Heilung – Initiation ins Göttliche - Peter Maier - E-Book

Heilung – Initiation ins Göttliche E-Book

Peter Maier

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Vor über zwanzig Jahren hatte ich einen fast tödlichen Verkehrsunfall. Dabei wurden Türen nach innen aufgeschlagen und ich bekam Zugang zu Seelenebenen, von deren Existenz ich bis dahin nichts gewusst hatte. Fast gleichzeitig begann eine unsägliche Verletzungsserie in meinen beiden Knien. Nach drei Operationen stellte sich ein Dauerschmerz ein und einige der besten Sportmediziner Münchens erklärten mir, dass sie nichts mehr gegen meine unheilbare Arthrose tun könnten. Ihre Künste auf rein körperlichem Gebiet versagten vollkommen. Auf der verzweifelten Suche nach Heilung bekam ich Kontakt mit vielfältigen alternativen Heilverfahren, die ich bis dahin als Humbug und Scharlatanerie abgetan hatte. Es dauerte aber mehrere Jahre, bis ich Heilung erfuhr und im "Medizinrad der Heilung" eine systematische Ordnung der Ganzheit und All-Einheit erkennen konnte, in der neben der körperlichen auch die psychische, systemische und spirituelle Ebene tief miteinander verbunden sind. Um Heilung zu erlangen, musste ich mein bisheriges, rein naturwissenschaftlich-technisch ausgerichtetes Weltbild radikal in Frage zu stellen. Ich erkannte, dass in mir schon immer eine tiefe Sehnsucht nach dem Göttlichen geschlummert hatte und dass wir Menschen im Grunde spirituelle Wesen sind, die sich auf dem Weg heim ins Göttliche befinden. Das Verankert-Sein im Göttlichen und eine Heilung in der Tiefe gehören untrennbar zusammen. Dies bestätigen auch die acht Frauen und Männer, die in authentischen und berührenden Berichten von ihrer Heilung erzählen. Zu jeder der vier Ebenen des "Medizinrads der Heilung" kommen jeweils zwei Personen zu Wort. Ihre Geschichten zeigen alternative Wege der Heilung auf, die aus Sicht der Schulmedizin als unglaublich erscheinen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 477

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heilung

Initiation ins Göttliche

Peter Maier

Fachbuch

Die in diesem Buch beschriebenen Rituale und alternativen Heilmethoden können intensive Emotionen und Bewusstseinszustände auslösen. Zudem dürfen sie auf keinen Fall als ausschließliche Wege zur Behandlung seelischer und gesundheitlicher Probleme angesehen werden. Daher sollten diese Rituale und alternativen Heilmethoden nicht ohne eine fachkundige Begleitung durch Heilpraktiker, Ärzte oder Psychotherapeuten durchgeführt werden.

Heilung - Initiation ins Göttliche

Texte: © Peter Maier

2. Auflage 2016

Verlag: Peter Maier

Impressum: Peter Maier, Hochfellnweg 2, 82140 Olching

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN:

Inhaltsverzeichnis
Heilung
Danksagung
Vorwort
Kapitel 1: Verzweifelte Suche nach Heilung
(1) Schmerzen ohne Ende
(2) Der Umschwung
(3) Unkonventionelle Heilungswege
(4) Heilende Erfahrungen bei Amma
(5) Zusammenfassung
Kapitel 2: Das Medizinrad der Heilung
(1) Das Medizinrad in traditionellen Kulturen
(2) Vier Heilungsebenen im Menschen
Kapitel 3: Körperliche Heilung – Heilpraktikerarbeit – Alternative Medizin
(1) Schulmedizin und Alternative Medizin
(2) Energiearbeit
(3) Heilende Substanzen
(4) Heilende Rituale
(5) Zusammenfassung
Kapitel 4: Psychische Heilung – Initiationsarbeit – Visionssuchen
(1) Psychotherapie und Visionssuche
(2) Medizinwanderung und Visionssuche
(3) Die Ablösung von der Mutter
(4) Die Ablösung vom Vater
(5) Zusammenfassung
Kapitel 5: Systemische Heilung – Ahnenarbeit – Familienaufstellungen
(1) Die Botschaft Malidomas für die westliche Welt
(2) Traditioneller bayerischer Volksglaube
(3) Familienaufstellungen
(4) Die Sicht der polnischen Heilerin Wanda Pratnicka
(5) Zusammenfassung:
Kapitel 6: Spirituelle Heilung – Bewusstseinsarbeit – Geistheilung
(1) Das Fehlen von Geistheilern in Europa
(2) Umfassende Befreiung von Schuld
(3) Aus der Praxis einer bayerischen Heilerin
(4) Heilung bedeutet Vergebung
(5) Zusammenfassung
Kapitel 7: Sehnsucht nach dem Göttlichen
(1) Eine Ahnung vom Göttlichen
(2) Der Magnat – das Ego-Hindernis auf dem Weg ins Göttliche
(3) Der spirituelle Weg
(4) Die Geschichte vom „Verlorenen Sohn und vom barmherzigen Vater“
(5) Zusammenfassung
Adressen
Buchhinweise
Zwei Bücher zum Erwachsenwerden
Autor
Anmerkungen

Danksagung

Mein Dank gilt vor allem meiner „Compagna“ Valeria Heller, die mich zu diesem Buch bestärkt hat und mir bei seiner Entstehung mit ihrem Rat vielfältig beigestanden ist.

Dank sagen möchte ich den acht Frauen und Männern, die ihre Zustimmung dafür gaben, von ihren sehr persönlichen Lebenserfahrungen erzählen zu dürfen.

Mein Dank geht an David Sedlbauer für Entwurf und Gestaltung des Buchcovers, sowie der Grafiken im Text.

Dank gebührt auch Christina Brunner für Ihre Korrekturarbeiten.

Ich danke dem Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat aus Münster für die Möglichkeit, dieses Buch zu veröffentlichen.

Vorwort

Mit 37 Jahren hatte ich einen schlimmen Verkehrsunfall und erlebte dabei eine intensive Todesnähe. Zwar blieb ich rein körperlich nahezu unversehrt, konnte aber dieses einschneidende Ereignis jahrelang nicht verarbeiten. Fast gleichzeitig begann eine furchtbare Serie von Knieverletzungen, die mich innerhalb weniger Jahre von einem sportlich aktiven Mann beinahe zum Invaliden machten. Nach der dritten Knieoperation stellten sich dauerhafte Schmerzen ein, die ich nicht mehr abschütteln konnte. Mit 42 Jahren wurde mir schließlich von einem sehr anerkannten Münchner Sportarzt erklärt, dass meine Kniearthrose unheilbar sei. Beide Erfahrungen – der Unfall und die Knieprobleme – warfen mich aus der Bahn meines bisherigen Lebens und führten zu einer Sinnkrise. Diese rührte auch davon her, dass meine bisherige Einstellung an eine Grenze stieß, wonach man schulmedizinisch prinzipiell jedes Problem vor allem mit entsprechenden Operationen schnell wieder aus der Welt schaffen könne.

Der Dauerschmerz zwang mich zur Abkehr von meiner bisherigen Denkweise und Lebenseinstellung. Es brauchte aber 14 Jahre, bis die Schmerzen vergingen und ich wieder eine gewisse Mobilität erreichen konnte. Dies ging nicht von alleine. Die Schmerzen drängten mich dazu, Lösungen auf Ebenen in mir selbst zu suchen, von deren Existenz ich bis dahin nichts geahnt hatte. Als ein „typisches Kind unserer aufgeklärten Zeit“ und geprägt von einer naturwissenschaftlichen Weltsicht konnte ich mir zunächst nicht vorstellen, dass es noch andere Wirklichkeitsebenen als eine rein materielle geben könnte, auch wenn ich eine christliche Sozialisation erfahren hatte. Im Nachhinein gesehen kann ich aber feststellen, dass ich all die Jahre von einer inneren Kraft geführt worden bin, die ich heute persönlich als „das Göttliche“ bezeichnen würde.

Ich bin wirklich froh und dankbar, dass ich mich, wenn auch nur langsam, für andere Bereiche und für eine alternative Medizin öffnen konnte, nachdem sich die schulmedizinischen Maßnahmen als unwirksam erwiesen hatten. Acht eigene Familienaufstellungen, drei lange Visionssuchen, zwei Workshops mit einem afrikanischen Schamanen, eine jahrelange Behandlung bei spirituell ausgerichteten Heilpraktikern und Alternativmedizinern, sowie der Besuch der Veranstaltungen der indischen Religionsführerin und Heilerin „Amma“ über zehn Jahre hinweg änderten mein Weltbild grundlegend und öffneten zunehmend mein Herz. Dazu trugen unter anderem auch die Begegnungen mit einigen Geistheilern bei.

Aus jetziger Sicht kann ich feststellen, dass durch all diese Erfahrungen nicht nur mein Körper, sondern auch meine Seele geheilt wurde. Mein Körper erwies sich dabei als eine Art Pfadfinder, der mich – ausgelöst durch eine vielfältige Symptomatik – dazu veranlasste, immer mehr nach innen zu schauen und mich mit den Grundfragen unserer menschlichen Existenz auseinanderzusetzen. Dieser Prozess hat mich zu einem suchenden Menschen gemacht und mein Bewusstsein zunehmend verändert.

Nach mehr als fünfzig Jahren darf ich wieder erkennen, was ich bereits als kleiner Junge gefühlt habe, ohne mir damals aber dessen bewusst zu sein: dass wir alle Wesen sind, die aus dem göttlichen All-Eins kommen und letztlich eine tiefe Sehnsucht nach diesem Göttlichen in uns tragen, selbst wenn wir dies im Laufe unseres Lebens und in unserem stressigen Alltag womöglich vergessen haben. Ich selbst musste erst eine leidvolle Zeit durchleben, bis ich mit der Nase wieder auf diese spirituelle Grunderkenntnis gestoßen wurde.

Während der letzten sieben Jahre geschah in mir eher unmerklich eine innere Transformation. In der vergangen Weihnachtszeit verspürte ich plötzlich den Impuls, die Erfahrungen meiner körperlichen und seelischen Heilung in einem Buch aufzuschreiben. In nur vier Monaten flossen die nachfolgenden Gedanken auf das Papier. Dabei hatte ich das Gefühl, dass nicht ich schrieb, sondern dass „es“ in mir schrieb. Es ging fast von alleine. Denn die Gedanken waren längst in mir, wollten jetzt aber aus mir heraus.

Geholfen hat mir bei der Abfassung des Buches die Vorstellung vom „Medizinrad“, mit dem ich während meiner drei Visionssuchen und bei der Ausbildung zum Initiations-Mentor in Berührung gekommen bin. Viele traditionelle Völker, wie etwa nordamerikanische Indianerstämme oder die Kelten in Süddeutschland, hatten mit solchen „Lebensrädern“ zu tun. Es diente ihnen als Modell, um ihre Weltvorstellung, den Kreislauf der Jahreszeiten, aber auch ihr Leben mit den verschiedenen Phasen und Übergängen darin darstellen und deuten zu können.

Ein Medizinrad hat etwas mit Heilwerden und Heilsein, mit Harmonie und Ausgeglichenheit, mit dem Bezug zur Welt und zum Göttlichen zu tun. Darum erschien es mir als ein sehr nützliches Werkzeug, um meine Erfahrungen im „Medizinrad der Heilung“ systematischer darstellen zu können. Nach dem einleitenden Kapitel, in dem ich von meinem eigenen Heilungsweg berichte, soll in Kapitel zwei zunächst das Medizinrad selbst vorgestellt und ein allgemeiner Überblick über seine vier Ebenen gegeben werden: die körperliche, die psychische, die systemische und die spirituelle Ebene.

In den darauf folgenden Kapiteln drei bis sechs werden die vier Ebenen des Medizinrads dann näher entfaltet. Dabei werden bei jedem der vier Bereiche die authentischen Erfahrungen von jeweils zwei Menschen geschildert, denen ich bei meinen Familienaufstellungen, Visionssuchen und spirituellen Workshops begegnet bin. Ihre Geschichten haben mich so angerührt, dass ich ihnen einen Platz in meinem Buch geben wollte. Ihre Erzählungen sind ein Grund, warum ich dieses Buch schreiben wollte. Ich habe dafür die ausdrückliche Zustimmung von diesen acht Personen bekommen. Dafür danke ich ihnen sehr.

Das letzte Kapitel schließlich möchte die Essenz meines über 21-jährigen Erkenntnisprozesses schildern, der mit dem Unfall und mit der Serie von Knieverletzungen begann. Ich bin dem Universum sehr dankbar, dass ich einen Ausweg aus meinen Schmerzen und aus meiner damaligen Sinnkrise finden durfte. Und ich bin ebenso dankbar dafür, diesen, mit der Heilung untrennbar verbundenen, spirituellen Weg gehen zu dürfen, auch wenn ich ihn zu Beginn der körperlichen Probleme noch nicht erahnen oder gar verstehen konnte.

Nach meiner Erfahrung gehören Heilung und das Bewusstsein, dass wir den göttlichen Funken in uns tragen und somit von göttlicher Natur sind, untrennbar zusammen. Wir werden letztlich von der Sehnsucht getrieben, wieder heim zu unserer göttlichen Heimat zu finden und nicht nur körperlich, sondern auch seelisch heil zu werden. Darum der Titel „Heilung – Initiation ins Göttliche.“

Ich möchte dieses Vorwort mit einem grundsätzlichen Hinweis schließen: Die in diesem Buch beschriebenen Heilungserfahrungen können und wollen nur eine exemplarische Auswahl aus der Fülle von heute existierenden und zugänglichen Heilmethoden und Heilungswegen darstellen. Es werden jedoch grundsätzliche und authentische Erfahrungen beschrieben, die weiter geholfen und Heilung gebracht haben. Mir ist dabei vollkommen bewusst, dass jeder seinen eigenen Weg gehen muss. Vielleicht können die beschriebenen Erfahrungen aber dazu motivieren, bei der Suche nach Heilung und nach dem Göttlichen nie aufzugeben.

Olching im Sommer 2014

Peter Maier

Kapitel 1: Verzweifelte Suche nach Heilung

(1) Schmerzen ohne Ende

Eine unsägliche Verletzungsserie beginnt

Sonntag, 19. Januar 1992. Ich sitze im Bus, den eine Sportschule im Münchner Umfeld gechartert hat. 25 Jugendliche mit ihren Betreuern sind auf dem Weg ins Österreichische Westendorf. Ich habe mich zu dieser Skifahrt aufgerafft, um für einen Tag den Stress des Alltags zu vergessen. Außer mir und den Jugendlichen gibt es nur noch zwei weitere Erwachsene, einen Mann und eine Frau, die sich ebenfalls einen Skitag gönnen wollen. Schnell finden wir drei zusammen. Aus Freude über das schöne Wetter, das Alpenpanorama und die guten Schneebedingungen, vielleicht auch, um den anderen beiden zu imponieren, fahre ich an diesem Tag sehr ausgelassen und erlebe dabei meine Lebendigkeit, Sportlichkeit und Körperlichkeit. Es tut wirklich gut, einmal auf diese Weise die „Sau rauslassen“ zu können. Ich fühle mich irgendwie wie ein junger Herrgott. An diesem Tag schaffe ich mit den beiden Begleitern sieben oder acht komplette Abfahrten vom Gipfel bis ins Tal.

Donnerstag, 23. Januar 1992. Ich stehe mit schmerzverzerrtem Gesicht in meiner Vereinssturnhalle in München - fassungslos. Es wird Volleyball gespielt wie jeden Donnerstag Abend - Kollegensport. Seit Jahren ist dieser eine willkommene Abwechslung, um Spannungen abzubauen, mich abzureagieren und so einen körperlichen Ausgleich zum Lehrerberuf zu finden. Was ist nur los mit mir? Das linke Knie tut mir bereits nach wenigen Sprüngen total weh. Was ist passiert? Hat dies womöglich mit meiner verrückten Skifahrt vom Wochenende zu tun? Aber warum denn? Ich hatte doch keinen Sturz! Solch einen Schmerz hatte ich noch nie zuvor.

Von einem Kollegen bekomme ich die Adresse eines erfahrenen Sportmediziners in München mitgeteilt. Der Arzt punktiert mein Knie und holt ein Spritze voll gelber Flüssigkeit heraus. Das Knie ist offensichtlich entzündet. Eine Röntgenuntersuchung mit einem Kontrastmittel bringt keinen Aufschluss bezüglich meiner Schmerzen. Der Mediziner spritzt mir über einen Zeitraum von sechs Wochen immer wieder eine heilende Substanz ins Knie. Die Schmerzen gehen jedoch nicht weg. Panik ergreift mich, denn mein Leben ist bisher hauptsächlich sportlich ausgerichtet: drei Abende in der Woche Skigymnastik und Volleyballspiel, Skifahrten am Wochenende, Tennisspielen und Bergtouren im Sommer. Der Arzt empfiehlt mir einen Spezialisten für Arthroskopie.

Schnell wird in seiner Klinik ein OP-Termin vereinbart. Eine Assistenzärztin führt das Vorgespräch, den Operateur selbst bekomme ich gar nicht zu Gesicht. An einem Freitag Nachmittag Ende März ist es dann soweit. In der Klinik bekomme ich eine Vollnarkose. Als ich bald nach Ende der OP wieder aufwache, ist es etwa 15.30 Uhr. Bereits um 16.00 Uhr bittet mich die Krankenschwester höflich aber unmissverständlich, mich doch von Angehörigen abholen zu lassen, weil die Privatklinik nur für ambulante Operationen vorgesehen sei und die Bediensteten ins Wochenende gehen möchten. Natürlich gibt es einen Notdienst, falls es Komplikationen geben sollte. Ein Taxi bringt mich zu meinem Bruder in München. Ich bin noch ziemlich von der Narkose benommen.

Am nächsten Tag gibt es eine kurze Nachuntersuchung und einen Verbandswechsel durch das Ärzteteam. Etwa drei Minuten ist es mir gegönnt, den Operateur selbst zu Gesicht zu bekommen und von ihm Auskunft über den Eingriff tags zuvor zu erhalten: Ein Meniskus hatte sich durch jahrelange Belastungen gelöst – vermutlich bei meinen sportlichen Aktivitäten. Den letzten Ausschlag hatte anscheinend jener Skitag im Januar bei schwerem Schnee gegeben. Der Meniskus wurde während der Arthroskopie wieder angeklebt. Ein Assistenzarzt drückt mir zum Schluss noch einen Merkzettel in die Hand, auf dem einige Hinweise zum Muskelaufbau stehen. Zwei Wochen solle ich noch mit Krücken gehen, in vier Wochen könne ich wieder mit dem Sport beginnen, in acht Wochen sei ich wieder „voll sportfähig“, wird mir bei dieser Gelegenheit versichert. Dies steht auch so auf dem Zettel. Dann bin ich wieder allein und ganz mir selbst überlassen. Das sind ja schöne Aussichten. Der Operateur hat mir Mut gemacht. Ich kann also hoffen, bald wieder so sportlich unterwegs zu sein, als sei nie etwas geschehen.

Ich denke nicht weiter darüber nach, ob vielleicht mein Sportverhalten selbst in den letzten Jahren Schuld an der Verletzung gewesen sein könnte. Die Botschaft der Ärzte ist ganz in meinem Sinne: Ich kann weiter machen wie bisher – Ski fahren, Bergtouren gehen, drei mal wöchentlich Volleyball spielen. Zumindest interpretiere ich den Merkzettel und die Worte des Assistenzarztes so. Bei einer Nachbesprechung mit einer anderen Assistenzärztin des OP-Zentrums kann ich in ausliegenden Broschüren lesen, dass 99,98 (!) Prozent aller Operationen dieses Zentrums bisher erfolgreich gewesen seien. Zudem versichert mir die Ärztin, dass die OP auch bei mir absolut erfolgreich verlaufen sei.

Als ich im Juli eine größere Bergtagestour bestreiten möchte, bekomme ich überraschenderweise wieder Knieschmerzen. Das darf doch eigentlich nicht sein! Die Verletzung und der operative Eingriff haben offensichtlich doch Spuren hinterlassen. Oder war der Muskelaufbau zu wenig gewesen? Darüber denke ich gar nicht nach; denn ein Leben ohne sportliche Betätigung ist für mich zum damaligen Zeitpunkt unvorstellbar. Der Sport bestimmt fast mein komplettes Freizeit-Leben als Single, der ich damals noch war.

August 1992. Alpenüberquerung von Oberstdorf nach Meran. Der Rucksack wiegt 12 Kilo. Am fünften Tag schlottern mir nach einem langen Aufstieg mit 1000 Höhenmetern und nach einem noch längeren Abstieg um 1500 Höhenmeter die Knie. Daher bekomme ich vor der anstehenden Gletscherüberquerung über den Similaun, wo einige Jahre zuvor an der Grenze zwischen Österreich und dem italienischen Südtirol „Ötzi“ gefunden worden war, ziemlich Angst. Ich muss die Wanderung abbrechen. Das stinkt mir gewaltig, ich blamiere mich zudem vor den Begleitern, da ich doch der Initiator dieser Alpenüberquerung bin. Nun muss ich klein beigeben, weil das linke Knie nicht mitmacht. Zu diesem Zeitpunkt will ich immer noch nicht wahrhaben, dass eine Knieoperation eben doch Spuren hinterlassen kann, gerade was die Stabilität betrifft, auch wenn dies in der OP-Klinik bestritten worden war. Zudem will ich mir nicht eingestehen, dass ich womöglich nicht mehr grenzenlos Berge besteigen, „wild“ Ski fahren und beliebig oft Volleyball spielen und dabei unzählige Male auf dem Hallenboden aufknallen kann wie bisher.

Januar 1993. Volleyballspiel in der Vereinsturnhalle. Gerne nehme ich das Angebot der im Nachbarfeld spielenden ersten Freizeit-Mannschaft an, bei ihnen mitzutrainieren. Eine große Ehre für mich! Beim Übungsspiel tritt ein gegnerischer Spieler auf mein Feld über. Als ich von einem Block wieder auf dem Hallenboden landen will, gerate ich versehentlich auf den Fuß des anderen Spielers. Der Knöchel knickt um. Ich höre ein komisches Knacken im linken Knie und spüre einen stechenden Schmerz. Nein, nicht schon wieder! Nach zwei Wochen geht der Schmerz weg. Ich gehe wieder zum Volleyballspiel.

Aus jetziger „klügerer“ Sicht kann ich nur sagen: Für ein bereits verletztes Knie sind die Sprünge auf den Hallenboden beim Volleyballspielen reines Gift. Aber damals will ich dies einfach nicht wahrhaben. Ich bin unbelehrbar – vielleicht auch deshalb, weil gerade das Volleyballspiel ein wichtiger allwöchentlicher und regelmäßiger Freizeitevent ist und eine große soziale Bedeutung für mich hat. Beim Spiel und noch mehr beim „Nachsport“ in der Stammkneipe habe ich immer einen guten und vertrauten Kontakt mit meinen Sportsfreunden, die ich ja erst beim Volleyball kennengelernt habe.

Nach jedem Spiel habe ich Knieschmerzen, nach ein oder zwei Wochen gehen diese glücklicherweise immer wieder weg. Selbst eine kleinere Bergtour im Sommer 1993 ist noch drin. Das rechte Knie fühlt sich stark und unversehrt an, also glaube ich, weiter so tun zu können, als wäre nichts passiert. Ich ignoriere die Probleme im linken Knie. Im Herbst weiß ich aber, dass ich es so nicht mehr lassen kann. Auf den ersten Operateur bin ich sauer, weil ich nach seiner Prognose ja nach zwei Monaten wieder voll sportfähig hätte sein sollen. Ich fühlte mich jedoch die ganze Zeit unsicher im Knie, besonders nach dem Umknicken des Knöchels beim Volleyballspiel. Für diese neue mechanische Verletzung kann der Operateur aber gar nichts. Dies will ich nicht wahrhaben. Es ist viel einfacher, dem Arzt auch noch die Schuld für die zweite Verletzung zu geben. Denn dann muss ich mein Sportverhalten nicht ändern.

Diesmal suche ich eine andere bekannte Sportmediziner-Praxisgemeinschaft in München auf. Von einem der Ärzte werde ich, ebenfalls ambulant in einer Tagesklinik, schnell und unkompliziert operiert. Die Diagnose nach der erneuten Arthroskopie: Miniskusanriss und Knorpelschädigung im linken Knie. Der Knorpel, von dessen Existenz ich bis dahin nichts gehört oder gewusst hatte, musste geglättet – „geshaved“ – werden. Ich will einfach alle Problem schnell weg haben und mich wieder unbekümmert meinem sportlich orientierten Leben widmen können. Damals, mit immerhin 39 Jahren, war ich nicht in der Lage, nach innen zu hören oder gar zu fühlen. Alles wurde mit Sport „wegtrainiert“ und verdrängt. Ich wollte einfach weiter machen wie bisher.

Im Frühjahr 1994 versuche ich wieder, Volleyball zu spielen. Schon nach dem ersten Sprung spüre ich wieder einen stechenden Schmerz und muss erneut einen Arzt aufsuchen. Einige kleine Bänderstränge sind eingerissen. Um eine weitere OP komme ich diesmal herum. Nun beschließe ich schweren Herzens, mit dem Volleyballspielen aufzuhören – endlich. Ich bin deswegen jedoch total frustriert. Ich fühle mich jetzt in meinem Körper, aber auch psychisch ziemlich verunsichert. Ein neues, anderes Denken, eine andere Vorstellung vom und Einstellung zum Leben habe ich noch nicht gefunden, obwohl ich mittlerweile Vater geworden bin und für Mutter und Kind zu sorgen habe.

Februar 1995. Fortbildungskurs unter Leitung eines Psychologen. In der Gruppe geht es sehr emotional zu, verdrängte Emotionen werden bewusst angetriggert und freigesetzt. In einer kurzen Pause während zwei Gruppenveranstaltungen komme ich im Seminarraum mit einem anderen Teilnehmer unerwartet ins „Rangeln“. Zunächst ist es eher ein Abreagieren, ein scheinbar lustiges Balgen. Aber plötzlich wird daraus bitterer Ernst. Ich falle zu Boden, der andere ist stärker. Dies will ich mir auf keinen Fall gefallen lassen, ich würde mich ja sonst vor den anderen Kursteilnehmern, die dem ganzen Geschehen überrascht zuschauen, blamieren. Instinktiv halte ich dagegen, will mich aus meiner misslichen „Lage des Unterlegenen“ auf dem Boden befreien; denn der Kollege liegt auf mir, hat den Ringkampf scheinbar schon gewonnen. Das darf nicht sein. Alle können es hören, was plötzlich geschieht: Es knackt seltsam in meinem rechten Knöchel. Entsetzt weicht der „Kampfpartner“ zurück. Es ist jedoch schon zu spät. Das rechte Knöchel tut tierisch weh – wieder ein stechender Schmerz. Ich bekomme Panik…

Schnell werde ich zu einem Arzt gebracht. Er diagnostiziert einen verletzten Knöchel, möglicherweise einen Bänderriss. So ein Mist. Eine Kernspinthomographie einige Wochen später weist dagegen etwas Neues aus: Die Bänder am Knöchel wurden zwar stark überdehnt, sind aber nicht gerissen. Dies ist die gute Nachricht. Dafür ist der Meniskus angerissen – diesmal im rechten Knie. Ich kann es nicht fassen.

Ich kriege viele Spritzen ins rechte Knie. Die Schmerzen gehen vorübergehend weg, kommen aber immer wieder. Ich fühle mich total verunsichert, kann mich nun auf beide Beine nicht mehr verlassen. Dies kann nicht so weitergehen. An Pfingsten 1996 suche ich in gewohnter Manier nach einer Lösung: eine dritte OP durch den letzten Operateur – diesmal im rechten Knie. Dadurch sollen alle Probleme beseitigt und ich möglichst schnell wieder sportfähig werden. So ist zumindest mein Plan, so erhoffe ich es mir. Der Operateur ermutigt mich in meiner Ansicht. Aus seiner Sicht ist auch diese OP erfolgreich verlaufen. Der rechte Meniskus musste teilentfernt, der Knieknorpel geglättet werden. Doch nun passiert etwas seltsames: Wegen der OP im rechten Knie nehme ich eine Schonhaltung ein. Instinktiv belaste ich das linke Bein und damit das linke Knie mehr als gewöhnlich. Dieses ist jedoch bereits vorgeschädigt durch zwei frühere Operationen.

Unlösbare Knieschmerzen

Nach der OP im rechten Knie treten Schmerzen im linken Knie auf, die ab jetzt überhaupt nicht mehr weggehen. Ich habe einen Dauerschmerz – Tag und Nacht. Das ist unerträglich für mich. Ich wollte doch die letzte OP extra deshalb durchführen lassen, um die Knieprobleme ein für alle Mal zu beseitigen. Ich glaubte eben damals noch total an die Schulmedizin, deren Credo etwa so ausgedrückt werden könnte: „Alles hat rein körperliche Ursachen. Meist kann man diese Ursachen durch die richtigen Medikamente oder durch eine entsprechende Operation technisch beseitigen und das Problem komplett lösen“. Jetzt kommt es genau anders: Die Probleme gehen erst so richtig los. Eine weitere OP hat aber keinen Sinn mehr. Denn was sollte jetzt noch operiert werden?

Der Arzt, bei dem ich meine erste Knieoperation durchführen ließ, behauptet zwar in einer Radiosendung, dass seine Methode des Knie-Shavings super erfolgreich wäre, dass man jedoch ein ganzes Jahr (!) lang den Fuß nicht belasten dürfe, um die Bildung einer Ersatzknorpelschicht nicht zu stören. Mir kommen die ersten Zweifel an den Aussagen dieses Operateurs. Auf diese Methode will ich mich nicht (mehr) einlassen, ich dürfte ja dann ein ganzes Jahr lang nur mit Krücken herumlaufen.1 Niemand kann mir einen Erfolg garantieren. Nun gerate ich – 42-jährig – in eine wirkliche Krise: in eine Körper-, Sinn- und Lebenskrise.

Monatelang jammere ich dem Orthopäden in der Praxisgemeinschaft die Ohren voll, der selbst zwar nicht operiert, mich aber bei Operation Nummer zwei und drei seinem Kollegen empfohlen hatte. Ich mache ihn dafür verantwortlich, dass sich meine Knieprobleme und vor allem der Schmerz nicht mehr beseitigen lassen. Der Orthopäde, der zugleich betreuender Arzt einer Frauen-Nationalmanschaft und damit ein wirklicher Fachmann ist, hört sich meine Vorwürfe fast zwei Jahre lang geduldig an, spritzt mir immer wieder eine Substanz ins Knie, in der Hoffnung, damit den Schmerz wegzukriegen. Ohne Erfolg.

Im Januar 1998 erklärt mir der Arzt schließlich, dass er ab jetzt nichts mehr für mich tun und mir nicht mehr helfen könne. Ich hätte wohl ein Knie wie ein 80-jähriger Mann, ich sei „austherapiert“. Meine Arthrose sei besiegelt, der Knieknorpel im linken Knie dauerhaft und unheilbar geschädigt. Daher auch der Dauerschmerz. Er gibt mir noch 500 Tabletten zum Knorpelaufbau mit. Vielleicht können die mir langfristig doch ein bisschen Linderung verschaffen. Ich kann es nicht fassen. Ich bin wütend. Das kann doch nicht das Ende sein. Ich bin ja gerade erst 43 Jahre alt. Zudem macht mich der Dauerschmerz total mürbe. Dort, wo ich eine Abhilfe suchte – bei den besten Sportmedizinern Münchens – kann ich keine Lösung mehr finden. Unerträglich! Zudem geht genau in dieser Zeit meine Partnerbeziehung zu Ende. Ich fühle mich körperlich und psychisch wirklich schlecht.

Eine Kollegin empfiehlt mir ihren Sportarzt, von dem sie große Stücke hält. Noch einmal keimt Hoffnung auf. Kann womöglich er mir helfen? Ihn selbst bekomme ich nie zu Gesicht. Ich werde von einem seiner Assistenzärzte behandelt. Das Wartezimmer ist voll. Bei jedem Termin, bei dem ich eine Substanz ins Knie gespritzt bekomme, muss ich drei Stunden warten, bis ich dran komme. Die Behandlung selbst dauert dann immer nur etwa fünf Minuten. Der Assistenzarzt, der im Auftrag seines Chefs arbeitet, wirkt regelmäßig gehetzt und gestresst.

Als ich einmal gerade bei den Vorzimmerdamen zu einer Terminklärung warte, möchte eine andere Patientin einen Termin beim Chefarzt selbst bekommen. Man bietet ihr tatsächlich einen an: im November. Es ist jedoch erst März. Irgendwie kommt mir jetzt alles sinnlos vor. Ich wollte doch auch zum Chefarzt selbst, in der Hoffnung, durch ihn das Wunder der Heilung zu erleben. Dies hätte nämlich für mich darin bestanden, dass ich wieder voll gesund und sportlich geworden wäre und meine Einstellung nicht hätte ändern müssen: Einfach auf „Reset“ drücken und weitermachen wie bisher.

Der Assistenzarzt schlägt mir zusätzlich zu den Spritzen vor, mir Einlagen im linken Schuh zu beschaffen, um rein mechanisch den Druck vom linken Knie wegzukriegen. Es hilft nichts. Die Schmerzen bleiben, ja sie nehmen sogar noch zu, weil nun durch die unnatürliche Stellung eine beständige Spannung im linken Knie und zusätzlich im Rücken entstanden ist. Als ich dem Arzt dies nach etwa sechs Monaten Behandlung mitteile, meint er, ich solle die Einlagen doch ganz einfach wieder entfernen, dabei aber aufpassen, um keinen Bandscheibenvorfall zu bekommen. War eben nur ein Versuch, der schon bei vielen anderen Patienten geholfen habe. Auch in dieser Praxis kann ich keine Hilfe mehr bekommen. Der Arzt hat zudem keine Zeit, sich jedes Mal mein Gejammere anzuhören. Dies ist mein letzter Besuch in dieser Praxis.

Die Schmerzen aber sind unerträglich. Sitze ich zu Hause, habe ich Schmerzen. Gehe ich zur Arbeit, ist der Schmerz ebenfalls mein ständiger Begleiter. Versuche ich spazieren zu gehen, habe ich noch mehr Schmerzen. Um überhaupt einschlafen zu können, klatsche ich beim zu Bett Gehen ein Pfund Quark aus dem Supermarkt auf das linke Knie. Von meiner Oma weiß ich noch, dass Quark den Schmerz vorübergehend aus einem Gelenk ziehen kann. Um im Bett nicht alles zu versauen, wickle ich ein Tuch um diese Quarkmasse. Darüber gebe ich eine Plastiktüte. Tatsächlich kann ich in der Regel dann auch einschlafen. Gegen fünf Uhr am Morgen werde ich jedoch fast jeden Tag wach. Der Schmerz hat wieder die Oberhand gewonnen. Er steckt beständig im Knie – und in meinem Kopf. Alles wird vom Schmerz bestimmt und dominiert. Ein neuer aussichtsloser Tag beginnt, sobald ich aufgewacht bin.

Acht Wochen lang gehe ich mit Krücken in die Arbeit, weil mich das Auftreten auf dem linken Fuß zu sehr schmerzt. Da dies nichts bringt, werfe ich die Krücken wieder weg. Wie soll es nun weitergehen? Der Schmerz hat sich mittlerweile so richtig in meinen Kopf eingefräst. Eine Abhilfe ist nicht in Sicht. Ich bin mit meinem Latein vollkommen am Ende. Und die Schmerzen bleiben. Alles erscheint aussichtslos. Das ungelöste Körperproblem schlägt mir natürlich aufs Gemüt. Ich bekomme trübe Gedanken, habe kein Konzept mehr, wie ich aus der vor allem körperlichen Notlage wieder herauskommen sollte. Nun bin ich vollkommen in einer Midlife-Krise angelangt.

(2) Der Umschwung

Die Gedanken von Luise Hay

Herbst 1998. Wieder sind die Knieschmerzen unerträglich. Verzweifelt suche ich nach Hilfe, aber wo soll sie herkommen? Nach einem Sonntagsgottesdienst erzähle ich einer Mitarbeiterin meiner Kirchengemeinde von meiner Not. Sie hört sich alles geduldig an. Dann verspricht sie mir, am nächsten Sonntag eine Tonkassette von Luise Hay, einer amerikanischen Lehrerin und Heilerin, mitzubringen. Da ich in einer ausweglosen Situation bin und der bisherige Weg, Hilfe von der Schulmedizin und von Operationen zu erhoffen, vollkommen an sein Ende gekommen ist, bin ich für alles offen, was mir vielleicht helfen könnte. Ich kann ja jetzt nichts mehr verlieren, womöglich aber wieder etwas gewinnen. Der Schmerz treibt mich permanent an nach dem Motto: „Tu doch endlich was!“

Die Gedanken von Luise Hay stellen wirklich etwas Neues für mich dar. Ich sauge ihre Vorstellungen auf wie ein Schwamm das Wasser. Während eines Kurzurlaubs in der Toscana verbringe ich viele Stunden damit, jeden Satz der Kassette aufzuschreiben, so wichtig erscheinen mir die Botschaften, die da auf mich zukommen. Später stoße ich auch auf eines der Erfolgsbücher von Frau Hay mit dem Titel „Gesundheit für Körper und Seele. Wie Sie durch mentales Training Ihre Gesundheit erhalten und Krankheiten heilen“2. Das Buch aus dem Heyne-Verlag läuft unter der Reihe „Esoterisches Wissen“. Damit wollte ich bisher wirklich gar nichts zu tun haben.

Luise Hay hat selbst einen aufregenden Lebensweg hinter sich. Zunächst als Model gestartet und früh verheiratet, erscheint ihr Lebensweg vorgezeichnet. Danach aber wird sie vom Leben gebeutelt: Eine nervenaufreibende Scheidung und danach eine Krebserkrankung werfen sie jäh aus ihrem bisherigen Leben. Um den Krebs zu besiegen, holt sie sich alles Wissen heran, was ihr irgendwie helfen könnte. Dabei wird sie selbst zu einer Lehrerin und Missionarin für alternative Medizin. Sie kann den Krebs mit verschiedenen alternativen Heilmethoden besiegen, über die die Schulmedizin die Nase rümpft. Dies bedeutet ihre Gesundung und zugleich ihren Durchbruch als „Kämpferin für eine andere Art von Medizin“. Kein Wunder, dass ihr Schicksal und ihre Botschaften mich genau in der Situation erreichen und anrühren, als ich selbst nicht mehr weiter weiß, weil die Schulmedizin mich als „hoffnungslosen Schmerzensmann“ bereits aufgegeben hat.

Hier einige allgemeine Punkte ihrer Philosophie, die in meinem Denken nun einen fruchtbaren Boden finden:

„Jeder von uns ist 100% selbst verantwortlich für jede seiner Erfahrungen. Jeder Gedanke, den wir denken, gestaltet unsere Zukunft …

Jeder leidet an Selbst-Haß und -Schuld.

Der Gedanke eines jeden lautet: 'Ich bin nicht gut genug.' Es ist nur ein Gedanke und ein Gedanke kann verändert werden.

Verdruß, Kritik und Schuld sind die am stärksten schadenden Verhaltensmuster …

Wenn wir uns wirklich selbst lieben, funktioniert alles in unserem Leben.

Wir müssen uns von der Vergangenheit lösen und jedem vergeben …

Selbst-Bejahung und Selbstanerkennung im Jetzt sind der Schlüssel zu positiven Veränderungen.

Wir selbst verursachen jede sogenannte 'Krankheit' in unserem Körper …

Das Leben ist niemals festgefahren, statisch oder aufgebraucht, denn jeder Moment ist immer neu und taufrisch.

Ich bin eins mit derjenigen Macht, die mich geschaffen hat, und diese Macht hat mir die Kraft gegeben, meine Lebensumstände selbst zu gestalten. Ich erfreue mich an der Erkenntnis, die Macht über meinen Geist zu haben, ihn auf jede Art, die ich wähle, zu benutzen.

Jeder Augenblick des Lebens ist ein neuer Anfangspunkt, an dem wir das Alte verlassen. Dieser Augenblick ist genau hier und genau jetzt ein neuer Ausgangspunkt für mich. Alles ist gut angelegt in meiner Welt.“

3

Solche Gedanken sind wirklich neu für mich. Ja, es wirkt richtig provozierend auf mich, dass ich angeblich selbst meine Knieschmerzen verursache. Gut, dass ich mich verletzt habe, hing tatsächlich mit meinem eigenen Tun zusammen. Ich wollte jahrelang nicht mit dem für meine bereits verletzten Knie schädlichen Volleyballspiel aufhören. Durch das Springen und Aufprallen auf dem Hallenboden bei dieser Sportart wurden eben meine Knie immer wieder massiv erschüttert. Aber warum gehen die Schmerzen nicht mehr weg? Sollte ich dafür wirklich selbst verantwortlich sein? Und wie sollten meine Knieschmerzen mit mangelnder Selbstliebe, mit Schuld und mit der Vergangenheit zusammenhängen?

Aus der Sicht meiner katholischen Herkunft wirken auch folgende Gedanken von Frau Hay völlig ungewohnt, in denen eine Spielart der Reinkarnationslehre zu stecken scheinen: „Jeder von uns entscheidet sich zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort zur Menschwerdung auf diesem Planeten. Wir haben uns dazu entschlossen, hierher zu kommen, um eine bestimmte Lektion zu lernen, die uns in unserer geistigen Entwicklung vorwärts bringen wird. Wir wählen unser Geschlecht, unsere Hautfarbe, unser Land. Dann schauen wir nach demjenigen Elternpaar, das die Verhaltensmuster widerspiegelt, die wir mitbringen, um daran während unseres Lebens zu arbeiten.“4

Ich beginne anhand der Kassette und des Buches von Luise Hay zu erahnen, dass meine bisher unheilbaren Knieschmerzen nur durch eine andere Denkweise und durch eine wie auch immer geartete alternative Medizin zu beseitigen sind, die vollkommen jenseits der herkömmlichen Schulmedizin gesucht werden muss. Anscheinend existiert aber diese Medizin. Wenn ich der Philosophie der in den USA und in Europa sehr geachteten „esoterischen“ Lehrerin und Heilerin Luise Hay Glauben schenken darf, so gibt es grundsätzlich zu jedem Problem und zu jeder Krankheit einen Heilungsweg. Man muss nur die richtige Ebene in sich selbst finden, auf der das eigentliche Problem liegt und die Bereitschaft haben, auch ganz unkonventionelle Wege zu gehen. Dann findet man dafür womöglich auch den richtigen Heiler.

Durch Frau Hay kommt zum ersten Mal der Gedanke auf mich zu, dass Ärzte, Heilpraktiker und Heiler im Grunde nur die Diener, die Werkzeuge und Helfer eines „inneren Arztes“ sind, den jeder in sich trägt. Dieser sucht dann nach dem richtigen Weg und nach dem richtigen Heiler im Außen. Ich schwanke zwischen ungläubigem Staunen, Zweifel und Hoffen.

Wichtige Impulse, mein Knieproblem auch noch anders als schulmedizinisch-mechanisch zu sehen, bekomme ich durch eine Liste von Krankheiten am Ende des Buches, in der Frau Hay neben dem Körpersymptom den wahrscheinlichen Grund auf der Seelenebene nennt, sowie jeweils ein neues Gedankenmuster zur Lösung anbietet.

So heißt es etwa beim Stichwort Knieprobleme: „Wahrscheinlicher Grund: Stures Ego, Stolz. Unbeugsamkeit. Angst. Mangelnde Flexibilität. Unnachgiebigkeit.“ Als neues Gedankenmuster wird dazu folgendes angeboten: „Vergebungsbereitschaft. Verständnis. Mitgefühl. Ich beuge mich dem Fluss mit Leichtigkeit. Alles ist gut.“

5

Zum Stichwort „Schmerz“ ist in der gleichen Tabelle zu lesen: „Wahrscheinlicher Grund: Schuldgefühl. Schuld sucht immer nach Bestrafung.“ Als neues Gedankenmuster steht daneben: „Liebevoll lasse ich die Vergangenheit los. Die anderen sind frei und ich bin frei. Alles ist jetzt gut in meinem Herzen.“

6

Diese Überlegungen erscheinen mir 1998 noch ziemlich fremd und weit hergeholt. Dennoch ziehen mich die Gedanken von Luise Hay immer mehr an. Aber wieso soll meine eigene Sturheit und Unbeugsamkeit schuld daran sein, dass ich solche Schmerzen habe? Und wo soll meine Schuld stecken, derentwegen ich die Schmerzen gleichsam als Strafe erleiden muss? Es fängt an, in mir zu arbeiten. Eine Lösung zeichnet sich noch nicht ab, aber anscheinend sind die Gedanken von Hay der erste Hammerschlag für meine bisherige enge geistige Einstellung, wonach jeder Körperteil isoliert für sich betrachtet und durch eine entsprechende Operation mechanisch reparabel sei und nichts mit dem physisch-psychischen Gesamtsystem zu tun habe. Als wenig später heilende Personen mit ihren Angeboten auf mich zukommen, werte ich diese nicht gleich ab. Luise Hay hat mich neugierig für alternative Heilmethoden gemacht. Die Suche nach der konkreten Lösung für meine Knieprobleme erscheint mir jedoch im Herbst 1998 wie das berühmte Auffinden einer Nadel im Heuhaufen.

Ich werde geführt

Schon seit 1997 fahre ich immer wieder zu verschiedenen Heilbädern nach Ostbayern, um eine Schmerzlinderung zu bekommen. Bei einem Besuch im Herbst 1998 rutsche ich aus. Das Knie tut noch mehr weh. Daher suche ich wieder eine Krankengymnastikpraxis auf. Ein Physiotherapeut empfiehlt mir, zu einer benachbarten Sportschule zu gehen, um meine Muskeln grundsätzlich und langfristig wieder aufzubauen. Beim obligatorischen Aufnahmegespräch erzählt mir der Leiter von seinen Verletzungen beim Gewichtheben und was ihm dann geholfen habe. Er weigert sich, mich in seiner Sportschule mit dem Training beginnen zu lassen. Dafür schickt er mich zu einem alternativ ausgerichteten Sportarzt südlich von München. Erst wenn ich eine merkliche Schmerzlinderung erfahren hätte, könne ich in seiner Sportschule mit dem Trainieren beginnen. Vorher würde es keinen Sinn machen.

Ein ganzes Jahr lang fahre ich ab Januar 1999 einmal in der Woche zu dem empfohlenen Arzt. Er spritzt mir eine besondere Mischung von Substanzen ins linke Knie und setzt mir zusätzlich Akupunkturnadeln zur Schmerzlinderung. Dadurch gelingt es, das Knie zu stabilisieren und den Schmerz in Grenzen zu halten, wenn auch nicht zu beseitigen. Wichtiger ist aber, wieder Hoffnung zu schöpfen, dass es für mich doch noch irgendeine Heilung geben könnte. Die indirekte psychologische Betreuung durch diesen Arzt ist bei diesen Besuchen ebenso wichtig wie seine körperlichen Maßnahmen. Er hat mehr Zeit zum Gespräch als all die Sportärzte in München. Anscheinend ist es das, was ich brauche: Ich will ernst genommen und angehört werden.

Durch die Besuche bei diesem von mir bald liebevoll und respektvoll als „Schamanenarzt“ bezeichneten Mediziner sickert es langsam in mein Bewusstsein ein, dass ich allein für mein Leben, für meine Gesundheit und aktuell für meine Knieheilung verantwortlich bin. Hatte ich so etwas Ähnliches nicht schon bei Luise Hay gelesen? Diese Anschauung ist wirklich neu für mich, denn bisher war ich von folgender Einstellung geprägt: „Ich ändere nichts in meinem Leben, ich beklage meinen misslichen Zustand und jammere überall herum. Ich erwarte, dass die Ärzte mich heilen, gibt es doch in München ausgezeichnete Sportärzte. Wenn eine Heilung nicht gelingt, sind allein die Ärzte schuld und ich äußere ihnen gegenüber auch meinen Unmut. Schließlich zahle ich dafür ja Krankenversicherung und daher kann ich doch erwarten, dass ich von den Ärzten geheilt werde“.

Der alternative Arzt setzt in den kurzen Gesprächen vor und nach dem Spritzen in das linke Knie so ganz nebenbei einige Impulse und bringt mich auf unerwartete neue Gedanken:

Ich sollte bei meiner Suche nach Heilung auf ganz andere Ebenen blicken als nur auf die körperliche.

Er gibt mir die Adresse einer Geistheilerin, die durch „Aura-Reading“ bekannt ist. So etwas habe ich noch nie gehört.

Er provoziert mich mit der Frage, warum ich denn noch keine sogenannte „Visionssuche“ gemacht hätte und gibt mir dazu konkretes Informationsmaterial.

Er erzählt mir von einem Männer-Workshop in der freien Natur, an dem er selbst teilgenommen hat.

Er gibt mir einen Artikel aus einer esoterischen Zeitschrift. Dadurch werde ich zum ersten Mal mit einem neuen Denken konfrontiert: Neben der Heilung auf einer rein körperlichen Ebene gäbe es noch eine psychische, eine familiensystemische und eine karmisch-spirituelle Heilungsebene.

Alles völlig neu für mich! Ich frage mich selbst, warum ich mich denn nicht gegen diesen „Humbug“ wehre. Mit etwas Abstand betrachtet, kann ich drei Antworten darauf finden: Einmal kann ich von den reinen Schulmedizinern, den Orthopäden und Operateuren, keine Hilfe mehr erwarten. Nach ihrer Meinung bin ich zu einem „hoffnungslosen Fall“ geworden. Zum zweiten hat mich der Schmerz so mürbe gemacht, dass ich ganz andere, für mich alternative Gedanken und Denkweisen einfach mal auf mich wirken lasse und sie nicht sofort ablehne. Schließlich hat es mit der Persönlichkeit dieses Arztes zu tun, der einen ganz anderen Ansatz hat als die üblichen Schulmediziner. Ich fasse immer mehr Vertrauen zu ihm, werde etwas gelassener, obwohl auch er mir den Schmerz nicht auf die Schnelle wegzaubern kann. Diese meine eigene Offenheit führt mich jetzt weiter…

An dieser Stelle muss ich die von mir so bezeichneten „Schulmediziner“, die Sportärzte also, bei denen ich nach Heilung suchte, in Schutz nehmen und ihre Maßnahmen würdigend erwähnen. Sie haben damals getan, was sie konnten und was in ihrer Macht stand. Ihre operativen Eingriffe waren, auf einer rein körperlichen Ebene betrachtet, wohl jedes Mal durchaus erfolgreich. Da sie viele Sportler, darunter auch Profisportler, in ihren Praxen behandelten, die möglichst schnell wieder fit gemacht werden wollten, passten diese Ärzte genau zu meiner damaligen Einstellung. Nie wäre ein solcher Arzt auf die Idee gekommen, mir vom Sport abzuraten. Dadurch wurde mein Glauben an meine körperliche Leistungsfähigkeit und Sportlichkeit zunächst am Leben erhalten. Als dann bei mir aber chronische Schmerzen auftraten, waren diese Ärzte mit ihrem rein auf den Körper abgestimmten Weltbild vollkommen überfordert und ihre Maßnahmen ungeeignet.

Der von ihnen propagierte oder zumindest subtil vermittelte Glaube, wonach eben jede Verletzung grundsätzlich auf rein körperlicher Ebene wieder reparabel sei, wurde bei mir nachhaltig erschüttert. Es gab jedoch erst dann für mich eine Weiterentwicklung, als ich mich von diesem falschen Glauben löste und den Ärzten, die wohl ihr Bestes getan hatten, nicht mehr auf so billige Weise die Schuld für meine Probleme gab, ihnen aber auch nicht mehr so blind vertraute wie bisher. Erst als ich damit begann, mich für meine Gesundheit und für meine Lebensführung selbst verantwortlich zu fühlen, ging es für mich weiter.

Und nun bin ich bei dem „Schamanenarzt“ in der Provinz südlich von München gelandet. Durch die wöchentlichen Spritzen ins Knie werden die Schmerzen etwas gelindert, sie gehen jedoch nicht weg. Noch schlimmer ist, dass ich mich in meiner Beweglichkeit und Lebendigkeit vollkommen eingeschränkt fühle. Durch die Schonhaltung wegen des schmerzenden linken Knies kommen nun auch noch Blockaden und Verrenkungen im Rücken hinzu. Was ist mit meinem Körper los? Ja, was ist überhaupt mit mir los? Die eigentliche Ursache für die Schmerzen im linken Knie ist nicht gefunden. Mit der Erklärung des Münchner Sportarztes ein Jahr zuvor kann und will ich mich nicht abfinden, wonach ich „erledigt“ sei, ein Knie wie ein 80-jähriger Mann hätte und es eine Heilung für mich nicht mehr geben könne. Eine vernichtende, aus Sicht des damaligen Sportarztes sicher ehrliche Diagnose für mich. Irgendwie spüre ich jetzt aber immer mehr,

dass kein Arzt der Welt „es“ für mich von außen her machen kann;

dass ich selbst für meine Heilung zuständig bin, wenn überhaupt noch eine möglich sein sollte;

dass es in mir einen inneren Heiler, einen inneren Arzt, geben könnte, der nach der Heilung suchen muss. Nur er kann mich heilen. Äußere Heiler sind dann nur seine Helfer und Diener;

dass ich Geduld haben und mir Zeit geben muss, wenn es doch noch zu einer Heilung kommen sollte;

dass die Heilung für mich nicht in der Schulmedizin liegen kann, die mir den falschen Glauben vermittelt hat, dass jeder Körperteil isoliert für sich rein technisch reparabel sei;

dass noch andere Heilungsinstanzen existieren könnten als die mir bis dahin allein bekannte und allein akzeptierte rein körperlich ausgerichtete Schulmedizin. Daran hatte ich geglaubt und nun war ich mit diesem meinen Glauben am Ende. Dieser Glaube war vollkommen gescheitert und erschüttert worden durch den schon seit mehreren Jahren anhaltenden Dauerschmerz, der dabei war, mich immer mehr verrückt zu machen.

Mit etwas Abstand betrachtet, haben die Schmerzen, die ich nicht mehr abschütteln kann, doch eine wichtige und womöglich notwendige Funktion: Ich werde demütig und offener. Da die Schulmedizin mich so enttäuscht hat, bin ich immer mehr bereit, auch auf andere Angebote zu schauen, die ich bisher, wie so viele meiner Zeitgenossen, mit den Bemerkungen „so ein Quatsch“ oder „esoterische Spinnereien“ abgetan habe. Es ist ein langer Weg, mein eigenes Denken und meine innere Einstellung zu verändern. Nur so kann es für mich weitergehen und ich kann vielleicht doch noch Lösungen finden. So, wie es ist, kann ich es jedenfalls nicht lassen, der Schmerz ist mein täglicher Begleiter und treibt mich an, immer weiter nach Lösungen und eben nach einer Heilung zu suchen. Dadurch findet in mir eine Veränderung meines bisherigen Weltbildes statt. Ich werde zugleich immer mehr zu einem Beobachter meiner selbst.

(3) Unkonventionelle Heilungswege

Aura-Reading bei einer amerikanischen Geistheilerin

Daher ist es nahe liegend, dass ich im August 1999 bei einer mir vom „Schamanenarzt“ empfohlenen amerikanischen Geistheilerin auftauche, die „Aura-Reading“ anbietet. Ich bin neugierig geworden. Was macht diese Frau, was könnte es mir denn bringen? Seltsamerweise wohnt sie genau in meiner Stadt. So ein „Zufall“. Ich musste aufgrund der großen Nachfrage bei ihr über sechs Monate lang auf diesen Termin warten. Mit etwas Bammel trete ich bei ihr ein. Sie lebt alleine, nur zwei Katzen nehmen regelmäßig an ihren Behandlungen teil, wie sie mir gleich zu Beginn erklärt. Wie sie selbst sagt, sind sie ihre „Helfer“. Der Gegensatz zu den zupackenden Orthopäden könnte nicht größer sein. „Aura-Reading“? Tut dies vielleicht weh? Werde ich dabei psychisch verändert? Oder ist alles nur Scharlatanerie, mit der jemand mit mir gutes Geld verdient? Solche Gedanken gehen mir gerade durch den Kopf.

Die Heilerin hat sich auf mein Kommen vorbereitet und liest von einem Blatt ihre Erkenntnisse ab, die sie über mich bereits am Tag zuvor „gesehen“ hat. Vor dem Hintergrund meiner bayerisch-katholischen Erziehung ist dies alles Humbug und Zauberei. Wie kann es so etwas geben? Wie kann jemand in meine Seele schauen, der mich noch nie gesehen, sondern nur ein halbes Jahr zuvor bei der Terminvereinbarung einmal kurz meine Stimme gehört hat? Vor dem Hintergrund meines bisherigen Glaubens konnte das nur Jesus. Werde ich jetzt vollkommen hinters Licht geführt? Geht es womöglich nur um Geldschneiderei? Die Dame verlangt 100 Mark in der Stunde, lässt ein Tonband mitlaufen.

Eine Stunde lang erzählt sie mir, was meine wahren Probleme seien, was eben meine Aura, das heißt mein Energiefeld, ihr „sage“. Vor allem auf zwei frühere Inkarnationen, also auf Existenzen in früheren Leben, weist sie mich hin. Dort seien schlimme Traumata geschehen. Darum versucht sie anschließend, diese Traumata durch ein sehr eigenartiges Summen-Ritual für mich aufzulösen. Denn in den beiden früheren Inkarnationen seien böse Dinge passiert, die auch mit dem jeweiligen Tod nicht beendet werden konnten, in meiner Seele festgehalten wurden und die daher bis in dieses jetzige Leben hereinwirken, die Körperprobleme und vor allem die chronischen Schmerzen verursachen, sowie eine Heilung verhindern würden. Die Mitteilung ihrer Erkenntnisse und das Heilungsritual dauern etwa eine Stunde lang.

In der folgenden Stunde stelle ich dann Fragen an die Heilerin, die durch ihre Diagnose aufgeworfen wurden und die sie mir zu beantworten versucht. Nach zwei Stunden und um 200 Mark leichter verlasse ich die Frau wieder, eine Tonkassette in der Hand, auf der das ganze Gespräch aufgezeichnet worden ist. Es dauert über sechs Wochen, bis ich auf siebzig (!) großen Seiten die ganze „Session“ von der Kassette heruntergeschrieben habe. Denn ich spüre instinktiv, dass die Heilerin keine Spinnerin ist, sondern dass ihre Erkenntnisse über mich und meine Seele durchaus Sinn machen könnten. Außerdem möchte ich durch das Aufschreiben noch mehr Bewusstsein über diese neuen, von der Heilerin ganz selbstverständlich geäußerten Vorstellungen bekommen – etwa über frühere Inkarnationen, also Vorleben. Schließlich möchte ich vor mir selbst rechtfertigen, warum ich so viel Geld ausgegeben habe. Denn ich kann die Rechnung für diese „Session“, die die Themen „Geistheilung – Aura-Reading – Heilung von Traumata aus früheren Inkarnationen“ zum Inhalt hatte, sicher bei keiner Krankenkasse einreichen.

Zum ersten Mal werde ich mit der Thematik der „Reinkarnation“ konfrontiert. Der Glaube an die Seelenwanderung ist ein Kernstück der großen östlichen Religionen, vor allem des Hinduismus. Auch bei vielen indigenen Völkern gibt es eine Vorstellung von Wiedergeburt der Seelen Verstorbener in die Stammesgesellschaft hinein. Diese Lehren sind mir zumindest prinzipiell und ganz grob vertraut, haben aber nichts mit den gängigen christlichen Vorstellungen gemein, in denen ich sozialisiert wurde. Nein, mit Wiedergeburtsgedanken hatte ich bisher nichts zu tun.

Das Christentum konzentriert sich ausschließlich auf dieses jetzige Leben und geht nur von einer einzigen, nämlich der aktuellen, Inkarnation unserer als unsterblich angenommenen Seele aus. Diese – so die offizielle Lehre – wandere nach dem Tod direkt ins Paradies und zu einer personalen Begegnung mit Gott; oder in das „Fegfeuer“ oder in die Hölle, wie es etwa eine traditionelle, mittelalterlich geprägte katholische Auffassung noch immer vermitteln will.

Da ich auf einer schon fast verzweifelten Suche nach Abhilfe für die Knieschmerzen und mittlerweile auch für die Schmerzen im Rücken bin, lasse ich den Wiedergeburtsgedanken für mich zu, wehre mich geistig nicht mehr dagegen. Wenn zwei große und uralte Religionen wie Hinduismus und Buddhismus ihre ganze Lehre darauf aufbauen, kann so etwas zumindest nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Und es wäre nach meinem Empfinden eine westliche Arroganz zu behaupten, es könne so etwas wie eine Wiedergeburt gar nicht geben.

Dabei hat mich bisher eine solche östliche Lehre im Grunde überhaupt nicht interessiert. In meiner Herkunftsfamilie, die sehr traditionell christlich geprägt ist, hatten Vorstellungen von einer Wiedergeburt absolut keinen Platz. Anscheinend passt auch unsere westliche Schulmedizin genau zu der christlichen Vorstellung von einem einzigen Leben, nämlich dem jetzigen. Wenn man nur ein Leben hat, muss es möglichst schnell eine Lösung geben, falls man krank ist. Diese Lösung ist ausschließlich körperorientiert und soll durch Medikamente und durch Operationen herbeigeführt werden, weil solche Maßnahmen oft einen schnelleren sichtbaren Effekt erzielen können als etwa alternative, sanfte Methoden. Dafür ist keine Zeit, besonders dann nicht, wenn es eben nur dieses eine jetzige Leben gibt.

In meinem Kopf fängt es jedenfalls an zu arbeiten. Das Christentum geht ja – wie die meisten anderen Weltreligionen auch – davon aus, dass wir eine unsterbliche Seele haben. Warum sollte es für diese nur eine einzige Inkarnation geben – dieses jetzige Leben? Und was passiert mit kleinen Babys, die gleich nach der Geburt wieder sterben, bevor sie auch nur einen Tag gelebt haben? Was ist mit Frühgeburten, die gar nicht ins Leben kommen konnten? Fragen über Fragen. Rein rational und im Religionenvergleich sollte die Wiedergeburtslehre, die etwa der Hinduismus propagiert, zumindest eine gleichwertig logische Berechtigung wie die christliche Auffassung haben. Ich sehe dies alles eher pragmatisch: Wenn mir die Geistheilerin in der Sitzung mit ihren Vorstellungen von Reinkarnation helfen konnte, dann soll es mir recht sein, unabhängig davon, was ich selbst wirklich glaube.

Mehr passiert im Herbst 1999 nicht mehr. Eine fühlbare Heilung von Knie und Rücken geschieht nicht. Aber neue geistige Wege haben sich für mich aufgetan. Dies ist notwendig, damit ich offen für die Begegnungen bin, die sich bald darauf ereignen. Denn die Heilerin, die mittlerweile aus meinem Ort weggezogen ist, hat mich noch auf zwei Dinge hingewiesen, die ich in nächster Zukunft tun solle, oder die angeblich passieren würden:

Ich solle mir ein bestimmtes „Aura-Soma-Produkt“ besorgen.

Es würden heilende Menschen auf mich zukommen.

Tatsächlich werden beide Aspekte auf einmal erfüllt: Auf der Suche nach der Aura-Soma-Farbflasche, die mir die Geistheilerin empfohlen hat, gerate ich nach einigen Nachfragen in Apotheken an eine damals etwa 40-jährige Heilpraktikerin. Sie bietet neben einer Aura-Soma-Beratung auch Familienaufstellungen an.

Eine unglaubliche Knieheilung beginnt

Dezember 1999. Weihnachtsbazar in der Pfarrei meines Ortes. Beim Kaffeetrinken komme ich mit einer Frau unerwartet in ein sehr tiefschürfendes Gespräch. Sie erzählt mir, dass sie von dem Todesmarsch von KZ-Häftlingen aus dem KZ Dachau in den letzten Kriegstagen durch ihre Ortschaft geträumt habe. Von der Gemeindeverwaltung ihres Ortes wisse sie bereits, dass dabei 49 Häftlinge während des Durchmarschierens von SS-Leuten brutal erschossen worden seien, weil sie entweder körperlich zu sehr erschöpft waren und auf der Straße zusammenbrachen oder mit letzter Kraft fliehen wollten. Im Traum habe sie diese Menschen schon mehrfach „gesehen“, darum habe sie vor, für die Seelen dieser armen und bestialisch Ermordeten nun ganz alleine ein heilendes und würdigendes Gedenkritual abzuhalten. Sie wisse, dass sie selbst sonst keine innere Ruhe mehr finden würde. Es scheint ihr so, als ob die Seelen dieser Verstorbenen förmlich um solch ein Würdigungsritual schreien würden, um endlich Ruhe finden und in die geistige Welt der Toten hinübergehen zu können.

Dieses Gespräch beschäftigt mich sehr. Denn ich habe seit Monaten den Eindruck, als würden ebenfalls Tote, Verstorbene, vielleicht irgendwelche ungewürdigten Ahnen, aus meinem linken Knie um Hilfe schreien. Ich habe aber keine Ahnung, wer diese sein könnten. Von meiner verstorbenen Großmutter väterlicherseits ist mir die auf dem Land weit verbreitete Vorstellung vertraut, dass Tote „umgehen“ können; dass also die etwas gruseligen oder sogar makaberen Geschichten vom „Gespenst im Schloss Canterville“ durchaus eine reale Grundlage im katholischen Volksglauben haben. Schon als Kinder hatte uns diese Großmutter daher strengstens verboten, abends nach dem sogenannten Gebetläuten bei Einbruch der Dunkelheit noch auf einen Friedhof zu gehen.

Die Begegnung mit der Frau auf dem Bazar ist anscheinend kein Zufall gewesen. Denn für den nächsten Tag habe ich mich schon vor Wochen zu einer sogenannten „Familienaufstellung“ angemeldet, die die oben erwähnte Heilpraktikerin in regelmäßigen Abständen für ihre Klienten anbietet. Hierbei handelt es sich um eine spezielle Methode aus der Familientherapie. Ein Teilnehmer stellt zunächst sein Problem oder Thema, das ihn beschäftigt, im Kreis der anderen Teilnehmer und der Leiterin vor. Dann sucht er sich unter den anderen Teilnehmern sogenannte Stellvertreter für die Mitglieder seiner Familie aus, die er aufstellen möchte. Auf Anraten der Leiterin bittet er anschließend die gewählten Personen, sich im Raum so hinzustellen, wie er seine Familienverhältnisse und die Beziehungen seiner Verwandten untereinander und zu sich selbst empfindet. Dabei werden auch bereits verstorbene Familienmitglieder mit berücksichtigt. Zum Schluss wird auch der „Fallgeber“ selbst durch einen anderen Teilnehmer ersetzt, so dass der Protagonist aufmerksam von außen zuschauen kann. Meist kann man schon als Laie erkennen, wenn etwas nicht stimmt, etwa wenn die Stellvertreter für Vater und Mutter in entgegengesetzte Richtungen blicken oder sehr nahe Familienmitglieder recht weit voneinander entfernt stehen.

Schon am Morgen dieses Familienaufstellungs-Tages bin ich mit meinem Fall an der Reihe. Ich möchte nur zwei Personen hinstellen lassen – meine Mutter und mich selbst. Ohne lange zu überlegen, suche ich zwei Vertreter aus den anwesenden Teilnehmern aus und stelle sie im Raum auf. Nicht nur ich, sondern auch die übrigen Teilnehmer können jetzt sofort erkennen: Die Mutter steht mir sehr nahe – vielleicht sogar zu nahe –, schräg auf meiner linken Seite, keine 20 Zentimeter von mir entfernt. Je nach Blickwinkel könnte man sagen: Sie steht mir oder ich stehe ihr im Weg. Sie blickt in die Ferne, hat anscheinend gar nicht so viel mit mir zu tun. Zu welchen Personen blickt sie denn dann? Die Leiterin gibt den Impuls, dass es sich dabei um bereits verstorbene nahe Verwandte handeln könnte.

Der Mann, der mich vertritt, sagt plötzlich, dass ihm gegenüber drei Tote seien, dass er diese sehr gut spüren könne. Nun wird es ziemlich gruselig für mich. Wer sollten denn diese drei Toten sein? Die Leiterin frägt, ob die Mutter womöglich verstorbene Geschwister hatte. Gibt es vielleicht noch unbekannte Geschwister meiner Mutter, deren Schicksal im Laufe der Zeit in meiner Herkunftsfamilie verdrängt wurde? So verrückt es für mich klingen mag: Kann es sein, dass es vergessene Tote gibt, die aus meinem linken Knie schreien, dass somit sie die eigentliche Ursache für den Dauerschmerz sein könnten? Solche Gedanken beschäftigen mich schon während der Aufstellung, mehr aber noch in den Tagen danach. Sie lassen mir keine Ruhe mehr.

Bereits am Abend des gleichen Tages rufe ich bei meiner Mutter an. Von ihrem 1972 früh verstorbenen Bruder weiß ich noch. Da gibt meine Mutter zu, dass es tatsächlich noch drei weitere Brüder lange vor ihrer Zeit gegeben habe, die schon bald nach der Geburt wieder gestorben seien – so um die Zeit des ersten Weltkriegs herum und kurz danach. Ich schreibe meiner Tante, der viel älteren Schwester meiner Mutter, einen langen Brief und bitte sie, mir so genau wie möglich Auskunft über das Schicksal dieser Brüder zu geben.

Schon nach einigen Tagen erhalte ich einen ausführlichen Antwortbrief von ihr – gestochen geschrieben, exakt recherchiert. Dies erstaunt mich, schließlich ist meine Tante schon 86 Jahre alt. Als Erstgeborene in ihrer Familie kann sie mir sehr genaue Auskünfte über ihre jüngeren Brüder geben. Sie weiß Geburts- und Todesjahre, sowie die Umstände ihres Todes. Dies ist sehr aufschlussreich für mich. Tatsächlich sind zwei ihrer Brüder, die nach ihr noch während des ersten Weltkriegs geboren wurden, schon einige Wochen oder Monate nach ihrer Geburt an damals typischen Kinderkrankheiten wieder gestorben. Für meine Oma, die zu dieser Zeit allein in Nürnberg lebte, war dies jedes Mal ein großer Schock. Der dritte Bruder sei dann bei einem tragischen Unfall – einem Feuer – bald nach Ende des Krieges in dem Dorf ums Leben gekommen, in das meine Großmutter zusammen mit meinem Großvater gleich nach Kriegsende gezogen war.

In den Tagen nach der Familienaufstellung habe ich mehrere Träume von diesen Brüdern meiner Mutter, von denen ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Noch bevor ich die genaueren Informationen von meiner Tante erhalte, träume ich davon, dass zwei dieser Kinder in Nürnberg beerdigt wurden und dass mein Leben blockiert bleibe, wenn ich nicht etwas zu ihrer Würdigung unternähme. Zudem habe ich einen weiteren Traum, der den Feuerunfall des dritten Jungen symbolisiert. Diese Träume nehme ich ernst. Ich erinnere mich an das Gespräch mit der Frau auf dem Weihnachtsbazar am Tag vor der Familienaufstellung. Instinktiv weiß ich jetzt sofort, was ich als Nächstes zu tun habe.

Ich kaufe große weiße Kerzen, sowie rote Wachsplatten und versehe die Kerzen mit den Namen und dem Todesjahr dieser Ahnen, die ja alle Onkel von mir waren, also durchaus nähere Verwandte. Indem ich die Buchstaben aus den Wachsplatten schneide und auf die Kerzen drückte, sowie jeweils ein großes rotes Wachskreuz auf die Kerzen forme – eine fast meditative Beschäftigung –, bekomme ich auch einen ersten inneren Kontakt zu diesen Verstorbenen, deren Schicksal mich immer mehr anrührt. Sie durften nicht leben, sie starben bereits innerhalb ihres ersten Lebensjahres.

Ich suche nach den Pfarrämtern, in deren Sprengel die Friedhöfe liegen, wo die Kinder damals beerdigt wurden. In den dazugehörigen Kirchen bestelle ich jeweils eine katholische Gedenkmesse und bitte die Pfarrer – natürlich gegen eine Spende –, die Verstorbenen, sowie mich als Auftraggeber, in diesen Gottesdiensten ausdrücklich namentlich zu erwähnen. Zudem werden diese Gedenkmessen rechtzeitig in den wöchentlichen Pfarrbriefen dieser Gemeinden schriftlich angekündigt. Bei diesen Gottesdiensten bin ich auch selbst anwesend. Als die Namen der Toten dann tatsächlich genannt werden, kommen mir die Tränen – Tränen der Anteilnahme am tragischen Schicksal dieser Ahnen. Obwohl ich die drei Onkel selbst nie kennengelernt habe, ja obwohl ich von ihrer Existenz erst einige Wochen zuvor zum ersten Mal erfahren habe, muss ich jetzt tief berührt weinen, als ich ihre Namen höre. Ich trauere ernsthaft um sie.

6. Januar 2000, Dreikönigstag. Nach der Gedenkmesse in der benachbarten Pfarrei fahre ich zum Nürnberger Südfriedhof. Laut Auskunft meiner Tante wurden dort in den Jahren 1917 und 1918 zwei ihrer Brüder beerdigt, während ihr Vater, also mein Großvater mütterlicherseits, noch in den Schützengräben von Verdun lag und versuchte, den Krieg zu überleben. Meine Großmutter hauste damals in einer Mietskaserne in Nürnberg. Ich gehe auf den Friedhof und frage Besucher nach Kindergräbern. Ich habe noch keine Ahnung, wo ich die beiden Kerzen hinstellen könnte. Dann aber geht alles sehr schnell.

Eine Frau zeigt mir die Richtung zu einem alten Friedhofsbereich mit aufgelassenen Kindergräbern.

Sofort spüre ich, dass meine Onkel vor über 80 Jahren dort beerdigt worden sein könnten. Ich finde ein noch intaktes Kindergrab mit zwei kleinen Büschen auf beiden Seiten und einem einfachen Holzkreuz in der Mitte. Der Name ist nicht mehr zu entziffern. Zu beiden Büschen am Grabende stelle ich je eine der Kerzen hin - windgeschützt in mitgebrachten hohen Gläsern. Die Namen aus rotem Wachs sind gut lesbar. Es wird wohl etwa drei volle Tage und Nächte dauern, bis die Kerzen vollständig niedergebrannt sein werden. Denn ganz innen weiß ich, dass genau dies notwendig ist. Wer wird „meine“ Kerzen und damit symbolisch meine Ahnen hüten? Ich wohne ja 180 Kilometer entfernt. Ein freundliches Ehepaar in der Nähe, die auch ein Kind verloren haben, bieten sich spontan an, die „Kerzenwache“ zu halten. Instinktiv haben sie mein Anliegen und meine Situation erfasst: Nämlich dass ich von weit herkomme und nur heute auf Besuch da sein kann, jedoch ein wichtiges Anliegen habe.