Öpadia - Lea Catrina - E-Book

Öpadia E-Book

Lea Catrina

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Beschreibung

Eine geplante Autobahnkirche hält das Bündner Dorf auf Trab - so auch die ältere Dame Juli. Am Ende einer kurzen Gasse lebt sie alleine in ihrem Haus. Am Rand fühlt sich Juli am wohlsten, dort, wo ihr keiner in den Nacken atmet oder an den Hinterkopf hustet. Dort, wo keiner hinsieht. Als vermeintlich engagiertes Gemeindemitglied ist Julis Leben in klare Einheiten geteilt: die Gemeindeversammlungen, die Feuerwehr, "Reich und Schön", verbrannte Wähe mit Elvira und der sonntägliche Kirchgang. Doch dann tauchen eines Tages Mark und Karli auf, zwei freche Buaba, die Juli mit ihren Streichen aus der Reserve locken und ihr zeigen, welche ungeahnten Freuden und welch grosses Leid das Leben noch für sie bereit hält. Geschickt verweben Lea Catrina und Martina Caluori Hochdeutsch mit Bündner Mundart und bereichern die Bündner Novelle mit Mundartlyrik. Arisverlag fördert heimische Mundart-Literatur. Mit der neu geschaffenen Reihe "Edition Gaggalaariplatz" erscheint jährlich ein Schweizer Mundartbuch aus einer jeweils anderen Dialektregion.

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Wieder war es ein gelber Morgen. In all den Jahren hatte Juli nur einen roten Morgen und einen blauen Morgen erlebt.

«Öpadia erzählt von der Poesie des Alltags im Tal. Lea Catrina schreibt ungeschönt über die Schönheit und Unverrückbarkeit von Bergen und Menschen, in denen wir uns erschreckend und schmunzelnd wiederfinden. Sie skizziert die Sollbruchstellen im menschlichen Gefüge als kluge Beobachterin, in einer einnehmenden und brachialen Tiefe. Verflochten mit der virtuosen Lyrik von Martina Caluori entsteht eine Atmosphäre, die nachdenklich stimmt und so was wie Glück dabei aufblühen lässt.»

PHILIPP GURT, AUTOR

Juli hilft, wo sie kann – und nimmt sich, was sie will. Eine Novelle über eine Frau, die im Alter die Freiheit kennenlernt und doch verliert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Herausgeber der «Edition Gaggalaariplatz» ist der

Historische Verein Embrachertal

«Öpadia» wurde ausserdem unterstützt von:

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

© 2021, Arisverlag

(Ein Unternehmen der Redaktionsbüro.ch GmbH)

Schützenhausstrasse 80

CH-8424 Embrach

www.arisverlag.ch | www.redaktionsbüro.ch

Prosa: Lea Catrina | Mundartlyrik: Martina Caluori

Umschlag und Satz: Lynn Grevenitz | www.kulturkonsulat.com

Lektorat: Franziska Schläpfer, Oscar Eckhardt

Korrektorat: Red Pen Sprachdienstleistungen e.U.

Druck: CPI books GmbH | www.cpibooks.de

ISBN Print: 978-3-907238-16-5

E-Book: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book: 978-3-907238-18-9

Für

Ursula Mani-Liver

und

ZUR MUNDART

Mit der «Edition Gaggalaariplatz» fördert der Arisverlag die Mundartliteratur. In «ÖPADIA» verwebt Lea Catrina geschickt Hochdeutsch mit verschiedenen Bündner Dialekten und Martina Caluori bereichert die Bündner Novelle mit Churer Mundartlyrik. Beiden Autorinnen war es wichtig, eine Vielfalt der Bündner Dialekte mit ihren Eigenheiten abzubilden, wie sie gesprochen werden. Die sprachliche Vielfalt im Kanton Graubünden ist – als einziger dreisprachiger Kanton in der Schweiz – besonders ausgeprägt. Die Amtssprachen Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch gliedern sich zudem in eine Vielzahl dialektaler Varianten und verschiedener Idiome, wie es in «ÖPADIA» der aufmerksamen Leserin, dem aufmerksamen Leser auffällt. So besuchen die Gemeindemitglieder sonntags die Chilcha, aber auch die Kirha, ja, auch die Kirche.

Viel Freude bei der Lektüre!

1

Es war der Montag, nachdem sich Julis Freundin wieder einmal zum Sterben ins Bett gelegt hatte. Juli konnte sie sich förmlich vorstellen, wie sie dalag, ohne ihre Perücke, darauf wartete, dass es dunkel wurde, und dann vom Kläffen der Nachbarsdogge aus ihrem Dämmerzustand hochschreckte.

Daraufhin, die Pantoffeln in der Hand, hatte sie bei Juli in der Küche angekündigt, sich stärkere Schlaftabletten zu besorgen und dabei auf keinen Fall die Dosierung zu befolgen.

«Kapriola noch und nöcher. Und es hört nit uf, Juli. Es will nit höra», hatte sie gesagt.

Ja, Elvira war ein wenig lebensmüde, aber wer schon nicht in diesem Tal? Auf dieser Welt? Das war weiss Gott kein Grund, sang- und klanglos wegzuschlafen. Nein, das war die einzige Entscheidung, die man nicht selbst treffen musste. Durfte. Wie wundervoll, dachte Juli, ganz am Ende würde eine Überraschung auf sie warten. Sie kam näher und näher. Wie gross diese Überraschung sein würde, wie winzig. Wie monströs. Sie wälzte den Gedanken weiter, während sie in der Kartoffelsuppe rührte und den Deckel auf die Pfanne legte. Lebendiges Blubbern und Hitze von innen. Das war’s, was Elvira fehlte.

In ds Bett ligga

und sich in ds

Jeensits schigga

Dr Tod, dr Tod

isch a

grossi Not

Bis zu da Mungga

durab in

d Tüfi ksungga

Turschtig, hungrig

schloot ds Herz

aber immr no

ganz gwundrig

Es war auch der Montag, an dem Juli die Wäsche zum letzten Mal draussen aufhängte. Bald würde die Sonne nicht mehr lange genug auf ihren Stewi scheinen. Wie oft man eine Wäscheklammer wohl benutzen konnte, bis sie aufgab? Ihre waren auch nach all den Jahren stramm und gespannt, um die schweren, nassen Laken zu halten.

Schon seltsam, dachte Juli, wie wenig man manchmal spürte, wie das Leben seinen Lauf nahm. Und doch tat es so viele verrückte kleine Dinge. Wie da drüben, dieser eine Strauch, der jedes Jahr wieder wuchs, obwohl Juli ihn samt Wurzeln ausriss. Oder da vorne beim Brunnen an der Strasse eine blinkende Baustellen-Laterne, irgendwo gestohlen und hier abgestellt. So etwas sollte verboten sein, fand sie und liess die Lampe, wo sie war.

Ganz still, Schritt für Schritt, bewegte sich alles in eine Richtung, die so klar und unausweichlich war, dass man sie unmöglich vorhersehen konnte.

Ausnahmsweise war der Montag auch Tag der Gemeindeversammlung, die gewöhnlich an einem Mittwoch oder Freitag stattfand. Ausserordentlich, dachte Juli, schon wieder. Aber es schien wichtig zu sein und so machte sie sich auf den Weg.

Sie kannte ihren Platz in der Mehrzweckhalle, dort, wo ihr keiner in den Nacken atmen oder an den Hinterkopf husten konnte, dort, wo sie ungestört war.

«Etz muasch aber höra», stand Trabbel, der Dorfpolizist, auf und hob einen Zeigefinger. Martin, den Gemeindepräsidenten, beeindruckte das Zeigen nicht.

«Nai würkli! Ma kann doch nit in Aigaregie sonas Projekt ariissa und denn aifach erwarta, dass alli mitmahand», fuhr Trabbel fort. Immer noch war er der Einzige, der stand.

«Eigaregie isches gewüss nit gsi», antwortete Martin. «Es isch en guata Vorschlag vom Pfaff und es isch guat für üsi Gmeind. Und Trabbel, du bisch eina vo weniga, wo es Problem dermit het.»

«Nur will i dr Ainzig bin, wo öpis sait? Hender würkli z Gfühl, dass dä Gebets-Tempel üs a Huufa Lüüt ins Dorf bringt? Ja, eher weniger, wenner mi fragend.»

Auch Juli, die ganz hinten sass und ein Gerber-Käsli aus seiner silbernen Hülle schälte, fand die Idee einer Autobahnkirche seltsam. Aber wenn sie ehrlich war, konnte eine Kirche mehr ja nicht schaden, oder?

«Gits denn endlich en Vollaschluss?», fragte jemand dazwischen.

«Und überhaupt isches a Autostross-Kirha, kai Autobahn-Kirha», fügte Trabbel an.

Juli fand das unnötige Haarspalterei. Darin war Trabbel schon immer gut gewesen. Juli wusste nicht, woher er seinen Namen hatte. Sie wusste nur, dass es nicht sein richtiger war. Juli wusste auch, dass jeder, der an der Versammlung etwas sagte, später wochenlang dafür geradestehen musste. Darauf hatte sie keine Lust. Juli hörte zu und dachte sich ihren Teil, darin war sie schon immer gut gewesen.

«Zerscht müamer sowieso d Finanziarig sichera. Dr Pfaff isch zuaversichtlich, dass das kei Problem si wird. Bis zur nögschta Sitzig wird a Vorschlag usgarbeitet zum gnaua Standort und was d Nutzig vom Gmeindsboda abelangt.» Das Getuschel im Raum wurde lauter.

«Huara Gstürm», sagte Trabbel, verwarf die Hände und setzte sich wieder.

Ganz vorne auf den Stühlen für die Nicht-Stimmberechtigten sass das Paar aus Syrien. Die beiden hatten sich umgedreht, um einen Blick in die unruhige Menge zu werfen. Juli hatte sich schon vor einer Weile vorgenommen, ihre Namen in Erfahrung zu bringen, schliesslich waren sie jedes Mal da. Manchmal nickten sie, manchmal blätterten sie in ihren Büchlein und manchmal stellten sie Fragen. Gute Fragen. Nächstes Mal, sagte sich Juli, nächstes Mal würde sie ihre Namen wissen.

Wiit awäg

wia hochi Wolgga

wiit awäg

wia d Schtärnagwalt

wiit awäg

d Erinnerig

an dia ainscht

vrtrauti Kschtalt

allai, allai

dr Sehnsuchtsschrai

allai, allai

im noia Dahai

Undurchdringlich

wia ds Wiiss

vu dr Wand

nemands sich

ganz sanft

an dr Hand

Die Tanne vor Julis Haus zitterte mit ihr gemeinsam im Nordwind. Juli bereute, dass sie ihren Dutt nur mit zwei anstatt drei Nadeln festgesteckt hatte.

Sie stieg die Stufen zur Laube hoch und überprüfte, ob die Katze Wasser im Schälchen hatte, bevor sie in den Gang trat und nach einem bewussten Ein- und Ausatmen das Licht anmachte.

Im Specksteinofen waberte noch Glut. Sie schob ein Stück Holz nach und wartete, bis es knisternd aufflackerte. Dann schloss sie die Eisenklappe. Das Feuer brannte auch, wenn sie nicht hinsah.

Wie jeden Tag legte sich Juli auf ihre smaragdgrüne Couch, um sich eine der aufgezeichneten Lieblingsfolgen von «Reich und Schön» anzusehen.

Das aktuelle Jahr war bisher langweilig verlaufen. Sogar der Juli. Den September aber hielt Juli selbst nach ihrem Geburtstag noch für vielversprechend. Schon ihr Leben lang musste sich Juli Sprüche darüber anhören, dass entweder ihr Name oder ihr Geburtstag falsch war. Und eigentlich war es ja sowieso ein Männername, fand sie, den ihr stolzer Vater sich ausgesucht hatte. Dieser hatte nämlich auf einen Jungen gehofft. Als Juli dann da war, blieb wohl keine Zeit, den Namen zu ändern. Man hätte ja einfach Julia daraus machen können. Ein läppisches «a» hätte es gebraucht.

Juli selbst fand, dass es weniger eine Rolle spielte, wie jemand hiess oder an welchem Tag jemand zur Welt kam, als vielmehr, in welchem Jahr. Ihr Jahr war 1945. Da gab es nun wirklich andere Themen als die Tatsache, dass Juli kein Junge, sondern ein Mädchen, und dass sie kein Juli-, sondern ein Septemberkind war. Der September passte besser zu ihr, gab sie zu, dieser Zwischenmonat, der nur in den Bergen gewürdigt wurde. Die Jäger streiften durch die Wälder, mit ihnen die Spaziergänger und Wanderer, die es nicht besser wussten.

Juli rückte ihr Kissen zurecht, als es an der Tür klopfte. Auch ohne zu öffnen, wusste sie, wer dastand. Sie rief durch das kleine Fensterchen hinter dem Fernseher hinaus: «Hüt nit!», und schloss es wieder.

Wieder klopfte es. Juli schob sich noch ein Guetzli in den Mund und ignorierte das Klopfen. Doch es klopfte noch einmal. Jetzt reicht’s, dachte sie, und schwang sich von der Couch.

«Hüt nit!», riss Juli die Tür auf. Doch da war niemand. «Hallo?», hörte sie sich sagen. «Gopfertori, kumi etzt z spinna?» Sie wartete kurz, reckte ihren Kopf aus der Tür, nach links und nach rechts, doch nichts regte sich.