Keine falsche Toleranz! - Wolfgang Kraushaar - E-Book

Keine falsche Toleranz! E-Book

Wolfgang Kraushaar

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Beschreibung

"Das ist ein wichtiges Buch." Gerhart Baum Der Neonazismus, so Wolfgang Kraushaar, ist längst noch nicht überwunden und stellt die Demokratie vor neue Herausforderungen. Diese werden nur dann zu bestehen sein, wenn sich Staat und Zivilgesellschaft neu positionieren. Die Vorstellung, wehrhaft sein zu müssen, wirkte lange wie aus der Zeit gefallen. Dass sie ins Zentrum der politischen Debatte zurückgekehrt ist, liegt vor allem an Putins Überfall auf die Ukraine und seinen menschenverachtenden Annexionskrieg. Mit der erneuerten Wehrhaftigkeit nach außen geht allerdings einher, die Wehrhaftigkeit auch nach innen auf den Prüfstand zu stellen. Denn im Unterschied zu früheren Jahrzehnten hat die Bedrohung von rechts unablässig zugenommen. Zwei politische Faktoren prägen das neue Gefährdungsszenario: Parlamentarisch ist mit der AfD eine starke rechtspopulistische Partei im Bundestag vertreten, die sich offen gegen die liberale Demokratie stellt. Und im Zuge der Anti-Corona-Demonstrationen hat die radikale Rechte so sehr an Einfluss gewonnen, dass sich ihr neue machtpolitische Optionen bieten. Durch diese beiden Elemente ist die Demokratie regelrecht in die Zange genommen worden. Angesichts dieser Herausforderung erscheinen mehrere strukturelle Korrekturen erforderlich, um das Konzept einer 'wehrhaften Demokratie' so weit zu erneuern, dass die Bundesrepublik künftig besser gegen derartige Angriffe gewappnet ist. Dabei gilt es insbesondere der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Gefährdung der Demokratie nicht mehr in erster Linie von den Rändern der Gesellschaft ausgeht, sondern von ihrer Mitte. Kraushaar plädiert deshalb dafür, die statische Theorie von Extremismus durch eine dynamische der Radikalisierung zu ersetzen. Erst wenn das geschehen ist, wird die zweite deutsche Demokratie besser als bisher in der Lage sein, sich auch in Zeiten einer multifaktoriellen Krise als wehrhaft zu erweisen.

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Die Vorstellung, wehrhaft sein zu müssen, wirkte lange wie aus der Zeit gefallen. Dass sie ins Zentrum der politischen Debatte zurückgekehrt ist, liegt vor allem an Putins Überfall auf die Ukraine und seinen menschenverachtenden Annexionskrieg.

Mit der erneuerten Wehrhaftigkeit nach außen geht allerdings einher, die Wehrhaftigkeit auch nach innen auf den Prüfstand zu stellen. Denn im Unterschied zu früheren Jahrzehnten hat die Bedrohung von rechts unablässig zugenommen.

Zwei politische Faktoren prägen das neue Gefährdungsszenario: Parlamentarisch ist mit der AfD eine starke rechtspopulistische Partei im Bundestag vertreten, die sich offen gegen die liberale Demokratie stellt. Und im Zuge der Anti-Corona-Demonstrationen hat die radikale Rechte so sehr an Einfluss gewonnen, dass sich ihr neue machtpolitische Optionen bieten. Durch diese beiden Elemente ist die Demokratie regelrecht in die Zange genommen worden.

Angesichts dieser Herausforderung erscheinen mehrere strukturelle Korrekturen erforderlich, um das Konzept einer ‚wehrhaften Demokratie‘ so weit zu erneuern, dass die Bundesrepublik künftig besser gegen derartige Angriffe gewappnet ist. Dabei gilt es insbesondere der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Gefährdung der Demokratie nicht mehr in erster Linie von den Rändern der Gesellschaft ausgeht, sondern von ihrer Mitte.

Kraushaar plädiert deshalb dafür, die statische Theorie von Extremismus durch eine dynamische der Radikalisierung zu ersetzen. Erst wenn das geschehen ist, wird die zweite deutsche Demokratie besser als bisher in der Lage sein, sich auch in Zeiten einer multifaktoriellen Krise als wehrhaft zu erweisen.

Wolfgang Kraushaar, geb. 1948, arbeitete bis 2015 als Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung und forscht seitdem an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur über Protestbewegungen sowie die RAF und den internationalen Terrorismus. Zu seinen wichtigsten Werken zählen Die Protest-Chronik (1996), Frankfurter Schule und Studentenbewegung (1998), Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus (2005), Die RAF und der linke Terrorismus (2006) sowie Die 68er-Bewegung international (2018).

Wolfgang Kraushaar

Keine falsche Toleranz!

Warum sich die Demokratiestärker als bisherzur Wehr setzen muss

Mit einem Geleitwortvon Gerhart Baum

Europäische Verlagsanstalt

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Sacha Hartgers

EPUB: ISBN 978-3-86393-641-9

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-86393-142-1

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

„Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt bloßer

Zweckmäßigkeitserwägungen, wo man den Glauben hat,

dass sie für die Würde des Menschen unverzichtbar ist.

Wenn man den Mut zu diesem Glauben hat, muss man auch

den Mut zur Intoleranz denen gegenüber haben, die die

Demokratie gebrauchen wollen, um sie selbst umzubringen.“

Carlo Schmid am 8. September 1948

vor dem Parlamentarischen Rat

Gerhart Baum: Geleitwort

Das ist ein wichtiges Buch. Es betrifft die Freiheit. Die Freiheit in unserem Lande. Wir haben uns nicht befreit. Wir wurden befreit – befreit von einer rechtsextremistischen Diktatur, von einer Verbrecherbande, die Millionen von Menschen weltweit ins Unglück gestürzt und einen Rassismus praktiziert hat, der zum millionenfachen Mord geführt hat. Es gab immer das „andere Deutschland“. Das Deutschland nach 1945 hat dieses „andere Deutschland“ wieder zum Leben erweckt. Wir haben eine Demokratie aufgebaut mit einer Verfassung, dem Grundgesetz, wie sie die Deutschen nie zuvor hatten. Sie ist eine Absage an den Obrigkeitsstaat und ihr tragendes sittliches Prinzip ist der Schutz der Menschenwürde.

Aber diese Ordnung ist Gefährdungen ausgesetzt. Wir müssen sie verteidigen. Es gibt Kräfte in unserer Gesellschaft, die sich der Demokratie und ihren Spielregeln entfremdet haben. Sie verachten das „System“. Sie wollen es durch autoritäre Strukturen ersetzen. Ihr Nährboden ist die Nazi-Ideologie. Die größte Gefährdung unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung geht heute vom Rechtsextremismus aus. Er wurde in der Geschichte der Bundesrepublik oft unterschätzt. Der Feind „stand links“. Man hüte sich, diese rechte Gefährdung durch Hinweise auf andere Bedrohungen der Freiheit zu relativieren oder auch mit dem Hinweis, dass es in anderen Demokratien „rechte Entwicklungen“ gibt, dass dies sozusagen zur „Normalität“ gehört. In Deutschland können wir das nicht gelten lassen. Hat man denn nicht begriffen, dass Deutschland vor dem Hintergrund seiner Vergangenheit die Pflicht hat, dieser Normalität mit aller Kraft zu widerstehen. Wer „ein rassistisches Konzept der ethnisch exklusiven Volksgemeinschaft vertritt“, so das Bundesverfassungsgericht, „der handelt verfassungswidrig.“ Das zielt auf Höcke, wenn er sagt, „die deutsche Nation wird durch Masseneinwanderung zerstört“. Solche Äußerungen bringen diese Partei in die Nähe der Nazis – und das ist gewollt. Ja, es handelt sich um Verfassungsfeinde und sie sind nicht in einer Sekte angesiedelt. Sie gewinnen durch Wahlen an Boden. Sie haben das politische Klima in unserem Lande verändert. Ich habe dabei immer im Kopf: In ihrer Geschichte hatten die Deutschen mitunter ein gestörtes Verhältnis zur Freiheit. Sie sind Versuchungen zur Unfreiheit erlegen und haben nie eine erfolgreiche Revolution zustande gebracht. Wie wurde die Freiheitsbewegung von 1848 niedergeknüppelt! Nationalismus war oft stärker als die Verteidigung der Freiheit.

Wir blicken heute auf eine rechtsextremistische Partei, die Ängste nicht nur nutzt, sondern schürt. Was da zum Ausdruck kommt, das ist nicht nur von Protest genährt. Der spielt sicher auch eine Rolle, ohne dass allerdings tragfähige Alternativen angeboten werden. Das dominierende Ziel dieser Partei ist jedoch die Bekämpfung der Freiheit des Grundgesetzes – immer offener, immer unverhohlener kommt dies zum Ausdruck. Sie bekämpft unsere Staatlichkeit. Sie diskreditiert die Spielregeln unserer Demokratie, so die Meinungsfreiheit, wie sie vielfach, z. B. im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, zum Ausdruck kommt. Nicht ihre Parteinahme für den Kriegsverbrecher Putin ist verfassungswidrig – sie zeigt nur, was für sie Freiheit bedeutet –, sondern die Verachtung unseres Systems. Wer diese Leute wählt, die auch noch vorgeben, im Namen Deutschlands zu sprechen, der weiß genau, was er tut. Er ist mitverantwortlich. Und wer von den demokratischen Parteien sich diesen Forderungen anschließt – und es gab ja solche anbiedernden Versuche –, der verrät in der Regel seine Überzeugungen und bleibt erfolglos. Das heißt aber nicht, dass die Demokraten nicht reagieren müssen. Sie müssen überzeugender regieren und die Menschen bei schwerwiegenden Entscheidungen mitnehmen.

Etwas anderes ist noch im hohen Maße besorgniserregend – eine Tendenz, die sich verstärkt. Wolfgang Kraushaar behandelt sie ausführlich in dem Kapitel „Radikalisierung der Mitte“. Die Gefahr kommt heute, wie der Generalbundesanwalt feststellt, „aus der Mitte der Gesellschaft“. Die Verfassungsschutzbehörden sehen „die Anschlussfähigkeit rechtsextremer Inhalte an die bürgerliche Mitte“. Die Grenzen verschwimmen. Rechtspopulistische Meinungen, das belegen Untersuchungen seit längerem, sind in bürgerliche Milieus eingedrungen, eine „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ konstatiert Wilhelm Heitmeyer, einen „autoritären Nationalradikalismus“. Und auf diesem Boden gedeihen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und religiöse Intoleranz. Das ist heute die wirklich akute Gefahr.

Ich habe den Eindruck, dass diese Gefahr bisher nicht hinreichend wahrgenommen wird, obwohl die Sicherheitsbehörden ständig warnen. Es fällt ihnen schwer, diese Entwicklung parteipolitisch zuzuordnen. Sie behandeln sie in gesonderten Kapiteln. Sie ist also schwer zu fassen, und damit noch gefährlicher.

Es zeigen sich hier besorgniserregende Parallelen zu Entwicklungen am Ende der Weimarer Republik. Auch darauf geht Kraushaar ein. Sie ist im Wesentlichen nicht durch die Extreme von links und rechts zerstört worden, sondern durch das Versagen des Bürgertums. Man könnte von einem „Hauch von Weimar“ sprechen, der durch unsere Republik weht, wenn es nicht doch eine Dramatisierung wäre. Aber schon ein Hauch wäre gefährlich angesichts der großen Unsicherheiten, den wachsenden Ängsten, angesichts der Herausforderungen, die auf die Menschen zukommen. Für die Extremisten ist der Ölpreis wichtiger als der Kampf für die Freiheit gegen einen Diktator, der ein freies Land überfallen hat, das schon einmal Opfer einer Aggression war, einer deutschen.

Man kann sich vorstellen, was diese Kräfte mit der „Freiheit der Kunst“ machen. Das ist nicht weit entfernt von der Diffamierung von Kunst als „entartet“. Das ist Kunstzensur! Schon gibt es Beispiele in Kommunalparlamenten.

Die Menschen lassen sich verführen. In dieser Hinsicht ist das Internet auch eine „Hassmaschine“. Allein, wie das Internet Antisemitismus transportiert, ist schon ein Skandal.

Kraushaar lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Situationen des Rechtsextremismus in der Geschichte der Bundesrepublik, die nicht vergessen werden dürfen. Und er tut dies mit großer Sachkenntnis und wissenschaftlicher Sorgfalt. Nur wenn wir die Gefahren wirklich wahrnehmen und sie benennen, können wir sie auch bekämpfen – und das war eben nicht immer der Fall. Kraushaar beschreibt das Versagen der Demokratie, aber auch deren Erfolge. Wir haben eine wehrhafte Demokratie und die Mehrheit steht zu ihr. Nur muss sie sich von der Vorstellung befreien, die Demokratie bedürfe nicht der permanenten Verteidigung.

Wer sich über die Rolle des Rechtextremismus in unserem Lande orientieren will, der findet in dem Buch fundierte Beschreibungen und Analysen. Aber das ist nicht nur ein Rückblick. Er hilft uns, mit den gegenwärtigen Bedrohungen für unsere Freiheit umzugehen. Sie kommen zuallererst vom offenen und verdeckten Rechtsextremismus. Kraushaar bevorzugt die Bezeichnung Radikalismus. Auch das ist ein interessanter Diskurs im Buch.

Köln, 9. Oktober 2022

Inhalt

Geleitwort von Gerhart Baum

Einleitung

Die versuchte Reichstagserstürmung durch Querdenker | Als „Gäste“ getarnte U-Boote der AfD im Bundestag | Die Erstürmung des Capitols in der Hauptstadt der USA | Eine Steilvorlage für rechte Umsturzstrategen hierzulande | Die Zerstörungsvision von Verfassung und Demokratie eint die radikale Rechte

1. Die abgebrochene Entnazifizierung in der Nachkriegsordnung

Die Praxis der Entnazifizierung | Die durch den Ost-West-Konflikt veränderten Rahmenbedingungen | Die Gründung der Bundesrepublik

2. Das Grundgesetz als Antwort auf die NS-Diktatur

Die Grundsatzrede Carlo Schmids | Die Reklamierung der Menschenwürde als Antwort auf den von den Nationalsozialisten vollzogenen Zivilisationsbruch | Carlo Schmid als Architekt des Grundgesetzes

3. Ideen zu einer wehrhaften Demokratie

Die Ausbuchstabierung der wehrhaften Demokratie im Grundgesetz

4. Das rechte Kontinuitätsbegehren in der Ära Adenauer

Eine Episode während der konstituierenden Sitzung des Bundestages | Abgeordnete der SPD-Fraktion verprügeln einen Alt-Nazi | Ein Gericht verurteilt einen ehemaligen Wehrmachtsoffizier wegen der Verunglimpfung von Widerstandskämpfern | Drei Affären | Der Naumann-Kreis: Ein Geheimbund von hochrangigen Ex-Nazis weckt einen Putschverdacht | Die Enttarnung und Auflösung einer antikommunistischen Partisanengruppe | Ein Geheimdienstchef verschwindet und taucht vorübergehend auf der Seite des politischen Gegners wieder auf | Die rechtsradikalen Splitterparteien | Das Verbot der Sozialistischen Reichspartei | Die Deutsche Partei (DP) als Koalitionspartner | Zur Personalpolitik der Bundesregierung | Demokratische Mimikry | Die Remilitarisierung | Vier Ämter | Das Auswärtige Amt | Das Bundeskriminalamt | Das Bundesamt für Verfassungsschutz | Der Bundesnachrichtendienst

5. Der Post-Holocaust-Antisemitismus

Die in der Nachkriegszeit fortgesetzten Friedhofsschändungen | Übergriffe auf jüdische Überlebende | Das Jahr 1959 als Schlüsseljahr | Adornos These vom „Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie“ | Das antisemitische Fanal am Heiligabend 1959 in Köln | Die Bundesregierung reagiert mit Verharmlosung und Exkulpation

6. Der Konflikt um die Wiederkehr des NS-Justizpersonals

Die SED-Kampagne gegen das Fortwirken der NS-Justiz in der Bundesrepublik | Die Ausstellung „Ungesühnte Nazi-Justiz“ (1959) | Der neue Generalbundesanwalt entpuppt sich als einstiger „Scharfmacher der Todesstrafe“ | „Braunbuch. Kriegsund Naziverbrecher in der Bundesrepublik“ | Hans-Joachim Rehse, der ehemalige Richter am Volksgerichtshof

7. Eine Zwischenbilanz

Die „Spiegel-Affäre“ | Franz Josef Strauß als ungekrönter Affären-König | Die Bundesanwaltschaft: Das Bermuda-Dreieck des Rechtsstaats? | Ein vom Bundesverfassungsgericht verhängtes Verbotsurteil und seine Folgen | Der Skandal um den „Technischen Dienst“ des Bundes Deutscher Jugend entpuppt sich als CIA-Affäre | Kontext und Folgen der John-Affäre | Die Wagenburgmentalität in den Ministerien, Behörden und Ämtern | Das Bundesamt für Verfassungsschutz | Der Bundesnachrichtendienst | Die Bürde der Bundesregierung | Die Verjährungsdebatte als Zeitenwende | Die kalte Amnestie

8. Die Offensive der NPD

Die Anti-NPD-Bewegung der APO | Zwei Demonstranten werden angeschossen: Der Zwischenfall von Kassel | Radikalisierung als Reaktion: Die Gründung der Aktion Widerstand | Das Scheitern der NPD-Verbotsanträge

9. Der Rechtsterrorismus, erster Teil

Das Dutschke-Attentat | Der Anschlag auf einen sowjetischen Wachsoldaten in West-Berlin | Import von aus der DDR stammenden Neonazis, teilweise durch bundesdeutsche Freikaufaktionen | Das von einem Neonazi verübte Oktoberfest-Attentat

10. Die rechtsnationale Konterbande der deutschen Einigung

Die verdeckte fremdenfeindliche Vorgeschichte im SED-Staat DDR | Die fatale Kontinuität von Hoyerswerda

11. Die rechtsradikale Mordserie

Das Exempel von Lampertheim | Kanzler Kohls Beileidsverweigerung und deren Fundierung in einer Abschiebementalität

12. Das Menetekel von Lübeck

13. Der größte Einbruch politischer Kriminalität in der Bundesrepublik

14. Die Quittung NSU

Der „Nationalsozialistische Untergrund“ fliegt auf | Der VS-Mann, der genau zum richtigen Zeitpunkt am Tatort ist, aber nichts von der Tat mitbekommen haben will

15. Eine Protestbewegung als Vorhut: Die DresdenerPegida

16. Eine Partei als Scharnier: DieAlternative für Deutschland(AfD)

Der AfD-Grande öffnet die Schleusentore zum Neo-Nazismus | Der Einpeitscher Björn Höcke

17. Der Rechtspopulismus

18. Der Rechtsterrorismus, zweiter Teil

Die „Gruppe Freital“ | Die „Revolution Chemnitz“ | Der Mordanschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke | Der gescheiterte Anschlag auf die Synagoge von Halle und die beiden kompensatorischen Mordtaten | Die Morde von Hanau | Stochastischer Terrorismus?

19. Die Anti-Corona-Demonstrationen

Lebensrecht versus Grundrecht | Die Proteste gegen die Anti-Corona-Maßnahmen | Ein IT-Unternehmer gründet die Bewegung der Querdenker | Die Berliner „Hygienedemos“ als Parallelbewegung | Die bundesweite Anti-Corona-Bewegung im Überblick | Das Sündenbock-Syndrom als Schlüssel zur Lösung des Irrationalismus-Phänomens | Die Haupt-Merkmale der Anti-Corona-Bewegung | Zur begrenzten Aussagefähigkeit der ersten empirischen Studien | Telegram als Radikalisierungsmaschine von Corona-Leugnern | „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ als Interpretationsformel | Die Reichsbürger als Bodensatz der Corona-Leugner | Tankstellen-Mord eines Corona-Leugners | Die Sächsische Sozialministerin gerät ins Fadenkreuz der Corona-Leugner | Die Gründerfigur der Querdenker bekommt immer mehr Probleme und wird festgenommen

20. Die Unterminierung und Unterwanderung von Sicherheitsbehörden

Problemfall Bundeswehr | Die Polizei – zwischen Korpsgeist und Selbstkritik | Der Hamburger Polizeiskandal | Der hessische Polizeiskandal „NSU 2.0“ | Institutioneller Rassismus?

21. Der Ethnozentrismus als Matrix

Das Interaktionsmodell

22. Die Radikalisierung der Mitte

Die aristotelische Mitte | Die instabile Mitte in der Weimarer Republik | Die Auflösung der Mittelschichtenparteien und der Aufstieg des Nationalsozialismus | Lipsets Theorie vom Extremismus der Mitte

23. Radikalismus statt Extremismus – Plädoyer für einen Wechsel

24. Erfordernisse und Möglichkeiten zur Gegenwehr

Die Lichterketten und der „Aufstand der Anständigen“

25. Der Mythos vom Antifaschismus

26. Die Konsequenzen

27. Keine falsche Toleranz

Anmerkungen

Bibliographie

Personenregister

Einleitung

Zu der umgreifenden Verunsicherung, die die Corona-Pandemie in der Gesellschaft auslöste, kam schon bald eine massive politische Irritation hinzu. Von Stuttgart aus traten seit dem Frühjahr 2020 Gegner der staatlichen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz in Erscheinung, die sich Querdenker nennen und seitdem bundesweit Protestaktionen organisieren. Der anfangs sträflich unterschätzten Bewegung gelang es nach nur wenigen Wochen eine Mobilisierung zustande zu bringen, wie man sie sich in der Bundesrepublik unter den Rahmenbedingungen der Covid19-Krise nicht hatte vorstellen können.

Das öffentliche Echo war von Anfang an tief gespalten. Während Kritiker, darunter auch Linke und Liberale, die Demonstrationen zumeist unter Berufung auf verschiedene Grundrechte mit dem Argument zu verteidigen suchten, dass es in Zeiten eines Ausnahmezustandes möglich sein müsse, die von der Bundesregierung verhängten Anordnungen in Frage zu stellen, reagierten konservative, liberale und zum Teil auch sozialdemokratische Kritiker abwehrend und meinten, dass mit derartigen Protesten die Solidarität in der Bevölkerung untergraben und durch den mangelnden Infektionsschutz zudem deren Gesundheit unnötig gefährdet werde.1

Die versuchte Reichstagserstürmung durchQuerdenker

Bemerkenswerterweise erreichte die Beteiligung an den Anti-Corona-Protesten genau in jenen Wochen ihren Höhepunkt, als die Inzidenzzahlen noch am niedrigsten waren und sich nicht wenige in der Illusion bewegten, dass die Pandemie bereits im Verschwinden begriffen sein könnte. Am 1. und am 29. August 2020 versammelten sich jeweils Hunderttausende in Berlin.2 Die zweite Manifestation konnte nur stattfinden, weil das zuständige Verwaltungsgericht ein vom Berliner Innensenator verhängtes Demonstrationsverbot aufgehoben hatte und diese Entscheidung vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in zweiter Instanz bestätigt worden war. Der SPD-Politiker Andreas Geisel hatte den Veranstaltern zum Vorwurf gemacht, dass sie bei ihrer ersten Großdemonstration die mit der Polizei zuvor vereinbarten Abstands- und Mund-Nasen-Schutzregelungen bewusst gebrochen hätten. Den aus Stuttgart stammenden Organisatoren Initiative Querdenken 711 ginge es gar nicht um die Ablehnung der Corona-Maßnahmen. In Wirklichkeit richteten sich ihre Protestaktionen gegen die Verfassung; „unter dem Deckmantel der Versammlungs- und Meinungsfreiheit“ versuchten sie, das demokratische System „verächtlich zu machen“. Und nur zu bald stellte sich heraus, dass Geisel mit seiner Prognose wohl nicht so ganz verkehrt gelegen hatte.

Denn bei einer Protestversammlung vor der Unter den Linden gelegenen Botschaft der Russischen Föderation, in deren Verlauf es wegen militanter Übergriffe auf die Polizei zu 200 Festnahmen gekommen war, erklärte der Gründer der Querdenken 711-Gruppierung Michael Ballweg, dass das Grundgesetz ausgehöhlt sei. Nicht der Bundestag, sondern der Souverän müsse die Macht übernehmen. Man wolle deshalb „an einer neuen Verfassung“ arbeiten. Von den rund 3000 dort Versammelten wurde der Abschluss eines „Friedensvertrages mit Deutschland“ gefordert. Dieser Appell konnte als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass es sich um ein programmatisches Ziel der Reichsbürger handelte, in deren Ideologie die Vorstellung, dass Deutschland immer noch von den Alliierten besetzt und kein souveräner Staat sei, die zentrale Rolle spielt.

Als sich dann am Abend des 29. August rund 500 Demonstrierende vor dem Reichstagsgebäude formierten, musste das wie eine Bestätigung dieser Vermutung wirken. Denn der dort versammelte Pulk wurde nicht nur von Reichsflaggen, dem Symbol der gleichnamigen Bewegung, dominiert. Die Kundgebung war zuvor auch von einer Reichsbürger-Gruppe mit dem bezeichnenden Namen „Staatenlos“ angemeldet worden. Die Rolle einer Aufwieglerin spielte in dieser Situation eine aus der Eifel stammende Heilpraktikerin. Sie rief die Menge von einer Bühne herab kurzerhand dazu auf, sich in Richtung Reichstagstreppe in Bewegung zu setzen. Dabei schlug sie einen Ton an, der ganz den Anschein erweckte, als handle es sich um einen Moment von welthistorischer Bedeutung. Voller Inbrunst rief sie aus:

„Wir schreiben heute hier in Berlin Weltgeschichte. Guckt euch um, die Polizei hat die Helme abgesetzt. Vor diesem Gebäude und Trump ist in Berlin. Die ganze Botschaft ist hermetisch abgeriegelt, wir haben fast gewonnen. Wir brauchen Masse. Wir müssen jetzt beweisen, dass wir alle hier sind. Wir gehen da drauf und holen uns heute, hier und jetzt unser Hausrecht. Wir werden gleich diese komischen kleinen Dinger brav niederlegen und gehen da hoch und setzen uns friedlich auf die Treppe und zeigen Präsident Trump, dass wir den Weltfrieden wollen und dass wir die Schnauze gestrichen voll haben. Wir haben gewonnen.“3

Im Anschluss setzte sich der Tross tatsächlich in Bewegung und erklomm eine Stufe nach der anderen. Im Gegensatz zur Aufforderung, sich „friedlich auf die Treppe“ zu setzen, hatte zumindest die an der Spitze des Vorstoßes Beteiligten andere Ambitionen. Sie marschierten fest entschlossen auf den Eingang zu, ohne auf ein unüberwindliches Hindernis zu treffen. Denn dort befanden sich lediglich drei Polizisten, die allerdings entschieden genug waren, ihnen den Zugang zu verwehren. Nach einer kurzen Rangelei ließen die Reichstagsstürmer im Geiste tatsächlich von ihrem Vorhaben ab.4

Was wäre eigentlich geschehen, wenn es den Demonstranten gelungen wäre, ins Innere des Gebäudes – und damit tatsächlich in die Herzkammer der Demokratie – vorzudringen? Sie hätten in den Fluren demokratiefeindliche Parolen anbringen, in die Büros der Abgeordneten oder gar in den Plenarsaal eindringen und das Inventar beschädigen können. Mehr noch als der physische Schaden wäre der symbolische beträchtlich gewesen. Nicht dass ein paar hundert Rechtsradikale auch nur im Ansatz einen Umsturz hätten herbeiführen können, das gewiss nicht. Aber sie hätten ein Bedrohungsszenario in Szene setzen können, das auch über die Grenzen hinaus heftige Irritationen ausgelöst und bestimmt den Beifall der Unverbesserlichen gefunden hätte. Gewiss, die Aktion auf der Reichstagstreppe war eine Farce, aber eine, die eine Fratze gezeigt hat – die eines Umsturzes, des Sturzes der parlamentarischen Demokratie.

Diese Absicht hatte die besagte Heilpraktikerin bereits am Tag zuvor bei einem anderen Aufruf zumindest anklingen lassen. Sie war im Rahmen einer Kundgebung der Gelbwesten Berlin aufgetreten, die ebenfalls vor der Russischen Botschaft stattgefunden hatte, und dort angekündigt, am Tag darauf werde „vereint dafür gesorgt“, dass „diese BRD-Fake-Regierung abgewickelt“ werden würde. Demnach dürfte es sich um nichts anderes als die Insinuierung einer Machtergreifung gehandelt haben.5

Zu den von der Heilpraktikerin aus der Eifel in die Welt gesetzten Phantastereien gehörte auch die von ihr vertretene Behauptung, dass US-Präsident Donald Trump, der von der Reichsbürger-Bewegung wie ein Bruder im Geiste angesehen wird, in Berlin sei. Einige Mit-Demonstrierende waren konkreter geworden und hatten an dieser Legende mit der Bemerkung weiter zu stricken versucht, dass er kurz zuvor auf dem Flughafen Schönefeld gelandet sei und sich inzwischen in der direkt hinter dem Brandenburger Tor gelegenen US-Botschaft befände. Also ganz in der Nähe und in gewisser Weise zum Eingreifen bereit. Später bekräftigte die Heilpraktikerin auf kritische Nachfragen von Journalisten diese Wahnvorstellung und fand sich durch zwei „Beweise“ bestätigt – durch die Beleuchtung der US-Botschaft und an der Position, mit der die amerikanische Flagge am dort befindlichen Fahnenmast angebracht sei.

Mehrere Monate später melden die Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft, dass wegen der versuchten Erstürmung des Reichstagsgebäudes 34 Ermittlungsverfahren in Gang gesetzt worden wären, die insgesamt 40 Tatverdächtige beträfen.6 Dabei gehe es in 18 Fällen um den Vorwurf des Landfriedensbruchs, ein Delikt, das immerhin mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet werden kann. Bemerkenswert ist auch das Spektrum der anderen Delikte, wegen denen ermittelt wird. Untersucht werde wegen des Verdachts der Gefangenenbefreiung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, tätlicher Angriffe auf die Betreffenden, der einfachen wie der schweren Körperverletzung, der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sowie des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz.

Die Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic, die als innenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion fungierte, begrüßte die Ermittlungen und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass es auch zu Verurteilungen komme.7 Sie meinte, dass sich die Ermittler nicht auf einzelne Tatverdächtige allein beschränken, sondern auch auf mögliche Vernetzungen der Rechtsbrecher und Gewalttäter ein besonderes Augenmerk richten sollten. Sie befürchtete zudem, dass es zu Wiederholungstaten mit noch sehr viel gravierenderen Folgen kommen könne.

Als „Gäste“ getarnte U-Boote der AfD im Bundestag

Als der Bundestag am 18. November 2020 über einen Gesetzentwurf zum Infektionsschutz zusammenkam, wurde im Plenarsaal gezielt der Eindruck verbreitet, dies sei mit dem Grundgesetz unvereinbar. Als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gerade zu seiner Begründungsrede ansetzen wollte, wurde eine Art Beerdigungszeremonie in Szene gesetzt. Die meisten Abgeordneten der AfD-Fraktion hielten Plakate hoch, die lediglich das Wort „Grundgesetz“ sowie das Tagesdatum verrieten und mit einem schwarzen Trauerflor versehen waren. Als sie daraufhin von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble aufgefordert wurden, die Schilder umgehend zu entfernen, leisteten sie dem nur pro Forma Folge. Sie nahmen sie herunter und stellten sie auf die wegen der Abstandsregel freigebliebenen Plätze gut sichtbar neben sich ab.

Zur gleichen Zeit spielten sich in den Gängen des Hohen Hauses Szenen ab, die ganz den Anschein erweckten, es handele sich wohl um eine Simultanaktion zum symbolischen Protest im Plenarsaal. Auf Einladung von drei AfD-Abgeordneten lauerten mehrere ihrer „Gäste“ Ministern und Abgeordneten anderer Parteien auf, um sie wegen der von ihnen zu erwartenden Zustimmung zum neuen Infektionsschutzgesetz zur Rede zu stellen. Einer der Betroffenen war Bundesarbeitsminister Peter Altmaier, ein anderer der ehemalige SPD-Parteivorsitzende Martin Schulz. Beide wurden mit vorgehaltener Kamera bedrängt und beschimpft. Die Aufnahmen erschienen in einem Youtube-Livestream, zu dem keiner der überfallartig „Interviewten“ zuvor sein Einverständnis erteilt hatte.

Als sich die Zwischenfälle häuften, wurde die Bundestagspolizei eingeschaltet. Bei ihrer Kontrolle zeigten die AfD-„Gäste“, die von sich behaupteten, nichts anderes zu tun als ihrer journalistischen Tätigkeit nachzugehen, internationale Presseausweise vor. Eine Überprüfung ergab jedoch, dass sie über keine für ihre Arbeit erforderliche Akkreditierung durch die Pressestelle des Bundestages verfügten. Daraufhin wurden Ermittlungen wegen einer Verletzung der Hausordnung eines Gesetzgebungsorgans aufgenommen. In Betracht komme allerdings auch, hieß es ein wenig später, dass es sich um den Fall eines nach § 106 StGB strafbaren Fall der Nötigung eines Verfassungsorgans gehandelt habe.

Als mutmaßliche Drahtzieher der offenbar schon seit Längeren geplanten Aktion waren die drei AfD-Abgeordneten Udo Hemmelgarn, Petr Bystron und Hansjörg Müller in Verdacht geraten. Da dem Erstgenannten besonders gute Beziehungen zu den Reichsbürgern nachgesagt wurden, entstanden rasch Mutmaßungen über eine mögliche Kooperation zwischen der verfassungsfeindlichen Sekte und der rechtspopulistischen Partei. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion Carsten Schneider warf der AfD vor, dass sie mit dem durch sie organisierten „Einschleusen zweifelhafter Gäste“ gezeigt habe, dass sie nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehe. „Corona-Leugner“ auf diese Weise in den Bundestag zu bugsieren, damit sie dort möglichst ungehemmt Abgeordnete und deren Mitarbeiter bedrängen könnten, erinnere „an die dunkelsten Kapitel“ der deutschen Geschichte.

Die Erstürmung des Capitols in der Hauptstadt der USA

Als am 6. Januar 2021 Tausende von Anhängern des zwar abgewählten, aber noch im Amt befindlichen US-Präsidenten Donald Trump hasserfüllt das Capitol in Washington erstürmten, um in letzter Minute noch die formale Bestätigung des Wahlsieges seines Konkurrenten Joe Biden im Kongress zu verhindern, wurden in dem gewaltsamen Vorgehen von bundesdeutschen Kommentatoren rasch Parallelen zu der versuchten Erstürmung des Reichstagsgebäudes Ende August gezogen. In beiden Fällen zielten die rechtsgerichteten Kohorten auf zentrale Institutionen der parlamentarischen Demokratie ab. Während es in Berlin misslungen war, bis ins Innere des Reichstagsgebäudes vorzudringen, hatten das die Trumpisten in Washington auf Anhieb geschafft. Allerdings waren sie dann mit ihrem eigentlichen Ziel, die Mehrheitsverhältnisse des Electoral College noch einmal zu drehen, gescheitert. Über eine mehrstündige Besetzung von Senat und Repräsentantenhaus und die damit verbundene Unterbrechung des Auszählungsvorganges waren sie nicht hinausgekommen.

Bei genauerem Hinsehen drängt sich aber noch ein weiterer Vergleich auf, der des Zusammenwirkens von inner- und außerparlamentarischen Kräften, von Mob und nationalistisch eingestellten Abgeordneten. Im Berliner Fall zwischen der von den Reichsbürgern dominierten Meute draußen und Angehörigen der AfD-Fraktion drinnen, im Fall von Washington zwischen den aufgeputschten Eindringlingen und dem Rest an uneinsichtigen Abgeordneten der Republikanischen Partei im Inneren, die mit ihren unablässigen Anfechtungsanträgen des Wahlergebnisses dem Votum ihres Noch-Präsidenten, dass die Wahlen gefälscht seien, noch zum Durchbruch verhelfen wollten. Diese Allianz zwischen demokratisch legitimierten Repräsentanten eines parlamentarischen Verfahrens und den ebenso illegitim wie illegal auftretenden Anhängern eines populistischen US-Präsidenten schadete der ältesten Demokratie der Welt schon als solches. Für einen Moment bestand sogar die Gefahr, dass durch das Bündnis der an einem Strang ziehenden inner- und außerparlamentarischen Kräfte in den Vereinigten Staaten die repräsentative Demokratie selbst aus den Angeln hätte gehoben werden können.

Eine Steilvorlage für rechte Umsturzstrategen hierzulande

Die Reaktionen von deutschen Verfassungsgegnern unterschiedlichster Couleur auf die spektakulären Vorgänge rund ums Washingtoner Capitol ließen nicht lange auf sich warten.8 Schließlich wirkten die vom Sturm auf das Kongressgebäude verbreiteten Live-Bilder bis zu einem gewissen Grad wie die Ausweitung dessen, was den Corona-Leugnern vom 29. August vor Augen geschwebt haben dürfte. Die Kommentare fielen durchweg emphatisch aus, aber mit unterschiedlichen Konnotationen.

Einer, der angesichts der Szenerie nur seine Befriedigung zum Ausdruck bringen wollte, traf die in solchen Kreisen angestachelte Stimmung wohl am besten: „Schön zu sehen, ich wünsche mir so etwas auch in Berlin. Es lebe der amerikanische Präsident. Es lebe Donald Trump.“ Ein anderer war weitaus kämpferischer eingestellt und trompetete ein aus der Linken stammendes Bekenntnis heraus: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur ersten Bürgerpflicht! Ich habe totales Verständnis für diese Tumulte.“

Der Berliner Koch, Verschwörungsideologe und Wortführer der dortigen Anti-Corona-Demonstrationen, Attila Hildmann, meinte als erstes darauf hinweisen zu müssen, dass die Capitol-Stürmer nichts anderes unternommen hätten, als ein im eigenen Land, vermutlich von ihm selbst, hervorgebrachtes Konzept zu kopieren. Sein Kommentar lautete schlicht: „Haben sie gut von uns DEUTSCHEN abgeguckt!“

Der Neonazi Patrick Schröder, ein ehemaliger NPD-Funktionär aus der Oberpfalz, wollte es sich im Unterschied zu dem Vegan-Koch nicht nehmen lassen, im Vergleich zu Trump und seinen Anhängern die mangelnde Entschlossenheit der hiesigen Rechtspopulisten zu beklagen. In seinem Medienportal schrieb er: „Donald Trump 10x basierter als die meisten AfD-Abgeordneten in allen Parlamenten“.

Und der rechtsradikale Hagen Grell, der auf seinem Youtube-Kanal 21.000 Follower zählt, setzt noch eins drauf: „DAS ist ein Sturm auf das Parlament (nicht wie damals in Berlin).“ Seines Zeichens ein ausgebildeter Web- und Medien-Informatiker aus Leipzig, geboren 1989 im Jahr der Montagsdemonstrationen.

Ein besonderer Fall ist mit Jürgen Elsässer der Chefredakteur des neurechten Monatsmagazins Compact. Der 64-Jährige, der seit der Mitte der siebziger Jahre zunächst als Autor und Redakteur vom Arbeiterkampf über Bahamas, das einstige FDJ-Organ junge welt, dessen Abspaltung Jungle World, die Gremliza-Postille konkret und das ehemalige SED-Zentralorgan Neues Deutschland kaum ein Blatt der dogmatischen Linken ausgelassen hatte, war nach einem Zwischenstadium als exponierter Anti-Deutscher immer mehr nach rechts gerutscht und setzt sich heute nach jahrelanger Schützenhilfe für die Pegida-Bewegung und die AfD für eine Querfront ein, die wie in einem Brennglas fast alles in sich versammelt, was verschwörungsideologisch angesagt ist. In seinem Kommentar zum Sturmlauf aufs Capitol wartete er mit fünf Thesen auf, in denen er die Überzeugung vertrat, dass es sich bei den außer Rand und Band geratenen Trump-Anhängern um keinen Mob gehandelt habe und dass diese auch keinen Putsch zu unternehmen versucht hätten. In seinen Augen hätten die vor dem Capitol versammelten Massen stattdessen vergeblich versucht, in letzter Minute die Etablierung eines „Tiefen Staates“ zu vereiteln. Um Erfolg zu haben, hätten „die großartigen Patrioten“ durchdachter und besser organisiert vorgehen müssen. Etwa wie bei Benito Mussolinis „Marsch auf Rom“, mit dem 1922 die italienischen Faschisten bekanntlich an die Macht gekommen waren. „Wenn es um die Wurst“ gehe, „also um den Sturz des Regimes“, dann benötige man dafür „einen Plan und eine Art Generalstab.“ In dasselbe Horn blies mit dem Wiener Martin Sellner der Kopf der Identitären Bewegung in Österreich. Auch er empfand das Vorgehen der Capitol-Besetzer als „taktisch schlecht“ und als „zu chaotisch“.

Der Chef des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz Stephan Kramer gab angesichts der Zustimmung für den Washingtoner Sturmlauf auf die architektonische Bastion der US-Demokratie im rechten Lager zu bedenken, dass sich die bundesdeutschen Parlamente in Bund und Ländern auf Angriffe einstellen müssten.9 Auch in Deutschland sei eine derartige „Eskalation wie in Washington“ durchaus möglich. Diese Einschätzung teilte auch die bereits erwähnte Grünen-Politikerin Irene Mihalic. Sie sah die Erstürmung des Capitols als „eine Blaupause“ für all jene an, „die auch in Deutschland umstürzlerische Pläne“ verfolgen würden. Im Grunde genommen sei das „nur ein Vorgeschmack auf das, was man da noch erwarten“ dürfe.

Die Zerstörungsvision von Verfassung und Demokratie eint die radikale Rechte

Wahrscheinlich handelt es sich bei den Anti-Corona-Protesten um eine eher heterogene Bewegung. Die Auffassung jedoch, dass es sich um eine politisch ungefährliche und wegen der Rechtsprobleme mit den Pandemie-Verordnungen der Bundesregierung und der Landesregierungen um eine weitgehend akzeptable Protestbewegung handle, ist gefährlich und irreleitend. Denn die Tatsache, dass deren Demonstrationen und Kundgebungen zumeist von den Querdenkern 711 organisiert werden, stellt keinen Grund für eine Entwarnung dar. Diese lassen sich schließlich von einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen antreiben und vertreten die Überzeugung, dass sie mit Mahnwachen und anderen moralisch aufgeladenen Protestformen „das Grundgesetz wiederherstellen“ könnten. In Wirklichkeit aber lehnen sie die Gültigkeit des Grundgesetzes vehement ab und bewegen sich damit im Bereich der Verfassungsfeindlichkeit. Wenn sie gegen die im Zuge des Lockdowns verhängten Einschränkungen des öffentlichen Lebens protestieren, dann verfolgen sie das Ziel, die demokratische legitimierte Exekutive als verfassungsfeindlich hinzustellen. Und umgekehrt verbinden sie damit den Anspruch, die bestehende, in ihren Augen gescheiterte, durch eine neue funktionstüchtige Verfassung zu ersetzen.

Zusammen mit einer Sekte wie den Reichsbürgern, die die Nachkriegsordnung ja ohnehin nicht anerkennt, und mit der Bundestagsfraktion der AfD, die die Verschärfung des zweiten Lockdowns mit der „Beerdigung des Grundgesetzes“ gleichsetzen zu können gemeint hat, reihen sich die Querdenker in eine obskure Front von Verfassungsgegnern ein. Aus ihrer Perspektive haben sie keine Probleme damit, jemandem wie dem an der Berliner Charité forschenden Professor Christian Drosten, den führenden Virologen der Republik, als Scharlatan hinzustellen. Indem sie auf ihren Umzügen Transparente mit sich führen, auf denen dieser zusammen mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel und anderen angesehenen Vertretern einer Anti-Corona-Strategie aus Wissenschaft und Politik in Sträflingsmontur gezeigt wird, demonstrieren sie für eine Ablehnungsfront, die sich gegen Aufklärung und Demokratie gleichermaßen richtet. In ihrem Zentrum steht der Angriff auf das Grundgesetz.

Wenn es also zutreffen sollte, dass wir es mit einer Front von Verfassungsgegnern zu tun haben, die sich vor allem aus Reichsbürgern und Querdenkern, aber auch aus einer von Rechtsradikalen dominierten Partei zusammensetzt, die sich verharmlosend als Alternative für Deutschland (AfD) bezeichnet, dann muss die Frage, in welcher Form die Demokratie am besten verteidigt werden kann, gründlich erörtert werden. Es geht deshalb im Folgenden darum zu klären, wie die parlamentarische Demokratie vor derartigen Gefährdungen besser geschützt werden kann.

1. Die abgebrochene Entnazifizierung in der Nachkriegsordnung

Der Zweite Weltkrieg hatte in Europa eine völlig veränderte politische Konstellation hinterlassen. Für die politische und geographische Neuordnung des besiegten Deutschen Reiches war das von den drei Siegermächten USA, UdSSR und Großbritannien am 1. August 1945 unterzeichnete Potsdamer Abkommen von entscheidender Bedeutung. Aus den auf Schloss Cecilienhof vom 17. Juli an durchgeführten Beratungen gingen vier politische Grundsätze der Besatzungsmächte hervor, mit denen eine Fortführung von nationalsozialistischen Mächten und Kräften verhindert werden sollte. Sie wurden als die „Vier D“ bezeichnet und sollten dem in Berlin einzurichtenden Alliierten Kontrollrat als zentrale Arbeitsdirektive dienen. Gemeint waren

— die Denazifizierung bzw. Entnazifizierung, eine gründliche Säuberung der deutschen (ebenso wie der österreichischen) Gesellschaft von allen Einflüssen des Nationalsozialismus in den Bereichen Kultur, Presse, Wirtschaft, Rechtsprechung und Politik;

— die Demilitarisierung Deutschlands, um durch den völligen Abbau der Armee und der Rüstungsindustrie eine erneute militärische Gefährdung zu verhindern;

— die Demokratisierung Deutschlands, mit der das politische Leben mithilfe der Gründung demokratischer Parteien und Gewerkschaften auf eine neue Grundlage gestellt werden sollte, und

— die Dezentralisierung politischer Aufgaben auf mittlerer und unterer Ebene, um dadurch eine erneute Machtkonzentration in Gestalt von Kartellen, Syndikaten, Großunternehmen und anderen monopolistischen Arrangements zu verhindern.

Das für die Bekämpfung der vom NS-Regime hinterlassenen Machtfaktoren entscheidende Dokument stellte die „Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin“ vom 2. August 1945 dar. Darin wurden die „Vier D“-Ziele in dem Deutschland betreffenden Abschnitt im Anschluss an eine Art Präambel noch wuchtiger, aber auch erheblich genauer ausgeführt:

„Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet, und die Alliierten treffen nach gegenseitiger Vereinbarung in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann.“ Es sei allerdings nicht die Absicht der Alliierten, „das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven“. Man wolle dem deutschen Volk stattdessen „die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wiederaufzubauen“.

Die Ziele der Besetzung Deutschlands, durch welche der Kontrollrat sich leiten lassen wolle, seien:

„I. Völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands und die Ausschaltung der gesamten deutschen Industrie, welche für eine Kriegsproduktion benutzt werden kann, oder deren Überwachung. Zu diesem Zweck: werden alle Land-, See- und Luftstreitkräfte Deutschlands, SS, SA, SD und Gestapo mit allen ihren Organisationen, Stäben und Ämtern, […] völlig und endgültig aufgelöst, um damit für immer der Wiedergeburt oder Wiederaufrichtung des deutschen Militarismus und Nazismus vorzubeugen;

[…]

II. Das deutsche Volk muss überzeugt werden, dass es eine totale militärische Niederlage erlitten hat und dass es sich nicht der Verantwortung entziehen kann für das, was es selbst dadurch auf sich geladen hat […]

III. Die Nationalsozialistische Partei mit ihren angeschlossenen Gliederungen und Unterorganisationen ist zu vernichten; alle nationalsozialistischen Ämter sind aufzulösen[…].

IV. Die endgültige Umgestaltung des deutschen politischen Lebens auf demokratischer Grundlage und eine eventuelle friedliche Mitarbeit Deutschlands am internationalen Leben sind vorzubereiten.

4. Alle nazistischen Gesetze, welche die Grundlagen für das Hitler-Regime geliefert haben oder eine Diskriminierung aufgrund der Rasse, Religion oder politischer Überzeugung errichteten, müssen abgeschafft werden. […]

5. Kriegsverbrecher und alle diejenigen, die an der Planung oder Verwirklichung nazistischer Maßnahmen, die Gräuel oder Kriegsverbrechen nach sich zogen oder als Ergebnis hatten, teilgenommen haben, sind zu verhaften und dem Gericht zu übergeben. Nazistische Parteiführer, einflussreiche Nazianhänger […] und alle anderen Personen, die für die Besetzung und ihre Ziele gefährlich sind, sind zu verhaften und zu internieren.

6. Alle Mitglieder der nazistischen Partei […] sind aus den öffentlichen oder halböffentlichen Ämtern und von den verantwortlichen Posten in wichtigen Privatunternehmungen zu entfernen. Diese Personen müssen durch Personen ersetzt werden, welche nach ihren politischen und moralischen Eigenschaften fähig erscheinen, an der Entwicklung wahrhaft demokratischer Einrichtungen in Deutschland mitzuwirken.

7. Das Erziehungswesen in Deutschland muss so überwacht werden, dass die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden und eine erfolgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen möglich gemacht wird.

8. Das Gerichtswesen wird entsprechend den Grundsätzen der Demokratie und der Gerechtigkeit auf der Grundlage der Gesetzlichkeit und der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Rasse, der Nationalität und der Religion reorganisiert werden.

9. Die Verwaltung Deutschlands muss in Richtung auf eine Dezentralisation der politischen Struktur und der Entwicklung einer örtlichen Selbstverantwortung durchgeführt werden. […]

10. Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit zur Erhaltung der militärischen Sicherheit wird die Freiheit der Rede, der Presse und der Religion gewährt. Die religiösen Einrichtungen sollen respektiert werden. Die Schaffung freier Gewerkschaften, […] wird gestattet werden.“1

Das war ein kompromissloser, aber durchaus zwingend erscheinender Schritt, um dem deutschen Volk nach einer zwölf Jahre andauernden monströsen Diktatur einen demokratischen Neuanfang zu ermöglichen.

Unterzeichnet war das Dokument von US-Präsident Harry S. Truman, dem britischen Premierminister Clement R. Attlee und dem sowjetischen Staatsund Parteichef Josef W. Stalin. Zwei demokratischen Regierungschefs sowie einem Diktator, mit dem zeitweilig eine Allianz einzugehen, um das Nazi-Regime in die Knie zu zwingen, offenbar kein Weg vorbeigeführt hatte.

Bereits während der noch in Gang befindlichen Potsdamer Konferenz war der Alliierte Kontrollrat für Deutschland, mit dem die Militärgouverneure der vier Besatzungsmächte die Regierungsgewalt über das besiegte Land ausüben sollten, am 30. Juli 1945 im US-Hauptquartier in Berlin-Dahlem zu seiner konstituierenden Sitzung zusammengekommen. In den drei darauffolgenden Jahren verabschiedete der Kontrollrat in mehr als 80 Sitzungen über 100 Proklamationen, Gesetze, Befehle, Direktiven und Instruktionen für die – nachdem noch die französische hinzugekommen war – vier Besatzungszonen. Jede Besatzungsmacht war in ihren politischen Entscheidungen für ihre jeweilige Zone frei.

Zwei grundlegende Kontrollratsgesetze waren die ersten beiden. Mit dem Gesetz Nr. 1 vom 20. September 1945 wurden entscheidende Gesetze, auf denen die Machtausübung des NS-Regimes beruhte – wie etwa das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 – aufgehoben. Und mit dem Gesetz Nr. 2 vom 12. Oktober 1945 wurden alle NS-Organisationen aufgelöst und liquidiert.

Neben dem Gesetz Nr. 4 vom 30. Oktober 1945, das die Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens auf der Grundlage demokratischer Prinzipien vorschrieb, dem Gesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945, das die Bestrafung von NS-Bürgern verankerte, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatten, und dem Gesetz Nr. 34 vom 20. August 1946, mit dem die Auflösung der Wehrmacht erklärt wurde, folgten bis zum 20. März 1948 noch 28 weitere.

Zu diesen vom Alliierten Kontrollrat verabschiedeten und von den Militärgouverneuren in den jeweiligen Besatzungszonen angewandten Gesetzen kamen für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit noch zwei wesentliche Komplexe hinzu. Zunächst mit den sogenannten Nürnberger Prozessen die strafrechtliche Verfolgung von Haupttätern des NS-Regimes und die mit der Einsetzung von Spruchkammern verfolgte Entnazifizierung der deutschen (ebenso wie der österreichischen) Gesellschaft.

Von den insgesamt 13 zwischen 1945 und 1949 abgehaltenen Nürnberger Prozessen stand wegen der Tragweite der Delikte ebenso wie der Prominenz der Angeklagten der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zweifelsohne im Vordergrund. Er fand vom 14. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 vor dem im Nürnberger Justizpalast zusammengetretenen Internationalen Militärgerichtshof (IMG) statt.2 Die nötige rechtliche Voraussetzung für das Verfahren war am 8. August 1945 durch das Londoner Viermächteabkommen geschaffen worden.

Die Anklage setzte sich aus vier Punkten zusammen: Erstens, eine Verschwörung verabredet zu haben, mit der Verbrechen gegen den Frieden, das Kriegsrecht und die Humanität verübt werden sollten; zweitens, die Beteiligung an der Planung, Vorbereitung, Entfesselung und Führung von Angriffskriegen, durch die internationale Verträge, Abkommen und Zusicherungen verletzt worden seien; drittens, die Begehung von Kriegsverbrechen gegen Mitglieder feindlicher Truppen und Angehörige der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten; viertens, zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählten die Ermordung und Verfolgung von Oppositionellen sowie die Ermordung, Ausrottung, Versklavung, Deportation und andere sowohl vor als auch während des Krieges an der Zivilbevölkerung begangene unmenschliche Handlungen.

Der Versuch der Verteidigung, das Verfahren in einer gemeinsamen Denkschrift mit der Begründung in Frage zu stellen, dass der Anklagepunkt Verbrechen gegen den Frieden insofern der nötigen juristischen Grundlage entbehre, als er auf einem Strafrecht basiere, das erst nach der Begehung der Tat geschaffen worden sei, wurde vom Vorsitzenden Richter des IMG, Sir Geoffrey Lawrence, mit dem Argument abgelehnt, dass mit der 1928 von 15 Staaten, darunter auch Deutschland, erfolgten Unterzeichnung des Briand-Kellogg-Paktes der Krieg als „Werkzeug nationaler Politik“ geächtet und die Lösung zwischenstaatlicher Konflikte „durch friedliche Mittel“ hingegen akzeptiert worden sei. In der Verhandlung, die dem Muster amerikanischer Strafprozesse folgte, zu dem auch die Praktizierung des dort charakteristischen Kreuzverhörs zählte, wurden 240 Zeugen gehört.

Zu den Angeklagten, die zum Tode verurteilt wurden, zählten mit Hermann Göring der zweite Mann im NS-Staat, der sich der Vollstreckung durch Suizid entzog, Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, Reichsinnenminister Wilhelm Frick, der Reichsminister für die Ostgebiete Alfred Rosenberg, der Stürmer-Herausgeber Julius Streicher, der Leiter des Reichssicherheitshauptsamtes Ernst Kaltenbrunner, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel, der Chef des Wehrmachtsführungsstabes Alfred Jodl, der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel, der Generalgouverneur im Generalgouvernement Polen Hans Frank sowie der Reichsstatthalter in Österreich und Reichskommissar ab 1940 für die Niederlande Arthur Seyß-Inquart.

Zu Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren verurteilt wurden der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Karl Dönitz, sein Vorgänger Erich Raeder, der Reichsprotektor von Böhmen und Mähren Konstantin von Neurath, Reichsjugendführer Baldur von Schirach und Reichsrüstungsminister Albert Speer sowie Reichswirtschaftsminister Walther Funk und der Führer-Stellvertreter Rudolf Heß zu lebenslänglichen Haftstrafen, wobei Funk im Gegensatz zu Heß, der 1987 im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis Suizid beging, bereits 1957 aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig entlassen wurde. Freisprüche erfolgten für den einstmaligen Vizekanzler Franz von Papen, den Reichsbankpräsidenten und Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht sowie den für das Reichspropagandaministerium arbeitenden Rundfunksprecher Hans Fritzsche.

Das öffentliche Verfahren, zu dem 250 Presse- und Rundfunkreporter akkreditiert worden waren, stieß weltweit auf ein großes Interesse. Zu den Berichterstattern und Kommentatoren gehörten international bekannte Schriftsteller wie Louis Aragon, Ilja Ehrenburg, Ernest Hemingway, Robert Jungk, Erich Kästner, John Dos Passos und John Steinbeck sowie auch der 1957 zum Regierenden Berliner Bürgermeister und 1969 zum Bundeskanzler gewählte Remigrant Willy Brandt.

Durch das am 1. Oktober 1946 in Nürnberg erfolgte Urteil des Internationalen Militärtribunals wurde auch eine ganze Reihe von NS-Organisationen zu verbrecherischen erklärt, darunter neben dem Führungskorps der NSDAP, der Gestapo und dem Sicherheitsdienst (SD) auch die SS mitsamt der Waffen-SS. Dieses Verbot bezog sich auch auf die Schaffung von Nachfolgeorganisationen. Bei Kriegsende gab es noch etwa 580.000 Angehörige der Waffen-SS. Im Gegensatz dazu wurde die SA nicht als verbrecherisch eingestuft, weil sich ihre Mitglieder – wie es an kaum zu überbietender Vagheit hieß – „im Allgemeinen“ nach dem 1939 erfolgten Kriegsbeginn nicht an verbrecherischen Handlungen beteiligt hätten.

Auf welch geringes oder zumindest äußerst einseitiges Interesse der Nürnberger Hauptprozess in der deutschen Bevölkerung stieß, verriet eine Episode am Rande. Der seit seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil als Abteilungsleiter der Kulturbehörde bei der französischen Militärverwaltung in Baden-Baden arbeitende Schriftsteller Alfred Döblin hatte unter dem Pseudonym Hans Fiedeler eine Broschüre verfasst, mit der er unter dem Titel Der Nürnberger Lehrprozess zur Akzeptanz der über die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher verhängten Urteile in der deutschen Bevölkerung beitragen wollte.3 Der Text erschien zwar in einer Massenauflage von mehr als 200.000 Exemplaren, erwies sich jedoch schon bald als Fehlschlag. Die Nachkriegsdeutschen kauften sich die Broschüre vor allem – als handele es sich um einen Fan-Artikel – wegen der darin abgebildeten Porträtaufnahmen ehemaliger Nazi-Größen, nicht aber um sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus konfrontieren zu lassen.

Unter den Nachfolgeprozessen stachen besonders hervor: der Ärzteprozess, in dem sich 20 ehemalige KZ-Ärzte und zwei Verwaltungsangehörige wegen Menschenversuchen und der Tötung von Häftlingen verantworten mussten, der Juristenprozess, in dem deren Beteiligung an menschenverachtenden Rechtsverordnungen, Erlassen und Sondergerichten verhandelt wurden, der Flick-Prozess, der sich gegen den Konzernchef Friedrich Flick und fünf seiner leitenden Mitarbeiter richtete, der I.G.-Farben-Prozess, in dem 23 Angehörige wie etwa die Vorstandsmitglieder Otto Ambros, Heinrich Bütefisch und Fritz ter Meer wegen Plünderung, Raub, Versklavung von Zivilisten zur Zwangsarbeit und wegen der Verwendung von Kriegsgefangenen angeklagt waren, der Einsatzgruppen-Prozess gegen 24 als deren Kommandeure beschuldigte ehemalige SS-Führer, der Krupp-Prozess gegen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach sowie Manager des Stahlkonzerns wegen des Einsatzes von Zwangsarbeitern in der Rüstungsproduktion, der Wilhelmstraßen-Prozess gegen führende Angehörige des Auswärtigen Amtes, die wegen ihrer Verstrickung in Gräueltaten, der Ermordung und Misshandlung von Kriegsteilnehmern und -gefangenen sowie Zivilangehörigen und wegen anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt wurden, und der Prozess gegen Angehörige des Oberkommandos der Wehrmacht sowie andere Oberbefehlshaber der Armee und der Heeresgruppen.

Die Praxis der Entnazifizierung

Erst als die von den Alliierten im Potsdamer Abkommen so einhellig geforderte Entnazifizierung unmittelbar vor ihrer praktischen Anwendung stand, kam der amtlich verwendete Begriff auf. Erst im April 1945, so heißt es jedenfalls, soll er von einem als wissenschaftlicher Berater im Stab von General Dwight D. Eisenhower, dem Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte in Nordwesteuropa, tätigen Politikwissenschaftler „erfunden“ worden sein.4 Als dieser nach einem Titel für ein ganzes Bündel von Maßnahmen der Besatzungsmacht suchte (Auflösung der NSDAP, Internierung von NS-Führern, Beschlagnahme ihrer Vermögenswerte und Abschaffung von NS-Symbolen), schwebte ihm eine Parallele zum bereits existierenden Begriff der Entmilitarisierung vor.

Im Fokus der Entnazifizierung stand das Ziel einer möglichst vollständigen Entfernung nationalsozialistischer Einflüsse aus Staat und Gesellschaft. Damit war in erster Linie ein umfassender personeller Säuberungsprozess gemeint, dessen Hauptsanktion in der Entlassung aller identifizierbaren Nazis aus ihren Ämtern und deren Ersetzung in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft durch Unbelastete bestand. Daraus resultierten zwei zentrale Maßnahmen: die Neutralisierung von als Sicherheitsrisiko geltenden Personen durch Internierung und die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern und Mitgliedern anderer als verbrecherisch angesehener Organisationen. Damit hoffte man insbesondere die NSDAP sowie ihre Neben- und Unterorganisationen auflösen und überzeugte Nationalsozialisten möglichst aus dem Verkehr ziehen zu können.

In den drei westlichen Besatzungszonen wurden 182.000 Internierte gezählt, von denen es bis zu Beginn des Jahres 1947 in der britischen Zone 64.500 Personen gegeben hatte, von denen 34.000 entlassen worden waren, in der amerikanischen Zone gab es 95.250 Internierte und 44.244 Entlassene, in der französischen Zone 18.963 Internierte und 8.040 Entlassene und in der sowjetischen Zone 67.179 Internierte und mit 8.214 Entlassenen eine wesentlich geringere Anzahl derjenigen, die aus den Lagern freikamen. In den drei westlichen Besatzungszonen waren 5025 Internierte verurteilt worden, über die 806 Todesurteile verhängt, von denen wiederum 486 vollstreckt wurden.

Für die amerikanische Besatzungszone war am 5. März 1946 im Münchner Rathaussaal vom Länderrat das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus unterzeichnet und damit die Verantwortung für die weitere Entnazifizierung in Bayern, Groß-Hessen und Württemberg-Baden in die Hände der deutschen Behörden gelegt worden. Zur Heranziehung von Sühnemaßnahmen wurde fortan zwischen fünf Kategorien unterschieden:

erstens, den als Hauptschuldigen geltenden Kriegsverbrechern;

zweitens, den als Belasteten bzw. Schuldigen geltenden Aktivisten, Militaristen und Nutznießern;

drittens, den zur Bewährung eingestuften Minderbelasteten;

viertens, den Mitläufern und

fünftens, den Entlasteten, die als nicht vom Gesetz Betroffene angesehen wurden.

Dieses Schema wurde mit der am 12. Oktober 1946 verabschiedeten Kontrollratsperspektive Nr. 38 als allgemeinverbindlich für alle vier Besatzungszonen, also auch die sowjetische, anerkannt.

Nachdem am 13. Mai 1946 durch eine Entscheidung der US-amerikanischen Militärregierung (OMGUS) die ersten hauptsächlich von Laienrichtern besetzten Spruchkammern ihre Entnazifizierungstätigkeit aufgenommen hatten, wurden in ihnen – lokal gab es in ihrer Zone 545 – in über 950.000 Einzelfällen entschieden.

In den drei westlichen Besatzungszonen insgesamt war man bis zum 31. Dezember 1949 für mehr als 2,5 Millionen Deutsche zu einer Entscheidung gelangt. Für 34,6 Prozent war das Spruchkammerverfahren eingestellt worden, lediglich 0,6 Prozent galten als NS-Gegner, die mit 54 Prozent größte Gruppe dagegen als Mitläufer und lediglich 1,4 Prozent als Hauptschuldige. Das war allerdings der Durchschnitt und verdeckte insofern, dass die Einstufungen von den einzelnen Besatzungsmächten unterschiedlich gehandhabt worden waren.

Insgesamt war die Tendenz unverkennbar, auch mitunter prominente NS-Täter zu möglichst milden Strafen zu verurteilen. So gelangte etwa die Hauptspruchkammer Nürnberg am 30. April 1949 zu dem Schluss, den ehemaligen Reichsjugendführer Artur Axmann als Hauptschuldigen zu dreieinviertel Jahren Arbeitslager, zur weitgehenden Einziehung seines Vermögens, zur Übernahme der Verfahrenskosten und zu einer Reihe von Arbeits-, Wohnungs- und Aufenthaltsbeschränkungen zu verurteilen. Dem Angeklagten wurde zugutegehalten, dass er bei seiner Amtsübernahme kriegsbeschädigt und in politischer Hinsicht angeblich unreif gewesen sei. Da die Dauer seiner vorherigen Haft angerechnet wurde, kam Axmann anschließend auf freien Fuß.

Dieselbe Kammer gelangte am 17. Mai desselben Jahres zu dem Schluss, dass sie den Adjutanten Adolf Hitlers, SS-General Julius Schaub, als NS-Aktivisten einstufte, ihn zu vier Jahren Arbeitslager, zur Konfiszierung eines Viertels seines Vermögens, zu Berufs-, Wohnungs- und Aufenthaltsbeschränkungen für die Dauer von fünf Jahren und zur Übernahme der Verfahrenskosten verurteilte. Da auch in diesem Fall die vorherige Haftdauer angerechnet wurde, kam er ebenfalls umgehend auf freien Fuß.

Angesichts derartiger Entscheidungen bezeichnete die in New York erscheinende Wochenzeitung Aufbau in einem mit Details gespickten Artikel das Resultat der Entnazifizierung als ein Fiasko unübersehbaren Ausmaßes. Die Zahl ehemaliger Nazis, die bereits wieder öffentliche Ämter bekleideten, hieß es darin, sei ungeheuer hoch. Allein in Hessen gäbe es nicht weniger als 559 Ex-Nazis in Bürgermeisterämtern. Von 49.121 bayerischen Beamten seien nicht weniger als 14.443 früher Mitglieder der NSDAP gewesen. Und in Bremen fungierten in über 50 % der höheren Beamtenstellen ehemalige Nazis. Fälle wie die des ehemaligen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht, des Mediziners Ferdinand Sauerbruch und der Flugzeugindustriellen Ernst Heinkel, Gerhard Fieseler und Claude Dornier, die mit den Spruchkammern Katz und Maus gespielt hätten, seien keineswegs Ausnahmen. Nach einer Landtagsrede des bayerischen Finanzministers Hans Kraus (CSU), in der zum angeblichen Wohle der Demokratie eine Beendigung der „Diffamierung“ ehemaliger Nazis gefordert wurde, habe eine regelrechte Kampagne zur Wiedereinstellung früherer NSDAP-Mitglieder eingesetzt.

Ein besonderes Problem stellten im Zusammenhang mit Entnazifizierungsverfahren aufgetauchte kriminelle Machenschaften dar. So schlug etwa im Januar 1950 in Stuttgart ein Bestechungsskandal hohe Wellen. An mindestens 1.200 Personen waren gegen Geldzahlungen Entlastungsbescheinigungen, sogenannte „Persilscheine“, verkauft worden. Ehemalige Nazis hatten sich an das Vermittlungsbüro eines August Meyer in Nürtingen gewandt, das gegen entsprechende Geldsummen eidesstattliche Erklärungen über die angeblich unbelastete politische Vergangenheit der jeweiligen Person anfertigen ließ. Dann hatte das Büro Meyer über Verbindungsleute Kontakt zu den zuständigen Spruchkammern aufgenommen. Diese sollen dann wiederum für eine schleunige und zufriedenstellende Behandlung der zahlungskräftigen Klientel gesorgt haben.

Wie problematisch sich derartige Meldungen für die baden-württembergische Landesregierung erwiesen, stellte sich heraus, als Ministerpräsident Reinhold Maier (FDP) den Strafverfolgungsbehörden die Anweisung erteilte, in dieser Angelegenheit keinerlei Informationen mehr an die Öffentlichkeit weiterzugeben. Dies wiederum wurde von dem amerikanischen Landeskommissar scharf kritisiert. Drei Tage später blieb Maier nichts anderes übrig, als aus der Affäre politische Konsequenzen zu ziehen und vor dem Landtag bekanntzugeben, dass der für die Entnazifizierungspraxis zuständige Kanzleidirektor im Staatsministerium Karl Ströle zurückgetreten sei.

Am 11. Mai 1950 hatte der Skandal dann auch strafrechtliche Folgen. Die in den Fall verwickelten Angeklagten Heinz May und August Meyer wurden vom Stuttgarter Landgericht wegen Bestechlichkeit zu Gefängnisstrafen von zwölf bzw. acht Monaten verurteilt. May, Chefkläger der Spruchkammer Ludwigsburg, und Meyer, Inhaber des geheimen Vermittlungsbüros, waren damit für schuldig befunden worden, Entlastungsbescheinigungen an Personen verkauft zu haben, die sich als Verdächtige einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen mussten. Ein weiterer Angeklagter, der ehemalige Vorsitzende der Spruchkammer Ludwigsburg, Richard Kessler, wurde hingegen freigesprochen.

Zudem trugen Skandale wie die nachträgliche Einstufung eines ehemaligen Anklägers als Hauptschuldigen nicht unerheblich dazu bei, das gesamte Verfahren der gerichtsähnlichen Sonderbehörden in Misskredit zu bringen. Wie an der Weihnachtsamnestie des Hochkommissariats zu erkennen war, schwand der politische Wille, die ausgesprochenen Strafmaße auszuschöpfen, zunehmend.

Eine problematische Gesetzesregelung, mit der die Wiederverwendungsund Versorgungsansprüche sowie die Rechtsverhältnisse von Personen insgesamt geregelt wurden, die während der NS-Zeit im öffentlichen Dienst tätig waren, tat ihr Übriges. Am 10. April 1951 billigte der Bundestag das sogenannte „131er Gesetz“, das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der verdrängten und vertriebenen Beamten, der ehemaligen Berufssoldaten und der berufsmäßigen Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes, wie es in der offiziellen Formulierung lautete. Auffällig war, wie einhellig der Beschluss in dem sonst so zerstrittenen Parlament ausfiel. Es gab keine Gegenstimmen und nur zwei Enthaltungen. Selbst die politisch diametral entgegengesetzt eingestellten Abgeordneten der KPD und der Deutschen Reichspartei (DRP) stimmten zu. Da nur in den Entnazifizierungsverfahren als Hauptschuldige oder als belastet Eingestufte von dieser Regelung ausgeschlossen wurden, konnte ein erheblicher Teil der NS-Beamtenschaft wieder in den Staatsdienst übernommen werden. Für die aufgeführten Berufsgruppen sah das Gesetz die vollständige Pensionsleistung vor. Beamte, die sich noch nicht im Pensionsalter befanden, sollten als „Beamte zur Wiederverwendung“ ein nach der Höhe ihres früheren Gehalts gestaffeltes Übergangsgehalt bekommen. Vorgesehen war, dass mindestens 20 Prozent aller Behördenplanstellen mit den unter das Gesetz fallenden Personen besetzt würden.

Die durch den Ost-West-Konflikt veränderten Rahmenbedingungen

Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands waren zwei der vier Siegermächte in die Rolle von Hegemonialkräften aufgerückt. Die Vereinigten Staaten, die wirtschaftlich und militärisch stärkste Nation, gerieten schon bald mit der Sowjetunion, die im Krieg die mit Abstand größten Verluste erlitten hatte, in Konflikt. Durch die kommunistische Okkupation Osteuropas sahen die USA sowie Großbritannien und Frankreich die Nachkriegsordnung bedroht. Stück für Stück war die Allianz zur Niederwerfung des Nationalsozialismus auseinandergebrochen. Im Dezember 1947 scheiterte die Außenministerkonferenz der Alliierten in London und im März 1948 verließ der sowjetische Vertreter den Alliierten Kontrollrat in Berlin.

Danach setzte in den vier Besatzungszonen eine Wirtschaftspolitik ein, die die politische Blockbildung weiter zementierte. Den drei westlichen Zonen, die beim Wiederaufbau von den Fördermitteln des Marshallplans profitierten, stand die sowjetische Besatzungszone gegenüber, die unter der Demontage durch die UdSSR zu leiden hatte. Entscheidend für die weitere Entwicklung war vor allem die Währungsreform in den Westzonen im Juni 1948, die die kleinen Sparer schädigte und die Eigentümer von Grundbesitz und Sachwerten bevorteilte. Als die neue DM-Währung auch in den Westsektoren Berlins eingeführt wurde, blockierte die Sowjetunion die Verkehrswege von und nach West-Berlin. Amerikaner und Briten reagierten mit der Einrichtung einer Luftbrücke. Der Versuch der Sowjetunion, die wirtschafts- und währungspolitische Separierung der drei Westzonen zu verhindern, war damit endgültig gescheitert und das Koordinatensystem für die Errichtung zweier deutscher Teilstaaten und den Kalten Krieg entstanden.

Die Gründung der Bundesrepublik

Genau vier Jahre nach Kriegsende, am 8. Mai 1949, verabschiedete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz, das am 23. Mai mit einem Staatsakt in Bonn feierlich verkündet wurde. Damit war die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Mit dem Namen sollte signalisiert werden, dass es sich hier um einen föderativen Bundesstaat handele, der als Teilstaat zugleich den Anspruch erhob, für ganz Deutschland zu sprechen. Nach den Bundestagswahlen am 14. August, die CDU und CSU nur äußerst knapp vor der SPD gewannen, konstituierten sich am 7. September Bundestag und Bundesrat. Am 12. September wählte die Bundesversammlung Theodor Heuss (FDP) zum Bundespräsidenten und drei Tage später der Bundestag Konrad Adenauer (CDU), der bereits als Präsident des Parlamentarischen Rates fungiert hatte, mit der verfassungsrechtlich denkbar knappsten Mehrheit von einem Mandat zum Bundeskanzler. Am 20. September stellte er sein Kabinett vor, eine Koalition aus CDU, CSU, FDP und Deutscher Partei (DP). Wegen der alliierten Vorbehalte konnte noch kein Außenminister ernannt werden.

Dieser Mangel verwies auf die rechtliche Doppelstruktur, in die die neue Staatsform eingebunden war. Neben dem Grundgesetz, das die Rechtsordnung als „einen demokratischen und sozialen Bundesstaat“ (Artikel 20) definierte, galten das Besatzungsstatut, das die Sonderbefugnisse der Besatzungsbehörden, wie Abrüstung, Entmilitarisierung, Dekartellisierung, Auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel, Devisenwirtschaft regelte, die Satzung der Alliierten Hochkommission für Deutschland und das Abkommen über die Drei-Mächte-Kontrolle, wonach die Kontrollrechte von den Oberbefehlshabern der Besatzungstruppen und drei Hohen Kommissaren wahrgenommen wurden. Hohe Kommissare wurden John McCloy für die USA, André François-Poncet für Frankreich und Sir Brian Robertson für Großbritannien. Außerdem wurde mit dem am 28. April auf Drängen Frankreichs beschlossenen Ruhrstatut eine internationale Kontrollbehörde eingerichtet, die die Produktion von Kohle, Koks und Stahl verteilte, die innerdeutsche Verbrauchsquote festsetzte und die Preispolitik gestaltete. Eines der Hauptziele der Bundesregierung bestand darin, die restriktiven Bestimmungen des Besatzungs- und des Ruhrstatuts zu lockern und ein Mehr an Souveränitätsrechten zu erwerben. Ein wesentlicher Schritt in dieser Richtung war am 24. November 1949 der Abschluss des zwischen dem Bundeskanzler und den drei Hohen Kommissaren vereinbarten Petersberger Abkommens. Darin wurde der Beitritt der Bundesrepublik zum Europarat und zur Ruhrbehörde geregelt und der Bundesregierung zumindest das Recht eingeräumt, konsularische Beziehungen zu anderen Staaten aufzunehmen.

2. Das Grundgesetz als Antwort auf die NS-Diktatur

Um die Grundlegung des neuen Staates zu präzisieren, ist es erforderlich, den konstituierenden Verfassungsprozess noch einmal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Was sich der Parlamentarische Rat im Herbst 1948 vorgenommen hatte, kam wahrlich einer Mammutaufgabe gleich. Wie schwierig es sein würde, nur drei Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur eine Verfassung für einen demokratischen Rechtsstaat zu konzipieren, war allen Beteiligten spätestens am 8. September 1948 in einer Rede vor Augen geführt worden. Einer Rede, die der SPD-Politiker Carlo Schmid in der am Bonner Rheinufer gelegenen Pädagogischen Akademie hielt.

Der 51-Jährige war unter den 77 Abgeordneten wie kaum ein anderer für diese Aufgabe gerüstet, weil er durch seine akademische Ausbildung während der Weimarer Republik als hochqualifizierter Staatsrechtler galt. Er war sich der schwierigen Ausgangsbedingungen bewusst. Der Tatsache, dass es einerseits keine Kontinuitäten gegenüber dem nationalsozialistischen Rechtssystem geben durfte und andererseits bei dem Versuch, an die Weimarer Verfassung anknüpfen zu wollen, zumindest Vorsicht geboten sein musste. Schmid hatte zudem die paradoxe Aufgabe zu bewältigen, die Legitimität für ein Verfassungsprovisorium zu begründen, das über keine ausreichende demokratische Rechtfertigung verfügte. Die 65 Stimmberechtigten waren schließlich nicht aus einer allgemeinen Wahl hervorgegangen, sondern von den Länderparlamenten der drei westlichen Besatzungszonen für diese Aufgabe bestimmt worden.

Die Grundsatzrede Carlo Schmids

Wie komplex die Aufgabe sein würde, der sich der Parlamentarische Rat in den folgenden Monaten zu stellen haben würde, machte Schmid bereits in seinen methodologischen Vorbemerkungen unmissverständlich deutlich.1 Er sprach von einem archimedischen Punkt, den es zu definieren gelte, um „den Hebel der politischen Aktivität“ möglichst präzise ansetzen zu können. Und dann warf er wie in einem noch nicht geschriebenen Lehrbuch all die grundlegenden Fragen auf, die es zu klären gelte und begann damit, sie systematisch abzuarbeiten: „Was heißt denn: Parlamentarischer Rat? Was heißt denn: Grundgesetz?“2 Und was heiße im Unterschied dazu Verfassung? Was sei ein Staat, was ein Staatsvolk und wie sei die Lage Deutschlands aus der jüngsten Vergangenheit heraus zu begreifen?

Eine Verfassung, setzte Schmid, die Emphase vergangener politischer Revolutionen in Erinnerung rufend, an, stelle nicht weniger dar als „die Gesamtentscheidung eines freien Volkes über die Formen und die Inhalte seiner politischen Existenz“ und diese wiederum „die Grundnorm des Staates“: „Nichts steht über ihr, niemand kann sie außer Kraft setzen, niemand kann sie ignorieren. Eine Verfassung ist nichts anderes als die in Rechtsform gebrachte Selbstverwirklichung der Freiheit eines Volkes.“3 Das klang pathetisch, schien ihm aber durchaus angebracht zu sein, weil wegen dieses Freiheitsstrebens in der Vergangenheit schließlich die Völker auf die Barrikaden gegangen seien. Ein solcher Begriff von Verfassung habe in einer Welt, die sich demokratisch verstehe und deshalb „das Pathos der Demokratie als ihr Lebensgesetz“ anerkenne, als unabdingbar zu gelten.

Seine Absicht bestand darin, von vornherein klarzustellen, dass eine Verfassung mehr sein müsse als ein rechtliches Reglement, „als ein bloßes Organisationsstatut“. Es habe in der Vergangenheit viele solcher Ordnungsgesetze gegeben, die bereits als Verfassungen bezeichnet worden seien, etwa in der Restaurationszeit des 19. Jahrhunderts. Diese seien manchmal in technischer Hinsicht gar nicht so schlecht gewesen. Dies habe aber nichts daran ändern können, dass sie den jeweiligen Völkern oktroyiert worden seien. Es habe sich nicht um Verfassungen im Sinne der Selbstbestimmung freier Völker gehandelt, sondern um ihnen von den Machthabern auferlegte Ordnungsvorschriften. Schmid unterschied zwischen Organisation und Konstitution. Während es in der erstgenannten Form gleichgültig sei, ob sie von den zu Organisierenden selbst vorgenommen oder ihnen aufgezwungen worden sei, mache es bei der zweitgenannten einen Unterschied ums Ganze, ob sie eigenständig zustande gekommen sei oder nicht: „[D]enn Konstitution ist nichts anderes“, hob er noch einmal an, „als das Ins-Leben-Treten eines Volkes als politischer Schicksalsträger aus eigenem Willen.“4

Diese Überzeugung, eine Verfassung aus einem existentiellen Konstitutionsanstatt aus einem bloß technisch bedingten Organisationsverständnis heraus zu entwickeln, wandte er auch für seine Definition eines demokratischen Staates an. Mit dem Staat, so wie er als „il stato“ von den politischen Theoretikern in der Frührenaissance verstanden wurde, sei nichts anderes als ein Herrschaftsapparat gemeint gewesen, mit dem in organisierter Form Gewalt über ein bestimmtes Gebiet ausgeübt werden konnte. Für eine Demokratie gelte hingegen, dass mit dem Staat „das In-die-eigene-Hand-nehmen des Schicksals eines Volkes“ gemeint sei und damit „der Ausdruck der Entscheidung eines Volkes zu sich selbst“. Unter dieser Voraussetzung, die für ihn gerade im Hinblick auf das vom NS-Regime in seinen Grundfesten diskreditierte Staatsverständnis von einer kaum zu überbietenden Relevanz war, stellte er fest: „Ich glaube, dass man in einem demokratischen Zeitalter von einem Staat im legitimen Sinne des Wortes nur sprechen sollte, wo es sich um das Produkt eines frei erfolgten konstitutiven Gesamtaktes eines souveränen Volkes handelt.“5 Diese Definition sollte dafür sorgen, den Staat trotz der verbrecherischen Praktiken, die die Nazis mit den von ihnen okkupierten Institutionen ausgeübt hatten, als Resultante eines demokratischen Gemeinwesens zu verstehen.