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Als der Winterstern vom Himmel fällt, verändert sich für die junge Mara alles. Im verschneiten Lichtergrund beginnt sie eine Reise, die sie weit über die Grenzen ihrer kleinen Stadt hinausführt — hinein in den Immerwinter, in dem verlorene Zeit, vergessene Gefühle und erstarrte Wunder darauf warten, wieder zum Leben geweckt zu werden. Gemeinsam mit dem unsicheren Bäckerlehrling Lin, dem mutigen Jori und dem rätselhaften Meister Zimtbold sammelt Mara die Zwölf Wunder, die die Welt warm halten: Mut, Hoffnung, Staunen, Erinnerung, Neuanfang und mehr. Doch ein alter Gegner stellt sich ihnen entgegen: der Fahlkönig, ein Wesen aus Stillstand und kaltem Frieden, der die Zeit selbst gefangen hält. Zwischen schimmernden Palästen, sprechenden Öfen, geheimnisvollen Gärten und der Magie des Winters entdeckt Mara, dass wahre Wärme nicht in Flammen liegt, sondern in Worten, die bleiben — und in Menschen, die einander die Hand reichen. Der Winterstern und die Zwölf Wunder ist ein märchenhaft-poetischer Weihnachtsfantasyroman über Freundschaft, Verzeihen und die Kraft, die die Welt bewegt: die Wärme, die man teilt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Mara Heller wachte nicht auf, weil der Wecker klingelte, sondern weil die Stille einen Ton bekam. Es war der Morgen des 23. Dezember. Ihre Mutter hatte gestern gesagt: „Nur noch zwei Mal schlafen, dann Heiligabend.“ Mara hatte genickt, so, wie man nickt, wenn eine Zahl korrekt ist, aber die Sache nicht stimmt. Heiligabend hieß Geschenke, Kerzen, Lieder. Für Mara hieß es seit dem Sommer: einen Platz am Tisch, der leer blieb.
Die Stille summte, zart, wie Glas, das an Glas stößt. Sie schob die Bettdecke zurück, schlüpfte in dicke Socken und tappte zum Fenster. Draußen trug die Welt ihr weißes Sonntagskleid. Schneeflocken tanzten in ordentlichen Bahnen, als hätten sie eine Choreografin. Lichtergrund war eine Stadt, die selbst verschneit nach Zimt roch. Aus der Ferne wehte Ofenluft. Und da war das Klingen wieder — kaum da, schon weg, wie ein Lächeln, das man zu langsam erwidert.
„Hörst du das auch?“ flüsterte sie.
„Wen?“ Jori steckte den Kopf durch die Tür, Haare wie zerzauste Christbaumzweige. Er trug sein Lieblingsnachtzeug mit Rentieren, deren Pullover kleine aufgestickte Pompoms hatten.
„Die Stille.“ Mara wusste, wie das klang. Trotzdem.
Jori legte die Hand an die Wand, als würde er die Vibration fühlen. „Ich hör ’ne Glocke. Und… hm.“ Er blinzelte. „Wenn ich die Luft anhalte, schmeckt sie nach Pfefferminze.“
„Du kannst Luft nicht schmecken.“
„Kann ich doch.“ Er grinste. „Wenn Mama Pancakes macht, schmeck ich’s auch in der Luft.“
Im Erdgeschoss klapperte Geschirr. Der Duft von Apfelpfannkuchen kroch die Treppe hoch. Mara und Jori polterten hinunter, ein vertrauter Wettlauf. In der Küche stand ihre Mutter, die Schürze mit Sternen, die Haare zum Knoten. Sie sah müde aus auf die Art, die nett blieb.
„Guten Morgen, ihr zwei Schneeflocken“, sagte sie. „Heute Vormittag besorgen wir die letzten Sachen fürs Fest. Und Mara, du bringst danach die Päckchen zu Frau Holtwinter in die Bücherei, ja?“
„Bücherei? Die hat doch zu.“
„Frau Holtwinter hat immer auf, wenn jemand liest“, sagte Jori. „Das ist Gesetz.“
Mara lächelte. „Ich geh. Brauch eh frische Luft.“ Und weil sie es nicht lassen konnte, fügte sie leise hinzu: „Vielleicht höre ich, wie sie riecht.“
Nach dem Frühstück zog Mara ihren blauen Mantel an, den mit dem kaputten Knopf an der Tasche, und schob das Päckchenbündel in den Rucksack. Draußen floss der Morgen wie flüssiges Licht über Eis. Der Weg zur Bücherei führte am Tannenhain vorbei. Man ging dort nicht hinein, wenn man nicht musste; nicht aus Angst, sondern aus Respekt. Die Bäume wirkten, als wüssten sie Dinge über dich, die du vergessen hattest.
Das Klingen folgte ihr. Einmal war es links, dann rechts, dann direkt vor ihr, als stünde eine unsichtbare Schlittenklingel mitten im Weg.
„Du bist albern“, murmelte sie sich zu. „Und neugierig.“ Beides stimmte.
Am Zaun des Hains blieb sie stehen. Zwischen den Stämmen lag Nebel, obgleich der Tag klar war. Im Nebel spielte das Licht verkehrt herum: Schatten waren hell und Helles schien zu dunkeln. Mara legte die Fingerspitzen auf den Zaunpfahl. Kälte sprang über wie ein Tier. Und mit der Kälte kam etwas anderes: ein Flüstern, so dünn wie ein Haar, das einem über die Wange streicht.
— Komm später, sagte es. — Komm, wenn der Winterstern sinkt.
Mara riss die Hand zurück. „Okay“, sagte sie zu niemand und allen. „Nicht jetzt.“
In der Bücherei roch es nach Papier, Wolle und feuchten Mänteln, obwohl nur eine Person da war: Frau Holtwinter. Sie sah aus, als hätte sie das Wort „streng“ im Wörterbuch erfunden – bis sie lächelte. Dann war sie eine Hütte mit Kamin.
„Ah, Mara“, sagte sie. „Die Päckchen dürfen in den Korb. Nicht den mit der Schleife, den daneben. Der mit der Delle ist zuverlässiger.“
„Körbe können zuverlässig sein?“
„Alles kann zuverlässig sein, wenn man’s lang genug kennt.“ Frau Holtwinter stellte eine dampfende Tasse auf den Tresen. „Trink. Es ist Gewürztee. Er erzählt gute Geschichten, wenn man freundlich zuhört.“
Mara nahm einen Schluck. Zimt rollte über ihre Zunge, Nelke stach kurz, Honig beruhigte. Sie atmete auf.
„Du hörst sie, nicht wahr?“ fragte Frau Holtwinter plötzlich.
„Wen?“
„Die Kälte. Sie ist nicht leer. Sie ist Musik. Du hörst die ersten Töne.“
Mara stellte die Tasse ab. „Ich… ja.“ Es war seltsam, es laut zu sagen; gleichzeitig passte es wie ein Handschuh.
Frau Holtwinter beugte sich vor. In ihren Augen spiegelte sich der Schnee. „Heute Nacht wird der Winterstern tiefer stehen als in all den Jahren, seit ich wache. Manche Dinge wollen dann durch Türen, die niemand gebaut hat.“ Sie legte die Hand in die Tasche und holte etwas hervor, das aussah wie ein Schlüssel aus Eis. Er schmolz nicht. Er atmete Nebel. „Manches soll kommen. Manches nicht. Wenn du später am Hain vorbeigehst, nimm diese Kerze mit.“ Sie schob Mara eine kleine, dicke Bienenwachskerze zu. „Sie brennt nicht nur. Sie merkt sich, was um sie war.“
Mara wollte tausend Fragen stellen. Stattdessen nickte sie und steckte die Kerze ein. „Ich komm… später vorbei?“ fragte sie und wusste nicht, warum sie eine Frage draus machte.
„Später ist ein gutes Wort“, sagte Frau Holtwinter. „Es weiß, dass es nicht jetzt ist und trotzdem bald.“
Als Mara die Bücherei verließ, schneite es dichter. Der Weg zog sie wieder am Hain vorbei. Sie blieb nicht stehen. Sie rannte nicht. Sie ging, als wäre der Boden eine Zeile in einem Buch und ihr Schritt ein Finger, der das Wort abtastet: Später.
Am Nachmittag half sie ihrer Mutter beim Dekorieren. Jori hängte Kugeln so tief, dass die Katze sie für Spiele hielt. Einmal rief Mama aus dem Wohnzimmer: „Mara, Linus ist da!“ Und wirklich — Lin Pfefferkorn stand in der Tür, Mehl im Haar, Papiertüte in der Hand.
„Leihst du mir… einen Kompass?“ fragte er.
„Einen was?“
„Du zeichnest doch Karten. Ich hab mich verbackt. Also, verlaufen. Egal. Meister Zimtbold hat gesagt, ich…“ Er brach ab. „Hast du vielleicht ’nen Kompass? Oder ein Stück von einem? Oder eine Idee, wie man ohne kommt?“
Mara hob die Augenbrauen. „Wohin willst du?“
Lin sah kurz zu Jori, der ihn anstarrte, als hätte Lin einen Drachen an der Leine. Dann wieder zu Mara. „Zum Hain“, sagte er sehr leise. „Heute Abend. Es… klingelt da.“
Mara spürte die Bienenwachskerze in ihrer Manteltasche, obwohl sie den Mantel nicht trug. „Ich hab vielleicht etwas besseres als einen Kompass“, sagte sie. „Komm um acht wieder. Und zieh dich warm an.“
Draußen sank das Licht, als habe der Tag beschlossen, eine Stunde eher Schluss zu machen.
Der Tannenhain
Acht Uhr war, wenn die Wohnzimmeruhr zwei Mal schief tickte und die Katze das dritte Mal unter den Baum kroch. Mara band den blauen Schal und steckte die Kerze ein. Jori hielt sich an ihrer Jacke fest.
„Ich komme mit“, sagte er, dieses Mal nicht fragend.
„Du musst—“
„Ich hör die Glocke lauter, wenn ich die Augen zumache“, flüsterte er, und der Ernst in seiner Stimme war wie frisch gefallener Schnee, den man nicht tritt. Mara nickte.
Vor dem Haus wartete Lin, in einen viel zu großen Mantel gehüllt, aus dessen Taschen Lebkuchen lugte. „Notvorrat“, erklärte er. „Für alle Fälle.“
„Für alle?“ Jori leuchtete.
„Für sehr viele.“
Sie gingen schweigend. Als sie den Zaun erreichten, hing der Winterstern tiefer. Er war nicht größer, nicht heller — nur näher, als beuge sich der Himmel vor. Zwischen den Stämmen stand der Nebel wie Atem, der nicht weg wollte.
„Wenn ich die Kerze anzünde, rennen wir nicht“, sagte Mara. „Wir gehen. Egal, was passiert.“
Lin nickte. Jori nickte heftiger.
Mara zündete die Kerze an. Die Flamme war winzig. Und plötzlich wuchs die Welt um sie herum: Geräusche bekamen Kanten, Gerüche Farben, Dunkel ein Gewicht. Die Kerze roch nach Honig und Alter, und in ihrem Licht stellten die Bäume sich vor.
Nicht mit Worten. Sondern indem jeder Stamm einen Schatten warf, der eine Geste machte: eine Hand, die winkte; ein Rücken, der Platz machte; eine Schulter, die stützte. Die drei traten durch die Lücke im Zaun, die sonst nicht da war.
Nach wenigen Schritten standen sie in einer Allee aus Laternen, die in der Luft hingen, ohne Pfosten, grün und blau wie bewegtes Nordlicht. Das war das Wunder der Lichter, und Mara wusste es, ohne es je gelernt zu haben. Jori atmete „Oh“ und ließ es schneeweiß in die Nacht steigen.
„Wenn Wunder Orte haben, dann haben sie auch Relikte“, sagte Lin, als spräche er ein Rezept. „Meister Zimtbold hat das so—“ Er brach ab, weil sich am Ende der Allee etwas formte: ein Bogen aus Eis, zart wie Fensterglas, und darin ein Schlüssel. Nicht wie der von Frau Holtwinter, sondern aus Licht.
„Nicht anfassen“, sagte Mara. „Noch nicht.“
„Wir müssen—“ Lin holte ein Stück Lebkuchen heraus, in das ein Anis-Stern geritzt war. „Wegweiser-Rune. Hält fünf Minuten. Führt zur Wahrheit.“ Er biss ab. „Teilst du?“ Er reichte den anderen je ein Stück.
Der Geschmack war süß mit einem kühlen Nachhall, als hätte man einen Stern auf der Zunge. Der Weg vor ihnen flimmerte und zeigte ein zweites Bild: den Hain, wie er am Morgen sein würde — leer, still, ohne Laternen. „Die Wahrheit ist die, die noch wird“, murmelte Lin. „Oder die, die war.“
„Vielleicht beide“, sagte Mara. „Vielleicht sagt die Rune: ‚Pass auf, was du später bereust.‘“ Sie fühlte die Kerze warm in der Hand. Sie erinnerte sich an Frau Holtwinters Stimme: Manches soll kommen. Manches nicht.
„Da“, flüsterte Jori. Zwischen den Laternen schlich ein kleines Tier mit glimmendem Schwanz: der Kaminfuchs. Er schnupperte an Maras Kerze, nieste Funken und pustete ein Bild in die Luft: eine Backstube, eine umgestürzte Schale, Runen im Zuckerguss.
Lin wurde blass. „Das war ich“, sagte er. „Ich hab… ich glaub, ich hab den Weg geweckt.“
„Dann hilfst du jetzt, ihn zu halten“, antwortete Mara, und es klang, als hätte sie das schon oft getan.
Sie erreichten den Eisbogen. Der Lichtschlüssel summte im Takt der unsichtbaren Glocke. Als die Kerzenflamme kurz flackerte, antwortete der Schlüssel. Er drehte sich selbst und klickte in ein unsichtbares Schloss.
Die Luft öffnete sich.
Nicht wie eine Tür, die schwingt. Eher wie Stoff, der die Faser ändert. Dahinter lag kein anderer Ort — nicht ganz. Es war Lichtergrund und doch nicht mehr. Häuser aus Frost, deren Fenster mit Liedern beschlagen waren. Ein Bach, der rückwärts floss. Ein Himmel, an dem nicht nur Sterne, sondern Erinnerungen funkelten: ein Geburtstag, eine Umarmung, ein Streit, der endete, und einer, der nie endete.
„Das ist…“ Jori suchte nach dem Wort.
„Immerwinter“, sagte Lin.
„Noch nicht ganz“, widersprach eine Stimme. Frau Holtwinter trat aus dem Schatten eines Stammes, als hätte sie die ganze Zeit dort gestanden. Ihr Mantel knisterte. In der Hand hielt sie ihren Eisschlüssel. „Ihr seid mutig. Mut ist gut. Mut ohne Maß friert. Hört mir zu: Was ihr jenseits der Schwelle findet, will euch gegen euch selbst wenden. Haltet Wärme fest — in Worten, in Dingen, in euch. Und wenn ihr etwas versprecht, erfüllt es. Sonst verliert ihr mehr als den Weg.“
Mara nickte. „Wie kommen wir zurück?“
„Mit Wärme und wahrer Sprache.“ Frau Holtwinter legte Jori zwei Walnüsse in die Hand. „Für schlechte Laune.“ Er strahlte. Sie sah Lin an. „Lüg nicht, wenn du retten willst. Lüg nur, wenn du lernen willst.“
„Das ist doch—“
„Widerspruch? Ja.“ Frau Holtwinter lächelte dünn. „Und doch wahr.“
Sie hob ihren Eisschlüssel. Der Winterstern senkte sich eine letzte Fingerspitze. Die Laternenallee summte. Mara atmete den Duft der Kerze ein, der plötzlich nach Zuhause roch. „Wir gehen“, sagte sie und trat vor.
Der Stoff der Luft ließ sie durch.
Und die Nacht hinter ihnen schloss sich wie eine Streichholzschachtel.
Das Haus, das singt
Die Kälte auf der anderen Seite war nicht die Kälte von draußen. Sie war geordnet. Sie nahm an die Hand, statt zu beißen. Schneeflocken fielen nicht, sie platzten wie leise Blüten. Über einem Platz aus Eisstein stand ein Haus, dessen Dachspitzen Glockenblumen ähnelten. Aus seinen Ritzen strömte Musik — kein Lied, das Mara kannte, und doch etwas, das sie schon einmal gefühlt hatte, als Mama sang, wenn sie dachte, niemand höre zu.
„Wunder der Lieder“, sagte Lin ehrfürchtig. „Jedes Wunder hat ein Relikt. Hier muss…“ Er ließ den Satz wispernd ausklingen, denn die Tür schwang auf.
„Willkommen, Reisende“, sagte das Haus. Nicht eine Stimme — viele, alt und jung, warm und rau. „Tretet ein, wenn ihr keine Lügen im Hals tragt.“
Mara räusperte sich, spürte, wie die Worte des Tages in ihr klapperten: Ich komm klar. Es macht mir nichts aus. Ich brauch ihn nicht. Sie sah Jori an, der ihre Hand hielt. Dann sprach sie: „Ich…
