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Der Gelegenheitsjobber Luan schlägt sich in einem beliebten Kurort in den Bündner Bergen gerade so durch, während reiche Touristen zunehmend die Einheimischen verdrängen – und bald steht auch sein Zuhause in dem von seltsamen Ereignissen aufgesuchten Dorf auf dem Spiel. Die Menschen, die in ihren Ferien und an den Wochenenden nach Waldbad kommen, sind auf der Suche. Aber wonach? Über Catrinas Protagonisten Luan blicken wir in eine Welt zwischen Liegestühlen, Apéros und Wohnungsnot. Enthusiastische Touristen treffen auf eine einheimische Bevölkerung, die sich das Leben dort nicht mehr leisten kann.
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Seitenzahl: 279
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ich weiß schon lange, dass Glück nicht so gleichmäßig verteilt wird wie Luft. Die kühle Bergluft. Wer nach Waldbad kommt, erwartet mehr vom Leben, das habe ich mittlerweile verstanden. Die Leute haben diesen Blick, irgendwie ernst, zu ernst eigentlich, wenn man sich mal überlegt, dass die meisten hier Urlaub machen wollen. Fast so, als hätten sie Angst, zu spät zu kommen.
Gelegenheitsjobber Luan schlägt sich im beliebten Kurort Waldbad gerade so durch, während reiche Touristen zunehmend die Einheimischen verdrängen – und bald steht auch sein Zuhause in dem von seltsamen Ereignissen aufgesuchten Dorf auf dem Spiel.
«Der eindringliche Sog des Buches wirft zugleich Fragen auf: Ist Zufriedenheit die beständigste Form von Glück und wie findet man sie?»
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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1. Auflage
© 2024, Arisverlag
(Ein Unternehmen der Redaktionsbüro.ch GmbH)
Schützenhausstrasse 80
CH-8424 Embrach
www.arisverlag.ch | www.redaktionsbüro.ch
Umschlaggestaltung und Satz: Lynn Grevenitz/kulturkonsulat.com
Umschlagmotiv: Lynn Grevenitz/kulturkonsulat.com (Midjourney)
Lektorat: Katrin Sutter/Paula Fricke/Elisabeth Blüml
Korrektorat: Red Pen Sprachdienstleistungen e.U.
Druck: CPI books GmbH, www.cpibooks.de
ISBN: 978-3-907238-37-0
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book: 978-3-907238-40-0
«Noch nie habe ich ein wildes Tier gesehen, das Mitleid mit sich selbst hatte.»
MIT PFEIL UND BOGEN
Ich weiß schon lange, dass Glück nicht so gleichmäßig verteilt wird wie Luft. Die kühle Bergluft. Wer nach Waldbad kommt, erwartet mehr vom Leben, das habe ich mittlerweile verstanden. Die Leute haben diesen Blick, irgendwie ernst, zu ernst eigentlich, wenn man sich mal überlegt, dass die meisten hier Urlaub machen wollen. Fast so, als hätten sie Angst, zu spät zu kommen. Ist verrückt, wirklich. So verdammt ernst, dass ich lachen will. Aber mir ist gerade nicht nach Lachen. Hab wieder vergessen, das Fenster zu schließen, und jetzt ist hier alles nass. Nur gut, dass keiner da ist, der das sehen könnte. Ich nehme meinen Pulli vom Sessel und mache damit die Pfütze weg.
Jedenfalls ist Waldbad mein Zuhause. War es schon immer, schon seit dreißig Jahren. Die anderen sind weg, wollten beide nicht bleiben, obwohl sie mich hier großgezogen haben, genau so wenig, wie sie noch zusammen sein wollten. Aber ich bin hiergeblieben, zuerst bei meinen Großeltern, dann allein, hatte nie das Bedürfnis zu verschwinden und bin fest entschlossen hierzubleiben. Deswegen wohne ich jetzt bei Familie Müller, na ja, ich wohne im Keller von Familie Müller. Die Müllers sind ganz entspannt und selten oben. So selten, dass ich einen Schlüssel habe, um ab und zu nachzusehen, ob noch alles so ist, wie es sein soll. Darin bin ich gut, ist auch sonst mein Job, im Resort, also sicherstellen, dass alles so ist, wie es sein soll. Manchmal repariere ich auch was. Das tue ich auch bei den Müllers. Hier unten im Keller stört mich keiner. Und die Miete ist auch okay.
Aber zurück zu Waldbad. Waldbad ist ehrlich gesagt auch nur ein weiterer Ort auf diesem Planeten. Klar, wir haben die Berge, die Flüsse, den Wald und die Seen. Und wir haben die Sternwarte. Aber wir sind nicht das Zentrum des Universums, ist klar. Das Universum hat kein Zentrum. Ich wäre eigentlich gern Astronaut geworden. Eine Space Station fehlt uns hier noch. Trotzdem: In Waldbad fühle ich mich den Sternen am nächsten, absolut.
Heute reist die Truppe wieder an, deswegen muss ich mich beeilen, damit dann auch alles tippy-top ist. Sie kommen nicht zusammen, aber kommen immer alle am selben Tag, an denselben Freitagabenden und Samstagmorgen, deswegen Truppe, auch wenn sie nicht wissen, dass sie eine sind. Sie erwarten einen frisch gemähten Rasen und einen sauberen Pool. Ein freundliches Lächeln.
Ich lasse den Bodensauger auf den Grund des Pools sinken, sehe ihm zu, wie er langsam nach unten blubbert. Dann greife ich nach dem Kescher. Heute Morgen ist es warm, obwohl es die ganze Nacht lang geregnet hat. Herr Bandino, ich nenne ihn meistens nur Dino, steht auf dem Balkon der Lobby des Hotels und sieht zu mir herunter, einen lächerlichen kleinen Espresso in der Hand. Ich mag Espresso nicht, trinke meinen Kaffee lieber mit viel Milch und Zucker, nicht so winzig und fein. Er winkt und ruft etwas, ich nehme die Kopfhörer ab.
«Komm nachher gleich hoch!», ruft er mit leicht rotem Kopf. «Wir haben was zu besprechen.» Ich hab schon so eine Ahnung, was er mit mir besprechen will. Leider. Und ich muss ihm gleich erklären, dass es ein blöder Zufall und keine böse Absicht war. Ja, meine Neugier war schon immer ein Problem, das überrascht hier keinen mehr, am wenigsten mich. Dabei stelle ich nicht viele Fragen, auch wenn man das denken könnte, nein, ich bin eher neugierig auf eine ruhige Art, würde ich sagen. So, dass ich möglichst keinen störe. Außer eben, wenn so was wie gestern passiert. Ich hasse es, wenn schöne Morgen so anfangen.
Ich setze die Kopfhörer wieder auf und schalte auf dem Weg nach oben den Rasenmäh-Roboter ein.
Dino lässt mich in der Regel in Ruhe meine Arbeit machen, außer er braucht mich für irgendwas. Wenn er mich schon um diese Zeit antraben lässt, muss es eine dringende Sache sein, für ihn zumindest. Und wie gesagt, ich ahne, worum es geht. Deswegen lasse ich mir Zeit mit den Treppenstufen.
«Dieses Mal hast du den Vogel abgeschossen», sagt Dino und stellt sein Tässchen laut auf dem Holztisch ab. «Das hätte ins Auge gehen können, was dann?» Er richtet das leere affige Tässchen. «Du hast Glück, dass dich keiner gesehen hat.»
«Woher weißt du denn, dass ich es war?»
«Ich bitte dich.» Er greift nach etwas hinter sich und streckt mir einen Pfeil hin.
Zugegeben, die Wahrscheinlichkeit, dass es jemand anders war, ist ziemlich gering. Und ich weiß ja, dass ich es war. Es ist so: Das Leben hier verlangt manchmal, dass man sich etwas einfallen lässt, und ich hab nicht viel Kohle. Pfeil und Bogen machen alles etwas spannender, besonders nachts. Ich hab den Bogen gebraucht gekauft und angefangen, im Wald zu üben. Gleich da unten, versucht, den dicksten Baumstamm zu treffen. Wie gesagt, eigentlich nur nachts. Aber gestern bin ich früher runter und da waren ein paar Spaziergänger mit zu langen Stöcken. Sagen wir es so, ich war müde. Vielleicht wollte ich auch sehen, wie es ist, wenn mehr auf dem Spiel steht. Wer weiß das schon? Keiner wurde verletzt, garantiert nicht, und ich konnte mich rechtzeitig davonschleichen. Ich sage Dino, dass es ein blöder Zufall und keine Absicht war.
«Nicht mehr so nahe am Weg, Luan. Sonst nehme ich dir das Teil weg.»
Das dürfte er gar nicht. Er könnte mich melden oder so. Aber der Bogen gehört mir.
«Nicht mehr so nahe am Weg, geht klar», wiederhole ich. Dann ist es einen Moment lang still. Ich will nichts mehr sagen und Dino weiß wohl nicht mehr, was er sagen soll.
«Der Zaun ist gut geworden», meint er dann.
«Danke», sage ich. Wir sehen beide nach draußen zum neuen Zaun.
«Wir sollten trotzdem einen zweiten Anstrich machen.»
X
Das Dorf steht da mit einer Selbstverständlichkeit, um die ich es manchmal beneide. Als wäre alles so, wie es sein soll: berechenbar und immer schön gleich. Ich fahre mit meinem Skateboard an den Boutiquen vorbei und wie jedes Mal frage ich mich, wer in diesen Läden mit den halbleeren Schaufenstern einkauft. Es gibt sie schon länger als mich und ich war noch nie in einem drinnen. Keine Angst, das hier wird keine dieser abgedroschenen Autobiografien. Auch kein Manifest, falls es jetzt so klingen sollte. Ich gehe einfach mit offenen Augen durch die Welt, das ist alles. Der einzige Shop, in den ich gehe, ist der von Jeremia.
Sie haben wieder diese Waldbad-Plakate am Straßenrand aufgehängt. Darauf bunte Wanderer, verdreckte Biker und verdammt glückliche Familien am See. «So geht Leben», steht darunter. Als wäre das alles, was in Waldbad vor sich geht. Ganz ehrlich, wenn ich den Leuten manchmal so zusehe, hab ich eher das Gefühl, dass es darum geht, das eigene Leben zu überleben. Ich werde von einer Mutter auf ihrem E-Bike mit Kinderanhänger überholt. Die Winterplakate gefallen mir besser.
Als ich zurückkomme vom Supermarkt, sehe ich den Maserati von Nature Girl auf dem Parkplatz. Sie stellt das Auto lieber draußen hin. Nature Girl läuft meistens barfuß rum, zumindest, wenn sie hier ist. Hüpft morgens über die Wiese hinterm Haus und sammelt irgendwelche Blumen, Beeren oder was weiß ich. Einmal habe ich gesehen, wie sie zusammen mit ihrem Freund, mit dem sie nur Englisch spricht, und einer kleinen Schaufel am Waldrand hinterm Haus etwas gepflanzt hat. Ich wollte nachsehen, was es war, bin aber noch nicht dazu gekommen, irgendwie gibt es immer Wichtigeres. Würd gerne wissen, ob sie dieses Mal allein hier ist. Meistens kommt sie nämlich allein, Nature Girl. Sie kauft in den Boutiquen ein. Ja, richtig, ich hab sie schon oft mit mehr Taschen gesehen, als sie eigentlich tragen kann. Ihr auch schon damit geholfen. Da wurde sie rot. Als würde sie sich schämen. Keine Ahnung wofür und vor wem.
X
Ich öffne die Tür und steige hinunter in meine Bude. Im Vorratskeller nebenan durfte ich einen kleinen Gefrierschrank hinstellen, weil das Eisfach in meinem Kühlschrank gerade mal für eine Pizza reicht. Ich lege den Sack Cordon Bleus, den Brokkoli und die Kroketten hinein und bemerke einen Tannenzapfen in der untersten Schublade. Ach Johnny. Mein kleiner Bruder. Halbbruder, eigentlich. Manchmal lädt ihn meine Mutter hier ab. Sie lässt ihn dann bei mir und besucht ihre alten Freunde. Mein Glück, dass sie hier noch Freunde hat, sonst würde ich den kleinen Racker kaum noch zu Gesicht bekommen. Jon, das ist ein romanischer Name, das J spricht man wie ein I, mag es lieber, wenn ich ihn Johnny nenne. Johnny sammelt Tannenzapfen. Alles vom Waldboden eigentlich. Und dann versteckt er das Zeug bei mir, in den Schränken, Schuhen, Jacken. Fast so wie Nature Girl. Ich glaube, Johnny hatte mehr Glück als ich. Und das ist gut so. Zufrieden bin ich trotzdem.
In letzter Zeit sind die Kinder der Müllers – was sage ich da «Kinder», die sind so alt wie ich – jedenfalls sind sie öfter mal da. Die bringen dann auch ihre kleinen Kids, also die Enkel von Herr und Frau Müller, mit. Vielleicht hat auch eines von denen den Tannenzapfen da reingesteckt, denn Johnny war eigentlich schon eine ganze Weile nicht mehr hier. Er liebt Waldbad. Hier fühlt er sich wohl, das spürt man total, hier kennt er sich aus.
Die Luft hier draußen unter den Bäumen riecht nach Sommer. Er muss jeden Moment da sein. Heute Nachmittag hole ich die Sachen für meinen Job am See ab. Jup, kein Scherz, ich arbeite ab und zu als Bademeister. Schwimmen kann ich, so viel steht fest. Schwimmen muss jeder lernen, sonst geht man unter, so einfach ist das. War schon früher das Coolste, einen Sommerjob am See zu haben. Schon bevor die Leute nur hierherkamen, um Fotos zu machen. Alle an denselben Stellen, vor dem genau selben Hintergrund. Angefangen habe ich im Restaurant, dann durfte ich am Kiosk arbeiten, später bei der Tret- und Ruderbootsvermietung und jetzt, noch mal zehn Jahre später – Halleluja – und seit einer ziemlich gechillten Weiterbildung, bin ich Bademeister. Einer der Bademeister. Früher waren die mit Ruderbooten unterwegs, mittlerweile drehen wir auf Stand-up-Paddle-Boards unsere Runden. Das ist schneller, ein gutes Workout und macht auch sonst mehr Spaß. Ist nichts Seltsames daran, mehrere Jobs zu haben, finde ich. Da kann jeder denken, was er will. Aber klar, natürlich hatte ich das alles anders geplant, keine Frage.
«Wieso bleibst du eigentlich hier?», fragt Jeremia mich später in seinem Laden. Ihm gehört ein Snowboard- und Skateshop und er macht auch die Materialausgabe für die Saisonarbeiter. «Ich würde im Sommer verschwinden, wenn ich könnte.» Jeremia ist geschieden, hat zwei Kinder und teilt sich das Sorgerecht mit seiner Ex. Auch er will nicht wirklich verschwinden. Ich glaube, er will nur sein altes Leben zurück. «Hat sich so ergeben», sage ich. Wir wissen beide, dass ich arbeiten muss und nicht einfach so um die Welt fliegen kann. Abgesehen davon will ich das gar nicht. Die Welt kann warten, dann lieber gleich zum Mond. «Gibst du mir ein Extra-Shirt? Keinen Bock, zweimal die Woche Wäsche zu machen.»
«Kommst du auch? Nächstes Mal?», fragt Jeremia, während er das vierte Shirt faltet.
«Denk schon. Wenn nicht wieder was dazwischenkommt.» Ich packe die Sachen in meinen Rucksack. «Vielleicht bringe ich dieses Mal jemanden mit», sage ich und Jeremia grinst unter seinem Bart.
X
Der Optiker ist schon da. Die Rollläden der Wohnung sind hochgezogen. Er ist oft einer der ersten der Truppe. Gestern Abend wurden die Lebensmittel geliefert, also die für den Optiker. Ich habe Dino damit geholfen. Grapefruitsaft scheint ihm wichtig zu sein. Ich mag ihn nicht, diesen Menschengeruch. Diesen süßlichen Menschengeruch, weiß nicht, wie ich ihn anders beschreiben soll. Klar, ich mag Menschen. Sehr sogar. Wer hier lebt, muss Menschen mögen, denn ganz ehrlich, manche machen es einem nicht gerade leicht. Leerstehende Wohnungen riechen anders. Auch den Geruch mag ich nicht. Irgendwie muffig und alt. Die Süße fehlt komplett. Jedenfalls haben wir gestern Abend noch gelüftet. Geputzt war schon. Nur etwa zehn Minuten, aber das reicht, wenn man die großen Fenster ganz aufmacht. Dino nennt es Sperrlüften. Das machen wir auch in den Hotelzimmern, nicht nur in den Wohnungen. Jedes Mal, wenn wir in der obersten Wohnung stehen, stellt Dino sich ans Fenster, stützt seine dicken Fäuste in die Hüfte und sagt: «Alles eine Frage der Perspektive.» Das Resort hier besteht aus einem kleinen Hotel und zwei Häusern mit Eigentumswohnungen – Ferienwohnungen, die Dino betreut. Und es bietet spezielle Services. Dino, der Rest und ich zusammen, wir betreuen das alles und machen eben so was wie lüften.
Jetzt steht der Optiker da und sieht zu mir runter auf die Garageneinfahrt. Ihm gehören anscheinend mehrere Geschäfte. Und ich glaube auch nicht, dass er noch arbeitet. Zumindest nicht so, wie man sich das vorstellt. Ich befreie die Rinne von den Blättern, Blüten und Nadeln, die sich immer darin verfangen. Ich kann jetzt nicht winken, das wäre seltsam, also hebe ich nur kurz die Hand, wie man das halt so macht, wenn man nicht weiß, was man machen soll, und warte gar nicht erst ab, was der Optiker tut. Er heißt René. Die Sonne brennt mir im Nacken, hier unten zwischen den Betonwänden der Einfahrt ist es windstill. Da fährt hinter mir ein Auto heran. Jedes Mal, wenn ich dieses Geräusch höre, das von Elektroautos, finde ich, das hört sich an wie ein Ufo. Nicht, dass ich je eines gesehen oder gehört hätte. Glaube ich wenigstens, sicher bin ich nicht. Ich stehe auf und trete zur Seite. Das müssen die Neuen sein. Ich kann nicht erkennen, ob hinten auch noch jemand sitzt.
Die Einkäufe des Optikers haben so gegen 400Franken gekostet. Für ein einziges Wochenende, das muss man sich mal vorstellen. Das weiß ich nur, weil ich in die Tüten geschaut habe, als Dino die Wasserhähne in den beiden Badezimmern kurz aufgedreht hat. Vielleicht bleiben sie auch länger, was weiß ich. Dazu noch die gelieferten Blumen, die ich dann immer in Vasen stelle. Zwölf Rosen in die eine und noch mal zwölf in die andere. Aber ganz ehrlich, ich bin nicht traurig, wenn etwas übrigbleibt von all dem Zeug, das landet dann nämlich bei mir, weil ich oft derjenige bin, der nach der Abreise der Gäste die Kühlschränke leert und den Müll wegbringt. Ich verdiene in einem guten Monat so viel wie jemand an der Supermarktkasse, würde ich mal schätzen. Oft ist es etwas weniger. Davon lebe ich trotzdem ganz gut, hohe Ansprüche habe ich nicht, und kann sogar was zur Seite legen für Johnny. Ich weiß, dass meine Mutter das nicht macht. Die Miete ist 900, aber nur, weil ich den Müllers noch helfe. Meine übrigen Kosten habe ich auch im Griff, ein Budget, das ich sorgfältig ausgearbeitet habe, damit ich mir nicht dauernd den Kopf darüber zerbrechen muss. Klauen brauche ich also nichts, damit das klar ist. Anyway, ich bin mir nicht zu schade für die Reste anderer und da soll auch keiner blöd gucken.
Bald findet wieder ein Fest statt. Das hat Jeremia mit «nächstes Mal» gemeint. Nur was Kleines, wie wir es ab und zu machen. Ich gehöre zu so einem Verein. Eigentlich sind wir alle einfach Freunde und haben irgendwann angefangen, Partys zu organisieren, damit wir nicht zu schnell alt werden. Einen Namen haben wir nicht, für den Verein, mein ich. Manche nennen uns «Black Hole Society», hab ich mal gehört. BHS. Vielleicht hab auch ich uns den Namen gegeben, aber das ist so lange her. Jedenfalls: Wir treffen uns in der früheren Pfadfinderhütte, die liegt etwas außerhalb des Dorfes, dann stellen wir ein paar Feuerschalen und einen Grill hin, jede Menge Bier kalt und braten Burger. Und ich habe Jeremia zwar gesagt, dass ich wahrscheinlich jemanden mitbringe, nur habe ich keinen Plan, wer das sein könnte. Noch nicht.
X
Eine Woche später ist der Sommer da. Und wie. Die Sonne hat sich wohl gedacht, halbe Sachen mach ich nicht, wenn ich aufdrehe, dann richtig. «Wie ist es, du zu sein?», würde ich Ludwig gerne fragen. Aber eigentlich weiß ich das ziemlich genau. Ludwig ist ein anderer unserer Wohnungsbesitzer, noch einer der Truppe. Er ist ein netter Kerl, der immer zu lange in der Sonne sitzt, meistens mit seiner Frau anreist und manchmal ist seine Tochter dabei, die traurige, dünne Schauspielerin. Echt, so dünn, dass es den Menschen drumherum schon unangenehm ist. Sie lächelt immer so übertrieben breit, auch das ist mir unangenehm. Braucht sie gar nicht, find ich. Wie dem auch sei – der nette Kerl kommt lieber im Sommer als im Winter nach Waldbad. Sobald der erste Schnee da ist, zieht es ihn in den Süden, wo er wahrscheinlich weiter an seiner gut geölten Lederhaut arbeitet.
«Lass nur», sagt er und winkt ab, als ich ihm den Sonnenschirm öffnen will.
Er denkt immer noch, ich sei der Sohn von Dino, wahrscheinlich weil wir hier alle keine Uniform tragen, alles ganz entspannt ist, familiär, könnte man sagen. So soll es sein, gemäß Dino. Ich würde sowieso nicht noch eine Uniform tragen. Von denen habe ich schon genügend mit den Bademeistersachen und im Winter mit dem Snowboardlehrer-Outfit. Natürlich bleibe ich auch hier, wenn es schneit. Die meisten Betriebe gehören sowieso zur selben Organisation. Für mich ist das praktisch, auch wenn ich mit vielem nicht einverstanden bin, was hier läuft. Ich habe schon einiges hinter mir gelassen, so manchem in meinem Leben Adieu gesagt, aber Waldbad würde ich nie verlassen, auch wenn es manchmal schwer ist zu bleiben. Ich kann nicht sagen, welche Jahreszeit mir besser gefällt. Die Winterjobs sind aber eindeutig besser bezahlt. Nehme mal an, weil dann auch alles andere teurer wird in Waldbad. Ein paar Freunde von mir, Timo und Nellie, ziehen jeden Winter zu Timos Eltern, die auch hier wohnen, damit sie ihre eigene Wohnung untervermieten können. Ich wüsste nicht, wo ich hinsollte, und zu umständlich wär mir das auch. Ich will keine Fremden in meinem Zuhause. Die wissen nicht, was die Dinge wert sind, die da bei mir rumstehen.
Der nette Kerl, dem ich eben den Schirm richten wollte, heißt Ludwig Krämer mit ganzem Namen. Er ist Versicherungsberater, hat Dino gesagt. Seine Wohnung ist die mit dem kleinsten Balkon. Wahrscheinlich sitzt er deswegen immer hier unten und brutzelt vor sich hin. Im Pool schwimmen war er noch nie. Seine Frau sitzt lieber in der Lobby und trinkt Champagner. Natürlich erst nachmittags, wie es sich gehört, aber dann auch gerne mal eine ganze Flasche. Manchmal lädt sie andere Gäste zu sich an den Tisch ein, dann bestellt sie aber immer eine zweite Flasche. Sie heißt Evelina. Das sagt sie jedem laut und deutlich, wenn sie einem die Hand hinstreckt. «Eh-veh-lii-nah, hoch erfreut.» Das Krämer lässt sie weg. Die Schauspieltochter, auch schon etwas älter, hat eine eigene Wohnung im Haus nebenan.
Vielleicht sollte ich der Einfachheit halber mal kurz zusammenfassen, wer alles genau zur Truppe gehört, auch wenn gerade nicht alle da sind. Es sind nämlich einige und es dauert eine Weile, bis man sich alle Namen und Berufe merken kann. Aber eigentlich dauert es auch weniger lang, als man denken würde.
Also in dem einen Haus von unten nach oben: Die eine Parterre-Wohnung gehört einer Politikerin, sie heißt Rahel Wild und hat einen Dackel, der immer auf die Wiese kackt. Die Wohnung neben ihr, ebenfalls im Parterre, gehört Nature Girl, von der ich ehrlich gesagt nicht weiß, was sie beruflich macht oder wie sie an die Wohnung gekommen ist. Einen Stock höher sind die Krämers und auf demselben Stockwerk ein Schriftsteller, Emilio sonstnochwas, und angeblich seine Freundin. Oder Frau? Ich nenne sie «die Neuen», weil sie die Wohnung erst kürzlich gekauft haben und ich sie gerade das erste Mal gesehen habe. Ich habe keines seiner Bücher gelesen. Dafür braucht man Zeit und nichts zu tun und wenn es etwas ist, was mich wahnsinnig macht, ist es Arbeit, die liegen bleibt und vor sich hin rottet. Außerdem sind Bücher nicht gratis, weswegen ich gerne auch mal eines zweimal lese. Dreißig Franken für eine Geschichte, von der ich nicht mal weiß, ob sie mir gefällt? Wenn ein Buch gut ist, machen sie eh so was wie eine Serie draus. Und dafür habe ich eigentlich auch keine Zeit. Noch etwas, das ich nicht habe: einen Fernseher. Über Emilio ist der Sozialarbeiter auf einem ganzen Stockwerk. Na ja, eigentlich seine Eltern, beides erfolgreiche Regisseure, die meistens irgendwo anders sind, nur über die Festtage sind sie immer hier. Dann noch eine Woche im Herbst, sonst immer seltener. Die Blauenbachs. Und ganz oben dann eben René, der Optiker, mit seiner Family.
Ich richte alle Liegestühle parallel aus.
Dann im Haus nebenan, das etwas kleiner ist, im Parterre ein Werber und seine Frau. Mit denen habe ich kaum was zu tun. Dino meint außerdem, sie werden erst mal nicht mehr kommen, warum weiß ich nicht. Ach ja, er hat gesagt, der Werber hat sich ein Sabbatical genommen. Wie lange weiß ich nicht. Die Wohnung über der vom Werber und seiner Frau gehört der Schauspielerin, also eben der Tochter der Krämers, Jenny. Und ganz oben, dieses Haus hat nur drei Stockwerke, ist dann der Lungenspezialist, der immer zu laut Musik hört und damit die arme Jenny nervt. Das wär’s. Woher sie alle kommen? Aus den Städten auf der anderen Seite der Schweiz. Bei den Stammgästen im Hotel fange ich jetzt nicht auch noch an, die wechseln ja logischerweise auch ständig.
«Sie habe ich hier schon öfter gesehen», sagt Ludwig. Er spricht nicht mit mir, wie ich bemerke, als ich mich umdrehe. Sondern mit Nature Girl. Sie sagt zwar Hallo, bleibt aber nicht bei Ludwig stehen, sondern legt ihr Tuch auf einen Liegestuhl im Schatten. Einer der Schirme klemmt und ich schaffe es nicht, das verdammte Teil zu schließen. Die meisten Leute kommen immer erst abends an den Pool. Es ist das erste heiße Wochenende und auch am See war heute schon einiges los. Die Eltern lassen die Zwerge mit den Schwimmflügeln immer zu weit hinausschwimmen. Und auf der anderen Seeseite hat sich einer beim Sprung vom Felsen den Fuß aufgeschlitzt. Hat wohl keiner den Startschuss für die Saison verpasst. Das müsste man auch mal meinen Armen und Beinen sagen, die tun jetzt schon weh.
«Luan, richtig?», höre ich eine Stimme hinter mir. «Kann ich helfen?»
Es ist der Optiker.
«Richtig», sage ich, da gibt der Schirm endlich nach. «Danke, passt schon.»
«Vielleicht können Sie mir helfen», kommt der Optiker nun einen Schritt näher. «Wir bekommen morgen Besuch und ich dachte, weil wir ziemlich viele Leute sein werden und es in unserer Wohnung dann doch etwas eng werden könnte, vielleicht könnte man da oben unter den Bäumen ein paar Tische hinstellen und draußen etwas machen.» Ich nicke. «Könnten Sie das für uns arrangieren? Das Catering ist schon bestellt, darum müssten Sie sich nicht kümmern. Vielleicht ein paar zusätzliche Getränke servieren. Und natürlich eingedeckt müsste der Tisch auch noch werden. Wie klingt das für Sie?»
«Klingt nett», sage ich und der Optiker lacht. «Ich rede mal mit dem Chef, aber ich nehme an, das ist möglich.» Dino wird nicht gefallen, dass der Optiker ein Catering bestellt hat, aber Nein sagen wird er trotzdem nicht.
«René», sagt er jetzt. Aber anstatt mir seine Hand hinzustrecken, legt er sie sich selbst auf die Brust.
«Natürlich, René, Sie müssen sich doch nicht vorstellen. Ich sortiere immer Ihre Magazine und die Post.»
«Ach Sie sind das.» Jetzt zeigt er mit der Hand, die gerade noch auf seiner Brust lag, auf mich. «Ich dachte immer, das macht der Chef.» Dazu fällt mir nichts ein, also sehe ich René ein wenig dabei zu, wie er selbst auch nicht weiß, was er als nächstes sagen soll. Dann fällt ihm doch noch was ein. «Dann kümmern Sie sich also um alles?», fragt er. «Sie müssen auch nichts anderes anziehen, das sind ganz entspannte Leute», sagt René.
«Da muss ich Sie enttäuschen, ich werde nicht da sein.»
«Ach nein? Arbeiten Sie nicht am Wochenende?» Jetzt hebt er seine Sonnenbrille.
«Doch, sicher. Aber morgen Abend bin ich schon auf einer anderen Party. Auch ganz entspannte Leute.» Wieder lacht René.
«Gut, gut», sagt er schließlich. «Sagen Sie mir einfach, ob das klappt. Am besten innerhalb der nächsten Stunde, anderthalb. Danach sind wir noch mal unterwegs.»
«Auf jeden Fall», versichere ich und da macht sich René auf den Weg zu Ludwig.
Ich stehe nicht auf Nature Girl, falls das jemand denkt. Außerdem hat sie ja schon einen Freund. Auch dieses Wochenende ist sie wieder allein gekommen und hat ihr Auto draußen stehen lassen. Sie liegt auf dem Liegestuhl, scrollt auf ihrem Handy und trinkt aus einer Glasflasche etwas, das aussieht wie selbstgebrauter Tee oder so. Vielleicht sollte ich sie trotzdem fragen, ob sie auch zur Party kommen will. Wie ich auf solche Gedanken komme. Bei uns gibt es keinen selbstgebrauten Eistee und alle tragen Schuhe, aber meine Neugier zwingt mich dazu, sie zu fragen. Eine blöde Idee Anfang der Saison. Da könnte der ganze Sommer super mühsam werden.
Ich lege den Kescher wieder weg, versehentlich etwas zu schwungvoll, und Nature Girl wird leider nass. Sie schreckt auf und sieht mich vorwurfsvoll an.
«Sorry, keine Absicht. Brauchst du ein Handtuch?»
«Alles okay», sagt sie, trocknet ihr Handy und legt sich wieder hin.
«Hier», strecke ich ihr doch eins hin. «Ich habe einen ganzen Stapel und teile gern.»
«Ich würde lieber darauf verzichten», sagt sie. «Das Wasser trocknet von allein, bin ja nicht aus Zucker. Und es gibt sicher sonst schon genug Wäsche jeden Tag.»
«Allerdings», stimme ich zu und lege das Tuch zurück. War ja klar, dass diese Nummer nicht zieht.
Vielleicht nun zu ein paar anderen Stammgästen. Na ja, sie sind keine Übernachtungsgäste, aber jeden Dienstag treffen sich die Astronomen der Sternwarte bei uns zum Kaffee. Wenigstens sind manche davon Astronomen, Toni zum Beispiel, der ist gefühlt schon seit immer dabei, andere sind einfach Ingenieure oder sonstige Mitarbeiter. Es sind auch nicht immer dieselben, die haben immer mal wieder jemand anderen dabei. Aber dass sie am Dienstag kommen, war angeblich schon immer so. Wenn sie da sind, mache ich Büroarbeiten, trage meine Stunden nach und schaue, was ich sonst noch tun kann. Diese Woche haben sie darüber gesprochen, dass die Venus-Forscher langsam sauer werden, weil sich alle nur für den Mars interessieren. Und ich dachte nur, sauer auf wen? Über die Lichter haben sie auch gesprochen.
«Wir sind nicht das Zentrum des Universums», sagte dann einer. Das sagen sie andauernd, ich ja auch. Ein anderer, derjenige, der immer die Zeitung verkleckert, meinte darauf: «Ja, wir sind nur diejenigen, die die Karte zeichnen.» Habe lange nichts Wahreres gehört, echt nicht. So viel Wahrheit muss man erst mal in zwei Sätze reinzwängen. Ich kann so was nicht, da höre ich lieber anderen zu und wiederhole halt manchmal, was sie sagen. Obwohl ich genau weiß, wie man Astronom wird. Hätte auch gewusst, wie man Astronaut wird. Daran ist die Sache nicht gescheitert. Ich bin weder zu groß, noch zu klein. Bin auch nicht farbenblind, sehe einwandfrei und auch sonst bin ich fit. Kein Asthma, kein Herzfehler. Im Kopf eigentlich auch. Sehr eloquent bin ich nicht. Das hat man mir oft gesagt, deswegen kenne ich dieses Wort auch so gut. Aber Wörter sind nur Wörter, das hat mit Intelligenz nichts zu tun, wenn sich etwas kompliziert anhört. Braucht es alles nicht. Es wäre vielleicht einfacher, wenn mit mir von Anfang an etwas nicht gestimmt hätte. Dann wäre ich erst gar nicht auf die blöde Idee gekommen. Aber ich nehme an, wer sich die Zukunft zu genau ausmalt, ist selbst schuld. Ich lebe im Jetzt, nehme die Dinge, wie sie sind, darin bin ich gut.
Dabei soll es bleiben.
X
Es ist spät und bei den meisten ist das Licht schon aus. Mag sein, dass es keinen Sinn macht, im Dunkeln mit Pfeil und Bogen zu schießen. Ich finde aber, das ist, wie wenn ein Raucher joggen geht. Das ist wie trainieren mit Gewichten. Außerdem geht um diese Zeit keiner spazieren. Sollte man eigentlich, besonders wenn die Sterne so hell leuchten wie heute. Wenn man nachts einen Pfeil abschießt und danach der Schusslinie folgt, weiß man trotzdem erst, wenn man am Ziel angekommen ist, ob man getroffen hat. Man hört es natürlich, klar. Aber der Wald ist voller Bäume und ob man den richtigen erwischt hat, kann man am Geräusch nicht erkennen.
IM MITTELMEER
Es gibt Orte, die sind nur bei schönem Wetter schön. Waldbad ist auch noch schön, wenn es wie aus Eimern gießt oder eigentlich bei jedem anderen Wetter auch. Mir gefällt es am besten, wenn sich der Nebel reinschleicht, wie heute, so ganz langsam über die Baumwipfel. Sieht dann fast so aus, als hätte jemand irgendwo in den Bergen ein Ventil geöffnet und jetzt fließt das alles hier runter. Ich weiß das zu schätzen, und wie. Dann ist der Skatepark meistens leer und ich kann in Ruhe meine Tricks üben, ohne Publikum. Dafür bin ich nicht gut genug, egal wie man’s betrachtet. Der Campingplatz wächst langsam in den Skatepark hinein, verschmilzt bald mit dem alten Wohnblock, der hier noch steht und doch eigentlich schon längst abgerissen werden sollte. Hier ist noch das alte Waldbad und das finde ich gut so.
Jedenfalls drehe ich meine Runden und arbeite an meinem Treflip. Ich spüre, dass ich nicht genug geschlafen habe. Mir brummt der Schädel und ich kriege den Scoop einfach nicht richtig hin. Alles ist feucht. Aber ich gebe nicht auf, versuche es wieder und wieder. Da passiert, was dann meistens passiert, wenn ich nicht rechtzeitig aufgebe: Ich fliege so richtig auf die Fresse. Das Brett rollt von mir weg und ich sitze da, auf dem arschkalten Asphalt, schaue dem Brett beim Davonrollen zu und muss lachen.
«Du bist nicht sehr gut», sagt jemand aus dem Nebel. Ich stehe auf und gehe meinem Brett nach, in Richtung der Stimme, und jetzt sehe ich die Silhouette. Es ist Simon.
«Was du nicht sagst. Willst du mal?», frage ich.
«Haha», sagt er. Simon sitzt im Rollstuhl seit einem Snowboardunfall. Wie lange genau weiß ich nicht, aber ich hab ihn nie anders gesehen. Er ist der Einzige in ganz Waldbad, der im Rollstuhl sitzt, was schon Fluch genug ist. Noch dazu ist er ein Teenager und das ist mal richtig übel. Dann wohnt er noch hier unten, in einem Block ohne richtigen Lift. Direkt neben dem bunten Skatepark, auf dem sich Jungs und Mädels aus aller Welt tummeln und sich Knie und Ellbogen kaputt hauen. Simon hat wohl auch nicht so viel Glück. «Ich würde das im Handumdrehen können, was du da versuchst», sagt er.
«Würdest du nicht», sage ich. «Dich würde es genauso hinschmeißen wie mich.»
«Niemals. Ich wäre wahrscheinlich Profi, hätte Sponsoren, coole Klamotten und würde ganz sicher nicht hier meine Tricks üben, sondern irgendwo anders auf der Welt.»
«Klar würdest du», sage ich. «Gleich nachdem du dir von Mama dein Aua hast wegpusten lassen und sie dir ein paar süße Pflaster aufgeklebt hat.»
Er nimmt mir das Brett aus der Hand, legt es vor sich auf den Boden, fährt etwas zurück und dann, plötzlich, fährt er auf das Brett drauf.
«Kannst du das?», grinst er.
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Zwei Hotelgäste haben Liegestühle verschoben, sie mit Strandtüchern reserviert. Auch zwei Sonnenschirme haben sie abgezwackt und bei sich hingestellt. Dino will, dass ich alles so lasse. Er macht sich nichts draus, wenn die Leute ihr Revier markieren, solange sie einander in Ruhe lassen. Ich seh das ganz ähnlich, wie man sich denken kann. Aber die anderen Gäste bekommen einen dicken Hals. Schauen immer wieder sauer zu den beiden Platzhirschen rüber, richtig angepisst sind sie. Aber sagen tun sie natürlich nichts. Gibt ja auch genügend andere Liegestühle da.
Ich beobachte das Ganze von oben unter den Bäumen, wo ich gerade die Tische für das Dinner des Optikers – René, wer sich erinnert – aufstelle. Er sieht vom Fenster aus zu, dieses Mal winkt er und ich winke zurück, Daumen hoch, zeigt er, da mach ich dann nicht mehr mit. Der Schriftsteller steht auf seinem Balkon, merke ich jetzt, und sieht ebenfalls zu mir runter. Hab fast das Gefühl, ich müsste noch irgendwelche Kunststücke machen. Immerhin winkt er nicht. Steht nur da in seinem Morgenmantel, trinkt seinen Kaffee und freut sich wahrscheinlich auf seinen Schiss danach, so verkniffen wie der dreinschaut. Wie dem auch sei, heute muss ich erst später an den See.
