"Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?" - Wolfgang Kraushaar - E-Book

"Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?" E-Book

Wolfgang Kraushaar

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Beschreibung

Zwei Jahre vor dem Olympiaanschlag 1972 lag München schon einmal im Brennpunkt des Terrors: mit einer blutigen, wenn auch gescheiterten Flugzeugentführung auf dem Flughafen Riem, einem Brandanschlag auf das Israelitische Gemeindehaus, bei dem sieben Holocaustüberlebende starben, und Paketbombenattentaten auf zwei Verkehrsflugzeuge, von denen das eine notlanden konnte, während das andere abstürzte und alle 38 Passagiere und 9 Besatzungsmitglieder in den Tod riss. Wolfgang Kraushaar kann zeigen, dass eine der Taten höchstwahrscheinlich aus dem unmittelbaren Umfeld einer Gruppe deutscher Linksradikaler verübt wurde. Von ihr aus führen Verbindungslinien zu palästinensischen Terrororganisationen, aus deren Reihen die Täter und Hintermänner der anderen drei Aktionen kamen. Warum wurden sie nie vor Gericht gestellt, obwohl die meisten von ihnen rasch verhaftet worden waren? Welche Rolle spielte die damalige Bundesregierung? Wie konnte es trotz der Erfahrungen im Februar 1970 noch zur Geiselnahme auf der Olympiade kommen — und welche Zusammenhänge gibt es zwischen den Terroraktionen?

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Wolfgang Kraushaar

«Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?»

München 1970: über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungen

Vorbemerkung

Einleitung

1 «Das Wunder von Riem»

Der Beinahe-Absturz einer Maschine der United Arab Airlines

2 «Wir müssen die Israelis an ihren schwachen Punkten treffen.»

Warum Palästinenser damit begonnen haben, Flugzeuge zu entführen

3 «I have bomb, I have pistol, you have no chance.»

Die gescheiterte Entführung einer EL-AL-Maschine am 10. Februar 1970

4 «Der Plan scheiterte an der unerwarteten Gegenwehr des Flugkapitäns.»

Die Ermittlungen im Fall München-Riem

5 «Mord ist keine Antwort»

Die Demonstration der Jüdischen Studentenvereinigung

6 «Hilfe, wir werden vergast!»

Der Brandanschlag auf das Gebäude der Israelitischen Kultusgemeinde am 13. Februar 1970

7 «Aufklären werden wir den Fall wahrscheinlich nicht.»

Die Ermittlungen im Fall Reichenbachstraße 27

8 «Jagt sie, bis sie hinter Schloß und Riegel sitzen!»

Erste öffentliche Reaktionen auf den Mordanschlag in der Reichenbachstraße

9 «Einheit 112 der Gruppe Sartawi»

Die Festnahme eines weiteren Entführungskommandos am 17. Februar

10 «Über unserer Stadt liegen dunkle Schatten.»

Die Trauerfeier am 18. Februar auf dem Jüdischen Friedhof in München

11 «Wir treffen keine Unschuldigen!»

Die Tupamaros München (TM) beginnen am 20. Februar mit einer Anschlagserie

12 «… durch eine Sprengstoffdetonation erheblich beschädigt»

Die Notlandung einer AUA-Maschine am 21. Februar auf dem Rhein-Main-Flughafen in Frankfurt

13 «We are crashing – goodbye everybody – goodbye everybody.»

Der Absturz einer Swissair-Maschine am 21. Februar bei Würenlingen

14 «Es ist Zeit, dass Ihr Euch im zivilisierten Europa klar macht, dass es Euer Problem ist – das der zivilisierten Welt gegenüber dem Anarchismus.»

Die Kakophonie unter den palästinensischen Organisationen und die Reaktion eines israelischen Piloten

15 «Eine der vordringlichsten moralischen Fragen unseres Zeitalters»

Der Staatsbesuch des israelischen Außenministers Abba Eban

16 «Wer Bomben in Flugzeuge legt, der bringt auch kleine Leute ohne mit der Wimper zu zucken um.»

Die Ermittlungen im Fall der beiden Flugzeuganschläge

17 «Und nun noch zu den Kontakten an der Spitze …»

In welcher Beziehung stehen die vier Kaddoumis zueinander?

18 «Das Kaddisch für die Toten»

Die Gedenkfeier für die Opfer des Flugzeugabsturzes bei Würenlingen am 3. März in Jerusalem

19 «Wir sind in die Strategie von Al Fatah miteinbezogen»

Die schillernde Rolle des GUPS-Funktionärs Nabil Nassar

20 «Ja, ich bin Mitglied der PFLP-GeneralCommand»

Interview von Radio Zürich mit Sufian Kaddoumi

21 «Wir kämpfen gegen Bonn!»

Stern-Interview mit AOLP-Chef Sartawi

22 Abschiebung Teil I

Die drei am 17. Februar verhafteten AOLP-Mitglieder werden zu geringfügigen Strafen verurteilt und anschließend abgeschoben

23 «Hauptbasen des palästinensischen Untergrunds auf deutschem Boden»

Die Generalunion Palästinensischer Studenten im Dickicht der Guerillaorganisationen

24 «Raus aus Deutschland»

In der Agit 883 erscheint ein zweiter «Brief aus Amman»

25 «Justizopfer aller Länder vereinigt euch!»

Die Vorgeschichte der Tupamaros München

26 «Der Clown Teufel ist tot.»

Fritz Teufel und die Tupamaros München

27 «Doch wo sind die Brandstiftungen geblieben?»

Die Spur der Flammen

28 «Würden Sie mal bitte mitkommen …»

Die beiden führenden Tupamaros werden kurz hintereinander verhaftet

29 Abschiebung Teil II

Der Generalbundesanwalt lässt zwei der mutmaßlichen Flugzeug-Attentäter in den Nahen Osten abschieben

30 «Die Einzelheiten … wurden … in Bagdad von Dr. Sartawi festgelegt.»

Die Sicherungsgruppe Bonn-Bad Godesberg des BKA legt ihren Ermittlungsbericht zur gescheiterten Flugzeugentführung vor

31 Abschiebung Teil III

Die drei Riem-Attentäter werden am 30. September nach mehreren Flugzeugentführungen der PFLP freigelassen

32 «In Bern breitete man einen Mantel des Schweigens aus.»

Der Schlussbericht der Zürcher Kantonspolizei zum Anschlag auf die Maschine der Swissair wird der Bundesanwaltschaft in Bern übergeben

33 «Es ist wahrscheinlich, daß der Anschlag … einem Linienflugzeug der israelischen Luftfahrtgesellschaft EL AL gegolten hat.»

Die Sicherungsgruppe Bonn-Bad Godesberg des BKA legt ihren Ermittlungsbericht zu den Bombenanschlägen auf die beiden Flugzeuge vor

34 «Schuldig der versuchten Brandstiftung»

Das Landgericht München I verurteilt Fritz Teufel am 15.Januar 1971 wegen versuchter Brandstiftung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren

35 «Die Leute sind krank, von einem Wahnsinn besessen, unberechenbar und zu allem fähig.»

Mit Alois Aschenbrenner sagt sich eine der Zentralfiguren los

36 «Auf der Olympiade passiert was.»

Die Tupamaros Fritz Teufel und Georg von Rauch stellen Überlegungen zur «Sprengung» der Olympischen Spiele in München an

37 «They’re all gone.»

Die Geiselnahme der israelischen Olympiamannschaft und das Desaster beim Versuch ihrer Befreiung

38 «Wer sind die Schuldigen dieser Untat?»

Die Folgen des Olympiaanschlags

39 «Pardon – der falsche Mann!»

Die «Operation Zorn Gottes» der Mossad-Sondereinheit Caesarea

40 «Haben die Deutschen vor den Palästinensern kapituliert?»

Die Entführung einer Lufthansa-Maschine nach Zagreb zur Befreiung der drei überlebenden Mitglieder des Schwarzen September

41 «Gut, dass diese Sache den Neo-Nazis untergeschoben wurde.»

Ein ehemaliges RAF-Mitglied berichtet Überraschendes zum Brandanschlag Reichenbachstraße

42 «Der Bruno-Kreisky-Preis für Menschenrechte»

Die Wandlung des Issam Sartawi und sein tragisches Ende

43 «Von aktueller Staatsschutzrelevanz»

Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Anschlägen von Würenlingen und Lockerbie?

44 Die «Spur Südfront» ist «eine der heißesten Spuren»

Die Staatsanwaltschaft München I äußert sich erneut zu den Ermittlungen wegen des Brandanschlags Reichenbachstraße

45 «In der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger»

Epilog

Anmerkungen

Anhang

Biographien

Chroniken

Von der situationistischen Subversiven Aktion zu den terroristischen Tupamaros West-Berlin

Antizionistische und antisemitische Vorfälle in der radikalen Linken

München, Februar 1970

Anschläge der Tupamaros München

Quellen

Ungedruckte Quellen

Archivbestände

Interviews und Gespräche

Gedruckte Quellen

Interviews

Monographien, Dokumentationen, Erinnerungen

Aufsätze, Artikel, Kommentare

Register

Personen

Organisationen, Behörden, Fluggesellschaften, Institutionen

Danksagungen

Abbildungsnachweise

Brandanschlag auf das Gebäude der Israelitischen Kultusgemeinde in der Reichenbachstraße am 13.Februar 1970.

Abkürzungen

AOK

Anti-Olympisches Komitee

AOLP

Action Organization for the Liberation of Palestine

(Aktionsorganisation zur Befreiung Palästinas)

ARAMCO

Arabisch-Amerikanische Erdöl-Gesellschaft

AZ

Abendzeitung

BEA

British European Airways

BfV

Bundesamt für Verfassungsschutz

BKA

Bundeskriminalamt

BLfV

Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz

BLKA

Bayerisches Landeskriminalamt

BND

Bundesnachrichtendienst

BOAC

British Overseas Airways Corporation

CALP

Commandement de la Lutte Armée Palestienne

DFLP

Democratic Front for the Liberation of Palestine

(Demokratische Front zur Befreiung Palästinas)

DOZ

Deutsches Olympia-Zentrum

DRK

Deutsches Rotes Kreuz

EPD

Eidgenössisches Politisches Departement

FAR

Fuerzas Armadas Rebeldes

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

GUPS

Generalunion Palästinensischer Studenten

GUPA

Generalunion Palästinensischer Arbeiter

HIS

Hamburger Institut für Sozialforschung

IKG

Israelitische Kultusgemeinde

IOC

International Olympic Comittee

(Internationales Olympisches Komitee)

IRK

Internationales Rotes Kreuz

ISRACA

Israelisches Revolutionäres Aktionskomitee im Ausland

JAT

Jugoslawenski Aerotransport

LAA

Libyan Arab Airlines

LSD

Liberaler Studentenbund Deutschlands

MfS

Ministerium für Staatssicherheit

NOK

Nationales Olympisches Komitee

NZZ

Neue Zürcher Zeitung

PAN AM

Pan American World Airways

PDF

Peoples Democratic Front

(Demokratische Volksfront)

PDFLP

Peoples Democratic Front for the Liberation of Palestine

(Volksdemokratische Front zur Befreiung Palästinas)

PLA

Palestine Liberation Army

(Palästinensische Befreiungsarmee)

PFLP

Popular Front for the Liberation of Palestine

(Volksfront für die Befreiung Palästinas)

PFLP-GC

Popular Front for the Liberation of Palestine– General-Command

(Volksfront für die Befreiung Palästinas– Generalkommando)

PFLP-SC

Popular Front for the Liberation of Palestine– Special-Command

(Volksfront für die Befreiung Palästinas– Spezialkommando)

PIA

Pakistan International Airlines

PLO

Palestine Liberation Organization

(Palästinensische Befreiungsorganisation)

PRCS

Palestinian Red Crescent Society

PRI

Partido Revolutionario Institucional

RAF

Rote Armee Fraktion

RASD

Jihaz al Rasd (Kundschaftersystem)

RZ

Revolutionäre Zellen

SDS

Sozialistischer Deutscher Studentenbund

SZ

Süddeutsche Zeitung

TKB

Türkischer Kulturbund

TM

Tupamaros München

TW

Tupamaros West-Berlin

TWA

Trans World Airways

tz

tageszeitung (München)

UAA

UNRRA

United Arab Airlines

United Nations Relief and Rehabilitation Administration

Vorbemerkung

Die Schreibweise arabischer Namen weicht in den zitierten Dokumenten mitunter voneinander ab. Die Unterschiede entstehen bei der Übertragung von der arabischen in die lateinische Schrift. Die transkribierten Namen können insofern voneinander abweichen, sind in der Regel anhand der verschiedenen Silben und ihres Wortstammes aber gut zu erkennen.

Klarstellungen und Hinzufügungen, die in eckige Klammern […] gesetzt sind, stammen vom Autor.

Einleitung

Vom Überfall auf die israelische Olympiamannschaft in München hat jeder schon einmal gehört. Am 5.September 1972 wurde dem Traum, mit heiteren Spielen einen Gegenentwurf zur Nazi-Olympiade 1936Wirklichkeit werden zu lassen, schlagartig ein brutales Ende bereitet. Eine Gruppe bis an die Zähne bewaffneter Palästinenser drang im Morgengrauen ins Olympische Dorf ein und überfiel die israelische Mannschaft. Zwei der Sportler wurden gleich zu Beginn der Geiselnahme erschossen, neun weitere und ein Polizist kamen bei einem nächtlichen Befreiungsversuch auf dem nahe gelegenen Fliegerhorst Fürstenfeldbruck ums Leben; während des Feuergefechts starben auch fünf der acht Geiselnehmer.

Als 2005 mit Steven Spielberg der wohl erfolgreichste Filmregisseur aller Zeiten einen Spielfilm über die Geiselnahme und die anschließende Verfolgung der mutmaßlichen Hintermänner drehte, reichte ihm ein einziges Wort aus, um dem Publikum auf der ganzen Welt klarzumachen, worum es ging: «Munich». Die simple Ortsangabe genügte, um die Assoziation zum schrecklichen Geschehen während der Sommerolympiade wachzurufen. Die Bilder von der Gefangennahme der israelischen Sportler und ihrer gescheiterten Befreiung hatten sich vor all die anderen historischen Assoziationen geschoben, die sämtlich mit dem Nationalsozialismus verknüpft sind: München als Stadt des Marsches auf die Feldherrnhalle (1923), als «Hauptstadt der Bewegung» und als Namensgeberin eines Abkommens, in dem das Sudetenland dem Deutschen Reich zugeschlagen worden war (1938) und das schließlich zum Synonym für die gescheiterte Appeasement-Politik wurde, mit der der Zweite Weltkrieg nicht verhindert, sondern nur vorübergehend aufgeschoben werden konnte. Das alles stand nun nicht mehr im Vordergrund. In der internationalen Wahrnehmung ist der Name der bayerischen Landeshauptstadt seit 1972 offenbar am stärksten mit dem Olympiaanschlag verschmolzen.

Dass München aber bereits zweieinhalb Jahre zuvor schon einmal wegen einer Reihe von Terroranschlägen im Blickpunkt der Öffentlichkeit gestanden hat, weiß kaum noch jemand.1 Obwohl die meisten Älteren das spektakuläre Geschehen seinerzeit in den Medien verfolgt haben, erinnern sich nur noch wenige von ihnen daran. Und den Jüngeren hat niemand etwas davon erzählt, kein Journalist, kein Lehrer. Aus unerfindlichen Gründen sind die Geschehnisse im kulturellen Gedächtnis nicht tradiert worden. Dies aber ist aus mehreren Gründen erstaunlich:

Zunächst einmal, weil die Terrorwelle vom Februar 1970 mit 55Toten die opferreichste war, die es nach dem Zweiten Weltkrieg in Mitteleuropa gegeben hat,

dann aber, weil es sich bei einer der Terroraktionen – einer Brandstiftung in einem jüdischen Gemeindehaus – um einen vorsätzlichen antisemitischen Mordanschlag gehandelt hat, der mit sieben Opfern so viele Tote wie kein anderer in Deutschland nach dem Ende des Nationalsozialismus nach sich gezogen hat, und

weil darüber hinaus mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Deutsche darin verwickelt waren. Der Brandanschlag trägt jedenfalls die Handschrift der ersten in der Bundesrepublik gegründeten terroristischen Gruppierung.

Innerhalb von nur elf Tagen ereigneten sich in München fünf verschiedene Terroraktionen: zwei versuchte Flugzeugentführungen, zwei Bombenanschläge auf Flugzeuge und der Brandanschlag. Aus der Perspektive der Attentäter sind die Angriffe auf die vier Verkehrsflugzeuge gescheitert. Die erste Flugzeugentführung endete bereits im Transitraum und auf dem Rollfeld in einer blutigen Auseinandersetzung, die zweite wurde gar nicht erst durchgeführt, die dafür eingesetzte Kommandogruppe allerdings auf dem Rückflug verhaftet. Ebenso wie diese beiden Aktionen richteten sich die mit Paketbomben verübten Anschläge gegen Maschinen der israelischen Fluggesellschaft EL AL. Die Sprengladungen explodierten jedoch in einer österreichischen und einer schweizerischen Maschine. Während die erste in der Bundesrepublik notlanden konnte, stürzte die zweite in der Schweiz ab und riss alle an Bord befindlichen Passagiere und Besatzungsmitglieder in den Tod.

Diese vier Aktionen zielten in erster Linie auf Bürger Israels. Dass dabei auch Nicht-Israelis zu Schaden kamen, war zwar nicht intendiert, als Möglichkeit aber einkalkuliert. Der Brandanschlag wiederum wurde auf in Deutschland lebende Juden verübt, vielleicht sogar – weil sich der Angriff konkret gegen ein jüdisches Gemeindehaus richtete, in dem vor allem ältere Menschen lebten – auf in Deutschland wohnende Holocaust-Überlebende. Der gemeinsame Nenner der Terrorwelle war antiisraelisch bzw. antijüdisch und insofern antisemitisch.

Das wiederum korrespondiert mit dem Überfall jener Kommandogruppe des Schwarzen September, die es dann während der Münchener Olympiade auf israelische Sportler abgesehen hatte. Warum ist eigentlich niemand auf die Idee gekommen, nach den schockierenden Erfahrungen im Februar 1970 die Sicherheitsvorkehrungen für die israelischen Gäste zu erhöhen? Das ist umso erstaunlicher, weil für die Sicherheit in Bund, Land und Stadt exakt dieselben Personen verantwortlich waren.

Von den Tätern der beiden Entführungsversuche konnten jeweils drei auf dem Flughafen München-Riem verhaftet werden, von den vier Attentätern, die die Bombenanschläge auf die beiden Flugzeuge verübt hatten, saßen zwei monatelang in Untersuchungshaft. Lediglich im Falle des Brandanschlags auf das Gebäude der Israelitischen Kultusgemeinde gelang es der polizeilichen Sonderkommission trotz enormer Anstrengungen nicht, einen Tatverdächtigen zu präsentieren. Obwohl sich insgesamt also fünf Palästinenser in Polizeigewahrsam befanden, ist keiner von ihnen vor Gericht gestellt worden. Sie wurden allesamt zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihre vermeintlichen Heimatländer abgeschoben. All diese judenfeindlichen Straftaten sind ungesühnt geblieben. Warum wurde die Strafverfolgung aufgegeben? Hat es dafür vielleicht politische Gründe gegeben?

Doch das ist keineswegs der einzige Fragenkomplex, den es aufzurollen gilt. Die wichtigsten, bis heute immer noch offenen Fragen lauten:

Warum wurde eigentlich München, warum Bayern, warum die Bundesrepublik zum Schauplatz terroristischer Verbrechen?

Warum wurden dabei Israelis und in Deutschland lebende Juden zur Zielscheibe?

Gab es bei den Terroranschlägen einen zentralen Akteur, der im Hintergrund die Fäden zog?

Warum ist die Münchner Kriminalpolizei daran gescheitert, den oder die Täter des Brandanschlages ausfindig zu machen?

Gibt es heute, vierzig Jahre später, noch eine Chance, sie zu überführen und zur Rechenschaft zu ziehen?

Und warum sind im Angesicht all dessen zwei Jahre später keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz der israelischen Olympiamannschaft ergriffen worden?

1 «Das Wunder von Riem»

Der Beinahe-Absturz einer Maschine der United Arab Airlines

Es ist der 9.Februar 1970, ein Montag. Kein üblicher Montag sondern Rosenmontag. Nicht nur an Rhein und Main, sondern auch an der Isar ist man in Feierlaune. Die Lokale der bayerischen Landeshauptstadt sind überfüllt. Selbst das trüb-winterliche Wetter tut dem feuchtfröhlichen Treiben keinerlei Abbruch. Niemand ahnt, dass die Närrinnen und Narren aus ihrer Feierlaune durch eine Schreckensmeldung jäh herausgerissen werden könnten.

Während die Faschingsfeste auf ihren Siedepunkt zusteuern, muss der öffentliche Verkehr funktionieren wie an jedem anderen Tag. So auch am Flughafen München-Riem. Von den internationalen Fluggästen dürfte ohnehin kaum jemand wissen, welcher Trubel in der Innenstadt rund um den Marienplatz im Gange ist. Um 20Uhr rollt eine Maschine der United Arab Airlines langsam auf ihre Startposition; der Linienflug soll über Athen nach Kairo führen. Die meisten Plätze sind allerdings leer geblieben. An Bord befinden sich lediglich 14Passagiere, neun Europäer, drei Ägypter, ein Inder und ein Kuwaiti. Dazu kommen neun Besatzungsmitglieder, allesamt ägyptischer Nationalität. Eigentlich hätte der Start bereits um 18Uhr erfolgen sollen. Doch die Maschine ist bereits mit Verspätung in München eingetroffen.

Leichter Schneefall, Windgeschwindigkeit zehn Stundenkilometer. Die horizontale Sicht beträgt anderthalb Kilometer, die Bodensicht 300Fuß (das sind umgerechnet etwa 90Meter). Die Bedingungen sind für einen Startvorgang nicht gerade komfortabel, für die Jahreszeit aber keineswegs ungewöhnlich. Da der Wind von Westen kommt, soll auf Anordnung des Towers in Richtung Kirchtrudering gestartet werden.

Doch es kommt anders als erwartet. Der vierstrahlige Düsenjet vom Typ Comet 4C hat offenbar Probleme, Geschwindigkeit aufzunehmen. Nachdem er eine Höhe von wenigen Metern erreicht hat, sackt er ab, fängt sich noch einmal für einen kurzen Moment und stürzt dann ab. Er rast westlich über das Startbahnende hinaus und kommt 150Meter vor den ersten Wohnhäusern auf einem Acker zum Stehen, die beiden linken Triebwerke haben Feuer gefangen.

Vom Kontrollturm aus ist das Unglück genau verfolgt worden. Sofort verständigt die Besatzung Polizei und Feuerwehr. Es heißt nur stakkatoartig: «Großalarm, Großalarm, Absturz im Westen, Maschine brennt.» Insgesamt 22Fahrzeuge der Berufsfeuerwehr rücken daraufhin mit rund hundert Mann Besatzung aus. Gleichzeitig starten zwei ihrer Notarztwagen und ein Fahrzeug des Bereitschaftsdienstes vom Klinikum rechts der Isar in Richtung Riem.

In der Maschine herrscht unmittelbar nach dem Absturz zwar ein ziemliches Chaos, aber – wie später übereinstimmend berichtet wird – keine Panik. Jeder kann sehen, dass an der linken Tragfläche ein Feuer ausgebrochen ist. Nun erweist sich die geringe Auslastung des Fluges als Vorteil. Innerhalb kurzer Zeit gelangen die Fluggäste über die Notausgänge nach draußen. Wer in der Eile seinen Gurt nicht lösen kann, dem hilft die Besatzung. Zum Glück greift das Feuer nicht auf den Rumpf und damit auf den Passagierraum über.

Als nach fünf Minuten die ersten Feuerwehrleute eintreffen, liegen Fahrwerktrümmer überall verstreut herum. Es sieht fast so aus, als habe der Pilot eine Bauchlandung hingelegt. Das Cockpit ist ebenso wie der Passagierraum bereits verlassen. Passagiere und Besatzung werden in den Rettungswagen von Ärzten untersucht. Lediglich bei einer Frau und zwei Männern können sie leichtere Verletzungen feststellen. Die drei werden umgehend in das Krankenhaus rechts der Isar gebracht. Ein Passagier scheint einen Nervenschock erlitten zu haben. Doch rasch stellt sich heraus, dass er nur deshalb so aufgeregt um die gestrandete Maschine herumgeirrt ist, weil er sein Portemonnaie vermisst hat. Für zusätzliche Verwirrung sorgt eine Pythonschlange, die im Frachtraum untergebracht war. Da sie dort nicht auffindbar ist, suchen mehrere Feuerwehrleute das Gelände ab. Aber auch in diesem Fall lösen sich die Befürchtungen in Erleichterung auf: Die besorgte Besitzerin hat das Tier längst an sich genommen und sitzt mit ihm in einem der Rettungswagen.

Ein Maschinenschlosser, der in Kirchtrudering wohnt, hat den verunglückten Startvorgang genau beobachten können. Er befindet sich gerade auf dem Nachhauseweg und traut seinen Augen nicht, als er die über das Flughafengelände preschende Maschine immer näher auf seinen Heimatort zukommen sieht. Der Mann fährt sofort zu der Absturzstelle. Bevor er die brennende Maschine erreicht, kommen ihm drei Frauen und ein Mann durch den Schnee entgegengelaufen. Keiner von ihnen trägt noch Schuhe. Er nimmt sie sofort in sein Auto auf und fährt mit ihnen zum Flughafen. Erst später hört er, wen er in Sicherheit gebracht hat. Es sind die Three Bonga Sisters, eine arabische Gesangsgruppe, die in Nachtclubs auftritt und nach Bangkok unterwegs war.

Eine aus den Niederlanden stammende Passagierin, die ebenfalls in die thailändische Hauptstadt weiterreisen wollte, beschreibt, wie sie den Absturz erlebt hat:

«Wir hatten uns alle ordnungsgemäß angeschnallt. Aber bevor das Flugzeug richtig abgehoben hatte, gab es plötzlich einen furchtbaren Ruck, ein Kreischen von Metall, und dann war plötzlich völlige Stille. Ich sah durchs Fenster, dass ein Triebwerk brannte. Ich kann noch gar nicht fassen, dass alles noch so gut abgelaufen ist.»2

Als Feuerwehrleute bei den Einwohnern Kirchtruderings klingeln und sich nach umherirrenden Passagieren erkundigen, sind einige von ihnen völlig ahnungslos. Sie haben vor dem Fernseher gesessen und nichts anderes gehört oder gesehen.

Gegen 21.30Uhr treffen Oberbürgermeister Dr.Hans-Jochen Vogel und Bürgermeister Dr.Hans Steinkohl an der Absturzstelle ein. Oberbranddirektor Karl Segerer informiert sie über den Unfallhergang sowie die Rettungs- und Sicherungsmaßnahmen. Anschließend fahren sie gemeinsam ins Flughafengebäude zu einer Pressekonferenz. Flughafendirektor Wulf-Diether Graf zu Castell erklärt den versammelten Journalisten, dass die Maschine der ägyptischen Fluggesellschaft3 vor dem Start völlig in Ordnung gewesen sei. Es erscheine ihm deshalb unerklärlich, warum die Comet nicht genügend Geschwindigkeit erreicht habe, um sicher abheben zu können. Trotz des Schneefalls gehe man nicht davon aus, dass eine der Tragflächen vereist war. Andere Maschinen, die kurz zuvor gestartet seien, hätten keinerlei Probleme gehabt. Einen Sabotageakt könne man ebenfalls ausschließen, versucht Graf zu Castell Vermutungen zu zerstreuen, der Absturz habe kriminelle oder gar terroristische Hintergründe. Das Luftfahrtbundesamt in Braunschweig werde mit der Ermittlung der Unfallursache beauftragt.

In der Abendzeitung wird der Zwischenfall am anderen Tag als «Wunder von Riem» bezeichnet. Bei der Wahl dieser etwas katholisch anmutenden Formulierung schwingt die Erinnerung an ein anderes Flugunglück mit, das sich unter ganz ähnlichen Umständen zugetragen hat, aber sehr viel weniger glimpflich verlaufen ist. Fast auf den Tag genau zwölf Jahre zuvor hat sich auf dem Flughafen München-Riem eine Katastrophe abgespielt, die als «Munich Air Disaster» oder «Munich Air Crash» in die Geschichte eingegangen ist. Eine Chartermaschine der British European Airways war bei Schneematsch von der Startbahn abgekommen und in Flammen aufgegangen.4 Von den 44Passagieren und Besatzungsmitgliedern kamen 23Menschen ums Leben, darunter acht Spieler des britischen Fußballclubs Manchester United. Die Mannschaft hatte sich nach einem Spiel um den Europapokal der Landesmeister auf dem Rückflug von Belgrad in ihre Heimatstadt befunden. Die anderen Todesopfer waren fast ausschließlich Journalisten, Betreuer und andere Mannschaftsangehörige.

Auch 1970 wird es nicht beim «Wunder von Riem» bleiben.

2 «Wir müssen die Israelis an ihren schwachen Punkten treffen.»

Warum Palästinenser damit begonnen haben, Flugzeuge zu entführen

Anderthalb Jahre vor dem «Wunder von Riem» hat sich der Charakter von Zwischenfällen im zivilen Luftverkehr verändert. Ein Unglück mit einem Flugzeug muss seither nicht einfach ein Flugzeugunglück sein. Und wenn eine Maschine vom Kurs abkommt, muss dies nicht unbedingt an einem technischen Problem mit der Navigation liegen oder an einem Steuerungsfehler des Piloten. Seit dem Sommer 1968 existiert ein neuartiges Phänomen – aus politischen Gründen durchgeführte Aktionen gegen Zivilmaschinen. Palästinensische Guerillaorganisationen begehen Anschläge und Entführungen, um in einem militärisch nicht nur ungleichen, sondern höchst aussichtslosen Kampf gegen den hochgerüsteten Gegner Israel noch eine Chance zu haben. Nicht im Sinne eines militärischen Sieges, sondern dem eines Aufmerksamkeitsgewinns für ihre eigene Sache, die Gründung eines eigenen Staates. Die palästinensische Luftpiraterie steht seitdem auf der Tagesordnung.

Was die Akteure als «Freiheitskampf» bezeichnen, ist für Israel und die westliche Welt nichts anderes als Terrorismus. Und das nicht zu Unrecht. Denn die von den Luftpiraten – in der englischsprachigen Welt kurz Hijacker genannt – gegen Passagierflugzeuge verübten Attacken zielen auf israelische Zivilisten ab, treffen aber auch immer häufiger Passagiere und Besatzungsmitglieder, die nicht aus dem jüdischen Staat kommen. Selbst wenn die Flugzeuginsassen nicht unmittelbar Schaden erleiden, so sind sie doch Geiseln einer solchen Strategie und schweben fast immer in höchster Gefahr. Darüber hinaus spielt sich die Luftpiraterie fast immer außerhalb der eigentlichen Kampfregion ab.5 Der Nahostkonflikt wird damit exportiert – vor allem nach Süd- und Westeuropa – und die Kampfzone so um ein Vielfaches ausgeweitet.

Vor dem Sechs-Tage-Krieg vom Juni 1967 hat es keine palästinensische Luftpiraterie gegeben.6 Dass es überhaupt zu einer solch hinterhältigen und menschenverachtenden Methode kommen konnte, ist ein Resultat der Kriegsniederlage. Sie wurde als so demütigend empfunden, dass man von ihr in unmittelbarer Anknüpfung an die Vertreibung von 1948 meist nur als Nakbah spricht, als einer «Katastrophe». Das Territorium, das Israel in nicht einmal einer einzigen Woche erobert hatte, war viermal so groß wie sein ursprüngliches Staatsgebiet. Hinzugekommen waren das Westjordanland, der Gazastreifen, die Golanhöhen, die Halbinsel Sinai und – was die Palästinenser ganz besonders schmerzte – Ostjerusalem. Israel, das seit seiner Gründung 1948 fortwährend in seiner Existenz bedroht war, befand sich danach monatelang in einem regelrechten Siegesrausch.

Die Palästinenser wiederum wollten sich nicht vollends einem Gefühl von Ohnmacht, Ansehensverlust und Passivität ergeben. In der mangelnden militärischen Schlagkraft des ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abdel Nasser und seiner Armee glaubten sie die Ursache für die Niederlage sehen zu können. Mit dem Ausgang des Sechs-Tage-Krieges verlor der panarabische Nasserismus deshalb an Anziehungskraft. Aus dem doppelt deprimierenden Gefühl von militärischer Niederlage und Alleingelassensein heraus traten die Palästinenser die Flucht nach vorn an. Die Karte, die ihre führenden Leute nun zogen, die Spitze der 1964 auf Nassers Initiative gegründeten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), war die des Guerillakampfes. Er sollte die Scharte auswetzen, die der Juni-Krieg hinterlassen hatte. So selbstmörderisch eine offene Schlacht mit israelischen Verbänden erscheinen musste, so verlockend erschien nun der Kampf aus dem Hinterhalt.

Für diejenigen Palästinenser, die nicht aufgeben wollten, wurde der Guerillakrieg so zum Gebot der Stunde. Die jungen Leute standen bei den Anmeldebüros der Fedayin, wie die palästinensischen Freischärler genannt wurden, regelrecht Schlange. Der Name hatte für sie einen geradezu magischen Klang.7 Er sprach einerseits ihre Bereitschaft zur Selbstaufopferung an, brachte andererseits aber auch eine Verheißung auf eine Selbsterhöhung zum Ausdruck. Wer zu ihren Kampfverbänden zählte und eine entsprechende Mitgliedskarte vorweisen konnte, dem standen überall in der arabischen Welt Tür und Tor offen. Ihr Nimbus war so stark, dass es kein Mächtiger, kein Politiker oder Staatsmann, wagen konnte, seine Stimme offen gegen sie zu erheben. Das gab den Fedayin einen enormen Spielraum. Selbst Operationen, die von einem bestimmten Terrain aus durchgeführt wurden und den betreffenden Staaten in der Folge nichts als Scherereien bereiteten, konnten kaum kritisiert, geschweige denn eingedämmt oder verhindert werden. Das Selbstbewusstsein der Fedayin war bis zum Sommer 1968 so sehr angewachsen, dass ihre Aktivisten felsenfest davon überzeugt waren, falls etwa die ägyptische Armee den Versuch unternähme, eine ihrer Kommandounternehmungen zu unterbinden, es umgehend zu einer Revolution am Nil käme. Selbst einem mächtigen und charismatischen Staatsmann wie Nasser oder einem listigen und fintenreichen König wie Hussein in Jordanien blieb kaum etwas anderes übrig, als sich mit dem schwer einschätzbaren und nahezu unkontrollierbaren Machtfaktor Fedayin zu arrangieren. Vorerst zumindest.

Die Fatah, die es seit ihrer Gründung 1959 immer mal wieder gewagt hatte, bei Nacht und Nebel die israelischen Grenzen zu überqueren und – zwar blutige, letztlich aber ziemlich bedeutungslose – Kommandoaktionen durchzuführen, wurde von den Bewerbern für den bewaffneten Kampf regelrecht überrannt. Innerhalb von nicht einmal zwei Jahren vermehrte sich ihre Mitgliedszahl wie von Geisterhand um das x-fache. Nach Angaben der israelischen Armee gab es zwischen dem Juni 1967 und Ende Dezember 1968 insgesamt 1287 «Grenzzwischenfälle und Zusammenstöße» mit palästinensischen Guerilleros. Dabei seien 281Israelis gestorben und 1115 verletzt worden.8 Über die Opferzahlen auf der Gegenseite existieren nur sehr viel weniger verlässliche Angaben. Allein in Israel sollen über 600Mitglieder palästinensischer Kommandos ums Leben gekommen sein, im Zuge israelischer Vergeltungsmaßnahmen auf dem Gebiet der arabischen Nachbarländer ebenfalls mehrere hundert.9

Die französische Tageszeitung Le Monde schrieb, dass die Kommandoangehörigen zu «Helden der arabischen Welt» geworden seien. Für die jungen palästinensischen Männer war es offenbar zu einer Frage des Selbstwertgefühls geworden, mit der Waffe für ihr vertriebenes Volk und ihre imaginäre Nation einzutreten. Der Run auf die Fatah hing aber auch mit einem Ereignis zusammen, an dem sich die geschundene palästinensische Seele meinte laben zu können: der Schlacht von Karameh.

Am 21.März 1968 waren über 10000 israelische Infanteriesoldaten, begleitet von Panzereinheiten, Hubschraubern und Fallschirmjägern, über die Allenby-Brücke im Jordantal vorgerückt. Ziel des Großangriffs war ein Palästinenserlager in der kleinen jordanischen Stadt Karameh, in die sich viele Palästinenser nach dem Sechs-Tage-Krieg geflüchtet hatten. Dort befand sich zu der Zeit zudem die Zentrale der Fatah. Die Führung der Palästinenser um Yasir Arafat war von dem bevorstehenden Angriff durch einen jordanischen General informiert worden. Sie befolgte jedoch nicht seinen Rat, der drückenden militärischen Überlegenheit der israelischen Truppen aus dem Weg zu gehen, sondern gab den Befehl aus, zu kämpfen und standzuhalten.

Die Panzer der israelischen Armee durchbrachen zunächst ohne erkennbare Schwierigkeiten das Sperrfeuer jordanischer Einheiten. In der Stadt wurden Häuser in die Luft gesprengt sowie im Flüchtlingslager Hütten und Zelte niedergewalzt. Obwohl sie den Angreifern hoffnungslos unterlegen waren, verteidigten die palästinensischen Freischärler jedoch ihre Stellungen. Nach zwölfstündiger Dauer war die Militäraktion beendet, und die israelischen Truppen kehrten über den Jordan wieder in ihr Land zurück.

Nach Angaben eines israelischen Militärsprechers waren mindestens 170 «Saboteure» getötet und 160Personen gefangen genommen worden, von denen 80 ihre Zugehörigkeit zur Fatah eingestanden hätten. Die Verluste auf eigener Seite lägen bei 24Toten und 70Verwundeten. Ein jordanischer Militärsprecher vermittelte hingegen ein ganz anderes Bild. Er gab bekannt, dass rund 200 israelische Soldaten getötet, 25Panzer zerstört und drei Flugzeuge abgeschossen worden seien.

Die «Schlacht von Karameh» wurde in der Folge zum Mythos des palästinensischen Widerstands. Aus ihren heroisch überhöhten Episoden schöpften die Palästinenser nach der als Schmach empfundenen Niederlage im Sechs-Tage-Krieg neues Selbstbewusstsein. Auf einmal schien der Kampf gegen die Israelis nicht mehr ganz so aussichtslos zu sein. Der Mythos entwickelte sich zu einem regelrechten Treibsatz für die Fedayin. Vergessen wurde dabei, warum die israelischen Truppen eigentlich in die jordanische Stadt eingerückt waren.

Im Laufe des Frühjahrs hatten sich die Angriffe der Fedayin auf Ziele in Israel immer weiter verstärkt. Am 18.März, also drei Tage vor der Schlacht, war ein israelischer Schulbus durch eine von der Fatah gelegte Mine in die Luft geflogen. Zwei Schulkinder wurden getötet, 28 zum Teil schwer verletzt. Daraufhin wurden die israelischen Armeeeinheiten über die jordanische Grenze geschickt, um eine Vergeltungsaktion auf den Hauptstützpunkt der Fatah in Karameh durchzuführen.

Vom Karameh-Mythos profitierte jedoch keineswegs nur die Fatah, die vielen unter den machtarmen bis machtlosen Gruppen als übermächtig erschien. Kaum weniger Nutzen zog daraus die vielleicht radikalste unter ihnen, die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP). Sie verstand sich als marxistisch und wurde von einem Christen geleitet, dem einstigen Kinderarzt Dr.George Habash. Auf einer Sondertagung ihrer Kader im Dezember 1967 war ihm ein ernstzunehmender Konkurrent erwachsen, der ebenfalls kein Moslem, sondern Christ und von Beruf Kinderarzt war. Dieser Mann hatte wie kaum ein anderer die strategischen Schwächen der palästinensischen Untergrundorganisationen erkannt. Er hieß Dr.Wadi Haddad.

Dr.Wadi Haddad, Chef der PFLP-Special-Command

Auf dieser Versammlung hielt er eine Rede, die viele seiner Mitkämpfer zu begeistern, ja geradezu in eine enthusiastische Stimmung zu versetzen vermochte. Er kritisierte schonungsloser als je zuvor die Strategie der Nadelstiche und meinte, dass alle bisherigen Versuche, die eigenen Leute bewaffnet über den Jordan zu bringen, damit sie dort Nacht-und-Nebel-Aktionen durchführten, nichts anderes als Zeit- und Kraftverschwendung seien. Ein bewaffneter Kampf dieser Art, fasste er sich kurz, könne niemals zur Befreiung Palästinas führen. Wenn man etwas gegen die Israelis ausrichten wolle, dann müsse man ihre Soldaten «mit Qualität, nicht mit Quantität» zu schlagen versuchen. Man könne die gegnerische Armee nicht auf konventionelle Weise besiegen – Panzer gegen Panzer, Flugzeug gegen Flugzeug und Soldat gegen Soldat. Wenn man wirklich eine Chance haben wolle, dann müsse man die Israelis «an ihren schwachen Punkten» treffen. Danach machte er wie ein geschulter Rhetoriker eine längere Pause, um dann, als die Spannung seiner Zuhörer ihren Siedepunkt erreicht hatte, mit den Worten fortzufahren:

«Was meine ich damit? Ich meine spektakuläre Einzeloperationen. Diese werden die Aufmerksamkeit der Welt auf die Palästinafrage lenken. Die Welt wird fragen: ‹Was ist das Problem in Palästina? Wer sind diese Palästinenser? Warum tun sie so etwas?› Zugleich werden solche Operationen für die Israelis sehr schmerzhaft sein. Mit auffälligen, sensationellen Aktionen, ausgeführt von hervorragend ausgebildeten Menschen in abgesicherten Untergrundstrukturen – so müssen wir die Schmerzpunkte treffen. Am Ende wird die Welt das Problem satt haben. Sie wird zu dem Schluß kommen, daß mit Palästina etwas geschehen muß. Sie wird uns Gerechtigkeit geben müssen.»10

Was er vorschlug, waren exemplarische Guerillaaktionen, deren Wert vor allem strategischer Natur sein sollte. Nicht darin, dem Gegner einen möglichst hohen, militärisch bezifferbaren Verlust an Soldaten und Kampfgeräten zuzufügen, lag ihr Sinn, sondern darin, ihn zu erpressen, zu demütigen, ihm auf eine ganz andere Weise zu schaden. Mit Haddads Strategie sollte es dem Schwachen gelingen, seine Schwäche für einen Augenblick in eine Stärke umzumünzen. Um das möglich zu machen, bedurfte es eines eigenen Mediums. Und das war die zivile Luftfahrt. Ein für technische Störungen so empfindlicher Bereich wie der moderne Düsenverkehr konnte für diese Form von Guerillaoperationen als Schutz und Beute zugleich herhalten. Was das bedeutete, ließ sich an der ersten palästinensischen Flugzeugentführung erkennen.

Ein von Haddad instruiertes Team entführte am 23.Juli 1968 eine Boeing der EL AL, die sich mit 35Passagieren an Bord auf dem Flug von Rom nach Tel Aviv befand. Der Pilot wurde von den Entführern der PFLP dazu gezwungen, in Algier zu landen. Vom ersten Augenblick an fand die Flugzeugentführung in den internationalen Medien eine immense Aufmerksamkeit. In Israel war man bestürzt. Offenbar hatte dort niemand mit einem derartig kaltblütigen Unternehmen gerechnet. Um die Geiseln freizubekommen, blieb jedoch nichts anderes übrig, als mit den Hijackern zu verhandeln. In der israelischen Öffentlichkeit galt es ja schon als Tabu, von ihnen einfach nur als «Palästinenser» zu sprechen. Dieser Bezeichnung schien etwas innezuwohnen, was zugleich für einen Anspruch auf das gesamte Land stand, das früher «Palästina» geheißen hatte und das sich nun aber ganz überwiegend im eigenen, im israelischen Besitz befand.

Zunächst versuchte man, die Verhandlungen so lange wie möglich hinauszuzögern. Ganz offensichtlich fürchtete man, dass ein Einlenken einem Gesichtsverlust gleichkäme. Doch am Ende nutzte alles nichts. Israel blieb keine andere Wahl, als die von Haddad diktierten Bedingungen zu akzeptieren. Nach vielen Wochen ließ man im Austausch für die Passagiere eine Reihe von palästinensischen Häftlingen aus israelischen Gefängnissen frei. Die PFLP verbuchte das als den ersten Sieg in einem ansonsten so ungleichen Kampf.

Das wiederum wollte sich Israel kein weiteres Mal mehr bieten lassen. Umgehend wurden umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Dazu zählte, dass nach nur wenigen Tagen in allen EL-AL-Maschinen sogenannte Sky-Marshals eingesetzt wurden. Die Hauptaufgabe dieser Flugsicherheitsbegleiter bestand darin, Entführungen zu verhindern. Sie waren zwar besonders ausgebildet, aber nicht uniformiert und konnten deshalb von Gewalttätern nicht ohne weiteres erkannt werden.

***

In dieser Zeit spielte sich in München eine merkwürdige Episode ab. Noch vor Beendigung der ersten Flugzeugentführung der PFLP hatte die israelische Seite versucht, einen ihrer Sicherheitsleute auf dem Flughafen München-Riem zu platzieren. Es ist nicht klar, ob es in der bayerischen Landeshauptstadt irgendwelche Hinweise auf die Durchführung terroristischer Aktionen gab. Jedenfalls unterrichtete Polizeipräsident Dr.Manfred Schreiber am 9.September 1968 das Bayerische Staatsministerium des Innern schriftlich darüber, dass ein israelischer Staatsangehöriger am 17.August bei der Flughafenwache vorgesprochen habe.11 Dieser habe sich bei der Bayerischen Grenzpolizei als Angehöriger des israelischen Sicherheitsdienstes ausgegeben. Er sei damit beauftragt, für ungefähr zwei Monate die Passagiere auf dem Flughafen München-Riem zu überwachen. Zu diesem Zweck werde er einen Sonderausweis der Verkehrsabteilung des Flughafens erhalten. Die Überwachung stehe in Verbindung mit der Entführung der EL-AL-Maschine nach Algier. Die Flughafenwache, teilte nun Schreiber mit, habe ihm eine solche Tätigkeit im Zuständigkeitsbereich der Bayerischen Grenzpolizei jedoch untersagt.

Eine Nachfrage bei der Verkehrsabteilung habe dann ergeben, dass er dort auch tatsächlich vorgesprochen hatte. Nun habe es allerdings geheißen, der Betreffende sei Angehöriger des israelischen Geheimdienstes. Er habe um die Ausstellung eines Sonderausweises nachgesucht, der ihn berechtigte, alle Einrichtungen und das Vorfeld des Flughafens betreten zu dürfen. Die Sicherungsgruppe Bonn-Bad Godesberg12 habe mitgeteilt, dass eine Person mit demselben Namen der israelischen Botschaft in Bonn auf unbestimmte Zeit zur Seite gestellt worden sei. Auch das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium seien von dem Vorgang unterrichtet worden.

Da bei einem Bekanntwerden der Tätigkeit des Mannes «Zwischenfälle nicht auszuschließen» seien, habe man sich mit dem Leiter des Münchner Stadtbüros von EL AL in Verbindung gesetzt. Dieser habe aber dementiert, dass der Betreffende Mitarbeiter des Geheimdienstes sei. In Wirklichkeit sei er Beamter des israelischen Außenministeriums und arbeite in der dortigen Sicherheitsabteilung. Er beschränke sich bei seiner Tätigkeit auf die Überwachung von EL-AL-Maschinen und deren Passagieren während der Abfertigungszeiten.

Bereits sechs Tage vor dem Schreiben des Polizeipräsidenten hatte das bayerische Innenministerium der Bayerischen Grenzpolizei gegenüber mitgeteilt, dass die Billigung von Sonderrechten auf dem Flughafen München-Riem dem Israeli gegenüber auch dann «nicht vertretbar» sei, wenn er für die Sicherheitsabteilung seines Außenministeriums und nicht für den «israelischen Staatssicherheitsdienst» arbeite. Ihm dürfe insbesondere der Zutritt zu den Abfertigungshallen nicht gestattet werden. Die Flugpolizeigruppe München-Riem sei entsprechend anzuweisen.13

Damit schien die Sache entschieden gewesen zu sein. Die Bayern wollten sich nicht von einem anderen Staat, auch von Israel nicht, in ihre Sicherheitsangelegenheiten hineinregieren lassen. Vier Jahre später wird der hier zum Vorschein gekommene, eher latent gebliebene Konflikt unter höchst dramatischen Umständen mit großer Wucht aufbrechen. Und wieder wird es um die Beziehung Bayerns zu Israel gehen, diesmal jedoch nicht auf einem Flughafen, sondern auf einem Fliegerhorst.

***

Doch zurück zur PFLP. Mit der Freipressung palästinensischer Häftlinge war Haddads Strategiewechsel ein vorläufiger Erfolg beschieden. Damit schien er der kommende Mann an der Spitze seiner Organisation und zugleich eine Gefahr für die bis dahin unangefochtene Stellung Habashs werden zu können. Dieser konnte es nicht wagen, mit seinem Konkurrenten so umzugehen, wie er es wohl am liebsten getan hätte. Mit Haddad innerhalb der PFLP einen offenen Streit vom Zaun zu brechen, hätte auch ihm selbst gefährlich werden können. Habash war, was alle wussten, seinem Konkurrenten gegenüber verpflichtet. Denn keinem anderen als ihm hatte er es zu verdanken, dass er überhaupt in Freiheit war. Kurz nachdem die PFLP gegründet worden war, hatten ihn die Syrer verhaften und in ein Gefängnis bringen lassen. Sie dachten wohl, dass sie durch die Festnahme des PFLP-Chefs eine Organisation würden lahmlegen können, die sie vielleicht als Bedrohung, zumindest aber als Störenfried für ihre eigenen Machtambitionen ansahen. Doch die Syrer hatten ihre Rechnung ohne Haddad gemacht. Er organisierte einen Hinterhalt für die syrischen Jeeps, mit denen Habash in seine Zelle hätte gebracht werden sollen, und befreite ihn. Seitdem war es für ihn umso schwieriger, sich seines Konkurrenten zu entledigen.

Zum Jahresende hin folgte die Fortsetzung der Haddad-Strategie, diesmal nur um einiges brutaler.14 Am 26.Dezember 1968 beschossen zwei Terroristen der PFLP auf dem Flughafen von Athen eine Boeing der EL AL. Ein israelischer Passagier wurde getötet, eine Stewardess und mehrere Passagiere wurden verletzt. Am 18.Februar 1969 folgte ein weiterer Anschlag auf eine Boeing der EL AL, diesmal auf dem Flughafen Kloten bei Zürich. Zwei Menschen kamen dabei ums Leben. Einer der Piloten wurde von den Palästinensern getötet, ein an Bord befindlicher israelischer Sicherheitsbeamter wiederum erschoss einen der Attentäter. Während in Israel der Sky-Marshal Mordechai Rahamim als Held gefeiert wurde, fürchtete man nicht nur in der Schweiz, dass es mit der Sicherheit von Zivilmaschinen nun endgültig vorbei sei und aus den Passagierkabinen potenzielle Nahkampfzonen werden könnten.

Im Laufe des zweiten Jahres ihrer Terroraktionen ging die PFLP auch immer mehr zu Sprengstoffanschlägen über. Am 18.Juli 1969 wurden in zwei Londoner Kaufhäusern, deren Besitzer jüdischer Herkunft waren, Bomben gezündet, am 25.August folgte in der britischen Hauptstadt ein mit Handgranaten verübter Anschlag auf das Büro einer israelischen Schifffahrtsgesellschaft. Vier Tage später war dann wieder einmal eine Flugzeugentführung an der Reihe. Am 29.August entführte eine vierköpfige Kommandogruppe der PFLP eine Boeing, diesmal keine der EL AL, sondern eine der amerikanischen Linie TWA, auf dem Flug von Rom nach Damaskus. Die Attentäter jagten nach der Landung mit einer Zeitzünderbombe die Pilotenkanzel in die Luft. Zu einer besonders bizarren Mehrfachaktion kam es am 8.September. Aktionskommandos der PFLP-Jugendgruppe «Ho Chi-Minh» führten Handgranatenanschläge auf die israelischen Botschaften in Bonn und Den Haag sowie ein EL-AL-Büro in Brüssel durch. Der jüngste der Attentäter war gerade mal 15Jahre alt. Und am 27.November wurde bei einem Handgranatenanschlag auf das EL-AL-Büro in Athen ein 2-jähriger Junge getötet; 13Erwachsene erlitten zum Teil schwere Verletzungen.

Anfang Februar 1970 wurde PLO-Chef Yasir Arafat nach Moskau eingeladen und von Staats- und Parteichef LeonidI.Breschnew sowie Ministerpräsident Alexei N.Kossygin im Kreml empfangen.15 Bislang hatten manche der Palästinenser den Sowjets lediglich als «Folklore-Partisanen» gegolten, wie es der einstige KGB-Chef Alexander N.Schelepin verächtlich auf den Punkt gebracht hat. Nun versprachen die beiden obersten Politruks Arafat Waffenhilfe für eine Ausweitung des bislang so ungleichen Kampfes mit Israel.

Noch mehr schien die Sowjets jedoch der PFLP-Stratege beeindruckt zu haben, der im Westen so gut wie unbekannt war und im Gegensatz zu George Habash nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand. Der KGB warb Wadi Haddad noch im Laufe desselben Jahres unter dem Decknamen «Nationalist» als Agent an. Das jedenfalls ergibt sich aus einem von britischen Historikern ausgewerteten Archiv, dem sogenannten Mitrochin-Archiv.16 Der damalige KGB-Chef Juri Andropow umriss den Stellenwert des palästinensischen Kinderarztes, mit dem bereits 1968Kontakt aufgenommen worden war, in einem an Breschnew adressierten Bericht mit den Worten:

«Die Natur unserer Beziehung zu W.Haddad versetzt uns in die Lage, die externen Operationen der PFLP bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren, in einer für die Sowjetunion günstigen Weise Einfluß zu nehmen und durch Kräfte der Organisation unter Einhaltung der notwendigen konspirativen Geheimhaltung aktive Maßnahmen zur Unterstützung unserer Interessen ausführen zu lassen.»17

Die Verpflichtung Haddads für die Sowjetunion und den KGB diente danach drei Funktionen: der Kontrolle von Aktionen der PFLP, einer Einflussnahme im Sinne der Verfolgung eigener Interessen und der aktiven Durchführung von Operationen durch die PFLP im Auftrag des KGB. Diese Staffelung an Verwendungsmöglichkeiten dürfte verraten, wie weit die Szenarien des Nahostkonflikts in einen anderen, viel weiter reichenden Konflikt eingespannt worden waren: in den des Kalten Krieges. Wer wollte bei solch aufsehenerregenden und von der Weltöffentlichkeit so genau beobachteten Aktionen wie Flugzeugentführungen schon genau wissen, wer im Hintergrund der Terroraktionen die Regie führte und welcher «Player» gerade auf welchem Feld mit welcher Figur am Zuge war?

Eine Zeitlang schien es so, als hätte die PFLP ein Monopol auf Flugzeugentführungen. Als es zum ersten Akt palästinensischer Luftpiraterie kam, der nicht von der Organisation der beiden Kinderärzte verantwortet wurde, war es fast so, als hätte jemand der «Volksfront» in ihr Handwerk zu pfuschen versucht. Denn kaum jemand konnte sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen, dass es noch eine andere palästinensische Gruppe gab, die zu so etwas in der Lage sei. Und noch weniger glaubten daran, dass es auch die Bundesrepublik einmal treffen könnte. Mit der Schweiz war zwar schon einmal ein Nachbarland in Mitleidenschaft gezogen worden. Doch warum sollte gerade die Bundesrepublik Deutschland zum Schauplatz palästinensischer Luftpiraten werden?

3 «I have bomb, I have pistol, you have no chance.»

Die gescheiterte Entführung einer EL-AL-Maschine am 10.Februar 1970

Dienstag, der 10.Februar 1970; es sind noch 928Tage bis zur Olympiade. München ist trotz des Schrecks, den die ersten Nachrichten von den Ereignissen des Vortages auf dem Flughafen Riem ausgelöst haben, immer noch in Feierlaune. Traditionellerweise steht an diesem Tag der Faschingskehraus an. Doch das Wetter ist weiterhin ungemütlich nasskalt. Die starke Bewölkung wird nur hin und wieder von kurzfristigen Sonnenscheinabschnitten durchbrochen. Von den Bergen der nahegelegenen Alpen ist nichts zu sehen, sie sind vollständig in Wolken gehüllt. Immer wieder kommt es zu schauerartigen Schnee- und Regenfällen. Während die Temperaturen tagsüber nur wenig über die Nullgradgrenze gelangen, ist für die Abend- und Nachtstunden leichter Frost mit Straßenglätte vorhergesagt. Ein böig auffrischender Westwind macht das Schmuddelwetter noch unangenehmer, als es ohnehin schon ist.

Während die Lokale dabei sind, sich auf einen heiteren Nachmittag und eine feuchtfröhliche Nacht vorzubereiten, machen sich einige tausend Kilometer voneinander entfernt zwei Flugzeuge fast zur selben Zeit auf den Weg in die bayerische Landeshauptstadt. Um 8.45Uhr startet von dem in der Nähe von Paris gelegenen Flughafen Orly aus eine Maschine der Air France (Flugnummer AF 730). Mit an Bord sind drei junge Araber. Sie besitzen falsche Pässe und führen Waffen mit sich, die bei der Zollkontrolle nicht entdeckt worden sind.

Mit einer Verspätung von 25Minuten startet um 8.40Uhr mitteleuropäischer Zeit eine Boeing der israelischen Fluggesellschaft EL AL (Flugnummer LY 435) auf dem Flughafen Lod bei Tel Aviv. In München soll nur eine Zwischenstation gemacht werden; das eigentliche Ziel ist London. An Bord befinden sich rund 70Passagiere, vier Mann Personal, sechs Stewardessen und zum Schutz vor Anschlägen ein Steward vom israelischen Sicherheitsdienst. Zu den Passagieren zählen auch ein aus Deutschland geflohener Jude mit seinem Sohn. Der 56-jährige Heinz Katzenstein ist in Marburg geboren, sein 32-jähriger Sohn Arie hingegen in Haifa.18 Die beiden sind von Yuval Katzenstein, Aries jüngerem Bruder, zum Flughafen gebracht worden. Das Auto, mit dem sie gekommen sind, ein Ford Taunus, ist ganz neu. Weil Arie Katzenstein unbedingt einen neuen Wagen haben wollte, haben ihm sein Vater und sein Bruder den Gefallen getan und ihm einen gekauft. Mit diesem nagelneuen Wagen fährt Yuval nun allein vom Flughafen aus zurück nach Jerusalem. Er ahnt noch nicht, welche Nachricht ihn dort erwarten wird.

Die Air-France-Maschinelandet um 10.08Uhr in München-Riem. Die drei Palästinenser begeben sich in den Transitraum. Sie besitzen Bordkarten für den Weiterflug nach Rom, der um 14.30Uhr starten soll. Nacheinander begeben sie sich auf die Toilette, inspizieren ihre Waffen und machen ihre Pistolen einsatzfähig. Um nicht weiter aufzufallen, nehmen sie im Restaurant an drei verschiedenen Tischen Platz.

***

Am Viktualienmarkt erreicht der «Tanz der Marktfrauen» seinen Höhepunkt. Bereits um sieben Uhr haben sich dort als Can-Can-Tänzerinnen, Pin-up-Girls, Zofen und Zigeunerinnen verkleidete Obst- und Gemüsehändlerinnen zu ihrem alljährlichen Stelldichein versammelt. Aus den Lautsprechern dröhnt «Grüezi wohl, Frau Stirnimaa», der ultimative, aus der Schweiz stammende Faschings-Ohrwurm. Bei einigen der «Marktweiberl» stellt sich jedoch heraus, dass es sich nicht um Närrinnen, sondern um als Revue-Girls verkleidete Narren handelt.

Auch im Vorort Trudering zieht ein von einem Kübelwagen angeführter Faschingszug durch die Straßen. Eine Teilnehmerin schiebt einen Kinderwagen vor sich her, auf dem die lakonisch anmutende Aufschrift zu lesen ist: «Mit Pille wär das nicht passiert.» Und in Anspielung auf das Beinahe-Unglück vom Tag zuvor in München-Riem heißt es: «Trudering ist lustig und schön, da kann man die Flieger aufsteigen und runterfallen seh’n.»19 Einen derartigen schwarzen Humor kann man sich offenbar nur dann leisten, wenn noch einmal alles gutgegangen ist.

Zur Mittagszeit sperrt die Polizei für die Narren und Närrinnen die gesamte Innenstadt. Im Bereich Marienplatz, Sendlinger Straße, Rosenstraße und Rindermarkt ist kein Auto mehr unterwegs. Überall herrscht buntes Treiben. Aus den Lautsprechern dröhnt Musik. Junge Leute tanzen, mit Spielzeugpistolen wird umhergeknallt, Luftschlangen und Konfetti fliegen durch die Luft. Erst als am Himmel eine dunkelblaue Wand aufzieht, die Sonne endgültig verschwindet und ein leichtes Schneetreiben einsetzt, beginnen sich die Reihen langsam zu lichten.

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Am selben Vormittag findet im Bundeskanzleramt in Bonn unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt ein zweieinhalbstündiges Gespräch über die Nahost-Politik statt.20 Daran nehmen auch Außenminister Walter Scheel, Innenminister Hans-Dietrich Genscher, Verteidigungsminister Helmut Schmidt, der SPD-Abgeordnete Hans-Jürgen Wischnewski und andere Nahost-Experten teil. Da in Kürze ein Besuch des israelischen Außenministers Abba Eban bevorsteht und im März der seines tunesischen Amtskollegen erwartet wird, soll die Position der Bundesrepublik genauer bestimmt werden. Der Bundeskanzler betont, wie sehr ihm an einer ausgewogenen Politik in einem Spannungsgebiet wie dem Nahen Osten gelegen sei, ohne dass das zu einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal Israels führe.

Der als «Brandts Nordafrika-Experte». (Der Spiegel) geltende Wischnewski hat seine Fühler bereits in Richtung der Maghreb-Staaten ausgestreckt. Zur Jahreswende hatte er sich in Tunis und Tripolis zu Sondierungsgesprächen mit dem tunesischen und dem libyschen Außenminister getroffen. Geplant sein soll ein «Geheimtreffen» zwischen Bundesaußenminister Scheel und einem seiner arabischen Kollegen.21 Um Israel nicht von vornherein zu verärgern oder zu beunruhigen, will man es auf neutralem Boden durchführen.

Scheel erinnert nun im Kanzleramt daran, dass es zu den Grundsätzen der Bundesrepublik gehöre, keine Waffen in Spannungsgebiete zu liefern. Die Normalisierung in den Beziehungen zu den arabischen Staaten dürfe nicht auf Kosten Israels gehen. Um sich den Vorwurf zu ersparen, dass es sich bei der Gewährung größerer Kredite gegenüber Israel doch nur um eine andere Form der Waffenlieferung handle, solle der Grundsatz gelten, Israel so lange keine Finanzhilfe zu gewähren, wie dies nicht auch offen vertreten werden könne. Keiner der Teilnehmer ahnt, dass es wegen des Nahostkonflikts nur wenige hundert Kilometer entfernt zu einem blutigen Gewaltakt kommen wird. Und dass die Begründung, die dafür später ins Feld geführt wird, lautet, dass man die Unterstützung Israels mit bundesdeutschen Waffen nicht akzeptieren könne.

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Währenddessen tagt der jordanische Ministerrat in Amman, um über die angespannte Lage im Nachbarland Israel zu beraten. Nicht nur westliche Beobachter befürchten, dass es zum Ausbruch eines Bürgerkrieges kommen könnte. Die Bedeutung der Sitzung wird dadurch unterstrichen, dass an ihr auch König Hussein, Kronprinz Hassan und der Oberkommandierende der Streitkräfte teilnehmen. Das Ergebnis ist eine zwölf Punkte umfassende Anordnung zur Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Die jordanische Regierung versucht damit, auf die Machtausweitung palästinensischer Organisationen, insbesondere der PLO und der Fatah, zu reagieren, die bis an die Zähne bewaffnet sind und sich wie ein Staat im Staate gebärden.

Seit dem Ende des Sechs-Tage-Krieges sind immer mehr Palästinenser aus den israelisch besetzten Gebieten nach Jordanien geflohen. Gleichzeitig hat die PLO samt ihren Unter- und Nebenorganisationen einen beträchtlichen Zulauf bekommen. Ganz offensichtlich dürsten sie nach einer Gelegenheit, um die Schlappe wettzumachen und ihre Gebiete zurückzuerobern. Im Grunde sehen sie das Nachbarland als eine Art Aufmarschgebiet an, von dem aus sie sich militärisch wappnen und ihre Operationen vorbereiten können. Da König Hussein – wenn auch mit großer Vorsicht – einen prowestlichen Kurs vertritt, ist der Konflikt letztlich unausweichlich. Durch die Anordnung seiner Regierung wird den Palästinensern nun das Tragen von Waffen verboten; sie sind gezwungen, eine Identitätskarte mit sich zu führen und ihre Fahrzeuge mit den vorgeschriebenen jordanischen Kennzeichen auszustatten. Es wird sich jedoch schon bald zeigen, dass diese Maßnahmen nur wenig fruchten.

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Die EL-AL-Maschine hat derweil über den Alpen wegen starken Schneetreibens weitere 25Minuten verloren. Sie landet schließlich mit einer Verspätung von insgesamt 50Minuten um 12.26Uhr auf dem Flughafen München-Riem. Ursprünglich hätte sie bereits um 12.10Uhr nach London weiterfliegen sollen. Passagiere und Piloten verlassen das Flugzeug, lediglich die Stewardessen und der Sicherheitsmann bleiben an Bord. 18Passagiere wollen nach London weiterfliegen. Bis auf zwei begeben sie sich zusammen mit der Crew in den Transitraum. Wegen der seit anderthalb Jahren gestiegenen Gefahr von Terroranschlägen werden alle israelischen und arabischen Maschinen am Rande des Flugfeldes platziert und von zwei Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag gesichert.

Sieben Personen aus der EL-AL-Maschine ziehen sich an die Kaffee-Bar zurück. Es sind neben der vierköpfigen Crew die 46-jährige Schauspielerin Hanna Maron, der 24-jährige Schauspieler Assaf Dayan, Sohn des israelischen Verteidigungsministers Moshe Dayan, und dessen 20-jährige Freundin. Im Transitraum befinden sich außerdem 15Flughafenangestellte und 40 weitere Fluggäste, darunter ein Dutzend, die auf ihren Weiterflug mit einer Maschine der Swissair nach Zürich warten, und die drei Palästinenser. Sie fallen niemandem auf.

Der 44-jährige Flugkapitän Uriel Cohen ist gegen 12.45Uhr gerade dabei, der Schauspielerin Kinderspielzeug zu zeigen, das er kurz zuvor im Duty-free-Shop gekauft hat, als die Passagiere der EL-AL-Maschine über Lautsprecher zum Weiterflug nach London aufgerufen werden. Nach und nach begeben sie sich zum Flugsteig A 5 und besteigen einen vor dem Transitraum wartenden Zubringerbus.

Inzwischen sind etwa drei Minuten vergangen. Als Letzte verlassen Captain Cohen, sein Ko-Pilot, der Erste Offizier sowie die Schauspieler Dayan und Maron den Aufenthaltsraum. Als sich der Flugkapitän dem Ausgang nähert, tritt ihm einer der Palästinenser mit einer Handgranate zwischen den Fingern entgegen und droht ihm mit den Worten: «I have bomb, I have pistol, you have no chance.»22 Doch mit Cohen, der im ersten Moment denkt, dass es sich um einen Scherz handeln könnte,23 hat er sich genau den Falschen ausgesucht. Der EL-AL-Pilot, ein knapp zwei Meter großer Hüne an Gestalt, der Mitglied der Untergrundorganisation Irgun war,24 geht auf den Angreifer los und versucht, ihn zu umklammern.25 Dabei stößt er gegen einen der beiden anderen Palästinenser, der die übrigen Israelis mit einer weiteren Handgranate und einer Pistole in Schach zu halten versucht. Cohen geht zusammen mit dem ersten Mann zu Boden. Unter den Umherstehenden bricht Panik aus.

Währenddessen springt der dritte Palästinenser über ein Absperrungsseil, lädt im Laufen seine Pistole durch und rennt mit ihr auf das Vorfeld zum Bus, der gerade anfährt. Er baut sich davor auf und richtet seine Waffe gegen den 47-jährigen Fahrer. Dieser versucht der bedrohlichen Situation zu entgehen, indem er sich wegduckt und im letzten Moment noch den Türöffner drückt, um sich selbst aus dem Fahrzeug zu stehlen und auch den weiter hinten im Bus befindlichen Passagieren eine Chance zur Flucht zu bieten.

Der Pilot ringt weiter mit dem Angreifer. Dabei macht sich die eiförmige Handgranate selbständig, rollt etwa zwei Meter bis zu einer Glaswand und detoniert noch im Innern des Transitraumes. Durch die Explosion wird das linke Bein der Schauspielerin Maron aufgerissen, auch der rechte Unterarm des sich am Boden wälzenden Chefpiloten Cohen und dessen Angreifer werden erheblich verletzt. Von dem Knall alarmiert, setzen sich 500Meter entfernt die Polizeibeamten, die sich vor der EL-AL-Maschine in Bereitschaft gehalten haben, in Richtung Transitraum in Bewegung.

Inzwischen hat der dritte Terrorist – es ist 12.55Uhr – kurzerhand seine Eierhandgranate durch die offenstehende Mitteltür in den Bus geworfen. Sie rollt auf zwei hinter dem Fahrersitz stehende Passagiere zu. In diesem Moment hechtet Arie Katzenstein nach vorne, um den Sprengkörper aufzufangen und in letzter Sekunde wegzuwerfen. Doch zu spät. Es gibt einen ohrenbetäubenden Knall. Mit zerfetztem Oberkörper sinkt der junge israelische Ingenieur, Vater dreier Kinder, in sich zusammen. Offenbar hat er die meisten Splitter mit seinem Körper abgefangen. Katzensteins Vater steht völlig unter Schock und presst unter Schluchzen nur immer wieder die Worte hervor: «Mein Sohn ist tot, mein Sohn ist tot.»26 Die Wucht der Detonation ist so stark gewesen, dass ein Loch in den Boden des Busses gerissen wurde. Die Fenster sind dagegen weitgehend heil geblieben. Viele Businsassen sind von herumfliegenden Granatsplittern verletzt worden.

Ein aus Israel stammender Rabbi bleibt mit scheinbar stoischer Haltung im Bus sitzen. Doch der Eindruck täuscht. In Wirklichkeit befürchtet er, erschossen zu werden, sobald er das Fahrzeug verlässt. Flughafenangestellte helfen dem völlig verängstigten Mann beim Ausstieg. Er wird in die Verkehrsabteilung geführt. Als er sich hinsetzt und sich die Spannung zu lösen beginnt, bricht er weinend in sich zusammen.27

Ein unbeteiligter Zuschauer, der aus dem Gefahrenbereich zu fliehen versucht, stürzt und zieht sich eine Beckenfraktur zu. Auch die Passagiere anderer Maschinen, die sich im Transitraum aufhalten, sind gefährdet. Ein Inder, der ebenso wie eine Amerikanerin auf den Abflug einer Maschine nach Zürich wartet, reißt seine Nachbarin geistesgegenwärtig zu Boden, als die Granate explodiert. Ein Engländer, der ebenfalls in die Schweiz fliegen will, rettet sich wie einige andere durch einen Hinterausgang. Eine Mitarbeiterin des Bodenpersonals flüchtet sich zusammen mit einem Kollegen hinter den Tresen eines Duty-free-Shops. Eine Schweizerin geht derweil zusammen mit einer Verkäuferin hinter einem Verkaufsstand in Deckung. Hals über Kopf rennen sie zu den nächstgelegenen Toilettenräumen und schließen sich dort ein. Über einen Lift bringen sie sich schließlich in Sicherheit. Weniger Glück hat ein Münchner, der in seiner Panik versucht, vom Transitraum aus über das Dach der Gepäckausgabe zu fliehen. Er bricht dabei durch das Glasdach und verletzt sich so schwer, dass er ins Perlacher Krankenhaus transportiert werden muss.

Ein Mitarbeiter der Verkehrsabteilung, der in seinem Büro sitzt und bei dem Getöse zunächst an harmlose Knallerbsen gedacht hat, eilt ans Fenster. Als er den in eine Qualmwolke eingehüllten Omnibus erblickt, Männer mit Pistolen in ihren Händen und schutzsuchende Passagiere, wird ihm schlagartig klar, dass dies kein Faschingsscherz sein kann. Er greift zum Telefonhörer und schildert Flughafendirektor Wulf-Diether Graf zu Castell, was sich gerade vor seinen Augen abspielt.

Nun treten die Sicherheitskräfte in Aktion. Acht Beamte der Bayerischen Grenzpolizei stürmen mit gezogenen Dienstwaffen, Pistolen der Marke Walther PPK, heran. Als einer von ihnen aus etwa zehn Metern Entfernung den vom Omnibus weglaufenden Terroristen in Schach zu halten versucht, geht dieser hinter einem anderen Fahrzeug in Deckung. Nachdem sie sich beide so lange beschossen haben, bis ihre Magazine geleert sind, setzt der Attentäter seine Flucht fort. Er dringt in den Transitraum ein und zieht dort eine weitere Handgranate aus seiner Tasche. Doch bevor er sie wegwerfen kann, explodiert sie und reißt ihm die rechte Hand ab. Außerdem erleidet er ebenso wie ein in das Kampfgeschehen verwickelter Polizist zahlreiche Splitterverletzungen.

Der andere der drei Attentäter, der die Eskalation ausgelöst und sich dabei selbst verletzt hat, ist in der Zwischenzeit in den Keller unter dem Transitraum gerannt und sperrt sich dort auf der Damentoilette ein. Als eine 22-jährige Verkäuferin den Vorraum betritt, fällt ihr eine Blutspur auf, die in eine der Kabinen führt. Sie beugt sich herunter: Durch den Spalt unter der Tür erkennt sie einen Mann, der zusammengekauert auf dem Boden sitzt. Offenbar weiß er nicht mehr weiter. Die junge Frau alarmiert rasch einige der umherlaufenden Grenzpolizisten. Sie brechen die Toilettentür auf und holen den verletzten Terroristen heraus. Die Blutspuren rühren von einer Beinverletzung her, die er durch die eigene Handgranate erlitten hat.

Der letzte der drei Attentäter schleudert kurz darauf ebenfalls noch seine Handgranate in den Transitraum. Sie detoniert, ohne einen der dort noch befindlichen Passagiere in Mitleidenschaft zu ziehen. Unmittelbar darauf wirft er seine Pistole fort und versucht zu fliehen. Doch vergeblich. Wenige Momente später lässt er sich widerstandslos von einem Polizisten festnehmen. Er ist der Einzige aus dem dreiköpfigen Kommando, der unverletzt geblieben ist.

Auch die Flughafenfeuerwehr ist mittlerweile in Aktion getreten. Lothar Schwiebert, einer ihrer Einsatzkräfte, schildert später, wie ihr Leiter Johann Weiß die Initiative ergriffen hat:

«Der Herr Weiß rannte als Erster in den Transitraum, wir rannten hinter ihm her. Am Boden lag einer der Attentäter. Ihm hatte eine Handgranate den rechten Arm abgerissen. Da stürzte ein Grenzpolizist mit gezogener Waffe auf den Terroristen und drohte, ihn zu erschießen. Weiß stieß den Beamten zur Seite und schrie: Helfen, nicht Schießen!»28

Inzwischen ist es 13Uhr. In der Klinik rechts der Isar haben sich die Mediziner gerade fertig gemacht, um sich ebenfalls in den Faschingstrubel zu stürzen. Plötzlich schrillen Alarmsignale durch die Gänge; in der Chirurgischen Abteilung blinkt das Leuchtzeichen «Großalarm» immer wieder auf. Kurz darauf startet der erste von mehreren Krankenwagen in Richtung Riem.

Als das Fahrzeug am Flughafen eintrifft, ist der junge Katzenstein bereits verblutet. Auch die Schauspielerin Hanna Maron, die ihre Proben zur Medea-Aufführung an einem Tel Aviver Theater nur kurzfristig unterbrechen wollte, um zu Testaufnahmen für einen Film über Israels Ministerpräsidentin Golda Meir nach London zu fliegen, hat so viel Blut verloren, dass um ihr Leben gebangt werden muss. Im Grunde genommen hat sie nur durch einen glücklichen Zufall überhaupt eine Chance. Durch die Detonation ist sie zu Boden geschleudert worden und hat ihr Bewusstsein verloren. In dem rund um den Bus entstandenen Durcheinander wird sie beinahe übersehen. Erst ein junger Mann, der vorüberläuft, entdeckt sie – wie sie sich vier Jahrzehnte später im Interview erinnert – in ihrer Blutlache. «Um Gottes willen, da liegt ja noch eine Frau!», soll er vor Aufregung geschrien haben.29 Zum Glück benötigt der Rettungswagen für den Transport ins Krankenhaus nicht besonders viel Zeit. Die Klinik rechts der Isar liegt nicht weit vom Flughafen entfernt.

Die drei Terroristen sollen schon aus Sicherheitsgründen getrennt untergebracht werden. Der unverletzt gebliebene Mohammed Hadidi wird in eine Zelle des Polizeipräsidiums verfrachtet. Mit Abder Rahman Saleh kommt der zweite nach einem kurzen Klinikaufenthalt in die Haftanstalt Stadelheim und wird von dort aus weiter nach Landsberg am Lech transportiert. Der dritte, Mohammed el-Hanafi, muss dagegen noch für längere Zeit im Klinikum rechts der Isar bleiben. Seine Verletzung ist so schwer, dass ihm der rechte Unterarm bis zum Ellenbogen amputiert werden muss.

Die Nachricht vom Terroranschlag auf dem Flughafen Riem hätte die Münchner Polizei kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt erreichen können. Auf dem Polizeipräsidium herrscht in dem Moment ein ziemlicher Trubel, auch hier will man den Kehraus feiern. Bei der Kriminaldirektion hat man – das jedenfalls wird bald darauf vom Polizeireporter der Süddeutschen Zeitung gemeldet – bereits ein Fass Bier geleert.30 Dafür gibt es einen besonderen Grund. Das Bier hat mit Josef von Ferenczy der Vater von Faschingsprinz AndreasI. spendiert. Er will sich damit für die «kriminalistischen Verdienste» von Kriminaldirektor Hermann Häring erkenntlich zeigen, die dieser sich bei seinen Anstrengungen um die Sicherheit des Sohnes und dessen Prinzessin Nadja angeblich erworben hat. Die Kripo hatte mitbekommen, dass eine «Entführung» des Prinzenpaares geplant war. Das Ensemble des Rationaltheaters wollte die beiden vor oder während des Umzuges in seine Gewalt bringen und in einen dafür eigens hergerichteten «Knast-Wagen» einsperren. Häring überredete die Schauspieler und sonstigen Mitarbeiter des Theaters dazu, von ihrer Aktion abzusehen. Als die angeheiterten Beamten nun von der anderen, so blutig verlaufenen Entführung hören, halten sie die Nachricht im ersten Moment für einen üblen Scherz. Doch dann raffen sie sich auf und leiten die nötigen Aktivitäten ein.

Derweil herrscht auf dem Flughafen ein regelrechtes Tohuwabohu. Eilends alarmierte Vertreter der verschiedensten Behörden – neben den Beamten der Kriminalpolizei auch welche des Landeskriminalamtes, der Staatsanwaltschaft und des bayerischen Innenministeriums – treffen kurz nacheinander ein und hasten auf dem Flugfeld und den verschiedenen Gebäudeteilen umher. Die Verwirrung ist offenbar deshalb so groß, weil die Sicherheitskräfte nicht dazu in der Lage sind, mit der nötigen Sicherheit zwischen Opfern und Tätern zu unterscheiden. Eine Zeitlang wird der im Omnibus tödlich verletzte israelische Passagier für einen der Attentäter gehalten. Auch einen unter Schock stehenden Portugiesen, der nur unzusammenhängende Sprachbrocken von sich gibt und den man deshalb ins Krankenhaus transportiert, hält man zuerst für einen der Mittäter. Niemand scheint zunächst eine Ahnung zu haben, wie sich die Gruppe der Attentäter zusammensetzt, wem der Anschlag gegolten hat und welches Ziel verfolgt worden ist.