WalkAway - Jugendliche auf dem Weg zu sich selbst - Peter Maier - E-Book

WalkAway - Jugendliche auf dem Weg zu sich selbst E-Book

Peter Maier

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Wie können Jugendliche heute erwachsen werden? Wer kann ihnen dabei helfen? Und was bedeutet es in unserer modernen Gesellschaft überhaupt, erwachsen zu sein? Die indigenen Völker wussten über diese fundamental wichtigen Fragen Bescheid und führten für ihrer Heranwachsenden rechtzeitig geeignete Initiationsrituale in der Natur durch, in denen die Jugendlichen bereits ansatzweise erleben konnten, was das Erwachsensein bedeutet. Auch unsere Jugendlichen heute brauchen solche Zeremonien, durch die sie die Kindheit verlassen und in die neue Lebensphase des Erwachsenen eintreten können. Für diesen Übergang hat sich das naturpädagogische Ritual des "WalkAway" hervorragend bewährt, durch das Jugendliche entscheidende Impulse zu mehr Selbstvertrauen, Selbständigkeit und Selbstverantwortung auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden bekommen können. WalkAway bedeutet: Gehe deinen Weg hinaus in die Natur, konfrontiere dich mit dir selbst und finde heraus, wer du bist und was du tun willst! 24 Stunden allein im Wald – ohne Essen, ohne Zelt und ohne Smartphone – sind eine wirkliche Herausforderung für heutige 14- bis 18-jährige Jugendliche und lösen in der Regel wesentliche Grundfragen unseres Menschseins an der Schwelle zur Volljährigkeit aus: Wer bin ich? Woher komme ich? Was soll ich tun? Welche Stärken und Schwächen habe ich? Wie kann ich der Gemeinschaft dienen? Welchen Beruf soll ich einmal ergreifen? Das Buch macht deutlich, welche bisweilen gefährlichen Folgen das Fehlen geeigneter Übergangsrituale in unserer heutigen Gesellschaft hat. Dagegen kann der WalkAway wichtige und wertvolle Anstöße zur Persönlichkeitsentwicklung und zum Erwachsenwerden geben. Dies zeigen auch die ergreifenden Erfahrungsberichte von zehn Jungen und Mädchen, die sich mutig dieser Zeremonie des WalkAway gestellt haben.

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WalkAway

Jugendliche auf dem Weg zu sich selbst

Peter Maier

Fachbuch

Die in diesem Buch beschriebenen naturpädagogischen Rituale der Jugend-Visionssuche und des WalkAway können bei Jugendlichen intensive Emotionen und Bewusstseinszustände auslösen. Daher sollten diese Rituale nicht ohne eine fachkundige Begleitung durch ausgebildete Visionssuche-Leiter durchgeführt werden. 

Die Hinweise und Empfehlungen in diesem Buch beruhen auf persönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen des Autors. Die Lektüre des Buches kann und soll eigenverantwortlich eingeholte Informationen zur Thematik der Initiation und zu den beschriebenen Naturritual nicht ersetzen, sondern diese vielmehr ergänzen. Jegliche Haftung für Gesundheitsschäden ist ausgeschlossen.

Danksagung

Mein Dank gilt vor allem meiner „Compagna“ Valeria Groten, die mich zu diesem Buch bestärkt hat, mir bei seiner Entstehung mit ihrem Rat vielfältig beigestanden ist, sowie Lektorat und Korrektorat übernommen hat. 

Danksagen möchte ich den Jugendlichen für ihre ergreifenden WalkAway-Geschichten. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden ihre Namen jedoch alle geändert.

Bedanken möchte ich mich auch bei Dr. Matthias Feldbaum für das Layout.

Vorwort

Die Corona-Pandemie brachte 2020 das gesellschaftliche Leben fast vollkommen zum Erliegen. Um die besonders gefährdete ältere Generation vor schlimmer Krankheit und Tod zu beschützen, gab es den Lockdown. Davon waren auch die Schulen betroffen. Bis endlich genügend Impfstoffe auf dem Markt waren, hatten Lehrer und Schüler 2020 und 2021 immer wieder längere Phasen des isolierenden Homeschooling zu überstehen und später den Präsenzunterricht mit Masken und täglichen Corona-Tests zu bewältigen.

Da Kindergärten und Schulen als starke Ansteckungsherde gelten, waren diese Maßnahmen wohl unvermeidlich, um die Zahl der Pandemie-Toten gerade bei den älteren Menschen – bei den Omas und Opas vieler Kindergarten- und Schulkinder – möglichst gering zu halten. Der Schaden, der den Schülern aufgrund dadurch verursachter großer fachlicher Lücken erwachsen ist, wird jedoch erst jetzt so richtig sichtbar: bei den Abschlussprüfungen in den Realschulen und beim Abitur an den Gymnasien und Fachoberschulen. Die negativen Folgen, die Kinder und Jugendliche durch den monatelangen Ausfall des Präsenzunterrichts im psychosozialen Bereich davongetragen haben, erscheint mir aber noch viel gravierender. Dies wurde zu Beginn des Jahres 2023 auch durch wissenschaftliche Untersuchungen untermauert.

Bei einer Umfrage der Robert Bosch Stiftung unter mehr als 1000 Schulleitern wurde festgestellt, dass durchschnittlich 35 Prozent der Schülerinnen und Schüler deutliche Lernrückstände haben. Mehr als die Hälfte der Schulleitungen gaben an, dass an ihren Schulen der Bedarf an psychosozialer Versorgung in der Post-Corona-Phase bei weitem nicht gedeckt werden kann, weil dazu sowohl das Personal als auch die finanziellen Ressourcen fehlen.{1}

In einem Paper der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) zum Umgang mit dem akuten Lehrermangel Anfang 2023 konnte man ebenfalls einen deutlichen Hinweis zur momentanen Situation der Jugendlichen bekommen. Wenn überall pädagogische Fachkräfte fehlen, wirkt sich dies gleichermaßen belastend für die Lehrkräfte und die Schüler aus – sowohl in der Vermittlung von Unterrichtsinhalten als auch in der emotionalen Begleitung der Jugendlichen.{2}

Fazit: Die Corona-Pandemie hat bei vielen Kindern und Jugendlichen neben den fachlich-schulischen Problemen zu großen Schwierigkeiten und Blockaden in ihrer Persönlichkeitsentwicklung geführt. Denn sie konnten ihre natürlichen Bedürfnisse nach Freizeitaktivitäten wie Sport und Kontakten mit Gleichaltrigen überhaupt nicht ausleben. Nicht wenige sind in Isolation und Depression gerutscht, weil sie in dieser wichtigen Lebensphase ihrer Pubertät zu Hause bleiben mussten und von ihrem Freundeskreis abgeschnitten waren.

Wie aber soll dann die Pubertät durchlebt und bewältigt werden, die doch so viel mit Kontakten zu Gleichaltrigen und mit dem anderen Geschlecht zu tun hat? Damit hat sich eine fundamentale Frage durch die Pandemie noch sehr verschärft, die jedoch schon vorher klärungsbedürftig war und um die es mir in diesem Buch geht: Wie können sich heute Jugendliche in ihrer Persönlichkeit gut entwickeln, wie können sie mehr Selbständigkeit erlangen, wie können sie erwachsen werden?

Eine positive Antwort auf diese Frage ist im Übergangsritual des WalkAway zu finden. Denn es kann den Jugendlichen dabei helfen, ihren Weg ins Erwachsenwerden zu finden, ihnen dazu wichtige Anstöße und Impulse zu geben und so die durch die Pandemie verursachten Blockaden in der Persönlichkeitsentwicklung merklich zu vermindern oder sogar ganz zu überwinden. Da ich jahrelang dieses naturpädagogische Ritual des WalkAway selbst durchgeführt und geleitet habe, konnte ich die positive Wirkung dieses Seminars auf die Jugendlichen vielfach selbst erleben. Und der Bedarf für solch ein Übergangsritual hat sich durch die Corona-Pandemie sogar noch einmal verstärkt.

Daher hoffe ich, dass ich mit meiner Idee vom WalkAway viele Kolleginnen und Kollegen in den Schulen, Sozialpädagogen, Verantwortliche der Lehrplankommissionen, Bildungspolitiker, sowie Jugendliche in der Pubertät und deren Eltern erreichen kann. Doch es war ein langer Weg für mich selbst, um überhaupt auf die Thematik der Initiation im Allgemeinen und auf dieses Übergangsritual des WalkAway im Besonderen zu stoßen und es für meine pädagogische Arbeit nutzbar zu machen…

Kühbach im Sommer 2023

Peter Maier

Kapitel 1: Persönlicher Zugang zum Thema Initiation

Aus heutiger Sicht betrachtet, gab es drei Erfahrungen in meinem Leben, die mich zu der Thematik „Persönlichkeitsentwicklung – Initiation – Erwachsenwerden – Initiationsrituale“ hinführten. Doch dies dauerte bis zu meinem 45. Lebensjahr, als ich bereits 18 Jahre lang meinen Beruf als Gymnasiallehrer ausgeübt hatte. Für mich persönlich wurde es zu „dem“ Lebens- und Berufsthema, dessen Anfänge jedoch schon viel früher zu suchen sind. 

(1) Unverständlicher Geschwindigkeitsrausch

Ich stamme aus einer ostbayerischen 800-Seelen-Gemeinde. Da ich als einziger meiner Klasse aufs Gymnasium ging, das 31 Kilometer entfernt lag, verlor ich ab dem 11. Lebensjahr den direkten Kontakt zu meinen Kameraden aus der Volksschulzeit und wurde eher zu einem Beobachter der Geschehnisse, die sich in meinem Dorf ereigneten. Und da fiel vor allem ein bestimmtes Verhalten auf. Denn kaum waren die Jungs 18 geworden, wurden sie von einem unerklärlichen Wahnsinn ergriffen: von einem bis dahin unsichtbaren Geschwindigkeits-Rausch. Fast jeder von ihnen, die alle eine Lehre machten und so schon früh ihr eigenes Geld verdienten, hatte mit 18 seinen Führerschein. Ein eigenes (meist gebrauchtes) Auto oder ein Motorrad stand bereits vor der Tür und dann ging es los.

Ein Schulfreund, der sich mit 500 DM einen alten VW-Käfer gekauft hatte, holte genau an seinem 18. Geburtstag den Führerschein vom nahen Landratsamt ab, bestieg anschließend sein Auto und lud voller Stolz noch drei Mädchen zu einer ersten Spritztour ein. Er kam nur vier Kilometer weit. Denn er fuhr zu schnell in eine Kurve, das Auto überschlug sich drei Mal. Alle kamen mit dem Schrecken davon, das Auto war danach unbrauchbar. Mein Kumpel hat daraus gelernt. Später stieg er in die Baufirma seines Vaters ein und wurde ein verantwortungsbewusster Junior-Chef eines Betriebs mit 45 Angestellten.

Vier Jungs aus meinem Dorf fuhren jedes Wochenende zu Discos, die bisweilen bis zu 60 Kilometer entfernt waren. In einer Samstagnacht kamen sie gegen 3.00 Uhr früh zurück. Alle waren betrunken, auch der Fahrer. Fast schon hatten sie es nach Hause geschafft. In der zwei Kilometer entfernten Nachbarstadt flog das Auto jedoch quer an eine Hausmauer, als der Fahrer mit 100 Stundenkilometer durch die Ortschaft raste und in einer Kurve die Kontrolle über sein Auto verlor. Alle vier wurden schwer verletzt, der 21-jährige Beifahrer blieb Zeit seines Lebens Invalide. Im Putz der Hausmauer konnte man zur Abschreckung viele Jahre lang die Abdrücke der beiden Reifenfelgen sehen, die sich bei dem seitlichen Aufprall des Autos ins Mauerwerk eingefräst hatten. Genutzt hat es leider nichts. Denn schon ein halbes Jahr später fuhr ein ehemaliger Banknachbar aus der zweiten Grundschulklasse mit 20 Jahren ohne Fremdeinwirkung an einen Baum und war sofort tot. Er war mit viel zu hoher Geschwindigkeit unterwegs und wurde in einem Waldstück aus der Kurve getragen.

Beinahe jedes Jahr versammelte sich das ganze Dorf auf dem Friedhof, wenn wieder ein junger Mann zu Grabe getragen werden musste – als „Opfer“ eines Verkehrsunfalls, fast immer als Folge eines unerklärlichen Geschwindigkeitsrausches. Man sagte dann hinter vorgehaltener Hand: „Der hod sie darennt!“{3} Bei den betroffenen Familien jedoch spielten sich jedes Mal Dramen ab. Die Eltern hatten keine Macht mehr über ihre Söhne, die ab 18 nicht mehr zu halten waren und wie die Verrückten Auto oder Motorrad fuhren. Auf unserem Friedhof kann man auf den Grabsteinen über 30 junge Männer finden, die in der Zeit von 1960 bis 1985 auf diese Weise den Verkehrstod gefunden haben.

Eine Information kann den Hintergrund jener Zeit erhellen, in der es noch keine Sicherheitsgurte in den Autos gab: 1974 fanden nur in Westdeutschland über 17.400 (!!!) Menschen den Tod auf den Straßen, meist verursacht durch überhöhte Geschwindigkeit und unverantwortliches Fahren. Oft war zudem Alkohol mit im Spiel. Der Anteil junger Fahrer war dabei überdurchschnittlich hoch.

Betraf dieses Verhalten nur Jungs aus der Volksschule? Leider nein. Denn bereits sechs Wochen nach dem Abitur 1974 versammelte sich unsere Gymnasiumsklasse am Grab eines Mitschülers. Er war mit seinem Motorrad, angeregt durch den Film „Easy Rider“, zu schnell in die Autobahn-Ausfahrt gerast, hatte in der Kurve die Herrschaft über seine Maschine verloren und war an einen Baum geprallt. 

Verstanden habe ich meine Kumpel aus dem Dorf und den Kollegen vom Gymnasium damals nicht. Was suchten sie in dem unsinnigen Geschwindigkeitsrausch? Warum fuhren sie so wild und verantwortungslos und gefährdeten dadurch sich selbst und andere? Warum konnten die Kameraden aus meinem Dorf, in dem jeder jeden kannte, auch immer neue Tote und Verletzte nicht davon abhalten, zu saufen und weiter mit überhöhter Geschwindigkeit zu fahren? Was trieb sie in ihrem Inneren an? All diese Fragen blieben für mich 25 Jahre lang unbeantwortet – bis ich auf die Initiations-Thematik stieß.

(2) Große Schwierigkeiten als Lehrer mit Jungen-Klassen

Der zweite Grund, warum ich Berührung mit dem Thema „Initiation“ bekam, waren meine eigenen schwierigen Erfahrungen als Gymnasiallehrer – vor allem mit Jungen-dominierten Klassen. Schon in der Ausbildungszeit als Referendar gab es in dieser Hinsicht große Probleme. Zum Beispiel gleich in der ersten Stunde an der neuen Schule im sogenannten „Zweigschul-Einsatz“, als die Jungs in einer 10. Klasse ihr „Autoritäts-Test-Spiel“ mit mir betrieben und sehen wollten, wie ich denn als noch blutjunger Lehrer reagieren würde.

Entmutigender Vorfall in einer 10. Klasse

Immer wenn ich mich zur Tafel umdrehte, um etwas anzuschreiben, flogen Kreiden neben meinen Kopf an die Tafel oder an die Wand – in dieser ersten Stunde insgesamt 30 (!) Stück. Das war ein totaler Schock für mich. Mir war zum Weinen zumute. Erwischt habe ich damals keinen der Kreide-werfenden Schüler. So brutal es klingen mag: Meine Autorität war in dieser Klasse deshalb schon nach dieser ersten Schulstunde bleibend verloren. Das war extrem schmerzlich für mich und ich war nahe dran, den Lehrerberuf hinzuwerfen.

Als ich zehn Jahre später mit 37 Jahren die Schule wechselte und wieder in eine zehnte Klasse kam, hatte ich ein schmerzliches Déja-vu-Erlebnis. Auch jetzt versuchten einige Jungen gleich in der ersten Stunde massiv, meine Autorität zu testen – besonders einer, der zunächst seine Füße auf die Bank legte und dann begann, seine Schuhe genüsslich auf- und zuzubinden. Darauf war ich erneut nicht gefasst, da es sonst an der Schule eine ganze Reihe sehr netter Schüler gab. Offensichtlich hielten mich die Jungs in dieser Klasse für einen unerfahrenen Referendar und meinten, mit mir alles machen zu können.

Mit Jungen konnte ich damals noch immer nicht wirklich gut umgehen, aber dies wurde mir erst jetzt richtig bewusst, als ich vor dieser Klasse mit 24 Jungs und vier Mädchen stand. Die Jungen suchten Stärke, Coolness, Humor und vor allem Orientierung und Anerkennung durch einen männlichen Lehrer. Sie brauchten also einen „starken“ Lehrer, an dem sie sich reiben konnten und der in der Lage war, ihnen Grenzen zu setzen. Doch was ist ein starker Lehrer?

 Offensichtlich strahlte ich diese Stärke (noch immer) nicht aus. Mit den Mädchen an der Münchner Schule zuvor war ich ja gut klargekommen. Die Jungen dieser neuen Klasse suchten jedoch etwas anderes. Sie wollten testen, ob ich ihnen und ihrer geballten Jungen-Energie gewachsen war. Ich aber war verunsichert, weil durch den Schulwechsel alles so neu für mich war. Ich kannte mich an dieser Schule noch nicht aus und hatte auf das Verständnis und das Wohlwollen der Schüler gehofft – eine große Illusion, wie sich jetzt herausstellte. Denn die Jungen in den Klassen waren bedürftig nach männlicher Energie.

Sie suchten Zuwendung, Klarheit und Kraft, um sich an mir als einer Art von männlicher Bezugsperson auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden reiben und orientieren zu können. Es war ihnen egal, woher ich kam und was ich fühlte. Sie hatten kein Verständnis für mein eigenes, mir selbst noch unbewusstes unterschwelliges Bedürfnis nach Zuwendung und Mitgefühl und für meine momentane Lage als neuer Lehrer an ihrer Schule. Und sie spürten instinktiv, dass ich Angst vor ihnen hatte. Ja, ich hatte wieder Angst, große Angst sogar.

Veränderte Reaktion

Aus heutiger Sicht würde ich die damalige Situation so deuten: Die Jungen in der Klasse und ich waren in eine Art von Konkurrenz bezüglich unserer Bedürfnisse geraten, die doch sehr ähnlich waren: Beide Seiten wollten Anerkennung, Zuwendung, Verständnis.{4} Heute kann ich die Jungs verstehen. Damals jedoch, 1991, war ich so gekränkt und enttäuscht über das Verhalten einiger der Schüler und zugleich so zuwendungs- und anerkennungsbedürftig, dass ich mich zur Tafel umdrehen und losheulen wollte.

Warum akzeptierten mich die Jungen nicht einfach so, wie ich war? Warum nur führte sich der eine Schüler so schlimm auf? Meine Autorität als Lehrer stand erneut total auf dem Spiel. Ich durfte mir das Verhalten des auffälligen, unverschämten Jungen auf keinen Fall bieten lassen, sonst würde ich mich vor der ganzen Klasse lächerlich machen und schon von Anfang an erneut jede Autorität verlieren. Was sollte ich tun?

Die Erinnerung an die erste Stunde in der Jungenklasse als Referendar zehn Jahre zuvor kam mir nun in den Sinn. Gott sei Dank! Denn jetzt stieg ein rettender Impuls aus meinem Inneren hoch, der stärker war als diese verständlichen Gefühle von Kränkung und Angst vor der Klasse. Ich wusste, dass ich jetzt unbedingt, unter allen Umständen und mit allen Mitteln, die Oberhand behalten musste. Diesmal reagierte ich richtig, auch wenn es mir innerlich sehr schwerfiel. 

Ich drehte mich um, lief zu dem Jungen mit den Schuhen auf dem Tisch, schimpfte ihn gehörig zusammen und gab ihm sofort einen Verweis wegen „ungebührlichen Verhaltens im Unterricht“. Dies wirkte – bei dem Jungen und vor der ganzen Klasse. In der Pause lief der Schüler laut schreiend auf dem Schulhof herum und schimpfte über „den neuen unmöglichen Lehrer“. Seltsamerweise kamen nach dem Unterricht gleich drei oder vier mir noch völlig unbekannte Kollegen und Kolleginnen im Lehrerzimmer auf mich zu und lobten mich, mit meiner Maßnahme genau den „Richtigen“ der ganzen Schule erwischt zu haben. Damit hatte ich aber die Klasse noch nicht gewonnen, ich hatte bestenfalls einen Punktesieg in der ersten Runde erzielt.

Denn es gab in jeder der folgenden Stunden Widerstand in der Klasse. Der weitaus größere Teil der Jungen fand mich autoritär, weil ich mir nichts gefallen ließ, und sie erkannten mich und meine Autorität nicht an. Ja, in meiner Not verschanzte ich mich hinter Vorschriften und gab Strafaufgaben, sobald ein Schüler nur zu „schwätzen“ begann. Dies kam nicht gut an, da vor allem die Jungen etwas ganz anderes suchten: Beziehung, Kontakt, Reibungsfläche, Orientierung am männlichen Lehrer, Stärke und echte Autorität, aber kein autoritäres Verhalten und Gehabe. Doch wie sollte ich ihnen dies alles geben?

Im Grunde wollte ich gar nicht autoritär sein, ich fühlte mich aber von der Klasse in die Enge getrieben, da ich ja vom ersten Augenblick der ersten Schulstunde an erlebt hatte, dass meine Autorität in Frage gestellt und der Unterricht massiv gestört worden war. Wie sollte es nun weitergehen? Ich fühlte mich durch die feindselige und blockierende Haltung der Jungen psychisch äußerst angespannt und hatte vor jeder Stunde ein mulmiges Gefühl. Warum nur fiel es mir so schwer, gerade bei Jungen den richtigen Ton zu erwischen und mich „richtig“ zu verhalten? Seit Beginn meiner Arbeit als Lehrer hatte ich ein Defizit im Umgang mit Jungs gespürt. Dies wurde mir jetzt erneut bewusst.

Wie aber konnte dieser „Gordische Knoten“ zwischen mir und dieser Klasse durchgehauen werden? Da kamen mir die anstehenden Besinnungstage in einem Jugendzentrum zu Hilfe, zu denen ich die Klasse begleitete. Dort gab es in einem geschützten Rahmen eine lange Aussprache und diese entspannte in Folge die Beziehung zwischen mir und den Jungen im Unterricht sehr. Gerade diese Besinnungstage waren es jedoch, die mir den letzten Anstoß gaben, bei mir selbst näher hinzuschauen – mit Hilfe einer berufsbegleitenden Supervision.

(3) Erkennen eines persönlichen Defizits

Schwierige Vaterbeziehung

Aufgewachsen bin ich auf einem Bauernhof in Ostbayern. Als Erstgeborener sollte ich einmal den Hof übernehmen, das wurde mir von Kindesbeinen an von meinem Vater glaubhaft vermittelt und eingetrichtert. Und nichts anderes konnte ich mir als Junge auch selbst vorstellen. Es war für mich daher ein Schock, als mich mein Vater nach der fünften Klasse Volksschule ganz unerwartet und gegen meinen Willen aufs Gymnasium schickte, das 31 Kilometer entfernt war. Dadurch wurde ich vollkommen aus meiner dörflichen Umgebung herausgerissen.

Weil ich nur Oberpfälzer Dialekt beherrschte, wäre ich bereits nach kurzer Zeit um ein Haar aus dem Gymnasium geflogen – aufgrund meiner völligen Unkenntnis im Fach Deutsch. Meine guten Leistungen in Englisch und Mathematik retteten mich aber damals. Von einigen arroganten Stadtkindern in der Klasse wurde ich ausgelacht – wegen meines Dialekts und weil ich von einem Bauernhof kam. Aber ich kämpfte mich durch – im Fach Deutsch, indem ich mit dem Schriftdeutsch eine mir völlig fremde Sprache selbst erlernte und bei den Jungs aus der Stadt, da sie mich aufgrund meiner guten Leistungen irgendwann doch respektierten.

Da mein Vater erwartete, dass ich und meine Geschwister jeden Abend im Stall die 70 Mastbullen fütterten und versorgten, bestand meine ganze Jugendzeit im Wesentlichen aus Arbeit für den Bauernhof und Büffeln für das Gymnasium. Außerdem verbrachte ich jeden Schultag als Fahrschüler mehr als zwei Stunden auf der Strecke. In den Sommerferien nach der 10. Klasse kam dann jedoch der nächste Schock. Mein Vater wollte mich jetzt wieder vom Gymnasium nehmen und zu Hause auf dem Bauernhof haben, weil er merkte, wie nützlich ich für ihn war, besonders während der Erntezeit. Nun regte sich in mir zum ersten Mal Widerstand gegen meinen Vater: Ich blieb am Gymnasium und machte dort drei Jahre später mein Abitur. Anschließend musste ich sofort zur Bundeswehr. 

Mein Vater war Kriegs-traumatisiert und wurde während der Nazi-Zeit als Hitlerjunge von der NS-Ideologie völlig verblendet. Darüber schämte er sich später sehr, seine autoritäre Haltung uns Kindern gegenüber blieb jedoch bestehen. Ein menschliches Verhältnis zu ihm konnte ich daher kaum aufbauen, für meinen Vater zählten nur Arbeit und Leistung.

Als mein 15-monatiger Wehrdienst als Sanitäter fast vorbei war, wollte mich mein Vater erneut dafür gewinnen, bei ihm auf dem Bauernhof „einzusteigen“. Ich aber wusste, was dies in der Praxis bedeuten würde: Ich wäre dort nur sein willfähriger Knecht (mit Abitur!) gewesen, dem er jeden Tag – wie bisher in den Sommerferien – genügend Arbeit anschaffte. Daher antwortete ich ihm: „Lieber Vater, ich will mich als Lehrer lieber mit Menschen beschäftigen statt als Bauer und als dein Knecht mit Feld und Vieh!“ Das bedeutete aber, dass ich ab jetzt meinen eigenen Weg gehen musste: zunächst zum Studium an die Uni, später als Lehrer in die Schule.

Dieser Satz muss meinen Vater tief getroffen haben, da er damals 1975 in einem großen Bauernhof die einzig sichere Existenz sah. Ich hatte soeben sein ernst gemeintes Angebot abgelehnt, mit dem er mir das Beste geben wollte, was es in seinen Augen gab: die Rolle als späteren Hoferbe. Daher gab er mir damals zur Antwort: „Ja so einen wie Dich kann ich hier nicht brauchen!“ Das traf nun wiederum mich sehr, denn ich hatte ja meine ganze freie Zeit neben dem Lernen fürs Gymnasium für seinen großen Hof und seinen noch größeren Stall voll Vieh hingegeben – dem Inbegriff für sichere Existenz und Wohlstand eines Bauern aus damaliger Sicht.

In diesem Moment ließ mich mein Vater innerlich fallen. Für ihn und seine Pläne mit dem Hof war ich mit meiner Entscheidung zum Studium gestorben, so brutal dies auch klingen mag. Von meinem Vater konnte ich ab jetzt keinerlei emotionale Unterstützung mehr erwarten, nun war ich ganz allein auf mich selbst gestellt mit meinen eigenen beruflichen Plänen. Aus einer Existenzangst heraus lernte ich wie verrückt und schaffte tatsächlich das Staatsexamen als Gymnasiallehrer mit Bravour, so dass ich später eine sichere Beamtenstelle in Bayern bekam. Meine berufliche Existenz war damit gesichert – zumindest rein äußerlich.

Aber ich vermisste meinen Vater emotional sehr, besonders ab Beginn des Referendariats 1981: seinen Vatersegen, seine Vaterkraft und seine mich würdigende und stärkende Vaterliebe. Denn nun musste ich mich in schwierigen Klassen vor Stadtkindern behaupten. Aus heutiger Sicht war dieses emotionale Fehlen meines Vaters hinter mir genau der Grund, warum ich mich damals nur oberflächlich von meinem Vater lösen konnte. In der Tiefe meiner Persönlichkeit blieb ich un-initiiert, also gebunden an den Vater, weiterhin bedürftig nach seiner Anerkennung, die aber nie kam. Ich erhielt für meinen (anderen) beruflichen Weg nie Bestätigung von ihm und das machte mich in meinem Selbstverständnis als Mann und in meiner neuen Rolle als Lehrer sehr unsicher. Und genau dies haben die Jungen, auf die ich dann in der Schule traf, wohl instinktiv gespürt.

Tieferes Verständnis für die Jungen

Heute kann ich meine damalige Situation und die Reaktion der oben genannten Klasse besser verstehen. Ja, ich bin den Jungen, die mich im Alter von 37 Jahren durch ihr Verhalten erneut fast an den Rand meiner beruflichen Existenz als Lehrer gebracht hatten, sogar dankbar, weil sie mich auf ein Defizit in mir selbst hingewiesen haben. Auf der äußeren Ebene bin ich ja nicht untergegangen und habe sehr autoritativ dagegengehalten, als sich einige Jungen in der Klasse völlig unangemessen aufführten und meinen Unterricht konsequent zu stören versuchten – über viele Wochen hinweg. Nun fragte ich mich aber zunehmend, ob dies alles vielleicht mit mir selbst und meiner Persönlichkeit zu tun haben könnte. Und da wurde ich bald fündig – in einer Einzelsupervision, zu der ich ein- oder zweimal wöchentlich ging – jahrelang.  

Ich musste mir schmerzlich eingestehen, dass ich aufgrund der oben genannten Vaterthematik selbst noch ziemlich bedürftig nach männlicher Energie, nach Be-Vaterung, nach Zuwendung und Anerkennung war – so wie viele Jungs in meinen Klassen auch. Ich wollte diese Anerkennung, ohne mir dessen bewusst zu sein, offensichtlich genau von ihnen, den Jungs, bekommen, da mein Vater in dieser Funktion ausgefallen war. Damit trat ich unvermeidlich in Konkurrenz zu den Jungen in der Pubertät, die ja selbst gerade darum rangen, sich zu finden, die Selbstbestätigung und Anerkennung von männlichen Lehrern suchten und viel Zuwendung und Orientierung als werdende Männer brauchten.

Sie fühlten sich – heute würde ich sagen zu Recht – von mir irgendwie betrogen, weil ich ihnen genau dies aufgrund meines eigenen Vater-Defizits nicht geben konnte und rebellierten daher gegen mich. Heute weiß ich, dass sich das Verhältnis zwischen einer Klasse und einem neuen Lehrer schon in den ersten drei Sekunden entscheidet, sobald dieser das Klassenzimmer zum ersten Mal betritt. Offensichtlich strahlte meine Aura eben keine Klarheit, Sicherheit und Stärke aus, sondern vielmehr eine Bedürftigkeit nach Anerkennung und große Unsicherheit und Angst, und das konnten die Jungs überhaupt nicht haben. Darum reagierten sie von Anfang an instinktiv aggressiv auf mich und wollten meinen Unterricht zerstören, weil ich ihnen nicht das geben konnte, was sie gebraucht hätten. Sie fühlten sich von mir betrogen. Leider hatten sie damit recht, ich war nicht richtig initiiert, mein Verhältnis zu meinem Vater war überhaupt nicht geklärt. Dies war jedoch damals weder den Jungen noch mir bewusst.

Viele der Konflikte vor allem mit Jungen waren auch dadurch bedingt, dass mir meine Rolle als Lehrer lange nicht klar war. In meiner Ausbildung zum Gymnasiums-Pädagogen hatte ich etwas Wesentliches vermisst, was ich aber zunächst gar nicht benennen konnte. Um mehr Sicherheit in meinem pädagogischen Wirken zu bekommen, startete ich daher 1995 mit zwei langjährigen berufsbegleitenden Zusatz-Ausbildungen – zum Gruppenleiter in „Themenzentrierter Interaktion“ (TZI) und zum Supervisor. Die dabei erlernten Fähigkeiten und Methoden bereicherten meinen Unterricht wesentlich. Dennoch spürte ich weiterhin Defizite in meiner Lehrerpersönlichkeit. Wie aber sollten diese behoben werden?

Als Lehrer mit fast 20 Jahren Unterrichtspraxis fühlte ich die ganze Zeit, dass sowohl mir als Lehrer als auch meinen Schülern für eine gute (Persönlichkeits)Entwicklung etwas Wesentliches fehlte. Ich vermisste etwas Entscheidendes in meiner pädagogischen Arbeit. Ich konnte aber lange nicht konkret sagen, was dies war. Dies änderte sich jedoch, als ich 1999 auf die Initiations-Thematik stieß, was alles in mir veränderte. Obwohl es mir überhaupt nicht bewusst war, hatte meine Seele wohl schon lange darauf gewartet. Denn mit dieser Thematik bekam ich nun endlich ein Modell, ein mentales strukturelles Feld, ja eine Matrix, mit deren Hilfe ich verstand, wo und warum es in meiner pädagogischen Arbeit hakte. Zudem gab mir das Initiations-Wissen die Möglichkeit, meine Defizite in meiner Vaterbeziehung besser zu verstehen und zu klären, und persönlich nachzureifen.

(4) Zwei starke Impulse zur Jahrtausendwende

Erster Kontakt mit der School of lost Borders

Der erste Impuls dieser Veränderung ging von einem alternativen Arzt aus, den ich später liebevoll als „Schamanenarzt“ bezeichnete und den ich ab Januar 1999 aufsuchte. Vorausgegangen waren zwei Erlebnisse, die ich nur schwer verarbeiten konnte. 1992 hatte ich einen furchtbaren Auto-Crash, bei dem ich beim Aufprall mit einem entgegenkommenden VW-Bus einen „Schlag fürs Leben“ bekam. Glücklicherweise blieb ich körperlich fast unversehrt. Dennoch muss mich dieser Unfall im Innersten erschüttert haben. Nichts war mehr wie vorher, verstanden habe ich aber zunächst nichts.

Kurze Zeit später erlebte ich durch mehrere Sportunfälle eine Kette von Verletzungen in beiden Knien. Ich wurde drei Mal an beiden Knien operiert. Nach der letzten OP im rechten Knie entstand aufgrund der unvermeidlichen Schonhaltung ein Dauerschmerz im linken Knie, den auch die besten Orthopäden in München nicht mehr beheben konnten. Dies machte mich mürbe und erschütterte meinen Glauben an und mein Vertrauen in die Schulmedizin völlig. Als mich der betreuende Arzt einer deutschen Frauen-National-Mannschaft nach einer zweijährigen Behandlungszeit bat, nicht mehr in seine Praxis zu kommen, weil es für mich keine Hilfe mehr geben würde und ich ein arthritisches Knie wie ein 85-jähriger Opa hätte, brach für mich als damals 45-Jähriger innerlich eine Welt zusammen.

In meiner Not fuhr ich einmal wöchentlich zu dem oben erwähnten Schamanenarzt südlich von München. Er spritzte mir bei jedem Besuch ein Serum ins Knie und setzte mir Akupunkturnadeln gegen die Schmerzen. Das linderte meine Schmerzen etwas. Wichtiger aber war, dass er sich Zeit zum Reden für mich nahm. Schon nach wenigen Behandlungen erkannte er wohl meine Lebenskrise, in die ich durch meine unlösbaren Knieprobleme geraten war. Darum fragte er mich bald ganz unvermittelt, warum ich denn noch keine „Visionssuche“ gemacht hätte. Eine was? Diesen Begriff hatte ich bis dahin noch nie gehört. Er gab mir auch Material von der nordamerikanischen „School of lost Borders“{5}, die Visionssuchen durchführten – ein 12-tägiges, von Indianerstämmen beeinflusstes Ritual in der Natur.

Sofort war ich Feuer und Flamme dafür, informierte mich näher und fand schnell einen Anbieter in München, der im August 1999 eine Visionssuche in Slowenien durchführen wollte. Doch als ich den Leiter im Juli zu einem Vorgespräch traf, schüttelte es mich vor lauter Angst bei der Vorstellung von dem tagelangen Alleinsein, das den Kern dieses Rituals ausmacht. Ich musste absagen – aus Angst. Das frustrierte mich total.

Das Buch eines afrikanischen Schamanen

Doch bereits im Herbst stieß ich auf ein Buch des Afrikaners Malidoma Patrice Somé: „Vom Geist Afrikas“{6}. Dies war für mich der zweite Impuls bezüglich der Initiations-Thematik. Darin erzählt Malidoma autobiographisch von seinem Werdegang. Als 4-Jähriger in seinem Dorf von katholischen französischen Missionaren in Burkina Faso entführt, sollte er Priester werden. Mit 20 Jahren gelang ihm die Flucht aus dem kasernenartigen Priesterseminar. Auf abenteuerlicher Weise fand er zurück in seinen Heimatort, wo ihn nur noch seine Mutter wiedererkannte.

Im Rat der Stammesältesten wurde dann beschlossen, dass er an der alljährlichen Zeremonie der umliegenden Stammesdörfer teilnehmen sollte: an einem heftigen vierwöchigen Initiationsritual ins Erwachsensein. Die letzten sieben Tage davon musste sich jeder Initiand alleine in der Wildnis durchschlagen und überleben. Danach wurden die Jungen vor der versammelten jeweiligen Dorfgemeinschaft als nun erwachsene Männer begrüßt.

Dieses Buch „fraß“ ich in nur drei Tagen und Nächten und es veränderte alles in mir. Denn jetzt wusste ich endlich, was mir fehlte: die Initiation ins Erwachsensein, also die seelische Loslösung von meinen Eltern, die bei mir, wie bei so vielen anderen Jugendlichen und Männern in unserem Land auch, nie wirklich stattgefunden hatte. Ich hatte mich nicht wirklich von meinen Eltern abgelöst, vor allem von meinem Vater nicht, obwohl ich seit fast 20 Jahren weit weg von zu Hause wohnte.

Nun fing ich an zu verstehen, was die Kumpel aus meinem Dorf damals instinktiv und fast verzweifelt gesucht hatten: ihre Initiation ins erwachsene Mann-Sein. Durch ihre wilden Autofahrten wollten sie offensichtlich den bereits Erwachsenen beweisen, dass sie jetzt keine Kinder mehr, sondern vielmehr tolle, wilde und draufgängerische Kerle waren. Das Mittel, mit dem sie diese Anerkennung erreichen wollten, waren Auto oder Motorrad. Viele von ihnen haben es mit einer schlimmen Verletzung oder gar mit dem Leben bezahlt. Sie haben durch ihre unverantwortlichen Autofahrten gerade das Gegenteil bewiesen: dass sie eben noch nicht erwachsen waren. Aber sie waren in Not, weil es keine offiziellen Initiationsrituale wie im Dorf des Afrikaners Malidoma gab, die ihnen den Weg ins Erwachsensein hätten zeigen können.

Schließlich dämmerte es mir, was mit den Jungs in den Klassen los war, die ich seit 20 Jahren unterrichtete: Auch für sie bot unsere moderne, technisch und rational ausgerichtete Gesellschaft keine adäquaten Übergangsrituale ins Erwachsensein an. Daher erlebten sie – wie ich selbst – keine Initiations-Zeremonien, die sie bei dem so fundamentalen Schritt in die nächste Lebensphase als Erwachsener hätten leiten und unterstützen können. Hier fehlt ein ganz wichtiges initiatorisches Element – in unserer Gesellschaft im Allgemeinen und in Schule und Pädagogik im Besonderen.

Da mir, wie oben ausführlich beschrieben, aufgrund meiner schwierigen, ungelösten Vaterthematik die Initiation zum erwachsenen, reifen Mann selbst fehlte, konnte ich den Jungen nicht das geben, was sie auf emotionaler Ebene gebraucht hätten: einen reifen männlichen Lehrer, an dem sie sich hätten orientieren und reiben können. Somit gab es für sie einen doppelten Grund für ihre Rebellion in meinem Unterricht: das gesamt-gesellschaftliche Fehlen von Initiationsritualen im Allgemeinen und mein eigenes Un-Initiiertsein als männlicher Lehrer aufgrund meines ungelösten Vaterproblems im Besonderen. Dies wurde mir nun immer klarer.

Intentionen für dieses Buch

Damit hatte ich jetzt eine zweifache Motivation, mich intensiv mit der Initiations-Frage auseinander zu setzen: die Situation meiner Schüler in der Pubertät und meine Lage als noch un-initiierter Lehrer. In den Jahren 2000, 2003 und 2007 unterzog ich mich dreimal selbst einer langen Visionssuche. Danach ließ ich mich zum Jugend-Visionssuche-Leiter und Initiations-Mentor ausbilden und führte anschließend selbst mit dem sogenannten „WalkAway“ jahrelang geeignete Initiationsrituale für meine Schüler durch. Ich hatte mein Lebensthema gefunden, das mich bis zum Ende meines Wirkens als Lehrer nicht mehr losließ. Ein langer, aufregender Weg lag vor mir, doch alles der Reihe nach… Mit diesem Buch verfolge ich eine dreifache Absicht:

1.

Indem ich meinen eigenen Weg beschreibe, wie ich Zugang zum Thema „Initiation“ bekam, weise ich auf diese fundamentale Thematik hin und lege zugleich einen Finger in die Wunde eines gesamtgesellschaftlichen Defizits: dass geeignete Übergangsrituale in unserer Gesellschaft völlig fehlen und manche Jugendliche deshalb verzweifelt selbst nach gefährlichen Initiations-Ersatz-Ritualen suchen; und dass daher große Blockaden und unnötige Schwierigkeiten für unsere Jugendlichen bestehen, zu erwachsenen und reifen Persönlichkeiten heranreifen zu können. Dieser Thematik ist, neben des Einleitungskapitels, vor allem das nachfolgende Kapitel 2 gewidmet.

2.

Als Pädagoge an Gymnasien mit 40-jähriger Berufserfahrung sehe ich es als meine besondere Aufgabe an, sowohl den Initiations-Gedanken im Allgemeinen als auch das naturpädagogische Ritual des WalkAway im Besonderen aus der esoterischen Ecke herauszuholen und in die Mitte der heutigen Pädagogik zu stellen. Gymnasiasten sind, wenn sie mit dem Abitur in der Hand die Schule wieder verlassen, zumindest zu Volljährigen, also zu rechtlich gesehen Erwachsenen geworden.

Während ihrer Zeit in der Sekundarstufe haben es die Schüler aller Schularten mit zwei wesentlichen Übergängen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu tun: dem vom Kind zum Jugendlichen und dem vom Jugendlichen zum Erwachsenen – besonders am Gymnasium, ansatzweise aber auch schon in der Mittel- und Realschule. Dieser Tatsache wird in den Lehrplänen der Sekundarschulen kaum Rechnung getragen.

Zudem geht dieser zweite Übergang nicht von selbst. Daher sollte der Initiations-Gedanke in die Mitte der Pädagogik gestellt werden, wo er meiner Überzeugung nach unbedingt hingehört. Die Kapitel 3 und 4 sind diesem Anliegen geschuldet und ich verstehe es als meine Pionierarbeit, dafür zu kämpfen, dieser Thematik mehr Gewicht zu geben – bei Bildungspolitikern, Lehrplan-Machern, Lehrerverbänden und bei jedem einzelnem Pädagogen, den ich mit meinem Ansatz hoffe, erreichen zu können.

Um aber diese Aufgabe bewältigen zu können, musste ich das herkömmliche System von Schule, Pädagogik, Lehrplänen und Lehrerausbildung verlassen und nach einer neuen Matrix suchen, mit deren Hilfe ich den Initiationsgedanken und den WalkAway in die heutige Pädagogik ziehen konnte. Diese Matrix fand ich im sogenannten „Lebensrad“, das als Grundlage für das Initiations-Verständnis dienen kann. Es wird ausführlich in Kapitel 5 vorgestellt. 

Durch meine beiden Fächer Physik und Katholische Religionslehre sehe ich mich für diese Pionieraufgabe geradezu prädestiniert: einerseits unserem herkömmlichen Schulsystem zu dienen und die Schüler in einem wichtigen naturwissenschaftlichen Fach (Physik) auf die Erfordernisse unserer heutigen rational und informations-technisch orientierten Bildungswelt vorzubereiten; zum anderen im Fach Religion die spirituellen Grundlagen unserer Kultur zu erforschen und im Jahrtausende alten Modell des „Lebensrades“ ein uraltes, erprobtes, zugleich hoch-innovatives, aber vergessenes Wissen wieder zugänglich und bewusst zu machen und es in die heutige Pädagogik einzubringen. 

3.

Schließlich beschreibe ich in diesem Buch sehr ausführlich das naturpädagogische Ritual des WalkAway, das einen starken initiatorischen Charakter für die Jugendlichen besitzt, die den Mut haben sich dieser uralten Zeremonie zu unterziehen. Als ausgebildeter Jugend-Visionssuche-Leiter und Initiations-Mentor habe ich den WalkAway viele Jahre lang zusammen mit einem kleinen Team selbst durchgeführt. 73 Mädchen und Jungen haben dieses Ritual unter meiner (Co)Leitung absolviert. Dies war sehr ergreifend für die jungen Leute selbst, aber ebenso für mich. Davon berichten die Kapitel 6, 7 und 8.

Wenn geeignete Initiations-Rituale fehlen oder nicht rechtzeitig stattfinden, kommt es später oft zu einer unerwarteten und unkontrollierten „Initiation durch das Leben selbst“ mit manchmal gravierenden Folgen. Denn unsere Seele schreit nach Initiation. Viele traditionelle Völker, die Initiationsrituale für ihre Jugendlichen durchführten, wussten darüber Bescheid und waren klüger als wir „aufgeklärten“ modernen Menschen. Sie warfen ihre Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsensein ganz bewusst in geeigneten, von erfahrenen Initiations-Mentoren geleiteten Übergangsritualen in eine kontrollierte Krise und konfrontierten sie mit den Anforderungen eines selbständigen, erwachsenen Lebens.

Die so initiierten jungen Leute waren dann besser darauf vorbereitet, wenn es später in ihrem Leben schwierige Situationen zu meistern gab, wie sie das Leben in der Regel eben bietet. Damit bin ich bei unserer heutigen gesellschaftlichen Situation angekommen, die geprägt davon ist, dass es leider keine solchen geeigneten Übergangsrituale mehr gibt, obwohl viele Jugendliche, vor allem junge Männer, danach förmlich rufen. Dies soll im folgenden Kapitel 2 näher ausgeführt werden.

(5) Zusammenfassung

1.