MY BOY - Lea Catrina - E-Book

MY BOY E-Book

Lea Catrina

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Beschreibung

Rona und Charlie sind seit dem Kindergarten befreundet. In der Schule waren sie oft geplagte Aussenseiter, auf dem Eis hatten sie Anna. Und als Charlie Anna unverhofft in New York wiedersieht, setzt sich etwas Unaufhaltbares in Ronas und Charlies Leben in Bewegung. Eine Geschichte über den einen Menschen im Leben, der alles zusammenhält und wieder zusammensetzt, was zerbricht. Eine Geschichte zwischen Kalifornien und der Schweiz, zwischen Silicon Valley und der Modewelt – und von Glitzer in der Dunkelheit. "Die berührende Geschichte einer Kindheit auf dünnem Eis und der Freundschaft, die daraus gewachsen ist." Milena Moser "Lea Catrina schafft eine solche Nähe zu ihren Figuren, dass man die letzten Seiten des Buches voller Wehmut umdreht." Ursina Haller, Journalistin

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«Charlie kann die Stille brechen. So viel ist sicher. Und wenn man sonst noch etwas über ihn sagen will, dann vielleicht, dass er selbstbewusst ist. Dieses Selbstbewusstsein hat er schon, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Es ist ansteckend, zumindest hofft man das. Jeder will etwas davon haben, aber nicht mal ich habe was davon abbekommen. Und ich war immer mit Charlie zusammen. Von Anfang an. Wir glitzerten gemeinsam unter der Eishallenbeleuchtung. Charlie etwas mehr als ich.»

Eine Geschichte über den einen Menschen im Leben, der alles zusammenhält und wieder zusammensetzt, was zerbricht. Eine Geschichte zwischen Kalifornien und der Schweiz, zwischen Silicon Valley und der Modewelt – und von Glitzer in der Dunkelheit.

«Die berührende Geschichte einer Kindheit auf dünnem Eis und der Freundschaft, die daraus gewachsen ist.»Milena Moser, Autorin

«Lea Catrina schafft eine solche Nähe zu ihren Figuren, dass man die letzten Seiten des Buches voller Wehmut umdreht.»Ursina Haller, Journalistin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Mit freundlicher Unterstützung

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

© 2023, Arisverlag

(Ein Unternehmen der Redaktionsbüro.ch GmbH)

Schützenhausstrasse 80

CH-8424 Embrach

www.arisverlag.ch | www.redaktionsbüro.ch

Illustration: © Lynn Grevenitz/Kulturkonsulat GbR

Umschlaggestaltung und Satz: Lynn Grevenitz/Kulturkonsulat GbR www.kulturkonsulat.com

Lektorat: Katrin Sutter und Red Pen Sprachdienstleistungen e.U.

Druck: CPI books GmbH, www.cpibooks.de

ISBN Print: 978-3-907238-24-0

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book: 978-3-907238-25-7

INHALT

Ein royaler Skandal

Anna Banana

Ich träume zu viel

GoldenEye

Keine Orchideen mehr

Drei weise Mädchen

Nur, um zu sehen, wie es ist

Nach Tee und Morgentau

Ein bisschen Magie, nur für uns

Nichts drinnen, außer einem Echo

Human Touch

Der leere Stuhl

XXXX

Für Zelte muss der Boden eben sein

Hinten einmal geknotet

Library

Warum kannst du nicht ehrlich sein?

Außer mein eigenes Leben

Für Silvan

EINROYALERSKANDAL

Charlie kann die Stille brechen. So viel ist sicher. Und wenn man sonst noch etwas über ihn sagen will, dann vielleicht, dass er selbstbewusst ist. Dieses Selbstbewusstsein hat er schon, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Es ist ansteckend, zumindest hofft man das. Jeder will etwas davon haben, aber nicht mal ich habe was davon abbekommen. Und ich war immer mit Charlie zusammen. Von Anfang an. Wir glitzerten gemeinsam unter der Eishallenbeleuchtung. Charlie etwas mehr als ich.

Es war Liebe auf den ersten Blick mit uns. So ist es doch mit Freundschaft. Gibt es da einen Unterschied? Freundschaft ist Liebe. Vielleicht sogar echter als die romantische Version. Einfach nur: Es wäre gut, wenn du mich auch magst.

Die Welt war klein und es gab eine begrenzte Auswahl an Kindern im Dorf, besonders in unserer Nachbarschaft. Charlies Familie wohnte nur ein paar Häuser weiter. Er und ich hatten denselben Schulweg. Das war wichtig. Das war eigentlich unser Glück.

Wohin verschwindet das Licht in der Dunkelheit?

Charlie stellt gerne solche Fragen. Das tut er auch heute, all die Jahre später, und treibt mich damit in den Wahnsinn. Ich kann nicht anders, als nach Antworten zu suchen, ob ich will oder nicht.

Eines muss ich gleich hier schon klarmachen. Zwei Sachen. Zum einen: Ich erzähle diese Geschichte nicht, weil ich muss, sondern weil ich will und weil es Zeit ist. Denn manchmal verpasst man den richtigen Zeitpunkt, eine Geschichte zu erzählen. Und eigentlich denke ich, dass man die ganze Geschichte eines Menschen kennen muss, um ihn zu verstehen. Nicht nur das Ende, nicht nur den Anfang, nicht nur die Mitte, aber ich kann zumindest diesen Teil erzählen. Zum anderen: Es ist nicht nur meine Geschichte, sondern eben auch die von Charlie. Vor allem die von Charlie. Wenigstens haben die Leute sie dazu gemacht. Das meiste, was man sich hier nämlich über ihn erzählt, ist frei erfunden. Wenn also jemand etwas über ihn sagen soll, dann doch wenigstens jemand, der die Wahrheit kennt, der ihn liebt. Irgendwie wusste ich von Anfang an, dass dieser Tag kommen würde. Wieso sonst hätte uns das Leben wieder zusammengebracht?

Ich weiß nicht, wer ihn in einem Film spielen könnte. Darüber denke ich manchmal nach. Kein verbrauchtes, zu oft gesehenes Gesicht. Ein markantes Gesicht mit einladenden Augen. Charlie und ich schätzen lange Intros, auch wenn es längst die Skip-Funktion gibt. Laut Charlie geht es sowieso nur um den Trailer. Der Trailer ist die eigentliche Kunst, der beste Teil eines Films. Aber schneiden kann man ihn, genau wie das Intro, erst am Schluss, wenn die letzte Szene im Kasten ist und all die Szenen, die einzelnen Teile richtig geordnet wurden. Wenn man den roten Faden erkennt, der eine Geschichte zusammenhält.

Charlie vergisst nie, dass er ein Künstler ist, dauernd Flüchtiges erschafft. Eine Begegnung mit ihm sorgt auch heute noch für Gesprächsstoff. Nur anders als früher. Früher drehten sie sich nach uns um, flüsterten und kicherten. Darauf war ich stolz. Die kleinste Bande im Dorf. Nur Charlie und ich.

Willst du ein Mädchen sein?, fragten ihn die Jungs manchmal mit wütenden Gesichtern.

Nein, wieso? Willst du eins sein?, fragte Charlie zurück.

Mittlerweile ist klar, dass er kein Mädchen sein will.

Charlie wollte immer nur Charlie sein.

Über mich gibt es nicht viel zu sagen. Aber jeder interessiert sich für Charlie, wenigstens alle, die ihm einmal begegnet sind. Er hat es schon einmal in die Lokalzeitung geschafft. Lokalzeitungen schreiben immer zuerst über Berühmtheiten, bevor sie richtig groß sind, schreiben jene Storys, die der Wahrheit am nächsten kommen, auf die sich später alle beziehen. Aber in Charlies Fall ist es wichtig, dass zumindest ein paar Leute wissen, was wirklich passiert ist, denke ich nun in dieser letzten Szene. Auch jetzt, hier, schimmert Charlies Cape etwas stärker unter dem Mondlicht als mein Kleid. Er liegt neben mir. Wir liegen am Boden und ich spüre nicht viel, nur eine alles durchdringende Kälte.

Aber zurück zur ersten Szene: Wo soll ich anfangen?

Am besten in San Francisco.

Ich wollte nie hierher, nach Amerika, nicht nach Nordkalifornien. NorCal. Jetzt arbeite ich als Digital Experience Engineer für eine Lifestyle-App. Sagen wir, ich bin Entwicklerin. Vor meinem Bürofenster kleben die Häuser dicht an dicht, stützen sich gegenseitig auf der hügeligen Stadtlandschaft. Es ist Februar, der Regenmonat. Heute soll es trocken bleiben. Die Baumkronen sind grün. Ab und zu bebt die Erde oder nicht. Zu viel wurde schon über diesen Ort gesagt, also werde ich mein Bestes geben, dem nicht allzu viel hinzuzufügen.

Ich sitze in einem Meeting und der Creative Director findet mal wieder die Worte nicht für eine seiner großen Ideen. Meine Gedanken driften ab, simmern draußen über der Straße zwischen der kalifornischen Sonne und dem Asphalt.

Sag mir nicht, was nicht geht, Gonzo. Der CD dreht sich mit dem Rücken zu uns, seine Schultern heben und senken sich. Ihr schafft es, dass ich zutiefst unzufrieden bin mit meinem Leben. Wollt ihr das? Unzufriedene Menschen zerstören Dinge.

Gonzo zieht die Augenbrauen hoch, sagt nichts. Er hat seit drei Tagen nicht geschlafen.

Mein Name ist Rona Kiebler. Die Lifestyle-App, der ich meine Tage widme, heißt BALI. Mit 35 Jahren gehöre ich zu den Ältesten in meinem Team. Ich interessiere mich nicht für Lifestyle. Ich entwerfe, programmiere und implementiere.

Rona, sag du mir, was ich hören will. Ich lehne mich im Stuhl zurück und starre an die Decke. Zu viel Final Fantasy letzte Nacht? Rona? Er schnippt mit den Fingern. Schnippen geht gar nicht.

Der CD ist gut, aber weiß, dass er gut ist, und es gibt absolut nichts, das schmerzhafter mitanzusehen ist als jemand, der über keinerlei Zurückhaltung verfügt. Wie dem auch sei – er würde mich nie entlassen. Ich habe dafür gesorgt, dass er eingestellt wurde. Er schuldet mir was, obwohl nicht mehr allzu viele Leute übrig sind, die das wissen.

She’s out, sagt der Neue. Australier, glaube ich. Er greift nach einem Cookie.

Rona!

Ich setze mich wieder gerade hin, klappe den Laptop ganz auf.

Machbar, sage ich. Aber nicht mit dieser Timeline. Gonzo hat recht.

Fuck!, schreit der CD und haut sein La Croix vom Tisch.

Gonzo ist cool. Er bringt mir Kaffee und vergisst nie den Zucker.

Und da poppt sie auf. Die E-Mail. Dring!

That sound, sagt der Australier, mit vollem Mund. Why.

Es ist die Lampe, die ich gestern bestellt habe. Sie wird heute geliefert, hoffentlich ist jemand zuhause, aber vielleicht schaffe ich es selbst rechtzeitig zurück.

Wieso seid ihr alle so nutzlos, sagt der CD. Bis morgen will ich die Lösung, sonst bleibt ihr lieber gleich in euren Hängematten.

Der Australier macht eine Geste, als wären wir im Militär, und lächelt. Aye.

Bis morgen? Gonzo schaut auf die Uhr. Es ist schon nach fünf.

In dem Moment vibriert mein Handgelenk, mein Telefon klingelt.

Und hier beginnt die Geschichte, mit einem Anruf. Charlies Anruf. Er hätte schreiben können, aber ein Anruf war dramatischer.

So laut, Rona, so laut, sagt nun auch der CD. Der Australier schüttelt den Kopf.

Ich stehe auf und mache mich daran, den Meetingraum zu verlassen.

Echt jetzt? Meine Zeit ist ja nicht so wichtig, höre ich es hinter mir, als die Tür zufällt. Das Handy klingelt immer noch. Muss echt wichtig sein. Charlie ruft nie an.

Ich habe ihn seit einer Weile nicht gesehen. Er lebt in Zürich, arbeitet in St. Gallen, Mailand, Paris und New York. Zu den Kunden des Unternehmens, für das er arbeitet, gehören die Queen, Adel aus Südostasien, aus Dubai und große Namen aus der ganzen Welt. Seine Urlaube verbringt Charlie auf Ibiza oder in Tel Aviv, manchmal auch im Schloss seiner Eltern, aber nur im Sommer. Im Winter ist das Heizen zu teuer. Sein einst geliebtes L.A. kann er seit einem persönlichen Zwischenfall nicht mehr ausstehen. Überhaupt habe ich seit einer Weile niemanden mehr gesehen aus meinem früheren Leben. Vielleicht sollte ich es genauer sagen: Ich entscheide, wen ich wann sehe. Das ist das Gute am Wegsein. Weit weg von zuhause, der Heimat. Am Leben auf einem anderen Kontinent.

Charlie, alles okay?

Ich bin hier, sagt er leise.

Hier. Wo ist hier?

Hier, nun etwas lauter. Hier ist hier. Hörst du mich, Jet?

Ja, ich höre dich. Bin nur nicht sicher, ob ich dich verstehe.

Ich bin hier. In San Francisco.

In San Francisco?

Na ja, nicht in San Francisco. Ich bin am Flughafen. Im Flughafen. Im Flughafenhotel. Das war eine schlechte Idee. Kannst du hierherkommen? Vielleicht geh ich auch gleich wieder. Was tue ich hier eigentlich. Vergiss, dass ich angerufen habe. Zimmer 939.

›‹

Flughafenhotels haben ihren eigenen Charme. Keiner will da sein. Sie sind überteuert, laut, schlecht gelaunt und maximal praktisch eingerichtet. So praktisch, dass die Rezeptionistin mich direkt darauf hinweist, dass ich bereits erwartet werde.

Ach ja?, sage ich ein wenig erstaunt. Sie weist mich auch darauf hin, dass der Zimmerpreis für zwei Gäste ein anderer ist als für Alleinreisende und fragt, ob sie mich dazubuchen soll. Ich sage ihr, dass ich mich noch melden werde. Thank you so much.

Einer der vier Aufzüge öffnet sich und die gewissenhafte Mitarbeiterin hält ihre Keycard ans Lesegerät, damit ich in den neunten Stock hochfahren kann. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass ich mir Charlie herbeiwünschen kann, wenn ich nur fest genug an ihn denke. Immer dann, wenn ich es kaum aushalte, nicht zu wissen, wie es ihm geht, was er gerade tut oder was er sich gerade fragt.

Charlie kommt nicht nach San Francisco. Er versteht den Hype um die Stadt nicht, wie er sagt, und es ist ihm zu kalt. Zu verständnisvoll und optimistisch. Die ganze Westküste.

Ich hasse Überraschungen. Außerdem habe ich keine Zeit für das hier. Gonzo hört nicht auf, mir Nachrichten voller Fragen zu schreiben und der CD schickt alle zehn Minuten das Bomben-Emoji.

Was, wenn Charlie gar nicht da ist? Nein, das würde er nicht tun.

Schon stehe ich vor dem Hotelzimmer und klopfe. Charlie? Ich klopfe noch einmal. Ich klopfe weiter, bis mir die Hand wehtut.

Ich bin nicht da, höre ich ihn endlich. Er klingt, als hätte er ein Kissen vor dem Gesicht.

Wie ich sehe, gab’s Pancakes und Champagner zum Mittagessen. Das halbleere Tablett steht neben mir auf dem Boden. Charlie hat den Ahornsirup nicht angerührt.

Weißt du eigentlich, dass es mehr als ein Flughafenhotel gibt?

Ich höre ein Rascheln, etwas bewegt sich da drinnen. Nicht so, als wäre Charlie aufgestanden, um die Tür zu öffnen, eher als hätte er sich laut im Bett gedreht und sich die Decke noch weiter über den Kopf gezogen. Etwas ist auf den Boden gefallen. Vielleicht ist jemand bei ihm.

Hast du Besuch? Will ja nicht stören.

Jetzt höre ich Schritte. Eilige Schritte. Die Tür öffnet sich, nur einen Spalt. Ich sehe einen Streifen von Charlies Gesicht. Eines seiner Augen. Seine Augen haben funkelnde Flecken, sehen aus, als wäre darin etwas zersprungen. Als hätte er etwas gesehen, das Teile von ihm zerbrochen hat. Normalerweise, wenn etwas zerbricht, ist da ein Knall, irgendeine Art von Krach. Aber wenn etwas im Laufe der Zeit zerbricht und nicht auf einen Schlag, ist es schwieriger, es zu hören. Charlie war zu weit weg.

Ich bin kein Gigolo, Jet, sagt er empört. Denkst du wirklich, ich würde ein Date mit in diese Absteige bringen?

Warum Charlie mich Jet nennt, ist eine andere Geschichte. Dazu nur so viel: Es hat nichts mit einem Flugzeug zu tun.

Kann ich jetzt rein?

Wenn du musst.

Charlie sieht müde aus. Er hat geweint, sich die Wangenknochen rotgerieben. Keine Ahnung, wie lange er schon hier ist. Die Vorhänge sind zugezogen. Ich öffne sie, um die Abendsonne reinzulassen. Man hat einen guten Blick auf den Highway, die Überführung. Die Straßen bilden einen losen Knoten.

Du isst Pancakes. Ist wohl eine ernste Sache, sage ich. Er trägt den Bademantel aus dem Hotel. Ich kann kaum glauben, dass du hier bist.

Ich auch nicht, sagt er, und lässt sich aufs Bett fallen. Ich setze mich neben ihn. Was hast du mit deinen Haaren gemacht? Er steht wieder auf und holt einen Hut aus seinem Koffer. Wieso hast du sie nicht einfach blau gefärbt, wie alle anderen Superheldinnen? Bitte, zieh dir das drüber. Dann geht er zum Fenster, kaut auf seinen Fingernägeln. Fährt sich durch die Haare. Das Etikett an seinem Koffer verrät, dass er von New York angereist ist.

Wieso bist du hier, Charlie? Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du kommst?

Charlie ist für mich die einzige Person mit spannenden Geschichten. Verrückten Geschichten. Er dreht das Leben lauter. Nur gerade ist er erstaunlich still. Nicht ruhig. Er geht im Zimmer hin und her, tritt auf seine Klamotten, die am Boden verteilt liegen.

Spielt es denn eine Rolle, warum ich hier bin? Übrigens hab ich das süßeste Wesen im Flugzeug getroffen. Hohe Stirn, dunkles Haar, du weißt, wie sehr ich darauf stehe. Was würdest du sagen: Ist der Fuß auch noch Bein? Er setzt sich wieder aufs Bett, greift nach einem seiner Füße. Ich bin mir nicht sicher.

Ich habe dich vermisst, sage ich.

Ich weiß es einfach nicht.

Er hat etwas genommen, das ist offensichtlich. Koks wahrscheinlich. Er meint, es gibt dem Chaos einen Sinn.

Können wir aufhören zu sprechen? Er steht wieder auf. Und kannst du bitte den anderen Bademantel anziehen? Charlie eilt zum Schrank und holt ihn raus. Ich brauche das jetzt.

Nachdem ich Charlie mit ein paar THC-Gummibärchen beruhigt habe, und er nach fast zwei Stunden endlich in einen Halbschlaf gefallen ist, kann ich meine Nachrichten checken. Gonzo schickt nur noch Ausrufezeichen, draußen ist es jetzt dunkel. Die Lichter der Autos rasen über die Schlaglöcher unter uns.

Ich erkläre Charlie, solange er noch nicht ganz weg ist, dass ich kurz nach Hause fahre, aber gleich wieder zurückkomme. Ich nehme seine Zimmerkarte aus dem Schlitz bei der Tür und stecke meine Clipper-Card rein, damit Charlie nicht der Strom ausgeht.

Rühr dich nicht von der Stelle, sage ich noch einmal.

Die Dame an der Rezeption lächelt, als ich auf sie zugehe, hebt das Kinn, die Augenbrauen. Sie passt perfekt in dieses anonyme Vier-Sterne-Hotel.

Könnten Sie mich bitte dazubuchen? Nur für eine Nacht.

Sehr gerne. Geht das auf die gleiche Kreditkarte?

Thank you so much.

Sie gibt mir eine zweite Schlüsselkarte und ich denke kurz darüber nach, die andere wieder hochzubringen. Aber Charlie schläft, das kann warten.

›‹

Die Lampe steht vor dem Haus in Redwood City. Ich öffne die Tür und der Geruch von chinesischem Essen quillt mir entgegen. Orange Chicken. Chow Mein.

Hosen zu, wer auch immer da ist!, rufe ich rein. Ich lebe mit drei Typen zusammen. Wir hatten mal noch eine andere Frau, die hat aber geheiratet und ist mit ihrem Mann nach Arizona gezogen.

Die Jungs sitzen in ihren Stühlen, klicken rum, rufen einander Sachen zu. Einer sieht sich einen Stream auf Twitch an, eine Tür schließt sich. Gonzo kommt aus der Küche und gibt mir einen seiner Was-zur-Hölle-Blicke.

Antworte auf deine Nachrichten, Rona, verdammt, sagt er. Den Ärger brauche ich nicht.

Ich weiß, sage ich. Aber ich kann mich jetzt gerade nicht darum kümmern.

No shit, sagt Gonzo. Er folgt mir in mein Zimmer, hilft mir mit dem Fuß der Lampe. Was ist an der so besonders?, fragt er. Wir stellen die Lampe in die Ecke. Die Timeline, ich kann die nicht einfach erfinden, spricht Gonzo weiter.

Ist eine iGuzzini, sage ich. Und doch, kannst du.

Wie bitte?

Ich packe ein paar Sachen ein, während Gonzo weiter auf mich einredet, fragt, wo ich hinwill, und sich wundert, dass ich meine LED-Gesichtsmaske einpacke. Er kennt Charlie nicht. Ich versichere ihm, dass ich mich vom Hotel aus melde.

Hotel?, fragt er.

Ich bin morgen zurück. Wir sehen uns im Office.

Der Uber-Fahrer ist einer von der ruhigen Sorte. Er hat zwei Handys auf der Mittelkonsole installiert. Auf einem laufen Musikvideos, von hinten kaum hörbar. Zwischendurch summt er mit, trommelt auf dem Lenkrad. Ich mag den 101 nicht, der 280er ist mir lieber. Keine Lastwagen, weniger Chaos, außerdem führt er durch die Hügel, vorbei am Crystal Springs Reservoir und dem verrückten Flintstone House. Aber über den 101 ist man schneller, sagt auch die App des Fahrers. Wir haben ein Auto, die Jungs und ich. Aber ich fahre nicht gerne selbst. Nur manchmal, zum Einkaufen.

Ich schaue aus dem Fenster, der Caltrain rattert durch die Nacht an uns vorbei, hupt bei jedem Bahnübergang. Warum ist Charlie hier?

›‹

Ich öffne die Hotelzimmertür und höre nur die Klimaanlage. Er hat keine Suite gebucht, was seltsam ist. Charlie war sich seiner Privilegien schon immer bewusst, hat sich nie für sie geschämt. Das macht es einfacher.

Vorsichtig nähere ich mich dem Bett, um ihn nicht aufzuwecken. Das automatische Licht unter dem Bett geht an. Aber nichts rührt sich. Ich trete noch näher, taste nach der Decke. Sie fällt in sich zusammen. Charlie ist nicht da.

Jedenfalls nicht mehr da, wo ich ihn zurückgelassen habe.

Ich mache das Licht an. Charlie? Auch im Badezimmer sehe ich nach.

Ich will gerade zurück zum Bett, meinem Handy, da springt der Schrank vor mir auf – Überraschung!, ruft Charlie, immer noch im Bademantel.

Was ist los mit dir!, schreie ich zurück, nachdem ich mich wieder gefangen habe.

Frag nicht.

Wie lange warst du da drin?

Das war’s wert, sagt er. Hab deine Schuhe schon gehört, als du noch im Aufzug warst. Die tun übrigens gar nichts für dich. Ich wusste, dass du wieder kommst.

Ich gehe rüber zum Bett und beginne mich auszuziehen.

Was hast du vor?, fragt er.

Dann schlüpfe ich in meine bequemsten Sachen, schnappe mir meinen Laptop und setze mich auf die freie Seite des Bettes.

Ich muss arbeiten. Du solltest schlafen.

Jetzt? Können wir nicht reden?

Wenn du nicht vorhast, mir zu sagen, warum du hier bist, dann nein, können wir nicht.

Charlie denkt nach.

Weißt du noch, wie du dich am letzten Tag deiner Kindheit gefühlt hast?

Der CD lädt in einer E-Mail zu einem «Motivational Meeting».

Ich habe Anna gesehen. Unsere Anna.

ANNABANANA

Wir sind es gewohnt, zu fallen. Wieder und wieder. Und wir waren es gewohnt, dass die Leute uns fallen sehen. Wir waren es gewohnt, anderen beim Fallen zuzusehen. Wieder und wieder. Anna hat uns das Fallen gelehrt.

Sie kam nicht so sehr in unser Leben wie wir in ihres. Anna war damals schon seit einem Jahr oder so Trainerin des Eislaufklubs, als wir uns für eine Probelektion anmeldeten. Na ja, unsere Mütter haben uns angemeldet.

Charlie und ich verliebten uns beide sofort, in die Kostüme, die Musik, die Herausforderung und in Anna. Sie gab uns das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Gesehen und verstanden. Das ist keine kleine Angelegenheit, wenn man vier Jahre alt ist. Es war auf dem Eis, wo Charlie und ich begannen, an Magie zu glauben. Wer einmal Schönheit gesehen hat, ist für immer verdorben.

Das Eis war unsere Welt und wir hatten nie vor, sie zu verlassen. Denn hier waren wir nicht Weirdo und Streberin wie später auf dem Schulhof, nein, hier wuchsen wir zu Athleten heran, zu Tänzern, die wie Haie unaufhaltsam vor sich hinglitten, sobald wir den Dreh raushatten. Charlie etwas schneller als ich.

Wir waren Einzelläufer. Lange bevor Vierfachsprünge zum Standard und Eiskunstlauf zu einer Rechenaufgabe wurde. Charlie war nicht nur im Klub der einzige Junge, sondern oft auch bei Wettkämpfen. Er musste in seiner eigenen Kategorie gegen sich selbst antreten, was er in gewisser Weise auch heute noch tut.

Ich verstehe nicht. Anna? Wo?, frage ich.

In New York. Sie saß mir gegenüber, auf der anderen Seite des Laufstegs. Wie ein Geist saß sie da. Einfach so.

Charlie setzt sich neben mich, erzählt mir, dass einer der Kunden, für den das Atelier arbeitet, bei dem er angestellt ist, ihn zusammen mit dem Chefdesigner zu seiner Show bei der New Yorker Fashion Week eingeladen hat. Alles, was ich über Mode weiß, weiß ich von Charlie. Er meint, so ein Platz in einer Show sei eine große Sache, selbst in den hinteren Reihen bei den B- und C-Celebrities, wo Charlie saß, aber nicht hingehörte. Alle hatten sich endlich hingesetzt, die Show konnte beginnen. Die ersten Beats. Die Lichter. Da sah er sie. Er erkannte sie sofort. Anna saß in der ersten Reihe. Nicht die Vogue-Lady, aber natürlich denkt man als Erstes an die. Nein, unsere Anna.

Ich mein, wie stehen die Chancen dafür?, sagt Charlie. Null! Unter Null! Das ist, als würde ich bei Brad Pitts Geburtstagsparty aus der Torte springen. Einer Torte, die ich selbst gebacken habe. Er reibt sich die Augen, viel zu fest. Er konnte nicht aufhören, sie anzustarren, sagt Charlie, hat die ganze Show verpasst, sogar seine Sonnenbrille abgenommen. Nichts an dieser Situation machte Sinn.

Ja, nichts an dieser Situation macht Sinn, denke ich jetzt ebenfalls.

Anna lebt nicht mehr. Schon lange nicht mehr.

Sie ist gestorben, als wir zwölf Jahre alt waren. Es gab keinen offenen Sarg bei der Beerdigung. Aber ich bin mir trotzdem sicher, dass sie tot ist. Sie ist nicht mehr zum Training erschienen und schon zwei Wochen später hatte jemand anderes ihren Platz in der Eishalle eingenommen. Und um es gleich klarzustellen: Charlie und ich haben sie nicht umgebracht. Das hier ist keine Geschichte über den Tod.

Charlie ist Stoffdesigner. Das habe ich noch nicht erwähnt, weil er für mich Charlie ist, seit ich ihn kenne, und bevor er irgendetwas wurde. Und bevor er irgendetwas wurde, war er Eiskunstläufer und Anna unsere erste Trainerin. Bis ins späte Teenageralter waren wir betrunken vom Glitzer. Ich wurde irgendwann nüchtern, Charlie stürzte sich in die Modewelt.

Die Models zogen an Charlie vorbei wie Fußgänger an der Bahnhofstraße. Er konnte schlicht nicht glauben, was er zwischen ihnen sah. Anna war keine Modeliebhaberin. Sie war mehr der Moonboots-und-Hauptsache-warm-Typ. Nur manchmal, für spezielle Anlässe, trug sie einen blauen Pelzmantel, für Wettkämpfe, ansonsten zog sie sich praktisch an. Wenigstens in unserer Erinnerung. Oh, pinkfarbener Lippenstift. Ein schönes Pink, stark, Cardinal Pink, sagt Charlie. Ganze dreiundzwanzig Jahre hatte er sie nicht mehr gesehen.

Wie sah sie aus?, Ich stelle weiter Fragen, um ihn zu beruhigen.

Genau wie damals, bricht es aus ihm raus. Nur kleiner, irgendwie.

Ich weiß nicht, was Anna in unser Schweizer Bergdorf verschlagen hat. Sie war Ungarin. Es gibt einige Klischees über Eiskunstlauf. Manche davon sind wahr, wie zum Beispiel die enge Trainer-Läufer-Beziehung. Vertrauen und gegenseitiges Verständnis sind essenziell. Viel davon. Wenn wir auf dem Eis waren, hatten unsere Eltern nichts mehr zu melden. Sie durften uns anfeuern, leise, sie durften uns zur Eishalle fahren, pünktlich, die Klubbeiträge, Einzellektionen, Wettkampfgebühren, Krafttrainings- und Ballettstunden bezahlen. Die neuen Schlittschuhe, Eisen und Outfits. Die Trainingscamps in Tschechien oder im Sommer in der Schweiz. Sie durften dabei sein, wenn Anna es erlaubte. Sie war unser Nordstern.

Mein Handy klingelt. Gonzo.

Wie dem auch sei – Charlie hat sie also gesehen. Sie ihn natürlich nicht. Jedenfalls nicht während der Show, wie er sagt. Aber als die Show vorbei war, sprang er auf und kämpfte sich zu ihr rüber. Er musste sich beeilen, denn die Zuschauer bewegten sich in alle Richtungen. Er hätte sie leicht verlieren können. Nicht noch einmal.

Plötzlich stand er vor ihr. Ihre Blicke trafen sich, endlich, und Anna sagte nichts. Und dann sagte sie nur Oh, Charlie. Zumindest meint er sich daran zu erinnern.

Gonzo schickt mir eine Nachricht nach der anderen. Ich schreibe ihm, dass ich mich gleich bei ihm melde. Dass ich bereits an der Timeline und dem Budget arbeite und sie ihm in den nächsten Stunden schicke. Aus seiner Stille kann ich lesen, dass er mir nicht glaubt, aber er gibt sich vorerst zufrieden.

Es ist schwer zu erklären, was die Begegnung mit Anna bedeutet. Charlie konnte nicht aufhören zu weinen, sagt er, steht auf, geht zum Fenster. Er sei praktisch zusammengebrochen. Vor all den Menschen, die er so sehr bewundert. Er weiß nicht, wieso. Es ist halt passiert. Charlie weint nicht. In all den Jahren habe ich ihn nur ein einziges Mal weinen sehen, auf dem Nachhauseweg von der Schule, nachdem ihm ein Auto über den Fuß gefahren war und ihm zwei Knochen gebrochen hatte. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie das aussieht, wenn er weint, entsprechend fällt es mir schwer, ihm zu glauben. Andererseits: Charlie lügt nie. Lügen ist wie ein Muskel, den er nie trainiert hat, und irgendwann ist es dafür zu spät, nehme ich an. Er sagt lieber nichts als etwas Unwahres. Denn wenn man einmal mit dem Lügen anfängt, kann man nicht mehr damit aufhören.

Anstatt Backstage, wo Charlie erwartet wurde, suchte er weiter nach Anna, zuerst drinnen, dann draußen vor dem Zelt. Ich sehe ihn an und spüre, dass er auch jetzt noch denkt, dass sie wirklich da war.

Was wolltest du ihr sagen?

Oh, alles, sagt er und schaut ins Leere. Einfach alles, könnte man sagen. Und nichts, wenn ich so darüber nachdenke. Was gibt es da schon zu sagen?

Ja, auch mir fiel dazu nicht wirklich etwas ein.

Vielleicht Danke? Und: Wieso? Du warst so wichtig für mich, du hast keine Ahnung. Und: Ich habe dich auch vermisst. Was mir erst in jenem Moment bewusst wurde. Hast du Hunger? Jetzt steht er auf. Ich könnte ein Pferd verschlingen … Lass uns Cheeseburger bestellen. Charlie greift zum Telefon und drückt auf die Zimmerservice-Schnellwahltaste.

Er sagt, Anna verschwand in den Straßen New Yorks. Charlie stand noch eine Weile da und meinte Annas Parfum zu riechen. Es hing in der kalten Luft, die ihn umgab.

Davon hab ich früher immer Kopfschmerzen bekommen, weißt du noch? Charlie ist auf so viele Dinge allergisch. Erdbeeren, Kiwis, Ananas, Bienen, Styropor und Polyester, behauptet er. Außerdem hat er Heuschnupfen. Ich bin zurück ins Hotel gelaufen, hab meine Koffer gepackt und einen Flug hierher gebucht. Ich musste dich sehen. Du bist die Einzige, die das alles versteht.

Ich verstehe, sage ich und meine es zumindest teilweise.

Es gibt Momente, die alles verändern. Begegnungen, die alles verändern. Seit er Anna so unverhofft wiedergesehen hat, ist alles anders, sagt Charlie und sucht nach Cash für den Zimmerservice. Legt die Noten auf dem runden Salontisch bereit und setzt sich auf den Sessel daneben.

Was willst du jetzt machen?

Was denkst du denn? Hast du mir eben nicht zugehört? Nichts will ich machen. Das alles war schräg genug.

Ich merke, dass er wieder unruhig wird. Fahrig.

Wer kam eigentlich nach Anna?, frage ich. War das nicht dieses italienische Paar?

Herr und Frau Italiener, lacht Charlie. Nein, stimmt nicht. Nach Anna kam zuerst die Französin. Madame.

Die Französin hatte eine violette Brille und eine grau-blonde Dauerwelle. Sie trug dazu meist einen rosa Daunenmantel und nie ein Lächeln. Eines Tages rammte ich meine Eisen vor lauer Wut ins Eis. Danach weigerte sie sich, mich weiter zu trainieren.

Dann kamen die Italiener. Charlie erinnert sich besser an die als ich.

Lass uns eine Liste machen, sage ich und greife nach dem Hotelbriefpapier.

Charlie sagt, das italienische Paar habe uns immer Süßigkeiten gegeben. Kann sein. Sie hätten sich außerdem nie vor uns gestritten. Sie waren beide ein wenig mollig und fuhren ein kleines grünes Auto.

Danach hatten wir eine mit abrasierten Haaren. Fast abrasiert jedenfalls. Das, was übrig war, hatte sie wasserstoffblond gefärbt. Sie trug nie eine Mütze, dafür eine Bomberjacke und sprach sehr leise, brüllte nicht übers Eis, wir mussten immer zu ihr fahren. Ihre Tochter war ebenfalls Eiskunstläuferin.

Ich nehme den Wagen vom Zimmerservice an der Tür entgegen, übergebe das Trinkgeld und mache einen angestrengten Witz. Ich höre, wie Charlie sich wieder aufs Bett fallen lässt.

Die Choreografin, die zudem unsere Ballettlehrerin war, hatte einen starken Akzent, aber ich weiß nicht mehr, woher sie kam. Charlie meint Kanada. Sie war großartig. Wir hatten immer Spaß mit ihr, durften spielen, kreativ sein. Wenn sie mit ihrer Box voller Kassetten und CDs ankam und es darum ging, die Musik für eine neue Kür oder ein Kurzprogramm auszusuchen – das war besser als Weihnachten.

Den Rumänen werde ich nie vergessen. Er war groß, athletisch und fast so laut wie Charlie. Er trug einen Jogginganzug, hatte schwarze Schlittschuhe, wie die meisten männlichen Läufer, und Sinn für Humor. Sofern man nicht hinfiel. Keine Crashpants, sagt Charlie. Ja, die durfte man beim Rumänen nicht tragen, auch nicht, wenn man einen neuen Sprung übte und der Hintern vom vielen Fallen immer blauer wurde. Keine Hilfsmittel. Er haute uns auf die Waden, wenn sie kalt waren, und brachte uns bei, dass das Blut zurück in die Fingerspitzen fließt, wenn man in einer schnellen Pirouette die Arme ausstreckt. Der Rumäne war teuer. Und ein bisschen berühmt. Er konnte den Rückwärtssalto auf dem Eis, wie Surya Bonaly.

Wenigstens haute er uns nur auf die Waden und die Finger. Während des Sommercamps, wenn Läufer aus der ganzen Welt, auch aus Rumänien, zu uns in den Ort kamen, gab es richtige Ohrfeigen, wann immer jemand von ihnen einen Fehler machte. Oder eine der Läuferinnen aus dem Osten zu früh vom Eis wollte. Keiner blinzelte. Auch wir nicht. Wir waren sicher. Es war die Schmerzen bestimmt wert, sagten wir zueinander, sonst würden sie nicht weitermachen. Manche von uns beneideten die Rumänen insgeheim dafür, dass sie härter behandelt wurden. Sie konnten es ertragen, wir nicht.

Aber Anna war die Erste.

So sitzen wir hier nun also, fertig mit unseren Cheeseburgern und der Liste, schockiert über unsere Gefühle für die Vergangenheit und für das, was wir einst waren. Ich wische mir mit der Stoffserviette den Mund ab.

Ich verstehe ja, dass dich diese Begegnung aus dem Konzept gebracht hat, sage ich. Trotzdem find ich’s krass, dass du extra hierhergeflogen bist.

Jet, Rona, Liebes. Charlie nimmt meine Hände. Das ist nicht, was man tut, wenn etwas richtig Gutes oder Schlimmes passiert. Weder noch. Das ist eher, was man tut, wenn man nach einem Zeichen sucht und es in New York City, in Form der ersten Eiskunstlauftrainerin in der vordersten Reihe einer Fashionshow auftaucht.

Ein Zeichen wofür?

Ist das nicht offensichtlich? Dass ich zu dir kommen soll. Dass ich dich sehen muss – was ich ehrlich gesagt mit jeder weiteren Minute, die ich hier in deiner wenig begeisterten Gesellschaft verbringe, mehr bezweifle.

Ich glaube nicht an Zeichen. Ich glaube an Fakten und vielleicht an Zufälle, ja. Ich glaube an Warnungen. Und ich glaube definitiv an Konsequenzen.

Das hat mich das Leben noch mehr lieben lassen, weißt du, sagt er und steht auf. Das war so intensiv, so verwirrend. Er geht im Zimmer auf und ab und fuchtelt mit den Händen. Das war wie der stärkste Schmerz, den ich je empfunden habe. Meine Benzo war wie weggeblasen. Ich will schlafen, sollte arbeiten. Aber Charlie lässt weder das eine noch das andere zu. Als gäbe es da tatsächlich etwas zu gewinnen am Ende dieser Raserei. Er kaut auf seinen Fingernägeln rum.