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In einem abgelegenen Bergdorf namens Tannengrund scheint Weihnachten niemals zu enden. Kerzen brennen, Glocken läuten, und in jeder Nacht erklingen drei sanfte Töne, die die Bewohner in ein Gefühl tiefer Ruhe hüllen. Niemand fragt, woher der Klang kommt – oder was passiert, wenn er verstummt. Als die Psychologin Klara Winter im Dorf ankommt, sucht sie eigentlich nur Erholung von einem tragischen Vorfall in ihrem Beruf. Doch schon in der ersten Nacht hört sie Musik aus den Wänden – und entdeckt, dass Tannengrund mehr ist als ein festlich geschmücktes Idyll: ein Experiment, ein Ritual, eine Versuchsanordnung der Anpassung. Mit dem stillen Pfarrer Benedikt, der pedantischen Wirtin Frau Huber, dem ehemaligen „Weihnachtsmann“ Reuter und der rebellischen Luzie begibt sich Klara auf die Suche nach der Quelle des Klanges – und stößt auf den geheimnisvollen Professor Grimm, der das Dorf einst zu einer perfekten Gemeinschaft machen wollte. Doch Harmonie hat ihren Preis. Als Klara beginnt, das System zu hinterfragen, geraten Wirklichkeit und Wahn aus dem Gleichgewicht. Und während Schnee auf die Dächer fällt, erkennt sie: Man kann Stille nicht abschalten – man kann ihr nur zuhören.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Der Bus schnaufte, als hätte er eine Lunge aus altem Metall. Er blieb mitten auf einer weißen Fläche stehen, die die Dorfbewohner später „Parkplatz“ nannten, Klara aber zunächst für eine improvisierte Eisbahn hielt. Erst als der Fahrer die Tür klappernd öffnete und mit dem Kinn auf ein hölzernes Schild deutete – TANNENGRUND – Frohe Weihnachten! – begriff sie, dass sie angekommen war.
„Endstation“, sagte der Fahrer, als wäre das eine Drohung.
Klara stand auf, griff nach ihrem Koffer, der neben ihr in den Gang rutschte und ihr gegen das Schienbein stieß. Sie verkniff sich ein „Autsch“, nickte dem Fahrer ein neutrales Lächeln zu und stieg aus. Die Kälte schnitt ihr sofort in die Wangen, aber es war keine feindselige Kälte. Eher eine, die auf einer Postkarte gut ausgesehen hätte. Über den Dächern hing die Art von Himmel, die Menschen veranlasst, Punsch zu trinken und in Erinnerungen zu schwelgen, als wären sie nicht mehr als wandelnde Schneekugeln, die man ab und zu schütteln muss.
Am Rand des Platzes hing eine Girlande aus Tannenzweigen, die mit so viel Sorgfalt arrangiert war, dass man an religiösen Eifer denken musste. Kleine Lampen funkelten gleichmäßig, fast militärisch. Keine flackerte. Klara zog den Schal höher und hörte eine Musik, die sie zuerst für Wind hielt, bis sie die Melodie erkannte: „Leise rieselt der Schnee“. Nicht aus einem Lautsprecher, wie man es von Discounterparkplätzen kennt, sondern irgendwo… aus der Luft? Aus den Häusern? Aus den Fugen?
„Wunderbar, nicht?“ Eine Frauenstimme brach durch die Flocken wie eine warme Hand durch kaltes Wasser. „Tannengrund nimmt Weihnachten sehr ernst.“
Klara drehte sich um. Eine mittelgroße Frau mit rotem Wollmantel, grauem Dutt und dem heiteren Blick einer Person, die jeden Morgen um fünf Uhr aufsteht, um anderen Menschen Kuchen zu backen, stand hinter ihr. In ihren Händen hielt sie nichts, was zu dieser Figur passte, sondern einen Akkuschrauber.
„Frau Huber?“ fragte Klara.
„Ja, freilich“, sagte die Frau, „und Sie sind unsere Frau Winter. Was für ein Name! Passender geht’s ja kaum. Ich habe schon gesagt: Das Schicksal schreibt hier mit. Kommen Sie, bevor Sie mir erfrieren.“
„Ich friere nicht so schnell“, sagte Klara und meinte es halb. Ihre Finger widersprachen.
„Das sagen sie alle.“ Frau Huber ging voran, der Akkuschrauber schwang im Takt ihrer Schritte. „Der Bus fährt heute nicht mehr zurück. Aber das macht ja nichts. Wer will denn weg?“
„Ich nicht“, sagte Klara und hörte, wie sie selber klang. Neutral, höflich, nicht zu verbindlich. Eine Stimme für neue Orte.
Die Pension „Zum stillen Engel“ lag etwas abseits, auf einer kleinen Anhöhe mit Blick auf den Dorfplatz. Das Haus war aus dunklem Holz, als wäre es häufiger neu lackiert worden, um zu verstecken, wie alt es war. An den Fensterrahmen hingen weiße Papiersterne, akkurat ausgeschnitten. Keine Kanten fransig, kein Kleberand schief, alles so ordentlich, dass Klara unwillkürlich an Sitzordnungen und Regeln dachte. Auf dem Dachfirst stand eine Engelsfigur aus Metall, die der Wind ein wenig schräg gedrückt hatte; gerade genug, um so auszusehen, als lausche sie.
„Schön, nicht?“ fragte Frau Huber, als sie die Tür aufschloss. „Ich habe die Sterne selbst gemacht. Ich schneide sehr gerne. Es beruhigt.“
„Das glaube ich“, sagte Klara.
Im Flur roch es nach Nelken und etwas Süßem, das sie nicht gleich zuordnen konnte. Vielleicht Lebkuchen? Vielleicht etwas Exakteres. Frau Huber führte sie an einem hölzernen Tresen vorbei, auf dem ein Gästebuch lag. Daneben eine Glocke, deren Klang sicherlich im ganzen Dorf zu hören wäre. Die Wände waren voller eingerahmter Fotografien: Männer und Frauen in Tracht, Kinder mit Schlitten, ein Hund, der auf einer Schneemauer balancierte. Je länger Klara schaute, desto mehr fiel ihr etwas auf, das sie später als den ersten stichelnden Stich in der Haut bezeichnen würde: Auf jedem Foto lagen die gleichen Plätzchen auf den Tellern. Gleich geformt, gleich glasiert, gleich bestreut.
„Und das ist Ihr Zimmer“, sagte Frau Huber. „Die Schlüssel. Frühstück von sieben bis neun. Abendessen ab halb sieben. Ich koche heute Rinderbraten auf festliche Art. Schreiben Sie sich noch schnell ein.“ Sie deutete auf das Gästebuch. „Und wenn Sie etwas brauchen – ich bin immer da.“
Klara setzte ihren Namen unter eine Reihe kleingeschriebener Handschriften. Klara Winter. Daneben: Ankunft: 22. Dezember. Der Stift kratzte, als müsse er bestätigen, dass die Daten einverstanden waren. Während sie schrieb, hörte sie wieder diese Musik, leise, wie eine Erinnerung. „Leise rieselt der Schnee.“
„Die Musik“, sagte sie und hoffte, es klänge beiläufig, „kommt die vom Dorfplatz?“
„Aber freilich“, sagte Frau Huber rasch. „Die Weihnachtslieder-Kapelle probt für Heiligabend, immer um diese Zeit. Ein paar Lautsprecher, wegen der Akustik. Man hört es überall. Manche nennen es die Stimmung. Ich nenne es das Herz.“ Sie lächelte übermäßig sanft. „Sie werden sich daran gewöhnen.“
Das Zimmer war klein, aber warm. Das Bett stand unter der Schräge, mit einer Tagesdecke, die in kleinen Händen gefertigt sein musste; lauter rote und grüne Quadrate, sauber aneinander genäht. Auf dem Nachttisch lag ein Prospekt: „Tannengrund – Wo Weihnachten zu Hause ist!“ Eine goldene Engelsgrafik hob sich zierlich ab. Auf der letzten Seite Stand ein Kalender mit Programmpunkten: Lebendes Krippenspiel, Keks-Orakel, Friedenslichter-Prozession und – sie blinzelte – Nacht der Stille (Teilnahme obligatorisch).
Sie legte den Prospekt beiseite, öffnete den Koffer und nahm zuerst das Notizbuch heraus. Es hatte einen grauen Pappeinband ohne alles. Sie schlug es auf und schrieb das Datum hin.
22. Dezember.Ankunft Tannengrund. Schneeflocken wie aus einer Produktwerbung.Pension „Zum stillen Engel“. Wirtin: Frau Huber. Akkuschrauber. Lächeln zu perfekt.
Sie setzte den Stift an die Lippe, tippte dagegen, als könnte das den Gedanken herauslocken, den sie schon kannte: Warum bin ich hier?
Es war nicht so, dass sie die Antwort nicht wusste. Sie war Psychologin. Sie kannte die Strategien, die dazu machten, dass man nicht hinsah, while man hinsah. „Auszeit“, hatte sie ihren Kollegen gesagt, als sie den Antrag reichte. „Nur ein paar Wochen.“ „Natürlich“, hatte ihr Chef gesagt, ein Mann, der die Emotionen seiner Mitarbeiter wie Temperaturkurven in Tabellen erfasste, und dabei genau so berührt wirkte wie jemand, der eine Wetter-App aktualisiert. „Nach dem… Vorfall.“
Er hatte das Wort so ausgestoßen, dass es wie ein Gegenstand klang, den man auf einen Tisch legt und später wieder mitnimmt.
Klara drückte die Zunge gegen die Zähne und schloss das Notizbuch. Sie kam nicht nach Tannengrund, um sich zu erinnern. Sie kam, weil sie hoffte, der Schnee würde Geräusche dämpfen, die nur sie hören konnte. Auch schön: ein Ort, an dem man einfach sein konnte, ohne die Erwartung, dass man einer von denen war, die das Lachen im richtigen Moment einschalten. Außerdem: Weihnachten war ein guter Vorwand, die meisten Menschen meinten es in dieser Zeit gut, und wenn nicht, taten sie als ob. Das reichte.
Jemand klopfte. „Herein“, sagte Klara.
Frau Huber steckte den Kopf zur Tür. „Ich wollte nur fragen, ob Sie Tee möchten. Zimt, Apfel, Orange. Oder alles zusammen. Wir nennen das hier Engelstränen.“
„Gerne Apfel“, sagte Klara.
„Kommt sofort.“ Frau Huber schloss die Tür einen Hauch zu zögerlich, als ob sie etwas sagen wollte, sich aber entschied, es als Überraschung zu servieren, wie Apfeltee mit Zimt.
Klara ließ sich auf das Bett sinken. Matratze gut, Kissen zu weich. Sie schob die Hände unter den Kopf, betrachtete die Balken im Dach und stellte fest, dass einer der Papiersterne minimal verrutscht war. Kaum merklich. Genau so, dass es auffiel, wenn man darauf achtete. Warum störte sie das? Sie drehte sich auf die Seite und sah eine kleine, hölzerne Krippe auf der Kommode. Die Figuren: Maria, Josef, ein Kind in einer Schale, zwei Schafe, ein Ochse. Keine Heiligen Drei Könige. Klara trat näher. Auf der Unterseite von Josef war mit Bleistift eine Zahl notiert: 12. Auf Maria stand: 11. Unter dem Kind: 0.
„Komisch“, murmelte sie.
Es klopfte abermals. Frau Huber trat ein, diesmal mit einem Tablett. Eine Tasse, eine Scheibe Stollen, die aussah wie aus einem Lehrbuch für Konditoren, und – natürlich – die Apfeltee-Kanne, auf der ein Engel lächelte, als sei das Lächeln eine Pflichtübung.
„Ich habe extra den Stollen von gestern genommen“, erklärte Huber. „Der ist am zweiten Tag am besten. Und keine Sorge, ohne Alkohol. Wir arbeiten hier nicht mit Rum, außer in Ausnahmen.“ Sie stellte das Tablett ab, sah sich um, als prüfe sie, ob irgendwelche Regeln schon gebrochen seien, und nickte zufrieden. „Sie haben die Krippe gefunden. Das ist die Zählkrippe. Ein altes Spiel. Wir nummerieren die Figuren nach… Wichtigkeit. Ist doch lustig, oder?“
Klara hob eine Augenbraue. „Das Kind ist null?“
„Der Anfang aller Dinge“, sagte Frau Huber. „Und zugleich die Summe. Eine hübsche Idee. Die hat der Pfarrer eingebracht. Benedikt. Ein Engel von Mensch.“
„Pfarrer Benedikt“, sagte Klara langsam. „Den würde ich gerne kennenlernen.“
„Oh, das werden Sie. Er kommt heute Abend vorbei, wegen der Herzensrunde.“
„Herzensrunde?“
„Eine kleine Tradition. Die Gäste erzählen, wofür sie dankbar sind. Nichts Großes, nur zwei, drei Sätze. Das hält die Stimmung oben. Sie wissen ja: Weihnachten ist hier nicht nur Datum, es ist Haltung.“ Frau Huber zwinkerte. „Nicht erschrecken, wenn es später noch mal klingelt. Der Chor probt manchmal in der Diele.“
„Natürlich“, sagte Klara und dachte: Ich werde mich auf nichts erschrecken lassen, wenn ich es vermeiden kann.
Sie trank einen Schluck Tee, wartete, bis Frau Huber gegangen war, und nahm dann noch einen, um zu bestätigen, dass der erste kein Irrtum gewesen war. Er schmeckte tatsächlich nach Apfel. Und nach einem Hauch von etwas anderem. Etwas, das blieb.
Sie setzte sich an den kleinen Schreibtisch, der vor dem Fenster stand, und blickte hinunter auf den Dorfplatz. Eine Gruppe Menschen schob einen großen, geschmückten Schlitten an seinen Platz, als wäre er ein mildes Tier, das man zum Liegen überredete. Ein Mann mit übertriebener Mütze gab Anweisungen, die jeder zu hören vorgab, ohne tatsächlich zuzuhören. Zwei Kinder zankten um eine Zuckerstange, die offenbar das Streitobjekt des Jahres war. Und über allem: Musik. Andere Lieder jetzt, „O du fröhliche“ und dann, sehr leise, eine Melodie, die Klara nicht zuordnen konnte. Sie hatte etwas Mechanisches, als käme sie aus einer Spieluhr, deren Feder gleich auslaufen würde.
„Genug“, sagte sie zu sich und stand auf. „Spazieren.“
Sie zog ihren Mantel an, wickelte den Schal fester und verließ das Zimmer. Unten in der Diele blieb sie noch einmal stehen. Zwischen den Fotos hing eine gerahmte Urkunde. „Tannengrund – Auszeichnung der Festkommission, Kategorie: Gelebte Tradition“. Darunter stand ein Jahr, das verdächtig nahe an diesem lag, und eine Unterschrift mit krakeligen Bögen. Klara trat näher. Neben dem Rahmen waren winzige, kaum sichtbare Löcher in der Wand. Als hätte dort vorher etwas anderes gehangen. Oder als würde dort immer wieder etwas anderes hängen, sobald es der Kommission gefiel.
Draußen war die Luft voller kleiner, leiser Geräusche. Ein Bellen, ein Schlitten auf Holzleisten, das Krächzen eines Raben, der wie ein schwarzer Klecks über die Dorfkirche flog. Die Kirche selbst war ein Gebäude, das in der Nähe harmloser wirkte, als es aus der Ferne tat. Aus der Ferne sah sie wie eine freundliche Spielzeugkirche aus, aus der Nähe erkannte man die steinernen Gesichter an den Wasserspeiern, die leichten Falten, die jemand ihnen verliehen hatte, damit sie verbindlich, aber wachsam wirkten. Vor der Tür stand ein kleiner Tannenbaum, der so gerade war, dass es fast unnatürlich schien. Kein Ast stand hervor. Kein Zweig wagte, zu eigen zu sein.
Klara setzte sich auf eine Bank. Der Schnee war hier dünn, unter ihr knarzte der alte Lack. Sie ließ den Blick über den Platz wandern und stellte fest, wie gerne Menschen durch Koordination Trost suchen. Es gab offenbar eine Regel für die Länge der Lichterketten. Eine andere für die Höhe der Sterne im Fenster. Noch eine für die Form der Plätzchen. Gibt es auch eine Regel für die Gedanken? dachte sie. Und wenn ja, wie wird sie durchgesetzt?
„Entschuldigen Sie.“
Klara sah auf. Vor ihr stand ein Mann, vielleicht Ende dreißig, in einem schwarzen Mantel, der aussah, als hätte er es eilig, seriös zu wirken. Ein Schal war sorgfältig um seinen Hals geschlungen, als hätte er ein YouTube-Tutorial befolgt. Sein Gesicht hatte die Art von Freundlichkeit, die man in einem Zugabteil angenehm findet, bis derjenige anfängt, seine Lebensgeschichte zu erzählen.
„Ich bin Benedikt“, sagte er. „Pfarrer. Und Sie müssen Frau Winter sein.“
„Das muss ich?“
Er lachte. Es war ein nervöses Lachen, wie ein Streichholz, das zu früh entzündet wird. „Man redet. Also, man redet freundlich. Frau Huber ist sehr stolz auf ihre Gäste. Und sie hat gesagt, Sie seien… Wie war das Wort?… interessant.“
„Hm“, machte Klara. „Interessant ist das Adjektiv für alles, wofür man kein Adjektiv hat.“
„Und Psychologin“, setzte er hinzu, ohne eine Pause, so als wollte er den Satz rechtzeitig über die Linie bringen, bevor jemand ihn abpfiff.
„War das auf dem Meldezettel?“
„Nein. Es steht auf der Liste.“ Er lächelte, und für einen Moment sah sie den Jungen, der er gewesen sein musste: pflichtbewusst, neugierig, vielleicht ein bisschen zu genau. „Die Liste der Fähigkeiten. Das Dorf lebt von Talenten. Wir versuchen, sie einzubinden. Nicht aufdringlich. Nur… gemeinschaftlich.“
„Ich bin im Urlaub.“
„Selbstverständlich.“ Er hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte Sie nur begrüßen und… falls Sie heute Abend zur Herzensrunde kommen…“
„Die Teilnahme ist obligatorisch?“
Benedikt blinzelte. „Das wäre ein hartes Wort. Sagen wir: sehr empfohlen. Und sehr schön. Es hilft. In einem Dorf wie diesem braucht man die richtigen Sätze an der richtigen Stelle.“
„Die richtigen Sätze“, wiederholte Klara, als schmeckte sie ein Fremdwort. „Verstehe.“
„Außerdem“, fuhr er fort, „haben wir nachher die Friedenslichter-Prozession. Eine Runde um die Kirche, ein paar Lieder, das Leuchten, wissen Sie? Es tut der Seele gut. Auch der professionell geschulten.“
„Heute schon viel Seelen geordnet?“
„Es ist Advent“, sagte er, als sei das eine Diagnose. „Die Menschen werden weich. Man muss sie nur… in die richtige Richtung schieben. Dürfte ich–“ Er stockte. In diesem Stocken lag etwas Ungeplantes. „Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen? Rein privat.“
„Sie haben gerade gesagt, Sie reden nicht aufdringlich.“
Er lächelte schmal. „Glauben Sie an Weihnachten, Frau Winter? Ich meine nicht an das Datum. Ich meine…“ Er machte eine vage Handbewegung. „An das Prinzip.“
Klara dachte an das Kind unter der Null, an Maria mit der Elf und Josef mit der Zwölf, an die Lieder, die aus den Wänden kamen. „Ich glaube an Rituale“, sagte sie. „Sie sind wie Geländer im Dunkeln. Manchmal verhindern sie den Sturz. Manchmal sperren sie dich ein.“
