich hatte mich verliebt wie noch nie jemand vor mir. Einem Menschen wie Otto war ich noch nie zuvor begegnet.

In jenem Sommer – ich war damals fünfzehn – war Otto als Austauschstudent hier. Er war ein attraktiver junger Mann, blond und schlaksig, hatte helle, blaue Augen und sprach mit einem leichten Akzent. Da ich klein und dunkelhaarig war, kam er mir ganz besonders exotisch vor. Ich mochte ihn wirklich und konnte kaum den Blick von ihm wenden. Außerdem war er schon dreiundzwanzig. Ich bewunderte seinen Mut, für einen Sommer ganz allein hierher zu kommen, und ich war ganz hingerissen von seinem Humor.

Wir waren sehr gern zusammen. Meine Erinnerungen an diese Abende waren schön und traurig zugleich. Wir sprachen über unsere Verliebtheit und darüber, wie schrecklich es sein würde, wenn Otto schließlich wieder nach Hause musste. Wir dichteten sogar ein albernes kleines Lied zur Melodie des Beatles-Songs »Ticket to Ride«:

He’s got a ticket for home

He’s got a ticket for home

He’s got a ticket for home

He’s got a ticket for home

And won’t be back …

Einige Wochen später, als die Zeit im Camp vorbei und ich wieder in Scarsdale war, tauchte Otto bei mir zu Hause auf. Er hatte eine hübsche Frau dabei, die er meinen Eltern als seine Verlobte vorstellte.

Die Erinnerung an diesen Augenblick vor zwei Jahren verfolgte mich von morgens bis abends. Allmählich veränderte sich meine Stimmung, und die Heiterkeit begann aus der Welt um mich herum zu schwinden. Ich dachte an die Vergangenheit, und meine Gefühle verdüsterten die Gegenwart. Dann kamen die schrecklichen Gedanken: Warum hat er mich damals verlassen? Warum war ich ihm nicht gut genug? Vielleicht, weil ich in Wirklichkeit gar nicht schön, außergewöhnlich und leidenschaftlich war. Vielleicht war ich ja hässlich. Vielleicht war ich fett und abstoßend, eher lächerlich als liebenswert. Ja, das war es. Vielleicht machten sich alle in meiner Umgebung nur über mich lustig und mochten mich in Wahrheit gar nicht. Vielleicht lachten sie mich aus, während ich mir einbildete, sie lächelten mich an.

Meine Stimmung schlug um. Ein Schleier senkte sich auf mich. Das Sommerlager widerte mich plötzlich an, es wurde von etwas wunderbar Schönem zu etwas furchtbar Bösem. Um mich herum bewegten sich Schatten, und ich war in einen dunklen Schleier gehüllt.

Während ich mich nachts mit diesen Gedanken quälte und nicht schlafen konnte, wurde meine Erinnerung so lebendig, als lebte ich wirklich wieder in jenem Sommer, den ich mit Otto verbracht hatte. In meinen Gedanken waren wir wieder unten an dem großen, dunklen, romantischen See. Drüben am Steg konnten wir hören, wie die Wellen gegen die Segelboote und die riesigen Schaufelräder plätscherten. Es war später Abend, die Glühwürmchen waren verschwunden, aber wir konnten die Frösche noch an den Ufern quaken hören. Mir kam es vor, als sei der Himmel voller Sterne, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Wir saßen am Ufer im dichten Gras, redeten und lachten miteinander.

In meiner Erinnerung schmiegten wir uns aneinander und küssten uns. Eines Abends legten wir uns auf einen der Picknicktische, die um den See herum aufgestellt waren. Ottos Hände begannen zu wandern, unter mein T-Shirt und in meine Shorts. Ich war zugleich erregt und beunruhigt, erschrocken und elektrisiert. Ich wollte mehr, und doch wünschte ich, dass er aufhörte. Wir gingen weiter als meine bisherige Erfahrung reichte, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.

In meinen Gedanken war ich jetzt wieder dort, wälzte mich im Dunkeln mit Otto und zog ihn an mich, und ich wurde von einer Welle verwirrender Gefühle aus der Vergangenheit und der Gegenwart überschwemmt – Liebe, Befangenheit, Zurückweisung und Angst.

Eines Nachts, mitten in diesem Chaos, dröhnte eine mächtige Stimme durch das Dunkel: »Du musst sterben!« Andere Stimmen fielen ein: »Du musst sterben! Du wirst sterben!«

Zuerst wusste ich nicht, wo ich war. War ich mit Otto zusammen am See? Schlief ich, oder war ich wach? Dann sprang ich zurück in die Gegenwart. Ich war im Camp, allein. Otto war schon seit zwei Jahren weg. Diese längst vergangene Szene hatte sich also nur in meinen Gedanken abgespielt. Aber sobald ich erkannte, dass ich wach in meinem Bett lag und das Mädchen, mit dem ich das Zimmer teilte, friedlich schlief, wusste ich, dass ich wegrennen musste – weg von diesen schrecklichen, bösen Stimmen.

Ich sprang aus meinem Bett und rannte barfuß hinaus. Ich wollte mich irgendwo verstecken. Ich dachte, wenn ich schnell und weit genug rannte, könnte ich den Stimmen entkommen. »Du musst sterben!«, sangen sie. »Du wirst sterben!«

Verzweifelt lief ich auf die weite Rasenfläche in der Mitte des Camps hinaus. Das Gras unter meinen Füßen war feucht. Ich raste auf das große Trampolin zu, auf dem die Kinder tagsüber herumsprangen und Salto rückwärts übten.

Ich kletterte hinauf. Mein Kopf war angefüllt mit wilden, seltsamen Gedanken. Wenn ich schnell und hoch genug springe, dachte ich, kann ich dadurch vielleicht die Stimmen loswerden. Ich sprang und sprang, und dabei klangen mir ständig die quälenden Stimmen in den Ohren: »Du musst sterben. Du wirst sterben.« Ich sprang stundenlang, bis die Sonne über den Hügeln aufging. Ich sprang, bis ich erschöpft und völlig außer Atem war. Ich sprang, bis ich dem Tode wirklich nahe war.

Aber sie riefen und riefen, sie beherrschten mich, sie hämmerten in meinem Kopf. Sie begannen mich zu beschimpfen: »Du Hure, du bist keinen Pfifferling wert!« Ich versuchte, ihnen zu widersprechen und sie zum Schweigen zu bringen. »Das ist nicht wahr«, verteidigte ich mich. »Lasst mich in Ruhe. Das ist nicht wahr.« Schließlich brach ich erschöpft zusammen.

Auch in den folgenden Nächten quälten mich die Stimmen. Morgens war ich erschöpft und blass, ängstlich und übermüdet. Tief in der Nacht sprang ich auf dem Trampolin herum, verfolgt von den bösartigen Stimmen. Ich sprang Nacht für Nacht. Ich konnte nicht schlafen, denn entweder kreischten die Stimmen, oder ich lag voller Angst wach und fürchtete, sie könnten zurückkommen.

Tagsüber bemühte ich mich, ruhig und unauffällig zu wirken. Ich verbrachte möglichst viel Zeit im Bett. Aber allmählich merkten die anderen, dass mit mir etwas nicht stimmte. Meine Fröhlichkeit war verschwunden, und ich spürte, dass sie sich Gedanken darüber machten, was mit mir los war.

Am zwölften August, um neun Uhr dreißig, ließ mich der Campleiter, der sich Sorgen um meine Gesundheit machte, von einem Mitarbeiter heim nach Scarsdale fahren.

Seit jener Zeit verließen mich die Stimmen nie mehr ganz. Zu Beginn jenes Sommers war ich ein glückliches, gesundes Mädchen, das normal dachte und fühlte. Am Ende des Sommers war ich krank, ohne eine klare Vorstellung von dem zu haben, was in mir vorging, und ohne eine Ahnung, wie es dazu gekommen war. Erst später erfuhr ich, dass ich unter einer Krankheit litt, die man Schizophrenie nennt.

Die Stimmen machten mich krank. Sie nahmen mir meine Ruhe und meine Selbstsicherheit, und fast hätten sie mir das Leben genommen. Während dieser Krankheit habe ich vieles verloren: den Beruf, den ich vielleicht begonnen hätte, den Mann, den ich vielleicht geheiratet hätte, und die Kinder, die ich vielleicht hätte haben können. In den Jahren, in denen meine Freundinnen heirateten, Kinder bekamen und in Häuser zogen, von denen ich immer geträumt hatte, lebte ich hinter verschlossenen Türen und bekämpfte die Stimmen, die ungebeten die Kontrolle über mein Leben übernommen hatten.

Manchmal schwiegen diese Stimmen, manchmal aber dröhnten sie unablässig in meinem Kopf. Einige Male im Lauf der Jahre hätten sie mich fast zerstört. Oft war ich nahe daran, aufzugeben und glaubte, sie hätten gesiegt.

Auch heute ist diese Krankheit, sind diese Stimmen noch Teil meines Lebens. Aber ich habe gewonnen. Ein wundervolles neues Medikament, engagierte Therapeuten, die Unterstützung und Liebe meiner Familie sowie mein eigener harter Kampf – der nie enden wird, wie ich jetzt weiß – haben auf fast wunderbare Weise zusammengewirkt und mir geholfen, die Krankheit zu beherrschen, die einst mich beherrscht hat.

Heute, mehr als siebzehn Jahre nach diesem furchtbaren Sommer, habe ich eine Anstellung, ein Auto und eine eigene Wohnung. Ich habe Freunde und Verabredungen. Und ich gebe Kurse in dem Krankenhaus, dessen Patientin ich einmal war.

Aber ich war an einem Ort, an dem zu viele Menschen unfreiwillig leben müssen. Ich bin eine von den wenigen, denen es erlaubt war, zurückzukehren. Ich will von meiner Reise erzählen, damit Menschen, die diese Erfahrung nicht gemacht haben, wissen, was in meinem schizophrenen Gehirn vorgegangen ist. Und damit jene, die noch in dieser anderen Welt leben, Hoffnung schöpfen können, dass auch sie einen Ausweg finden.

2

Lori, Scarsdale, New York, August 1970 bis August 1977

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, quält mich eine bestimmte Erinnerung, die Erinnerung an den Nachmittag mit dem Hund.

Ich weiß noch, dass wir einen mittelgroßen schwarzen Mischlingshund hatten, als ich klein war. Er war an der Tür angekettet und konnte sich nur ein paar Meter in jeder Richtung bewegen.

Eines Tages war ich mit ihm in der Küche, und ich wurde plötzlich sehr ärgerlich. In meiner Wut ergriff ich einen Golfschläger, der zufällig in der Ecke stand, und begann, wie wild auf den Hund einzuschlagen. Zuerst bellte er, aber wegen der Kette konnte er nicht fliehen. Dann trat ihm Schaum vor die Schnauze. Während ich auf ihn einprügelte, knickte ein Bein nach dem anderen unter ihm weg. Er versuchte immer wieder, aufzustehen, aber ich ließ es nicht zu. Ich schlug weiter, immer weiter. Er fiel um und hörte auf zu bellen. Sein Körper wand sich in schrecklichen Krämpfen. Aus seinen Ohren und seiner Schnauze floss Blut. Nach einer Weile bewegte er sich nicht mehr. Er war tot.

Bis heute weiß ich nicht, warum ich das getan habe. Ich versuche mir vorzustellen, welche Bösartigkeit und welche Wut nötig gewesen sein müssen, um eine solche Untat zu begehen. Über die Jahre hinweg habe ich mich in Gedanken immer wieder dafür bestraft, dass ich mich so schrecklich an einem unschuldigen Geschöpf versündigt habe.

Aber es gibt ein großes Problem bei dieser Erinnerung: Sie entspricht nicht der Realität. Das alles ist nie geschehen.

Meine Eltern sagen, wir hätten nie einen solchen Hund gehabt. Sie sagen, dass der Vorfall, an den ich mich so deutlich erinnere, nie stattgefunden hat. Meine Brüder Steven und Mark bestätigen das. Wir hatten während meiner Kindheit nur einen einzigen Hund. Keinen mittelgroßen schwarzen, sondern einen winzigen grauen Zwergschnauzer. Er starb auch keines brutalen, vorzeitigen Todes. Nach einem langen, friedvollen Leben brachte ihn mein Bruder Steven zum Tierarzt und ließ ihn einschläfern. Die lebendige Erinnerung an den Hund, den ich getötet habe, hat mein gestörtes Gehirn Jahre später erfunden, lange nachdem ich krank geworden war, erklären meine Angehörigen.

Mein gesundendes Gehirn sagt mir, dass sie recht haben. Je mehr ich genese, desto mehr verblassen diese dunklen Bilder, und meine tatsächliche Kindheit scheint wieder durch.

Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich nicht mehr solche Gräuel, sondern nur einige Anzeichen der Krankheit, die sich unbemerkt in mir entwickelte. Ich sehe keine Vergangenheit voller Angst, Gewalt und Streit, keine schwierige, von Misshandlung und Hass gezeichnete Kindheit. Stattdessen erinnere ich mich an eine außerordentlich glückliche Zeit voller Liebe und Zuwendung, Spaß und Freundschaft. Und die eindringlichsten Bilder aus meiner Vergangenheit spiegeln nicht Hass und Verletzung wider, sondern eine höchst friedliche und normale Jugend.

»Neunundneunzig Flaschen Bier stehen an der Wand, neunundneunzig Flaschen Bier. Du nimmst eine runter und lässt sie herumgehen. Jetzt sind’s noch achtundneunzig Flaschen Bier. Achtundneunzig Flaschen Bier stehen an der Wand …«

Im Sommer 1970 fuhren wir quer durch das Land und taten während der Fahrt alles, um meinen Vater zum Wahnsinn zu treiben. Wir Kinder sangen endlose Abzählreime und baten ihn ständig, anzuhalten, weil wir auf die Toilette mussten, und benahmen uns auch sonst hochgradig entnervend.

»Daddy, ich muss wieder auf die Toilette.«

»Ich habe Hunger.«

»Ich habe Jugoslawien.«

»Das ist dumm.«

»Du bist dumm.«

»Mommy, Mark sagt, dass ich dumm bin.«

»Daddy, ich muss auf die Toilette.«

Mein Vater stieß wilde Drohungen aus, meine Mutter erfand Spiele, bei denen man Autotypen erkennen musste. Aber wir ließen uns nicht ablenken. »Ich muss auf die Toilette, Daddy. Ich muss auf die Toilette.«

Nach einigen Stunden war Daddys Geduld am Ende. »Für den Rest der Reise will ich nicht mehr hören, dass irgendwer zu mir sagt, dass er auf die Toilette muss«, meinte er erschöpft. Das brachte uns zum Schweigen – für etwa zwei Minuten. Dann rief einer von uns mit düsterer Stimme nach vorne: »Ich muss auf die Toilette – Bob«, und kicherte.

Für den Rest der Reise sagten wir nicht mehr zu unserem Vater, sondern zu unserem imaginären neuen Freund, dass wir auf die Toilette mussten. »Ich muss auf die Toilette, Bob!«, riefen wir. An den Gesichtern unserer Eltern konnten wir ablesen, dass wir gewonnen hatten. Sie versuchten mühsam, sich das Lachen zu verkneifen. »Ich muss auf die Toilette, Bob.«

Ich war elf Jahre alt, Mark acht, Steven fünf, und die ganze Familie Schiller zog wieder einmal um. Ich bin in Michigan zur Welt gekommen. Dort hatte mein aus der Bronx stammender Vater meine Mutter, die Tochter eines wohlhabenden Kaufhausbesitzers, kennengelernt und geheiratet. Er schrieb damals noch an seiner Doktorarbeit in Psychologie. Als mein Vater promoviert hatte und seine erste Stelle antrat, zogen wir drei nach Chicago, wo Mark geboren wurde. Als ich sechs war, wurde mein Vater befördert, und wir zogen nach Los Angeles, wo Steven geboren wurde. Jetzt, fünf Jahre später, wurde mein Vater wieder befördert, und wir zogen alle in den Osten.

Für uns Kinder war diese Reise ein großer Spaß. Wir waren zwei Wochen lang unterwegs, fuhren am Versteinerten Wald und am Grand Canyon vorbei, durch Indianerreservate in New Mexico und auf einer scheinbar endlosen, schnurgeraden Straße durch Texas. Wir sahen Männer mit Cowboyhüten, ließen uns mit Stieren in nachgebauten Dörfern fotografieren und spielten »Nummernschilder raten«. Und wir baten Bob, anzuhalten, weil wir auf die Toilette mussten – trotz der Warnungen meines Vaters und vor allem dann, wenn sich diese Stopps mit kurzen Raubzügen bei McDonald’s verbinden ließen.

Aber eigentlich war uns allen nicht ganz wohl bei dem Umzug. In Kalifornien hatte es uns gefallen. Wir hatten dort in einem modernen, hellen Haus mit großem Garten und einem Swimmingpool gewohnt. New York erschien uns fremd und sehr weit weg. Sogar meine sonst stets optimistischen Eltern wirkten ein wenig unsicher. Nachdem sie beschlossen hatten, dass mein Vater die neue Stelle annehmen würde, waren sie nach New York geflogen und hatten ein Haus gekauft. Schon nach wenigen Tagen kamen sie wieder zurück. Daher war es wohl nicht nur Spaß, als sie uns und sich jetzt gegenseitig neckten und auf völlig heruntergekommene Häuser zeigten.

»Ist es das, Liebling?«, fragte mein Vater meine Mutter und zeigte auf ein Bauernhaus mit eingebrochener Veranda. »Sieht unser neues Haus nicht so ähnlich aus?«

Einige Kilometer weiter entdeckte meine Mutter einen alten, ausgedienten Wohnwagen.

»Marvin, Marvin, das ist es«, rief sie aufgeregt. Und dann drehte sie sich um und sagte zu uns Kindern auf dem Rücksitz: »So ungefähr sieht unser neues Haus aus.« Später machten sie eine komische Nummer daraus.

»Haben wir eigentlich ein Haus mit Badezimmer gekauft?«, fragte meine Mutter.

»Ja, ich glaube, es hat ein Bad«, antwortete mein Vater mit unbewegter Miene.

Auf der ganzen Fahrt machten sie ihre Witze, und als wir kurz vor New York waren, wusste keiner von uns, was uns nun eigentlich erwartete. Und obwohl uns klar war, dass sie nur Spaß gemacht hatten, waren wir doch sehr erleichtert, als wir in die Einfahrt einbogen und den großen Garten und das schöne weiße Haus im Kolonialstil sahen.

Ich rannte sofort hinein, inspizierte eifrig die Treppen zum ersten Stock, das Wohnzimmer im Erdgeschoß und den großen Raum, der mein Schlafzimmer werden sollte. »Das ist ein prima Haus«, erklärte ich meinen Eltern.

Hier in Scarsdale, einem Vorort von New York, waren wir sehr glücklich. Meine Eltern fanden Freunde. Ich konnte zu Fuß zur Schule gehen oder, wenn ich es eilig hatte, mit dem Rad fahren. Mir gefiel es dort sehr gut. Mein kleiner Bruder Steven ging so gern in den Kindergarten, als hätte er sein Leben lang zu der Gruppe gehört. Sogar Mark, der sich in der neuen Umgebung zuerst fremd und unsicher gefühlt hatte, lebte sich nach einiger Zeit gut ein. Wir fühlten uns in dem Haus geborgen, und der große Garten war wie geschaffen, um Schneemänner darin zu bauen oder riesige Laubhaufen aufzutürmen. Es gab sogar ein Spielhäuschen für uns Kinder.

Meine Mutter und ich machten Ausflüge in die Museen in der Stadt. Wir hatten beide rotweiß karierte Blusen an und trugen Sonnenbrillen mit Drahtgestell. Wir aßen riesige Hot Dogs und tranken Schokoladen-Milchshakes, und auf dem Rückweg machten wir uns im Zug über die Aufmachung der anderen Leute lustig.

Mein Vater spielte mit Mark und Steven Softball oder Basketball. Sonntags nahm er mich oft mit, wenn er auf den Golfplatz ging. Ich durfte den Caddie mit den Schlägern ziehen oder mit ihm über den Platz gehen und die Punkte aufschreiben.

Ich glaube, dass unsere Familie überall glücklich geworden wäre. Wir lernten unsere Verwandtschaft wohl deshalb nie richtig kennen, weil wir so oft umgezogen sind. Für uns umfasste das Wort »Familie« nur uns fünf.

Wir hatten ein sehr inniges Verhältnis zueinander. Einmal wollte mein Vater uns alle am Kamin fotografieren. Plötzlich ärgerte er sich wegen irgendetwas und schrie mich an. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Und dann fing Steven an zu weinen, weil ich weinte. Schließlich begann auch noch Mark zu schluchzen, und bald weinte die ganze Familie. Wir teilten alle unsere Gefühle miteinander.

Wir hatten sogar eine richtige Geheimsprache, die nur wir verstanden. Ein »Telly« war zum Beispiel ein besonders kurzer Haarschnitt wie bei Telly Savalas. Und wenn jemand »GSD« rief, dann war das die Kurzfassung von »Gott straft dich«. Das Kürzel benutzten wir zum Beispiel, wenn jemand, sagen wir Mark, mir die größten Pommes Frites vom Teller stibitzte und sich an ihnen den Mund verbrannte.

Seit wir in New York wohnten, kam Dad jeden Abend pünktlich um halb sieben von der Arbeit nach Hause. Wir waren immer schon so hungrig, dass wir eine Minute nach halb sieben in den Korbstühlen um den massiven Holztisch in der Küche saßen. Jeder hatte seinen Platz am Tisch. Weil es aber nur vier Stühle gab, wechselten wir Kinder uns auf dem Hocker ab.

Auch wenn mein Vater tagsüber sehr viel zu tun gehabt hatte, beim Abendessen war er ganz für uns da. Wir sprachen über Politik und die Ereignisse des Tages. Dann machte Daddy die Runde bei uns am Tisch und fragte jeden, was er den Tag über gemacht hatte. Beim Erntedankfest hatte er noch ein besonderes Ritual: Er machte die Runde und fragte uns, wofür wir besonders dankbar waren. Wir Kinder schrien und johlten immer, weil uns das alles peinlich war, aber im Grunde gefiel es uns. Wir wussten alle, wie gut es uns ging.

Als Kind hatte ich immer das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Ich war die Älteste, ich war das einzige Mädchen in der Familie. Und ich liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Um das zu erreichen, strengte ich mich an. Im Spanischunterricht hatte ich die beste Aussprache. Ich wollte immer die Hauptrolle im Schultheater spielen. Als ich nur literarische Redakteurin – und nicht Chefredakteurin – unserer Schülerzeitung wurde, war ich zutiefst gekränkt. Was immer ich tat, ich tat es ganz.

Schon als kleines Mädchen führte ich gern vor anderen etwas auf. Ich erinnere mich, dass nicht eine Barbiepuppe oder ein Fahrrad mein Lieblingsspielzeug war, sondern eine Bauchrednerpuppe, die ich einmal zu Weihnachten bekommen hatte. Ich übte, bis ich meine Stimme verstellen konnte, und spielte meinen Eltern kleine Sketche vor. Wenn ich groß war, wollte ich Bauchrednerin werden.

In Scarsdale wohnten viele erfolgreiche Leute – Anwälte, Ärzte, Börsenmakler. Sie alle wollten diesen beruflichen Erfolg natürlich auch für ihre Kinder. Also waren fordernde Eltern und ehrgeizige Kinder nichts Ungewöhnliches. Es war keine Frage, ob man aufs College ging. Alle gingen. Die Frage war nur, von welchem College man aufgenommen wurde. Alle hatten ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein davon, wo sie in der Klasse standen, bei welchen Arbeitsgruppen sie sich engagieren mussten und wie es um ihre Noten stand.

Aber selbst in Scarsdale konnten andere Kinder sich manchmal einen Schnitzer leisten und mit einer Zwei oder Drei nach Hause kommen. Nur wir Schillers durften das nicht. Meine Eltern waren mit allem unzufrieden, was keine Eins war. Andere Kinder durften herumhängen, Musik hören und Unsinn machen. Meine Eltern verlangten, dass wir Sport trieben und uns an den Aktivitäten in der Schule beteiligten.

Vielleicht verlangten sie so viel von uns, weil sie beide selbst in allem so erfolgreich waren. Meine Mutter war schön; sie war groß und schlank und hatte dunkles, lockiges Haar. Alles, was sie tat, gelang ihr, angefangen bei der Einrichtung des Hauses über die Zubereitung eines Essens für fünfzig Personen bis hin zu ihrer Tätigkeit im Elternbeirat.

Und was meinen Vater betrifft – nun, wir waren alle sehr stolz auf ihn. Er war das Kind armer Leute aus der Bronx und hatte als erster in seiner Familie einen College-Abschluss gemacht. Jetzt hatte er sogar promoviert. Meine Eltern verlangten viel von sich selbst. Und sie verlangten viel von uns.

Beide legten großen Wert auf gute Manieren. Leg die Serviette auf den Schoß. Nimm die Ellenbogen vom Tisch. Beuge dich nicht zu dicht über den Suppenteller, und stopfe dein Essen nicht schneller in dich hinein als du es schlucken kannst.

Mom und Dad förderten all unsere Talente und gaben gern mit uns an. Sie bezahlten Mark, Steven und mich dafür, dass wir bei ihren Partys die Hors d’œuvres servierten. Und nach dem Abendessen baten meine Eltern mich immer, etwas vorzusingen.

Eigentlich hatte ich eine Stimme wie eine Krähe, ich konnte kaum den Ton halten. Wenn ich allein in meinem Zimmer sang, konnte ich beinahe sicher sein, dass irgendein Schlaumeier etwas heraufrufen würde. »Lori, ist alles in Ordnung?«, schrie mein Vater immer. »Hast du ein verletztes Tier in deinem Zimmer?«, fiel meine Mutter ein. Auch auf der Gitarre war ich nicht besonders gut. Ich hatte mir selbst das Spielen beigebracht, aber ich hatte ein so schlechtes Gehör, dass ich mir immer wieder die Gitarre stimmen lassen musste.

Trotzdem tat ich, was meine Eltern verlangten. Mit Gitarrenbegleitung sang ich Lieder von John Denver oder James Taylor, denn die waren am einfachsten, und irgendwie schaffte ich es, den Ton zu halten. Ich fand es sehr anstrengend, aber ich war auch stolz auf mich. Wenn ich etwas tun sollte, fand ich immer einen Weg, es zu schaffen, egal, wie schwierig es war. Ich wünschte mir so sehr, dass Mommy und Daddy stolz auf mich waren.

Aber nachdem ich in jenem Sommer vorzeitig aus dem Camp zurückgekehrt war, hatte ich plötzlich eine neue Aufgabe: Ich musste mein schreckliches Geheimnis hüten. Das kostete mich all meine Selbstbeherrschung und all meine Kraft. Fast jeden Tag gab ich eine Supervorstellung. Ich tat so, als habe sich nichts verändert, obwohl alles anders war als früher.

Als mich der Camp-Mitarbeiter zu Hause ablieferte, waren meine Eltern gerade im Urlaub. Sie waren nach Michigan gefahren, um Verwandte zu besuchen, während wir Kinder im Sommerlager waren. Inzwischen wohnten Freunde meiner Eltern in unserem Haus. Als ich daheim eintraf, hatte ich mich so weit gefasst, dass ich nur ein bisschen erschöpft aussah. Und das konnte ich leicht erklären.

»Ich habe eine schlimme Erkältung«, erzählte ich ihnen. »Ich will nur noch ins Bett.«

Sie riefen meine Eltern an und versicherten ihnen, es gehe mir gut. Nach ein paar Tagen Bettruhe würde alles wieder in Ordnung sein. Daher war niemand überrascht, als ich mit dieser Ausrede in mein Zimmer ging und den größten Teil dieses und des nächsten Tages verschlief.

Als meine Eltern zurückkamen, schien das Schlimmste überstanden. Ich muss wieder mehr wie ich selbst gewirkt haben, denn sie waren nicht allzu besorgt. Die Einzige, die sich Sorgen machte, war meine beste Freundin Gail. Aber sie hatte nur Angst, ich sei böse auf sie. Sie war zufällig vorbeigekommen und hatte mich drei Wochen früher als erwartet zu Hause angetroffen.

»Du hast mich nicht einmal angerufen!« Ich konnte an ihrer Stimme hören, dass sie verletzt war. Am Abend vor meiner Abreise war sie lange mit mir aufgeblieben und hatte Namensschilder in meine Kleider genäht. Sie wollte an diesem letzten Abend vor unserer Trennung für diesen Sommer einfach noch etwas bei mir sein und Spaß mit mir haben.

Es war das erste Mal, dass ich Gail etwas verheimlichte. Wir waren wie Schwestern zueinander und taten immer alles gemeinsam. Wir gingen zusammen zum Friseur, wir übernachteten bei mir oder bei ihr, wir machten gemeinsam Hausaufgaben, wir wurden zusammen aus der Bibliothek geworfen, weil wir uns zu laut unterhalten hatten. Wenn sie in der Schule Probleme hatte, vertraute sie sich mir an. Als ihre Eltern sich scheiden ließen, weinte sie sich an meiner Schulter aus. Kam ich mir in meiner Teenager-Zeit unbeholfen und trampelig vor, gab sie mir wieder Selbstvertrauen. Ich erzählte ihr alles.

Aber diesmal verriet ich ihr nichts. Ich wich ihr aus. Ich murmelte irgendetwas Unverbindliches, und sie ging, tief verletzt, fort. Aber was sollte ich tun? Wie konnte ich ihr oder meinen Eltern von den Stimmen erzählen und davon, was mit mir geschah?

Manchmal kam mir jetzt der Gedanke, ich sei vielleicht geisteskrank, aber ich wusste nur sehr wenig über Geisteskrankheiten. Und was ich wusste, hatte man mir hinter vorgehaltener Hand erzählt. So soll ein Mädchen von unserer Schule verrückt geworden sein und ihr Zimmer verwüstet haben. Sie verschwand für zwei Wochen aus der Schule. Dieser Zwischenfall beunruhigte mich sehr, und als sie wieder zur Schule kam, bemühte ich mich, ihr zu helfen. Ich wollte wissen, was mit ihr geschehen war. Aber ich wollte ihr nicht erzählen, was gerade mit mir geschah. Ich hatte Angst vor ihrer Reaktion. Ich hatte Angst vor der Reaktion der anderen. Ich beobachtete, wie sie das Mädchen mieden und sie plötzlich wie eine Bombe behandelten, die jederzeit hochgehen konnte.

Diese Erfahrung bestätigte mich darin, dass ich mein Geheimnis für mich behalten musste. Ich wollte nicht als verrückt gelten. Man ging Verrückten aus dem Weg, man fürchtete sie. Schlimmer noch, man rief die Männer in den weißen Kitteln, damit sie die Verrückten in Zwangsjacken steckten und in die Irrenanstalt brachten. Ich konnte nicht zulassen, dass sie das auch mit mir machten.

Manchmal dachte ich, ich sei besessen. In jenem Jahr war der Horrorfilm Carrie von Stephen King herausgekommen. Das Gefühl einer Bewusstseinsveränderung, die verrückte Vorstellung, mit dem Okkulten in Verbindung zu stehen, die Bilder voller Blut und die Vorstellung, mit Gott und dem Teufel zu sprechen – all das entsprach dem, was ich erlebte. In jenem Jahr sah ich mir auch Helter Skelter an, den Film über Charles Manson und den Mord an Sharon Tate. Der Film weckte alte Erinnerungen in mir: Als der Mord geschah, lebten wir in Los Angeles. Mir fiel wieder ein, wie ich jeden Tag zum Briefkasten ging und die Zeitung mit den riesigen Schlagzeilen über die furchtbare Untat holte. Dämonische Kulte, Besessenheit, Wahnsinn – all das kam mir bekannt vor. Ich brauchte keinen Arzt, sondern einen Exorzisten.

Einmal brachte mich der Literaturunterricht in der Schule sehr durcheinander. Meinem Tagebuch vertraute ich an, was ich sonst niemandem erzählen konnte:

»Im Englischunterricht lesen wir Die Glasglocke. Ich hasse das Buch! Noch nie hat mich ein Roman so aus der Fassung gebracht. Ich habe die gleichen Symptome wie die zusammengebrochene Sylvia Plath/Esther Greenwood. Natürlich nicht alle, aber doch ziemlich viele. Vielleicht werde ich jetzt selbst verrückt. Besonders, wenn ich an die Wunden denke, die der vergangene Sommer mir geschlagen hat. Ich bin so durcheinander. Dreiundzwanzig Nächte habe ich nicht geschlafen. Diese Esther G. hat nur einundzwanzig Nächte ohne Schlaf zugebracht. Ich setze mich immer herab, sehe nur das Schlechte und nie das Gute an mir, ich bin paranoid, eine gute Schülerin, von der man das nicht erwarten würde … Ich habe Angst, Beziehungen einzugehen, habe Ausreden für alle möglichen komischen Dinge (wenigstens habe ich keine Probleme mit dem Essen oder Haarewaschen), und ich weiß nicht, wer oder was ich wirklich bin. Ich habe furchtbare Angst. Ich wünsche mir so sehr, dass meine Lehrerin meine Ängste versteht und es mir leichter macht, aber das kann und wird sie nicht tun. Nächste Woche sind wir mit dem Buch durch …«

Ich wollte immer, dass meine Eltern stolz auf mich sind. Es war so wichtig für mich, einen guten Eindruck auf sie zu machen. Wie hätte ich ihnen also erzählen können, dass ihre Tochter besessen war? Ich musste es um jeden Preis vor ihnen verbergen.

Während meines letzten Schuljahrs, als die Stimmen ohne jede Vorwarnung kamen und wieder verschwanden, spielte ich daher ein Katz-und-Maus-Spiel. Ich ging weiter zur Schule, und ich lernte weiter. Ich ging zum Schulball, bewarb mich fürs College, ging mit meinen Freunden zum Skifahren, hörte Musik oder sprach mit Gail über Jungs. Aber ich musste immer auf der Hut sein. Wenn die Stimmen zu kreischen anfingen, musste ich meine Fassung bewahren.

Ich musste verheimlichen, dass mir die Gegenstände um mich herum allmählich feindselig vorkamen. Einmal war ich allein in meinem Zimmer, und das Telefon klingelte. Ich nahm ab, aber es meldete sich niemand. Ein seltsames Gefühl überkam mich. Es klingelte wieder. Wieder meldete sich niemand. Das Spiel wiederholte sich noch einige Male. Immer diese Leere am anderen Ende der Leitung. Ein Teil meines Verstandes wusste, dass mir eine Klassenkameradin einen Streich spielen wollte. Schließlich nahm ich den Hörer ab und schrie hinein: »Ich weiß, dass du es bist! Ich weiß, dass du es bist!« Aber für den anderen Teil meines Gehirns war die tote Leitung genauso unheimlich wie meine Stimmen. Warum geschah das? Was wollte das Telefon von mir?

Von da an hatte ich panische Angst vorm Telefonieren. Weil ich aber niemandem den Grund anvertrauen konnte, musste ich meine Schüchternheit vorschieben. Oder ich tat so, als wolle ich einfach nicht mit der Person am anderen Ende der Leitung sprechen. Manchmal aber konnte ich einem Telefonat nicht ausweichen. Dann fasste ich den Hörer ganz vorsichtig an, weil ich ja nie wissen konnte, welche Schrecken den Weg aus der Telefonleitung in mein Gehirn finden würden.

Auch das abendliche Fernsehen machte mir zunehmend Angst. Steven, Mark und ich durften Gilligan’s Island oder The Brady Bunch oder Die Feuersteins sehen. Diese Sendungen waren in Ordnung, sie gefielen mir sogar. Aber dann schalteten meine Eltern immer die Abendnachrichten ein. Wenn der Nachrichtensprecher auf dem Bildschirm erschien, redete er direkt zu mir. Damit übergab er mir eine große Verantwortung. Er erzählte mir von den Problemen der Welt und erklärte mir, was ich tun müsse, um sie in Ordnung zu bringen. Doch ich konnte nicht damit umgehen. Ich verließ sofort den Raum und ging in mein Zimmer.

Meine Eltern ließen mich nie einfach so gehen. Sie wollten uns abends alle bei sich haben und akzeptierten es nicht, wenn sich eines ihrer Kinder von der Familie absonderte. Also kam ich oft widerstrebend zurück. Ich legte mich auf die Couch, mit dem Gesicht zur Wand, und zog mir eine Decke über den Kopf. Ich musste das Gesicht und die Stimme des Nachrichtensprechers von mir fernhalten. Er sagte mir, dass es meine Aufgabe sei, die Welt zu retten. Wenn ich das nicht schaffte, müsse ich sterben.

Ich konnte ihm nicht zuhören. Ich konnte es einfach nicht. Er bürdete mir eine Verantwortung auf, die Gott zustand und sonst niemandem. Wie sollte ich, ein siebzehnjähriges Mädchen, einer so gewaltigen Aufgabe gewachsen sein und die Welt retten?

3

Lori, Tufts University, Medford, Massachusetts, September 1977 bis Juni 1981

Lange Zeit hatte ich weitgehend Ruhe vor meinen Qualen. Die Stimmen und Töne ließen mir genug Pausen, so dass ich den Schulabschluss machen und mich für das College bewerben konnte. Ich ließ mich bei meiner Auswahl von Vernunftgründen leiten: Für Harvard sprach, dass es die beste Universität war und ich immer die Beste sein wollte; für Northwestern, dass es eine gute journalistische Ausbildung anbot und ich am Schreiben interessiert war; für das Tufts College sprach sein guter Ruf, und für Bucknell, dass es ein solides Durchschnittscollege war. Ich rechnete mir für jede dieser Anstalten eine Chance aus, weil mein Highschool-Abschluss trotz meiner Schwierigkeiten gut genug war.

Im Herbst fuhr mich mein Vater nach Boston zu den Auswahlgesprächen. Auf dem Tufts Campus klebte ich einen Kaugummi an die Rückwand des Buchladens. Wenn ich hier angenommen werde, dann komme ich nächstes Jahr zurück und schaue nach, ob der Kaugummi noch da ist, sagte ich zu meinem Vater. Ich wartete den ganzen Winter, und im Frühjahr rannte ich jeden Morgen zum Briefkasten. Ich bekam Zusagen von Bucknell und Tufts, einen Platz auf der Warteliste für Harvard und eine Absage von der Northwestern. Im darauf folgenden Herbst schrieb ich mich am Tufts College ein. Meine Eltern halfen mir beim Umzug ins Studentenwohnheim. Ich ging hinüber zum Buchladen: Der Kaugummi war noch da. Es war Schicksal.

Zuerst fand ich das College-Leben wunderbar. Alles, was ich tat, hatte einen gewissen Glanz und war aufregend. Das Lernen fiel mir leicht, obwohl ich mir gleich am Anfang vorgenommen hatte, mich auf keinen Fall in der Bibliothek zu vergraben.

Während meines ersten Studienjahres zog ich mit meiner neuen Freundin Tara Sonenshine zusammen, die von Long Island stammte. Dann lernten wir noch eine weitere Lori kennen, Lori Winters aus St. Louis. Wir drei wurden unzertrennlich.

Zu Hause war ich der große Star, die Studentin. Mein Bruder Mark dagegen wirkte oft sehr niedergeschlagen. Wenn ich an Wochenenden oder in den Ferien nach Hause kam, versuchte ich, ihn aufzuheitern, und gab ihm Ratschläge, wie er mit seinen Problemen fertig werden konnte. Weil er noch keinen Führerschein hatte, spielte ich manchmal den Chauffeur für ihn. Ich fand das Leben ziemlich aufregend.

Obwohl mich die Stimmen noch immer von Zeit zu Zeit umgaben, kamen und gingen und meinen Frieden störten, waren sie doch viel leiser als damals im Camp oder auf der Highschool. Sie steckten ganz hinten in meinem Gehirn, sprachen miteinander und kommentierten wie Klatschweiber jede meiner Bewegungen. Meistens konnte ich mich in den Schlaf flüchten, ohne dass sie mir folgten. Wenn ich nicht schlafen konnte, schloss ich die Augen und atmete einige Male tief durch. »Du bist nicht verrückt«, sagte ich mir. »Du bist nicht vom Teufel besessen.« Dann redete ich im Stillen mit den Stimmen: »Bitte, bitte, lasst mich in Ruhe.«

Im Frühjahr beschloss ich aus einer Laune heraus, zum Fallschirmspringen zu gehen. Ich fuhr mit einigen Freundinnen vom College nach Turners Falls zu einem Fallschirmsprungkurs. Es ging alles sehr schnell. Morgens brachten sie uns bei, wie man den Streamer, einen Luftströmungsmesser, fallen lässt, um den Wind zu prüfen, wie man rückwärts aus dem Flugzeug springt, wie man die Notleine zieht, wenn sich der Fallschirm nicht öffnet, und wie man sanft, mit gebeugten Knien, landet. Am Nachmittag ging’s in die Luft.

Ich stand auf der kleinen Stufe außen am Flugzeug, klammerte mich an die Halterungen an den Tragflächen und starrte auf den kleinen Streamer, der zur Erde segelte, während wir über dem Absprungplatz kreisten. Ich wurde steif vor Angst. Das Flugzeug zog die erste, die zweite Schleife. Ich ließ einfach nicht los. Schließlich fasste mich der Ausbilder bei den Händen und zog mich ins Flugzeug zurück.

Ich wusste, dass ich es tun musste. Beim nächsten Mal vergaß ich alle Anweisungen und sprang einfach. Ich betete zu Gott, dass sich der Fallschirm öffnen möge. In den ersten Sekunden war mir nur schlecht, mir wurde schwarz vor Augen. Ich hörte ein Puffen, spürte einen Zug – und dann schwebte ich durch die Luft.

»Ich kann fliegen! Ich kann fliegen!«, schrie ich in den weiten, ruhigen Himmel.

Im nächsten Herbst zogen Tara und ich in Wren Hall ein. Das Studentenwohnheim lag direkt am Campus, auf dem sich alles abspielte. Wir konnten uns aus dem Fenster lehnen und unseren Freunden, die unten vorbeigingen, etwas zurufen. Unsere Bekannten aus den höheren Semestern halfen uns, Parkausweise zu bekommen, und alles war wunderbar.

Ich hatte viele Freunde und Freundinnen und immer wieder neue Ideen, was man außerhalb des College unternehmen konnte. Damals waren Discos in, und ich machte einige ausfindig, in die wir dann oft zum Tanzen gingen. Ich lernte in den Bars die nettesten Jungen kennen und arrangierte Partys für alle.

Und ich hatte viele Verabredungen. Da war Michael, ein großer, gutaussehender Medizinstudent aus Harvard, ein guter Footballspieler. Und dann der Assistent vom Computerkurs. Und ein süßer Junge von der Boston University wollte mich sogar heiraten.

Oberflächlich betrachtet lief alles bestens. Aber unter der Oberfläche begann alles auseinanderzufallen. Die Stimmen wurden lauter und drängender und erschreckten mich mit ihren überraschenden Besuchen in meinem Gehirn. Ich wusste nur nicht, dass sie in meinem Gehirn waren. Ich hörte sie von außen auf mich zukommen, so real wie das Klingeln des Telefons.

Sie tauchten auf, wenn ich sie am wenigsten erwartete, beschimpften mich und riefen mit ihren rauen, barschen Stimmen: »Du musst sterben, du Hure. Sterben! Sterben! Sterben!« Sie flößten mir Angst ein. Manchmal drehte ich mich auch um, weil ich dachte, es sei jemand hinter mir, aber es war nie jemand da. Ich durchsuchte einige Male das Gestrüpp am Straßenrand nach dem Witzbold, der sich diesen Spaß mit mir erlaubte. Natürlich riss ich mir nur die Hände an den Zweigen auf und fand niemanden.