Die blinden Flecken der RAF - Wolfgang Kraushaar - E-Book

Die blinden Flecken der RAF E-Book

Wolfgang Kraushaar

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Beschreibung

Der Deutsche Herbst im Jahre 1977 bildet die düsterste Epoche der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Wolfgang Kraushaar, der beste Kenner dieser Zeit, wirft neue Fragen auf und gibt neue Antworten. Terrorismus tritt uns heute als Phänomen der unmittelbaren Gegenwart entgegen. Doch schon einmal hat Terror die Bundesrepublik in Atem gehalten. Die Greueltaten der RAF haben im Herbst 1977 mit der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer und der Entführung des Flugzeugs "Landshut" ihren Höhepunkt erreicht. Doch die Gewalt der RAF hat ihre Vorgeschichte in der Frühphase der scheinbar eher harmlosen 68er-Bewegung. Ihre Protagonisten, die sich als anti-bürgerliche Heroen stilisierten, sind zugleich tief verwurzelt im deutschen Nachkriegsbürgertum. Weit über die rätselhafte Todesnacht von Stammheim, in der sich das Führungstrio Baader, Ensslin und Raspe selbst tötete, agierte die RAF bis tief in die 1990er-Jahre und führt sogar bis heute ein Nachleben. Von der Vorgeschichte, den entscheidenden Ereignissen, den ideologischen Grundlagen bis zu den Folgen des Terrors der RAF. Wolfgang Kraushaar bringt neues Licht in das dunkle Gewirr aus Missverständnissen und Verklärungen und gelangt dabei zu überraschenden Erkenntnissen.

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Seitenzahl: 604

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Wolfgang Kraushaar

Die blinden Flecken der RAF

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Grafik von Roma Nekrashevich/gallery/Shutterstock

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98140-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10976-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

1. Anfänge

1968  und die Anfänge des linken Terrorismus

Ideologien und Theorien

Akteure und Akteursgruppen

Aktionsformen

Terrorismus und Avantgarde

Faszinosum Militanz

2. Stationen

Sympathie und »Verrat«

Sartre in Stammheim

Der dritte Hungerstreik

Warum Sartre?

Warum Baader?

Das Tauziehen um den Besuch

Der Stammheim-Besuch

Die Reaktionen

Wie sahen die Haftbedingungen im Stammheimer Hochsicherheitstrakt tatsächlich aus?

Was ist aus wem geworden?

Ein deutsch-französisches Missverständnis?

3. Faktoren

Die RAF und die Frauen

Die RAF und ihre Anwälte

Der Strafverteidiger

Der »RAF-Anwalt«

Die Anti-Terrorismus-Gesetzgebung

Die Defizite in der Literatur – zum Forschungsstand

Ein Rechtsanwalt ist zentrales Gründungsmitglied der RAF

Anwälte organisieren die Kommunikationszentrale

Anwaltskanzleien werden zu Rekrutierungsfeldern

Die Justiz reagiert: Ausschlüsse und Verhaftungen

Aus RAF-Anwälten werden deren zeitweilige Anführer

RAF-Anwälte schmuggeln Waffen in die Zellen ihrer Mandanten

RAF-Anwälte verfügen über Kontakte zu Geheimdiensten oder haben mit ihnen paktiert

Klaus Croissant ist für das MfS als IM tätig

Einige RAF-Anwälte haben später eine politische Karriere gezeitigt

Einige RAF-Anwälte haben ihre juristische Karriere weiter fortgesetzt

Die Mission mit der Waffe

Wurzeln des Sakralen

Religiöse Desozialisation

Säkulares Erbe in der RAF

Am Ende ein quasi-religiöses Bekenntnis

4. Vergangenheit

Zivilisationsbruch und Gesellschaftskontinuität

Die antisemitische Selektion eines bundesdeutschen Terroristen

Franken als Hochburg des Antisemitismus

Die Bamberger Schulzeit

Das Semester an der Universität Freiburg

Der Wechsel in die 68er-Hochburg Frankfurt

Die Gründung des Verlags Roter Stern

Die Nordkorea-Connection

Ein RAF-Logistiker, genannt der »kleine Dicke«

Der Begründer der Revolutionären Zellen

Böse im Kontext der Carlos-Connection

Entebbe ante

Die Entführung des Air France-Airbus

Böses Kontroverse mit einem Auschwitz-Überlebenden

Die »Selektion«

Die israelische Befreiungsaktion

Die ersten Reaktionen

Die Folgen

War Wilfried Böse ein Antisemit, ein Antizionist oder ein deutscher Terrorist, der sich hatte instrumentalisieren lassen?

Horst Mahler und das Kontinuum der Schuldabwehr

5. Beendigung

Die RAF und ihre Opfer

Das Ende der RAF

Zur zeitgeschichtlichen Bedeutung der Justizvollzugsanstalt Stammheim (Bau 1)

I. Die Kriterien

II. Das Gebäude

III. Der Prozess

IV. Die Todesnacht

V. »Stammheim« als Mythos

VI. Die zeithistorische Bedeutung

VII. Das Votum

Anhang

Anmerkungen

Drucknachweise

Einleitung

Wer vierzig Jahre nach dem »Deutschen Herbst« des Jahres 1977 und damit nach der Geschichte der RAF fragt, nach ihrer Herausforderung wie ihrer Bewältigung, der muss sich auch umgekehrt die Frage gefallen lassen, welche Bedeutung der damalige und 1998 nach fast dreißig Jahren beendete linke Terrorismus für die Gegenwart überhaupt noch haben soll. Worum geht es, wenn nach so langer Zeit noch einmal Verbrechen unter die Lupe genommen werden, die in manchen Fällen zwar immer noch ihrer strafrechtlichen Aufklärung harren, politisch aber längst bedeutungslos geworden sind? Oder zugespitzter gefragt: Was macht eigentlich die vom Kapitel RAF noch immer anhaltende Irritationskraft aus? Und worin sollte die Aufgabe bestehen, dieses besser als bisher zu begreifen?

Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist der Terror ja zu einer furchterregenden Konstante des politischen Lebens geworden. Was an Schreckensmeldungen früher eher punktuell auftrat, das ist seither zu einem regelrechten Kontinuum geworden. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass uns Nachrichten von angsteinflößenden Terroranschlägen erreichen. Allein in der irakischen Hauptstadt Bagdad explodieren durchschnittlich vier Bomben am Tag. Das allein ist unseren Medien inzwischen schon längst keine Zeile mehr wert. Und selbst wenn es Anschläge mit mehr als zwanzig oder dreißig Todesopfern gibt, die zudem rein zivile Ziele wie Schulen, Krankenhäuser oder etwa Hochzeitsfeiern treffen, dann fällt die Berichterstattung hierzulande sehr begrenzt aus. Die einzige Frage, die in diesem bedrohlichen Zusammenhang bleibt, lautet, wie nah das Unheil inzwischen bereits gekommen ist.

Und gerade im letzten Jahr hat sich gezeigt, dass die Anschlagspraxis von Dschihadisten auch auf Deutschland übergegriffen hat. Was sich zuerst in Bayern abgezeichnet hatte, das wurde dann auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin schreckliche Wirklichkeit. Und was im Sommer bereits in Nizza passiert war und 86 Unschuldigen das Leben gekostet hat, dass sich ein Terrorist eines Lkws bemächtigt hatte, um wahllos möglichst viele Menschen umbringen zu können, das geschah nun auch in der deutschen Hauptstadt und hat sich inzwischen mit weiteren Stationen in London und Stockholm fortgesetzt. Spätestens seitdem weiß auch jeder Bundesbürger – oder sollte es wissen –, dass es einen überall treffen kann.1 Denn das primäre Ziel der Gewalttäter besteht ganz offenbar darin, möglichst viele Menschen, egal ob Christen oder Muslime, ob Einheimische oder Touristen, in den Tod zu reißen.

Inzwischen ist die RAF zu einer Art Referenzsystem des gegenwärtigen Terrorismus geworden. Fast immer, wenn hierzulande vom verharmlosend als »Islamismus« bezeichneten islamischen Terrorismus die Rede ist,2 wird rasch die Frage aufgeworfen, wie es denn im Vergleich dazu mit dem RAF-Terrorismus, vor allem dem seiner ersten Generation in den siebziger Jahren, ausgesehen habe. Dabei zeichnet sich seit Längerem die Tendenz ab, die Unterschiede zwischen dem damaligen und dem heutigen Terrorismus einzuebnen. Nicht wenige Kommentatoren folgen in dieser Hinsicht den Anschauungen von Terrorismusexperten wie dem französischen Politikwissenschaftler Olivier Roy,3 für den festzustehen scheint, dass Dschihadisten von heute und die Mitglieder der »Baader-Meinhof-Bande« von damals »denselben Ansatz« verfolgen.4

Doch die Differenzen zwischen dem aktuellen, religiös begründeten und dem alten, politisch gerechtfertigten Terrorismus sind gewaltig.5 Obwohl die Unterschiede eigentlich auf der Hand liegen sollten, so wird dennoch vielfach behauptet, dass es nicht nur eine Nähe zwischen beiden mörderischen Gewaltphänomenen gebe, sondern sogar eine bis hin zu einer partiellen Identität reichenden Ähnlichkeit in ihren jeweiligen Strukturelementen. Angesichts dieser, von fragwürdigen Experten vollzogenen Einebnung der Differenzen ist es von Bedeutung, diese in ihrem Stellenwert nicht nur zu benennen, sondern auch näher zu beschreiben und entsprechend hervorzuheben:

Ein geradezu gigantisch anmutender Unterschied liegt in der Anzahl der Opfer. Bei einem einzigen Anschlag im Irak, Afghanistan oder Pakistan werden häufig mehr Menschen ermordet als von der RAF in ihrer beinahe drei Jahrzehnte andauernden Existenz insgesamt. Wenn bereits die Opferzahl der Anschläge vom 11. September 2001, bei denen rund 3000 Menschen ihr Leben verloren haben, mit einem einzigen Schlag die von mehreren Jahrzehnten Terrorismus in den Schatten zu stellen vermocht hat,6 dann wird diese erschreckende quantitative Dimension noch einmal überboten von der nach dem Irakkrieg im Frühjahr 2003 ausgelösten Serie unablässig fortwährender terroristischer Anschläge und Attentate. In Syrien, im Irak oder in Afghanistan ist es längst keine Seltenheit mehr, dass an einem einzigen Tag über hundert Menschen bei Anschlägen umkommen. Während des gesamten 20. Jahrhunderts soll es dagegen lediglich vierzehn Terroranschläge gegeben haben, bei denen mehr als hundert Menschen ihr Leben verloren.7 Angesichts dieser quantitativen Dimension erscheint es durchaus gerechtfertigt zu sein, von einer massenmörderischen Dimension des islamisch geprägten Terrorismus zu sprechen. Wie selbstverständlich der Umschlag dieser tödlichen Dimension in eine neue »Qualität« mittlerweile offenbar geworden ist, lässt sich auch an einem ganz anderen Indiz ablesen. Inzwischen ist es in der Terrorismusforschung mehr oder weniger üblich geworden von einem eigenen »terrorism lethality index«, also der durchschnittlichen Anzahl von Todesopfern bei terroristischen Anschlägen, zu sprechen.8 Es kann jedenfalls kein Zweifel daran existieren, dass seit 9/11 die »Letalitätsrate« im Terrorismus außerordentlich stark angestiegen ist und zum Datenbestand moderner Gesellschaften – beinahe wie etwa die Rate von Opfern im Straßenverkehr – einfach hinzugezählt wird.

Hinzu kommt eine weitgehende Beliebigkeit der Opfer. Im Grunde genommen kann es jeden treffen – egal ob im Nahen Osten, in Asien, Afrika, Nordamerika oder Europa und zuletzt auch in Deutschland. Obwohl sich die Attacken des Islamischen Staats, Al-Qaidas oder etwa Boko Harams so sehr gegen den Westen und seine »Ungläubigen« richten, stärker noch richten sie sich gegen Muslime und damit letztlich gegen Angehörige der eigenen Religion. Sunniten bekämpfen etwa Schiiten und umgekehrt. Dabei wird zumeist keinerlei Rücksicht darauf genommen, ob man es mit Kindern, Frauen und älteren Menschen zu tun hat. Für den politischen Terrorismus ist dagegen die spezifische Auswahl derer, gegen die sich die Attacken richteten, charakteristisch gewesen. Als integraler Bestandteil seiner Rechtfertigungsformen galt, dass keine »Unschuldigen« getroffen werden durften.9 Anschlagsziele waren US-amerikanische Militärs, Angehörige von Polizei und Justiz, hochrangige Repräsentanten des als feindlich definierten Systems aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Finanzen. Die Auswahl erfolgte also entlang einer ideologisch weitgehend vordefinierten Linie. Arbeiter, Angestellte, abhängig Beschäftigte oder die Bevölkerung als solche galten regelrecht als Tabu. Schließlich handelte es sich ja bei ihnen gerade um diejenigen, die es als vermeintlich Unterdrückte und Ausgebeutete für die eigenen Revolutions- und Umsturzpläne zu gewinnen galt. Eine Verletzung dieses Grundsatzes führte deshalb auch nur zu häufig zu einer Infragestellung der ideologischen Voraussetzungen terroristischer Praxis. So löste etwa die Tatsache, dass bei dem im Mai 1972 von der RAF verübten Bombenanschlag auf das Gebäude des Axel Springer Verlags vor allem Arbeiter und Angestellte verletzt wurden, erhebliche Unruhe in der Gruppe aus. So sah sich Andreas Baader als Führungsfigur der RAF unmittelbar nach Bekanntwerden des Anschlags dazu veranlasst, dessen Urheberin, Ulrike Meinhof, zur Ordnung zu rufen. Arbeiter als Objekte eines Anschlags und damit als Opfer auszuwählen, stand in einem unmittelbaren Widerspruch zur deklarierten Absicht, den »bewaffneten Kampf« doch gerade für die Arbeiterklasse durchführen zu wollen. Man befürchtete daher, dass mit Opfern unter den »zu interessierenden Dritten« (Rolf Schroers) die Rechtfertigungslogik terroristischer Aktionen öffentlich in Zweifel gezogen werden konnte. Zu den Charakteristika des islamischen Terrorismus zählt hingegen, dass die Opferziele immer wahlloser ausgefallen sind. Inzwischen geht es um eine völlige Entgrenzung in der Wahl der Adressaten.

Ebenfalls in Betracht zu ziehen ist die weitestgehende Unkalkulierbarkeit der von Dschihadisten verübten terroristischen Anschläge. Während die der RAF für die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden zwar nicht in jeder Hinsicht vorhersehbar waren, so galten ihre Aktionen doch bis zu einem bestimmten Punkt als kalkulierbar. Man besaß damals eine ziemlich genaue Kenntnis von den am meisten gefährdeten Personen. Schließlich wusste man ja, dass insbesondere Exponenten politischer, wirtschaftlicher oder anderer Eliten ins Fadenkreuz genommen worden waren. Der damalige Präsident des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, glaubte sich so sicher zu sein, dass er es fertigbrachte, dem damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback bei ihrem letzten Zusammentreffen Fotos von gesuchten RAF-Mitgliedern mit den Worten vorzulegen, dass dies ihre »künftigen Mörder« seien.10 Angesichts der Tatsache, dass auch nach vierzig Jahren immer noch nicht geklärt ist, wer Buback erschossen hat, mag das etwas forsch gewesen sein. Herold aber dürfte den Kreis, aus dem sich die beiden Attentäter rekrutierten, in der Tat genau gekannt haben. Offen war für ihn eigentlich nur noch, wann und wo die Attentäter zuschlagen würden.

In der Figur des Selbstmordattentäters gibt es nun einen terroristischen Akteur, der die meisten dieser neuartigen Differenzpunkte in sich vereinigt und damit geradezu personifiziert. In der Regel geht ja fast jeder Terrorist ein nicht unerhebliches Risiko ein, wenn er eine Aktion verübt, jedoch begibt er sich dabei nicht ohne Weiteres auf ein Himmelfahrtskommando. Er kann seine Risiken vorab einschätzen und hat zumeist nicht unerhebliche Chancen, sein Unternehmen körperlich unversehrt zu überstehen und sich dem Zugriff von Polizei und Justiz zu entziehen. Ganz anders ist es, wenn der Terrorist seinen eigenen Körper als Mordinstrument einsetzt. In einem solchen Akt kommt es zu einer Verbindung zweier Rollen, genauer zur Fusion zwischen einem Attentäter und einem Selbstmörder. Der Selbstmord ist mit dem Attentat und das Attentat mit dem Selbstmord identisch, das eine kann nicht ohne das andere umgesetzt werden. Die Selbstauslöschung wird zur Bedingung der Möglichkeit, andere auslöschen zu können. Da die Selbstmordattentäter über nichts verfügen, womit sie ihren Feinden einen empfindlichen Schaden zufügen können, greifen sie auf sich selbst zurück. Sie setzen ihre Existenz nicht aufs Spiel, sie setzen sie zielgerichtet als Waffe ein. Die Selbstmordattentäter verwandeln sich in lebende Sprengkörper, in Bomben auf zwei Beinen, und nutzen ihren Körper in einer einzigen, finalen Tat. Indem sie aus ihrem Leib eine Waffe machen, kompensieren sie zugleich ihre Unterlegenheit und versuchen sich auf diese Weise zu einem ernst zu nehmenden Gegner zu potenzieren. Die staatliche Todesdrohung wird durch den bewussten Einsatz des eigenen Lebens hinfällig. Damit stoßen die Sanktionsmöglichkeiten des Staates zugleich ins Leere. Im politisch gerechtfertigten Terrorismus der siebziger Jahre gab es die Figur des Selbstmordattentäters überhaupt noch nicht. Erst mit dem Aufkommen des islamischen Terrorismus breitete sie sich immer mehr aus und wurde schließlich zum Inbegriff eines antizivilisatorischen und menschenverachtenden Terrors.

Noch etwas anderes kommt hinzu. Die Verwendung des Terrorismusbegriffs ist angesichts der Verwischung der Unterschiede sehr viel inflationärer geworden als das früher bereits der Fall war. Sie gehorcht kaum noch nachvollziehbaren und rechtsstaatlich überprüfbaren Kriterien. In Wirklichkeit wird er in autoritären Regimen zur Abstempelung vermeintlicher politischer Gegner verwendet. Für Staatspräsidenten wie Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan ist es inzwischen gang und gäbe, nicht-akzeptierte Minderheiten, oppositionelle und missliebige Personen als »Terroristen« zu bezeichnen und sie damit zu diskriminieren. In der Türkei etwa ist diese Entwicklung mittlerweile soweit gediehen, dass sich beinahe jeder Wahlbürger, der es gewagt hat, beim verfassungsändernden Referendum gegen die angestrebte Ein-Mann-Herrschaft ihres Präsidenten zu votieren, gefallen lassen musste, als »Terrorist« verunglimpft zu werden.

Andererseits gilt es bei derartigen Überlegungen in Rechnung zu stellen, dass der Typus des hierzulande am stärksten mit der RAF in Verbindung gebrachten Linksterrorismus in mancher Hinsicht immer noch stark unterbelichtet ist. Ungeklärte Fragen gibt es zuhauf. Fast alles, was etwa mit der sogenannten dritten Generation der RAF zusammenhängt, gilt als weitgehend unaufgeklärt. Insbesondere über jener Phase, die sich zwischen 1985 und 1993 abgespielt hat, liegt auch nach so vielen Jahren noch immer eine große Nebelschwade, die bislang weder von den zuständigen Ermittlern, noch von Journalisten oder Historikern hat gelüftet werden können. Aber selbst wenn man sich die beiden anderen Generationen und damit die Zeitspanne zwischen 1970 und 1982 vornimmt, stößt man auf derartig viele Lücken und Scheinwahrheiten, dass man nach wie vor einräumen muss, dass in dem Kapitel RAF die ungeklärten gegenüber den wirklich als geklärt anzusehenden Fällen überwiegen.

Eine der größten Schwierigkeiten besteht ganz unzweifelhaft darin, dass die ehemaligen RAF-Mitglieder bislang keinen Anlass oder Grund gesehen haben, ihr Schweigen zu brechen.11 Und nicht wenige von ihnen würden ja auch durchaus etwas riskieren, wenn sie damit begännen, auszupacken. Denn sie müssten befürchten, wenn sie den einen oder anderen unter ihren Ehemaligen belasten, dass sie im Gegenzug selbst der Begehung von Verbrechen beschuldigt und in der Folge vor Gericht gestellt und verurteilt werden könnten. Um diesen Mechanismus zu durchbrechen, hat die Autorin Carolin Emcke vor ein paar Jahren den Vorschlag unterbreitet, nach südafrikanischem Vorbild eine »Wahrheitskommission« zu gründen.12 Doch in unserem Rechtssystem sind die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht gegeben.13

Das andere ist ein höchst problematischer Umgang des Staates und insbesondere der Bundesanwaltschaft und der Gerichtsjustiz mit dem Linksterrorismus. Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass eine nicht unerhebliche Zahl an Gerichtsurteilen wenig bis gar nichts über die konkreten Tathergänge und vor allem nichts über die dafür in Frage kommenden Täterinnen und Täter verrät. Dieses Defizit hat Michael Buback, der Sohn des im April 1977 in einer reinen Racheaktion erschossenen Generalbundesanwalts, deutlich gemacht.14 Er wollte als Angehöriger, wie er immer wieder aufs Neue betonte, nichts anderes wissen, als wer seinen Vater ermordet hatte. Und auf diese ebenso simple wie elementare Frage hat er auch nach einer jahrelangen öffentlichen Debatte, die schließlich immerhin dazu führte, dass es mit über dreißigjähriger Verspätung zu einem Gerichtsverfahren gegen die Tatverdächtige Verena Becker kam, keine Antwort erhalten. Keines der drei wegen des Buback-Attentats verurteilten RAF-Mitglieder, Brigitte Mohnhaupt, Knut Folkerts und Christian Klar, kommt für die unmittelbare Ausführung des Mordanschlags in Frage. Lediglich der Letztgenannte war weitergehender in das Geschehen verwickelt, weil er offenbar das Fluchtfahrzeug gefahren hat, in das der Motorradfahrer und die auf dem Sozius sitzende Todesschützin, mutmaßlich eine Frau, umgestiegen sind.

Warum es nicht nur in diesem, sondern auch in einer Reihe von anderen Fällen zu einer problematischen, wenn nicht gar defizitären und in mancher Hinsicht sogar irreführenden Rechtsprechung hat kommen können, liegt an einem einfachen Umstand: der Annahme einer Kollektivität derartiger terroristischer Straftaten. Nach Ansicht von Bundesanwaltschaft und Gerichten waren angeblich alle RAF-Mitglieder in die Planungen und Vorbereitungen ihrer Aktionen eingeweiht und hätten sie damit auch gebilligt. Zu dieser fragwürdigen Einschätzung hatte sich die bundesdeutsche Rechtsprechung verstiegen, weil sie in den RAF-Prozessen vor einem grundlegenden Problem stand: Die Gerichte waren meistens nicht dazu in der Lage, die geforderten konkreten Tatbeiträge der Angeklagten beizubringen und konnten sie deshalb auch nicht entsprechend aburteilen.

Aus dieser misslichen Lage suchte man einen Ausweg und glaubte ihn in der im August 1976 vorgenommenen Erweiterung des Paragraphen 129 STGB zu finden, der sich ja auf kriminelle Vereinigungen im Allgemeinen bezieht, zum Paragraphen 129a, durch den eine Spezifizierung im Hinblick auf terroristische Vereinigungen vorgenommen wurde. Wegen der damaligen Einführung des Begriffs »terroristische Vereinigung« in die deutsche Rechtsprechung wird der Paragraph, der im Übrigen nicht nur die Bildung einer und die Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung unter Strafe stellt, sondern auch deren Unterstützung und Werbung, von Kritikern als »Lex RAF« bezeichnet.

Der »Vorteil«, dass seitdem Angeklagte der RAF und anderer bewaffneter Gruppierungen wie der Bewegung 2. Juni und der Revolutionären Zellen fortan wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zu ihren Organisationen abgeurteilt werden konnten, hat die Rechtsprechung beschädigt und erheblich mit dazu beigetragen, die historische Aufklärung irrezuführen oder aber zumindest zu behindern. Einer der wichtigsten RAF-Historiker, der in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde tätige Tobias Wunschik, hat deshalb festgestellt, dass das »größte analytische Defizit« in den RAF-Verfahren im »Postulat einer vermeintlichen Kollektivität« bestehe.15 Die diesbezügliche Rechtsprechung unterliege deshalb »einem folgenschweren Irrtum«.16 Diese beiden Faktoren – das Schweigekartell der RAF und die Kollektivitätsannahme der Strafverfolger – stellen jedenfalls die Hauptschwierigkeiten dar, im Prozess der Aufklärung weiter voranzukommen.

Eine andere nicht unwesentliche Ursache für die nur unzureichende Aufklärung des bundesdeutschen Linksterrorismus dürfte in der seinerzeitigen Praxis von Nachrichtendiensten und der Tendenz des Staates liegen, diese allen bekannt gewordenen Fragwürdigkeiten zum Trotz im Nachhinein zu schützen.

Geheimdienste haben ja zunächst einmal eine Gemeinsamkeit mit terroristischen Organisationen: Sie versuchen im oder aus dem Verborgenen heraus zu operieren. Und diese Einstellung gilt zumeist auch für die Zeit danach. Ebenso wie sich Geheimdienstagenten zumeist sträuben, später über ihr Handeln Auskunft zu geben, so weigern sich ehemalige Terroristen fast ausnahmslos, sich über ihre eigenen Taten oder die von Kampfgefährten zu äußern und damit irgendetwas preiszugeben. Was diese sie miteinander verbindende Dimension der Heimlichkeit und Intransparenz anbetrifft, gibt es jedoch auch einen bemerkenswerten Unterschied. Terroristische Organisationen sind im Gegensatz zu staatlichen Diensten zumindest für einen Moment darauf aus, ein Höchstmaß an Öffentlichkeit zu erzielen. Ihr aus dem Untergrund erfolgendes Handeln ist darauf angelegt, durch Gewaltaktionen Angst und Schrecken zu verbreiten. Um das zu erreichen, bedürfen sie möglichst spektakulärer Taten wie Überfällen, Entführungen, Mord- und Sprengstoffanschlägen.

Die Bundesrepublik verfügt bekanntlich über drei Nachrichten- beziehungsweise Geheimdienste: den Bundesnachrichtendienst, der für die Auslandsspionage zuständig ist, den Militärischen Abschirmdienst, der für die Sicherheit des Militärs verantwortlich ist, und den Verfassungsschutz, der die Republik vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen im Inland, auch vor Terrorismus, schützen soll. Von dieser Logik her kommt eigentlich nur der Verfassungsschutz für die Überwachung terroristischer Belange in Frage. Dass es angesichts der Transnationalität vieler terroristischer Operationen hin und wieder zu Grenzüberschreitungen der Dienste kommt und etwa der Bundesnachrichtendienst deshalb auch im Inland aktiv ist, dürfte nicht weiter überraschen.

Will man sich jedoch auf den Verfassungsschutz konzentrieren, der bekanntlich über keine polizeilichen Handlungskompetenzen verfügt, dann ist es wichtig zu wissen, mit welchen Personen beziehungsweise Rollenmustern er im Zusammenhang mit dem Linksterrorismus operiert. Zunächst ist zwischen V-Leuten (»V« steht für Vertrauen oder Verbindung, gemeint sind also Vertrauens- oder Verbindungspersonen) und Undercoveragenten, sogenannten UCAs, zu unterscheiden. Erstere sind vom Verfassungsschutz angeworbene Informanten aus den entsprechenden Organisationen, Bewegungen und Milieus. Bei Letzteren handelt es sich dagegen um Bedienstete des Verfassungsschutzes selbst, die ausgebildet sind und als verdeckte Ermittler versuchen, die entsprechenden Gruppierungen und Strukturen zu infiltrieren, und trotz ihrer oftmals zwiespältigen Praxis legal handeln und damit dem Rechtsstaat verpflichtet bleiben sollen. Hinzu kommen aber noch zwei weitere Rollenspezifizierungen – die des V-Mann-Führers und die des Agent Provocateur. Der Erstere ist, wie die Bezeichnung bereits nahelegt, der zuständige Verfassungsschutzbeamte, der die entsprechenden V-Leute (V-Männer oder V-Frauen) anwirbt, beauftragt, mit ihnen verdeckt kommuniziert und sie nach Möglichkeit auch kontrolliert. Letztere sind UCAs oder V-Leute, die Gewalttäter direkt oder indirekt zu Straftaten anstiften. Der Einsatz solcher Lockspitzel stellt einen Grenzfall dar, der zwar gesetzlich reglementiert sein soll, aber nur allzu häufig gegen bestehende Gesetze verstößt.

Die Rolle des Verfassungsschutzes stellt zumindest hinsichtlich der Staatsbehörden so etwas wie die Achillesferse der RAF-Aufklärung dar. Das betrifft insbesondere die Person des 1971 von der Bildfläche verschwundenen und 2011 angeblich in Kalifornien verstorbenen Peter Urbach. Um kaum jemand anders haben sich so viele Gerüchte gerankt wie um den einstigen Undercoveragenten des Westberliner Landesamtes für Verfassungsschutz. Seit dem Beginn der Studentenrevolte im Frühjahr 1967 hatte er in der entscheidenden Zeit, in der militante Kleingruppen damit begannen, sich in erste terroristische Kommandogruppen zu transformieren, eine Doppelrolle gespielt, indem er, ein ausgebildeter Klempner, sich der Kommune I als Mädchen für alles andiente. Dabei reparierte er nicht nur zum Inventar gehörende Hausgeräte, um währenddessen Gespräche abhören zu können, sondern deponierte in diesen Räumen auch Sprengkörper, deren Entdeckung durch die Polizei einen willfährigen Anlass bot, einzelne Kommunarden nicht nur festzunehmen, sondern auch – wie im März 1969 geschehen – wochenlang in Untersuchungshaft zu behalten. Das waren also regelrechte Fallen zur gezielten Diskreditierung von Aktivisten. Noch weitergehender allerdings war die von zahlreichen Zeugen bestätigte gezielte Verführung von Aktivisten zum Gebrauch von Brandflaschen, Waffen und Sprengstoff. So hat sich Urbach etwa am Abend des Dutschke-Attentates am 11. April 1968 mit einem Weidenkorb ausgestattet, in dem sich eine ganze Reihe von Molotow-Cocktails befanden, unter die Demonstranten gemischt, die voller Wut zum Springer-Hochhaus an der Berliner Mauer gezogen waren. Einige der Protestierenden zögerten nicht lange und ließen sich von dem Agenten verführen, griffen zu und schleuderten die Brandsätze auf Lieferfahrzeuge des Verlags, die daraufhin ausbrannten. Das ging so weit, dass Urbach ihnen erst einmal demonstrieren musste, wie solche Pkws am besten Feuer fingen.

Der »APO-Anwalt« Horst Mahler, der beim Gründungsakt der RAF zu ihrer ersten Schlüsselfigur werden sollte, wurde in diesem Zusammenhang schließlich als Rädelsführer angeklagt und vor Gericht gestellt. Seine erste Schusswaffe will er seinen eigenen Worten nach aus Urbachs Händen erhalten haben. Und die Bombe, die bei der ersten Aktion von deutschen Stadtguerilleros am 9. November 1969 im Jüdischen Gemeindehaus in der Charlottenburger Fasanenstraße während einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Judenpogroms von 1938 deponiert wurde, stammte ebenfalls aus den Beständen des Verfassungsschutzes. Urbach hatte sie gezielt an Kommunarden in der Erwartung abgegeben, dass sie diese bei passender Gelegenheit auch einsetzen würden. Allerdings – und das gehört zu dieser Geschichte mit dazu – waren die Sprengkörper so mit Fehlern behaftet, dass sie eigentlich kaum explodieren konnten.17 Noch in einer anderen Hinsicht ist Urbach in eines der Anfangskapitel des »bewaffneten Kampfes« verstrickt. Er hatte dem späteren RAF-Anführer Andreas Baader eine Falle gestellt, die dessen Verhaftung zur Folge hatte. Durch seinen Hinweis hatte er Baader und andere dazu gebracht, am 4. April 1970 in einer nächtlichen Aktion auf einem Friedhof nach einem angeblichen Waffenversteck zu graben. Als der Trupp nach vergeblicher Suche wieder zurückfahren wollte, geriet er in eine von Urbach »bestellte« Verkehrskontrolle der Polizei. Da Baader sich mit gefälschten Papieren auswies, für die er keine vollständigen Auskünfte geben konnte, wurde er festgenommen und nach seiner Identifizierung dem Haftrichter vorgeführt. Seine Inhaftierung wiederum stellte den Grund für jene Befreiungsaktion am 14. Mai 1970 dar, die dann nachträglich zum Gründungsdatum der RAF erhoben wurde.

Urbachs Undercoverrolle ist niemals wirklich aufgeklärt worden. Allerdings trat – nachdem er gezwungen worden war, sich als Zeuge einer Anhörung vor Gericht zu stellen – im Mai 1971 der Ausschuss für Sicherheit und Ordnung des Berliner Abgeordnetenhauses zusammen, um in einer vertraulichen Sitzung zu klären, ob es in seinem Zusammenhang zu irgendeinem Fehlverhalten gekommen sei. Der Senator für Inneres, der Sozialdemokrat Kurt Neubauer, wies dabei alle gegen Urbach erhobenen Vorwürfe zurück. Mit einer einzigen Ausnahme wurden kurz darauf die gegen den VS-Agenten eingeleiteten Ermittlungsverfahren eingestellt. Bei der Ausnahme ging es darum, dass Urbach angeblich ohne Wissen des Verfassungsschutzes ein Jagdgewehr an eine nicht genannte Person weitergegeben hatte. Deshalb wurde er schließlich zu einer Geldstrafe verurteilt. Das sollte vermutlich den Anschein erwecken, dass rechtsstaatlich alles mit rechten Dingen zugegangen sei.

Doch die eigentliche Frage, die immer noch unbeantwortet geblieben ist, lautet: Was sollte mit der vom Verfassungsschutz geduldeten oder aber in Auftrag gegebenen Verteilung von Waffen und Sprengstoff bezweckt werden? War es nicht nur illegal, sondern in demokratischer ebenso wie in rechtsstaatlicher Hinsicht nicht auch völlig kontraproduktiv, besonders Militante aus der linken Szene, die zu jener Zeit gerade darauf aus waren, politische Probleme mit Gewalt zu lösen und zu diesem Zweck gefährlichere Waffen in ihre Hände zu bekommen, genau damit auszustatten? Und das obendrein noch im geteilten Berlin, jener brandgefährlichen Nahtstelle des Ost-West-Konflikts. Die plausibelste Annahme stellt wohl die Vermutung dar, dass entweder die politisch verantwortlichen Kräfte um Senator Neubauer oder die in Berlin seit 1945 stationierten Kontrollmächte, in diesem Fall die drei Westalliierten, das Ziel verfolgten, die radikalen Kräfte am Ausgang der 68er-Bewegung durch quasi-terroristische Aktionen dazu zu bringen, sich in aller Öffentlichkeit zu diskreditieren und damit ihre politischen Effekte zu neutralisieren. In diesem Zusammenhang könnte unter Umständen also auch der Viermächtestatus Berlins von Bedeutung gewesen sein. Der Verfassungsschutz war ja nicht nur dem Senator für Inneres unterstellt, sondern hing, wie das einmal ein linker Rechtsanwalt behauptet hat, »an der Leine der Alliierten«. Verbindungsoffiziere der drei Westalliierten sollen im Senat gesessen und die Praxis von Undercoverleuten durchgängig kontrolliert haben. Ohne Erlaubnis der US-Amerikaner, der Briten und der Franzosen habe keiner der Agenten damit beginnen können, eine der militanten Gruppe zu infiltrieren. Inwieweit das auch eine Rolle beim Untertauchen Urbachs in den USA gespielt haben könnte, würde ebenfalls einer genaueren Untersuchung bedürfen.

Über den Fall Urbach hinaus, für dessen Klärung bereits damals die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses vermutlich die einzige angemessene Form gewesen wäre, sind aber noch eine Reihe anderer Namen mit der zumindest in Teilen dubiosen Rolle des Verfassungsschutzes zu nennen.

Es sind dies vor allem der des Westberliner Verfassungsschutzbeamten und V-Mann-Führers Michael Grünhagen, der unter diversen Decknamen erhebliche Teile der linksterroristischen Bewegung 2. Juni aufsuchte und sie für den Verfassungsschutz als Informanten zu gewinnen versuchte. Erfolgreich war dessen 1972 erfolgter Vorstoß im Falle Harald Sommerfelds, der eine entsprechende Verpflichtung einging. In einem Stasi-Dokument heißt es, dass seit demselben Jahr auch Verena Becker von bundesdeutschen Diensten »bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten« würde.18 Dem ist später vom Bundesamt für Verfassungsschutz zwar widersprochen worden, es musste aber einräumen, dass die Terroristin nach einer Teilverbüßung ihrer Haftzeit zu Beginn der achtziger Jahre als Informantin zu Diensten gewesen sei.

Der Fall des von Grünhagen als V-Mann angeworbenen Studenten Ulrich Schmücker, der eine Subzelle der Bewegung 2. Juni ausspionierte und – nachdem das in deren Kreisen bekannt geworden war – von einem Femegericht »zum Tode verurteilt« und unter nie geklärten Umständen am 4. Juni 1974 erschossen worden war, konnte trotz vier Gerichtsverfahren nicht geklärt werden.

Der für das hessische Landesamt für Verfassungsschutz in der linksradikalen Szene operierende V-Mann Siegfried Nonne nannte im Mordfall des Bankchefs Alfred Herrhausen vier angebliche RAF-Leute als Täter und galt deshalb eine Zeit lang als Kronzeuge, widerrief dann aber seine Aussage und verhedderte sich schließlich in so viele Widersprüche, dass man zunächst die Glaubwürdigkeit des physisch labilen Informanten aufhob, bevor dieser selbst einen Widerruf seines Widerrufs formulierte und die Behörden ihn dann doch wieder als glaubwürdig einzustufen versuchten.

Dem seit 1985 für das Landesamt Rheinland-Pfalz in der linksautonomen Szene agierenden V-Mann Klaus Steinmetz gelang es, bis in die Kommandoebene der dritten RAF-Generation vorzudringen. Er schaffte es am 27. Juni 1993, die GSG 9 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen an die beiden RAF-Mitglieder Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams heranzuführen. Dieser Einsatz führte bekanntlich zu einem Desaster mit zwei Todesopfern, einem erschossenen Polizeibeamten und dem unter umstrittenen Umständen zu Tode gekommenen Grams, sowie zum Rücktritt des damaligen Generalbundesanwalts Alexander von Stahl und des Bundesinnenministers Rudolf Seiters (CDU).

Diese Aufzählung, die alles andere als vollständig ist, zeigt, in welchem Zwielicht Teile des Verfassungsschutzes – schon lange bevor im November 2011 die Mordserie des rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) aufflog und in der Folge die Machenschaften des Verfassungsschutzes zu einem Staatsskandal ersten Ranges wurden – in der RAF-Zeit steckten und wie sehr seine Rolle von einer Wolke des Verdachts überschattet ist.

Ein ganz besonderer Winkelzug offenbarte sich, als im Frühjahr 2000 das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz als eigenständige Behörde auf einmal aufgelöst und als Abteilung in die Innenverwaltung des Senats integriert wurde. Diese Entscheidung war von Eckart Werthebach getroffen worden, dem ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der auf den Posten des Senators für Inneres gewechselt war. Ganz offenbar sollte das Berliner Landesamt in seiner alten Form, Struktur und Funktion nicht mehr aufrechterhalten werden. Angeblich sind im Zuge dieser institutionellen Umbettung alle Akten entsorgt worden. Für Historiker wie Journalisten ist es jedenfalls seitdem nicht mehr möglich, an Dokumente des Landesamts für Verfassungsschutz aus der Zeit zuvor, im Kern der Ära des Kalten Krieges, zu gelangen. Als sich das Hamburger Institut für Sozialforschung 2009/2010 mehrfach an die Behörde mit der Bitte wandte, ihm Auskunft über die Gründe dieses folgenreichen Schrittes zu informieren, wurde die Sache ein ums andere Mal hinausgezögert, um letzten Endes eine so elementare Information ganz schuldig zu bleiben.

Eine besondere und von Anfang an nicht unumstrittene Rolle spielte dabei die Figur des Kronzeugen. Bereits zu Beginn der siebziger Jahre wurde zwar mit damals verhafteten RAF-Mitgliedern wie Karl-Heinz Ruhland und Gerhard Müller in der Öffentlichkeit wiederholt von angeblichen »Kronzeugen« gesprochen, in einem strafrechtlich relevanten Sinne wurde diese Zeugenfigur zur Klärung von terroristischen Straftaten aber erst 1989 in der Ära von Bundeskanzler Helmut Kohl in die Strafprozessordnung eingeführt. Dass das überhaupt geschah, hatte vor allem damit zu tun, dass seit 1982 kein einziges Mitglied aus der Kommandoebene der RAF mehr hatte verhaftet werden können.

Die Lage von Polizei und Justiz gegenüber dem Linksterrorismus schien so hoffnungslos geworden zu sein, dass man nach der aus der britischen Rechtsprechung stammenden Kronzeugenregelung, die dem deutschen wie dem kontinentaleuropäischen Recht insgesamt immer bis zu einem gewissen Grad fremd geblieben war, wie nach einem letzten Strohhalm griff. Man erhoffte sich durch ihre Inanspruchnahme erkennbare Vorteile in der Terrorbekämpfung. Für Aussagen, die zur Ergreifung eines Täters führten, eine Straftat umfassend aufklärten oder aber künftige Straftaten hätten verhindern können, wurde entweder völlige Straffreiheit oder zumindest Strafmilderung in Aussicht gestellt, die beispielsweise in einem Mordfall für den Angeklagten das Strafmaß von lebenslänglich bis auf ein Minimum von drei Jahren reduzieren konnte. Weil die Kronzeugenregelung in RAF-Kreisen von Anfang an jedoch als »staatliche Verführung zum Verrat« stigmatisiert, aber auch in Kreisen der linksliberalen Öffentlichkeit nicht unumstritten war, schien die zunächst ohnehin nur für einen drei Jahre befristeten Zeitraum gültige Regelung kein wirksames Mittel zu sein, um Ehemalige aus dem Schweigekartell der RAF herauszubrechen.

Das änderte sich aber, zumindest vorübergehend, als im Juni 1990 zur allgemeinen Überraschung zehn ehemalige RAF-Mitglieder, nach denen ein Jahrzehnt lang von Interpol gefahndet worden war, auf dem Gebiet der noch existierenden DDR verhaftet werden konnten. Unter ihnen befand sich mit Werner Lotze ein ehemaliges RAF-Mitglied der zweiten Generation, für den als Ersten die Kronzeugenregelung wirksam wurde. Da ihm eine Strafminderung versprochen wurde, gab er zu, dass er 1978 einen Polizeibeamten erschossen hatte und beim missglückten Attentat auf die Wagenkolonne des NATO-Oberbefehlshabers Alexander Haig im Jahr darauf beteiligt gewesen war. Trotz einer vollendeten und einer versuchten Mordtat sowie einer Reihe anderer Straftaten wurde er als Kronzeuge zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt.

Als Kronzeuginnen und -zeugen folgten ihm mit entsprechender Minderung des Strafmaßes Susanne Albrecht, Henning Beer, Sigrid Sternebeck, Ralph Baptist Friedrich, Monika Helbing, Silke Maier-Witt und Inge Viett, die den Deal mit der Stasi und den DDR-Behörden eingefädelt hatte. Mit Hans-Joachim Klein kam später auch ein Mitglied der Revolutionären Zellen in den Genuss dieser Regelung. Da der 1975 am Überfall auf das OPEC-Treffen in Wien beteiligte Terrorist später ausgestiegen war und durch seine Hinweise entscheidend dazu beitrug, dass mehrere antisemitische Anschläge verhindert wurden, kam er 2001 trotz seiner Beteiligung an drei vollendeten Mordtaten, eines Mordversuchs und der Geiselnahme von 62 Personen, darunter elf Mitgliedern verschiedener OPEC-Staaten, mit einer Freiheitsstrafe von neun Jahren davon. Doch das war bereits eine Ausnahme.

Die Kronzeugenregelung, die nach heftigen Kontroversen zweimal verlängert worden war, lief – die RAF war anderthalb Jahre zuvor aufgelöst worden – in der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder mit dem Ende des Jahres 1999 wieder aus. Die Bedrohung durch die RAF war vorüber, nach den spektakulären Anschlägen vom 11. September 2001 erhob der Terrorismus jedoch erneut sein Haupt, diesmal nicht unter politischen, sondern unter religiösen Vorzeichen. Unter dem Eindruck erneuter terroristischer Gefährdungen wurde von der großen Koalition unter Angela Merkel erneut eine Kronzeugenregelung verabschiedet, die zum 1. September 2009 in Kraft trat. Das heißt, dass für ehemalige RAF-Mitglieder – wenn sie denn aussagewillig gewesen wären – die Kronzeugenregelung nur in bestimmten Zeitphasen hätte in Frage kommen können. Doch es war, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, nur eine bestimmte Gruppe, die der in der DDR untergetauchten Ex-RAF-Mitglieder, die unter bestimmten Bedingungen, die mit denen der anderen inhaftierten Mitglieder nur schwer vergleichbar waren, von dem Angebot Gebrauch machte.

Obwohl der DNA-Nachweis eines Tatverdächtigen nicht allein über dessen Schuld oder Unschuld entscheidet, so gilt der genetische Fingerabdruck wegen seiner unter einem Prozent liegenden Fehlerquote mittlerweile doch als die Krone der Beweismittel. Da das DNA-Verfahren erst 1984 entdeckt und vier Jahre später in der Bundesrepublik erstmals vor Gericht im Rahmen eines Strafverfahrens zugelassen wurde, kam es für die Mehrzahl der RAF-Verbrechen schlicht zu spät. Ironischerweise richtete das Bundeskriminalamt im April 1998 eine eigene DNA-Analysedatei fast auf den Tag genau ein, als die RAF ihre Auflösungserklärung bekannt gab. Viele Spurensammlungen waren in der Zwischenzeit schon längst – wie zum Beispiel die auf Anweisung des damaligen Generalbundesanwalts Kay Nehm 1994 entsorgte Spurenakte des Buback-Attentats – vernichtet worden.

Wenn auch nicht gleich bei jeder dieser vermutlich voreilig durchgeführten Aktionen Absicht unterstellt werden sollte, so muss es doch mehr als sonderbar erscheinen, dass etwa im Falle Verena Beckers exakt jene Haarprobe, die man in einem der beiden Täterhelme entdeckt und als von ihr stammend identifiziert hatte, aus unerfindlichen Gründen verschwunden ist. Und das von dem Täter-Duo verwendete Motorrad der Marke Suzuki 750 GS hatte man obendrein an einen privaten Interessenten verkauft, der es dann umspritzte und nach jahrelanger Benutzung schließlich 2013 dem Stuttgarter Haus der Geschichte für eine RAF-Ausstellung veräußerte.

Wie wertvoll sich auch noch nach Jahren DNA-Spuren hätten erweisen können, zeigte sich 2001, als ein an einem Frottee-Handtuch befindliches Haar auf die mögliche Mittäterschaft eines ehemaligen RAF-Mitglieds hinwies. Gentechnikern des beim Wiesbadener Bundeskriminalamt angesiedelten Kriminaltechnischen Instituts gelang es damit noch ein Jahrzehnt nach dem Rohwedder-Attentat, den 1993 in Bad Kleinen zu Tode gekommenen Wolfgang Grams zu identifizieren.19 Auch wenn dieses Indiz nicht ausreicht, um eine unmittelbare Tatbeteiligung zu beweisen, so deutete es doch darauf hin, dass der Hogefeld-Gefährte mit diesem Handtuch in Berührung und insofern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in das Verbrechen verstrickt gewesen sein musste.

In der Geschichte der alten Bundesrepublik gibt es wohl keine andere Situation, die es an Dramatik und Brisanz mit dem sogenannten »Deutschen Herbst«, also der Zeit der Schleyer-Entführung, aufnehmen könnte. Die 44 Tage im September/Oktober 1977 waren, wie man im Nachhinein feststellen konnte, der Scheitelpunkt des RAF-Terrorismus und die krisenhafteste Zuspitzung staatlicher Sicherheitspolitik durch innere Gefährdungsprozesse. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat diese Zeitspanne später einmal als »die schwerste Krise des Rechtsstaats seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland« bezeichnet.

Auf die Nachricht, dass der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von einem RAF-Kommando entführt und dessen Begleiter allesamt erschossen worden seien, reagierte er mit einer von Anfang an kompromisslosen Haltung. Er wollte dieser mörderischen Erpressungsaktion, mit der die Stammheimer RAF-Gefangenen hätten freigepresst werden sollen, auf keinen Fall nachgeben. Der Staat sollte sich dem Terrorismus gegenüber als unnachgiebig und standhaft erweisen. Nicht noch einmal dürfte ihm passieren, was im März 1975 geschehen war. Damals war die Bundesregierung in Reaktion auf die Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden weich geworden und hatte fünf verurteilte und in Haft befindliche Terroristen freigelassen, die dann allesamt wieder Verbrechen bis hin zu Mordaktionen begingen.

Um sein Handeln abzusichern, schuf oder bediente er sich mehrerer Instrumente. Als Erstes zweier Exekutivorgane, die von der Verfassung nicht vorgesehen waren und insofern weder legal noch legitim waren: den kleinen und den großen Krisenstab, in denen während der Schleyer-Entführung alle Entscheidungen getroffen wurden. Die Hauptfunktion dieser beiden Machtinstrumente bestand darin, das Handeln der SPD/FDP-Koalition durch die Einbindung der Opposition, in diesem Fall der CDU/CSU, nach innen wie nach außen als das einer Einparteienregierung erscheinen zu lassen. Im Gegensatz dazu war das Parlament mit seinen Beratungs- und Kontrollfunktionen weitgehend ausgeschaltet; hinzu kam eine Nachrichtensperre, der sich die öffentlichen Organe von Presse, Funk und Fernsehen zu unterwerfen hatten, was sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch freiwillig taten. Damit war die sogenannte vierte Gewalt bis zu einem erheblichen Grade zu einem Erfüllungsgehilfen der Politik geworden. Ein weiteres Instrument war das im Eilverfahren verabschiedete Kontaktsperregesetz, mit dem die Kommunikation zwischen inhaftierten RAF-Mitgliedern und deren Anwälten systematisch unterbunden wurde. Damit wollte man die von der Regierung vermutete Steuerung terroristischer Aktionen aus den Zellen heraus verhindern. Um das zu erreichen, musste ein Grundrecht, die Unantastbarkeit der Beziehung zwischen Inhaftierten und Verteidigern, gebrochen werden.

Wenn man diese Handlungsinstrumente betrachtet, wird deutlich, dass die damalige Bundesregierung ebenso wie die führenden Oppositionspolitiker nicht nur dazu bereit waren, die Exekutivmacht über Gebühr zu strapazieren, sondern ihr Handeln auch so weit vom Parlament abzukoppeln, dass es kaum noch eine Möglichkeit der Wahrnehmung der ihr obliegenden Kontrollfunktion gab. Damit war die verfassungsrechtlich gebotene Gewaltenteilung ernsthaft gestört. Der Bundeskanzler war nicht nur an die Grenzen des Rechtsstaates gegangen, er hatte diese insofern auch überschritten und sie in Anbetracht der genannten Aspekte insgesamt in Richtung auf einen Ausnahmestaat verschoben, einen Staat autoritärer Prägung, der nur davor zurückschreckte, den »Notstand« auszurufen und sich der für einen solchen Fall vorgesehenen Notstandsrechte zu bedienen.

Zumindest was die Schlüsselsituation des »Deutschen Herbstes« überhaupt anbetraf, die Befreiung der als Geiseln in der »Landshut«-Maschine der Lufthansa festgehaltenen Passagiere und Crew-Mitglieder durch die GSG 9 in Mogadischu, äußerte sich Schmidt im Januar 1979 in einem Spiegel-Interview in einer Weise, die den vorhandenen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit seiner Entscheidungen weitere Nahrung bot: »Ich kann nur nachträglich den deutschen Juristen danken«, erklärte er darin, »dass sie das alles nicht verfassungsrechtlich untersucht haben.«20 In seiner Rolle als Hamburger Innensenator während der Flutkatastrophe vom Februar 1962 hatte er weniger rechtsstaatliche Skrupel gezeigt und erklärt: »Wir haben damals das Grundgesetz und die Hamburgische Verfassung und andere Gesetze übertreten, wissentlich und willentlich.«21 Warum hätte es eigentlich im Herbst 1977 ganz anders gewesen sein sollen?

Bei der Beurteilung des während der Schleyer-Entführung an den Tag gelegten staatspolitischen Handelns müssen aber noch zwei andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Da sich die Bundesregierung unter Helmut Schmidt in einer regelrechten Zwickmühle befand, war sie systematisch überfordert. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte, letztlich war ihr Handeln in einem der beiden entscheidenden Punkte falsch und anfechtbar. Sie konnte nicht gleichzeitig das Leben des Entführten retten und andererseits eine Verlängerung und vielleicht sogar eine weitere Ausbreitung des RAF-Terrorismus verhindern. Das eine schloss das andere aus. Schmidt, seine Minister, ebenso wie seine Kollegen seitens der in die Verantwortung integrierten Opposition, machten sich insofern mit am Tode Schleyers schuldig. Das hat Schmidt im Übrigen selbst so gesehen und später auch explizit eingeräumt.

Hinzu kommt, dass die führenden Politiker der damaligen Bundesrepublik – wie Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Franz Josef Strauß und Helmut Schmidt – sich auch selbst als gefährdet ansehen mussten. Wie Dokumente belegen, gehörten sie ebenfalls zum Kreis der Entführungs- und damit zugleich auch potentiellen Todeskandidaten. Da sie das wussten und ihr Personenschutz auch daraufhin abgestellt wurde, ohne aber letztlich irgendeine Form der Sicherheit garantieren zu können, agierten sie in dem Bewusstsein, nicht nur staatliches Handeln in einer rechtsstaatlich verfassten Demokratie legitimieren zu müssen, sondern zugleich auch ihre ganz persönliche Gefährdung möglichst auf ein Minimum zu reduzieren. Diese beiden Punkte mögen das exekutive Handeln subjektiv zwar nachvollziehbarer machen, nicht jedoch ihre unzureichenden rechtlichen Voraussetzungen kompensieren.

Wenn im Folgenden nun »Die blinden Flecken der RAF« thematisiert werden, dann soll von ihnen hier weniger in einem kriminologischen Sinne die Rede sein. Wer sich also in diesem Band eine Fortsetzung der üblicherweise von staatlichen Ermittlern zu leistenden Arbeit erwartet, der dürfte eher enttäuscht werden. Es gehört schließlich nicht unbedingt zum Aufgabenbereich von Autoren wie Historikern und anderen Sozialwissenschaftlern, sich die nicht zu Ende geführten, gescheiterten oder unbeachtet gebliebenen und vielleicht sogar absichtlich ignorierten Aufgabenstellungen vorzunehmen und sich im Nachhinein daran abzuarbeiten. Für einen Autor, der als Historiker und Politikwissenschaftler arbeitet, kann es also nicht darum gehen, die Rolle von Kriminalkommissaren und Staatsanwälten ein- und damit etwa die unerledigten Fälle selbst übernehmen zu wollen. Worum es stattdessen geht, ist nichts anderes, als sich die Defizite in der Analyse, Deutung und Interpretation des RAF-Terrorismus vorzunehmen. Die Aufsätze dieses Bandes kreisen dementsprechend um die folgenden Aspekte:

die Anfänge des aus der 68er-Bewegung hervorgegangenen linksradikalen Terrorismus,

zwei ebenso tragische wie absurde Fälle auf den Stationen von Flucht und Inhaftierung,

die Faktoren, die die Anwälte, die Frauen und die Religion innerhalb der RAF gespielt haben,

die Bedeutung, die die nur unzureichend aufgearbeitete NS-Vergangenheit für sie besaß22 und

die Beantwortung der Frage, wie es überhaupt zum Ende der RAF kam und was nach ihrer Auflösung aus einem Gebäudekomplex wie der JVA Stammheim eigentlich werden soll, die nicht nur der Ort des Hauptverfahrens gegen die RAF-Spitze, sondern auch der Schauplatz ihres Todes war.

Wer die Aufmerksamkeit aufbringt, sich den hier vorgelegten Texten zu widmen, der wird wohl nur wenige der in einem kriminalistischen Sinne noch offenen Fragen beantworten können, dafür aber vielleicht einige der Strukturen, Schlüsselereignisse und -figuren besser verstehen, die dabei eine Rolle gespielt haben. Das jedenfalls ist die Hoffnung ihres Autors.

1.Anfänge

1968 und die Anfänge des linken Terrorismus

Die Überzeugung, dass es eine scharf gezogene Grenze zwischen der 68er-Bewegung und dem Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) gegeben habe, ist immer noch weit verbreitet. Dies hat nicht zuletzt der Streit gezeigt, der vor einiger Zeit um die Frage entbrannt ist, ob mit Rudi Dutschke jener Mann, der auf tragische Weise zur Personifikation der 68er-Revolte geworden ist, in einem Wirkungszusammenhang anzusiedeln ist, der letztlich in den Terrorismus geführt hat.1

Die Tatsache, dass es einen wie auch immer gearteten Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung und der RAF gegeben haben muss, wird jedoch auch von jenen kaum noch bestritten, denen es vor allem darum geht, bei Dutschke die Relevanz des Moralischen für das politische Handeln unter Beweis zu stellen und damit zugleich die Unvereinbarkeit mit den Handlungsmaximen der RAF vor Augen zu führen. Wie dieser Zusammenhang jedoch genauer zu bestimmen ist, dürfte allerdings nicht so einfach zu klären sein und vermutlich noch für längere Zeit in der Faktorenbestimmung, Ausdifferenzierung und Gewichtung umstritten bleiben.

Bereits 1971 hatte Ulrike Meinhof im Namen der RAF die seinerzeit verbreiteten Zweifel mit einer Feststellung aus dem Weg zu räumen versucht: »Die Rote Armee Fraktion leugnet im Unterschied zu den proletarischen Organisationen der Neuen Linken ihre Vorgeschichte als Geschichte der Studentenbewegung nicht, die den Marxismus-Leninismus als Waffe im Klassenkampf rekonstruiert und den internationalen Kontext für den revolutionären Kampf in den Metropolen hergestellt hat.«2

Markige Worte, fast wie bei einer Kommandoerklärung. Die Studentenbewegung als Vorgeschichte der RAF? Vielleicht ist es ja genau umgekehrt gewesen und die RAF hat eher zur Nachgeschichte der Studentenbewegung gehört und war nichts anderes als eines von mehreren Partikeln, die nach der Hochphase der Bewegung übrig geblieben waren?

Bis vor ein paar Jahren herrschte jedenfalls die Überzeugung vor, dass die bundesdeutsche Adaption einer Form der Stadtguerilla ein Produkt der auseinanderfallenden Studentenbewegung gewesen sei. Inzwischen hat sich jedoch die Einschätzung durchzusetzen begonnen, dass dieser Schritt weitaus früher begonnen haben muss und bis in die Vorzeit der Studentenbewegung reicht.

Im Grunde existieren ja zwei diametral entgegengesetzte Auffassungen, was das Verhältnis zwischen der 68er-Bewegung und dem RAF-Terrorismus anbetrifft:

zum einen die Vorstellung, die RAF sei allein aus dem Zusammenbruch der 68er-Bewegung zu erklären, es habe sich um nichts anderes als um eine Inversion, also um eine durch Isolation, Verzweiflung und Depression bedingte Umkehrung, gehandelt;

zum anderen die Vorstellung, die 68er-Bewegung sei das Konstitutions- beziehungsweise Kräftefeld gewesen, aus dem die RAF hervorgegangen sei. Es habe sich demnach um einen gemeinsamen Zusammenhang, den einer Konstitution gehandelt.

Zugespitzt formuliert geht es also darum, ob es bei dieser Beziehung um eine Inversion oder um eine Konstitution gegangen ist.

Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, die Struktur der Beziehung zwischen der 68er-Bewegung und der RAF genauer herauszuarbeiten. Und um diese Relation genauer bestimmen zu können, wird hier zwischen drei verschiedenen Bezugsebenen unterschieden:

Ideologien und Theorien,

Akteuren und Akteursgruppen und

Aktionsformen.

Danach soll die Frage nach einer angemessenen historischen Interpunktion beantwortet werden.

Zunächst einmal erscheint es jedoch erforderlich, die von verschiedener Seite immer noch als problematisch angesehene Einordnung der RAF unter den Terrorismusbegriff zu erörtern.

Auf der einen Seite ist diese ja identisch mit der Aufkündigung jeglicher Legitimationsfähigkeit, auf der anderen Seite ist die Vermeidung des Begriffs aber auch ein mögliches Indiz für die Gefahr einer nachträglichen Rechtfertigung legitimationsunfähigen Handelns. In der internationalen Politik fungiert der Terminus Terrorismus normativ als ein »Ausschließungsbegriff«.3 Das Anliegen von Akteuren, die so apostrophiert werden, gilt gemeinhin als nicht verhandelbar. Terroristisches Handeln mag einerseits an politischen Zielen orientiert sein, es bricht andererseits mit grundlegenden Prinzipien des Politischen. Ihm mangelt es zuvorderst an der für politisches Handeln erforderlichen Kompromissfähigkeit.

Im Fall der RAF lässt sich zeigen, warum sich eine Gruppierung, die bis auf eine Ausnahme selbst nicht als terroristisch bezeichnet werden wollte, in kürzester Zeit in einer Dynamik verfing, die sie mehr oder weniger zwangsläufig zu einer terroristischen Organisation werden ließ. Nachdem sich gezeigt hatte, dass die Bombenanschläge der RAF politisch folgenlos geblieben waren, weil sich ihr Adressat – im weitesten Sinne die lohnabhängige Bevölkerung – der selbst ernannten Guerilla hartnäckig verweigerte, sahen sich ihre Akteure mehr und mehr auf sich selbst zurückgeworfen. Aus der Guerilla wurde zunehmend eine Frage der Identität und aus dem Anspruch, den Staat stürzen und die Gesellschaft umwälzen zu wollen, eine mehr und mehr selbstbezügliche, wenn nicht gar autistische Verfallsform.4

Die Ausnahme stellte übrigens das Gründungsmitglied Horst Mahler dar, der den Begriff »Terrorismus« zur Kennzeichnung der von ihm propagierten Praxis nicht pejorativ, sondern affirmativ verwendet hat. In seinem Konzeptpapier »Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa« schrieb er: »Der revolutionäre Terror richtet sich ausschließlich gegen Exponenten des Ausbeutungssystems und gegen Funktionäre des Unterdrückungsapparates, gegen die zivilen und militärischen Führer und Hauptleute der Konterrevolution […]. Die Herrschenden bedienen sich der Angst, die sie durch Terror erzeugen, um sich das Proletariat gefügig zu halten. Was spricht dagegen, dass sich die Unterdrückten ebenfalls der Angst bedienen, die sie durch Terror ihren Feinden einjagen, um sich endlich zu befreien?«5 Dies ist das deutlichste Beispiel dafür, dass der Begriff »Terrorismus« von einem RAF-Mitglied adaptiert und als Selbstbezeichnung ausgegeben worden ist.

Um genauer zu wissen, um welche Bezugsgrößen es geht, ist es empfehlenswert, im Vorhinein genauer zu klären, welche Gruppierungen gemeint sind, wenn von terroristischen gesprochen wird. Denn die Reduktion des Kapitels »linker Terrorismus« auf das Kürzel RAF ist nicht ganz unproblematisch. Die Abkürzung RAF täuscht jedenfalls eine Geschlossenheit vor, die es in Wirklichkeit so nicht gegeben hat. Für dieses Feld gilt in einem besonderen Maße, dass Namen nicht einfach Schall und Rauch sind. Es sind halbe Kommandoerklärungen mit programmatisch angelegten Selbstinszenierungseffekten. Zugleich kaschieren diese Selbstbezeichnungen allerdings auch Wesentliches. Sie täuschen in einem nicht unerheblichen Maße darüber hinweg, wie unterschiedlich die sozialen Voraussetzungen und die personalen Beziehungsmuster im Einzelnen ausfallen konnten.

Im Frühjahr 1970 gab es zwischen den beiden rivalisierenden Strömungen um Horst Mahler und Dieter Kunzelmann regelrechte Kooptierungsversuche: Wer schluckt wen? Die Tupamaros West-Berlin die sich formierende Rote Armee Fraktion oder umgekehrt? Und nachdem klar war, dass es zwei unterschiedliche, zum Teil miteinander konkurrierende Gruppierungen – die Rote Armee Fraktion und die spätere Bewegung 2. Juni – geben würde, fanden gleichwohl Austauschprozesse statt. Mitglieder wechselten von dieser zu jener Organisation und umgekehrt. Wenn hier also von der RAF die Rede ist, dann sollten zugleich auch die wichtigsten anderen beiden bewaffneten Gruppierungen – die Bewegung 2. Juni und außerdem die Revolutionären Zellen (RZ) – mitgedacht werden.

Warum neben der Bewegung 2. Juni auch die RZ? Nachdem die Gründungsmitglieder der RAF im Juni 1972 verhaftet worden waren, schien das Kapitel »Stadtguerilla in der Bundesrepublik Deutschland« bereits gescheitert zu sein. Baader, Ensslin, Meinhof, Meins und Raspe saßen im Gefängnis und warteten auf ihre Prozesse. Die politische Auseinandersetzung verlagerte sich zunehmend auf die Frage, wie es gelingen könnte, die RAF-Gefangenen wieder freizubekommen.

In dieser Situation zerbrach sich Wilfried Böse, die Schlüsselfigur der späteren RZ, offenbar den Kopf darüber, wie es gelingen könnte, den von den bundesdeutschen Behörden mittlerweile geschaffenen Fahndungsapparat ins Leere laufen zu lassen. Er griff dabei auf eine alte kommunistische Tradition zurück und konzipierte eine Organisation, die die Gefahr, interne Kenntnisse weiterzugeben, auf ein Minimum reduzieren sollte.

Die Grundidee bestand darin, ein Geflecht lose miteinander verbundener Zellen aufzubauen, die jeweils nur durch ein einziges Mitglied untereinander in Verbindung standen. So konnte die Gefahr, dass bei einer Verhaftung durch Druck oder Erpressung gleich die gesamte Organisationsstruktur preisgegeben werden könnte, gering gehalten werden.

Würde man Struktur, Kohäsion und Binnendynamik als Kriterien für eine Charakterisierung dieser Gruppen festhalten wollen, dann könnte man die drei genannten Organisationen nur schwer auf eine Ebene stellen.

Während die RAF nicht nur in ihrer Gründerzeit eine relativ fest gefügte, hierarchisch gegliederte Organisationsstruktur aufwies, war die Bewegung 2. Juni eher eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche Subzellen, die schon bei den Tupamaros mal als »Wieland-Kommune«, mal als »Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen« und mal als »Berliner Blues« bezeichnet worden waren.

Die Revolutionären Zellen blieben dagegen lange Zeit so gut wie unsichtbar und wurden aus der Schwierigkeit der Ermittlungsbehörden heraus, greifbare Ergebnisse vorzulegen, deshalb von Journalisten häufig als »Feierabendterroristen« bezeichnet. Sie entstanden im Sommer 1972 und versuchten mit einer veränderten Organisationsform auf das Versagen der RAF-Gründer und die Fahndungserfolge des BKA zu reagieren. Später spaltete sich die RZ in zwei Flügel auf, in einen nationalen und einen internationalen.

Ideologien und Theorien

Die ideologischen Bezüge zwischen dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) als der treibenden Kraft der 68er-Bewegung und der späteren RAF sind vielfältiger Natur gewesen. Zunächst einmal ist zu erwähnen, dass es der Fraktion, die sich selbst als antiautoritäre bezeichnete, im September 1967 mehrheitsfähig wurde und mit Karl Dietrich Wolff den Bundesvorsitzenden stellte, auch um eine Rehabilitierung des klassischen Anarchismus im Bakuninschen Sinne ging. Um dies zu erreichen, scheute man sich auch nicht, die von Marx am Individualanarchismus geübte Kritik zurückzuweisen. Unter den Voraussetzungen des Monopolkapitalismus, der das Bewusstsein der abhängig Produzierenden vernebele, so wurde argumentiert, gäbe es eine neue Ausgangsbasis für anarchistische Aktionen. Bakunin wurde für aktuell erklärt – man legte dessen verstreute und nur schwer zugängliche Schriften wieder auf und tagte im November 1968 auf der vorletzten SDS-Delegiertenkonferenz in Hannover unter dem Konterfei des bärtigen Russen, der bereits 1848 zusammen mit Richard Wagner in Dresden auf den Barrikaden gestanden hatte.

Ein nächster Schritt bestand darin, die Durchführung direkter Aktionen zu propagieren, mit denen angeblich die Verpanzerungen des Alltagsbewusstseins gesprengt und die Chancen zu einer Mobilisierung verbessert werden sollten. Insbesondere Dutschke war davon überzeugt, in der Forcierung von Demonstrationstechniken, die schrittweise zu illegalen Aktionsformen führen sollten, eine Art Dialektik zwischen Aktion und Aufklärung in Gang bringen zu können. Dies alles war jedenfalls als integraler Bestandteil einer Eskalationsstrategie gedacht, mit der die bestehenden Verhältnisse attackiert und Schritt für Schritt transformiert werden sollten.

Am aufschlussreichsten ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass der Begriff »Stadtguerilla« im deutschen Sprachraum erstmals von Rudi Dutschke verwendet worden ist. Er war davon überzeugt, dass es besonders gewaltsamer, zum Teil auch militärischer Aktionsformen bedürfe, um die Aussichten auf eine revolutionäre Veränderung der bestehenden Verhältnisse zu verbessern. Mit einer Adaption von Che Guevaras Focus-Theorie, die er im Anschluss an die illegale Plakataktion »Amis raus aus Vietnam« propagierte, zielte er, wie seine im Nachlass aufgefundenen Notizen belegen, bereits im Februar 1966 auf den Aufbau einer spezifischen Form einer städtischen Guerilla.6

Öffentliche Verwendung fand dieser Begriff allerdings erst anderthalb Jahre später auf jener bereits erwähnten SDS-Delegiertenkonferenz in Frankfurt, auf der sich der antiautoritäre Flügel erstmals durchzusetzen vermochte. Zusammen mit Hans-Jürgen Krahl hatte Dutschke das sogenannte Organisationsreferat verfasst, in dem die SDS-Mitglieder im September 1967 dazu aufgerufen wurden, sich künftig existentiell zu organisieren und als »Sabotage- und Verweigerungsguerilla« zu formieren.7 Die Vorstellung, eine »rurale«, also ländliche Guerilla in der Dritten Welt, durch eine »urbane Guerilla« in den »Metropolen« zu ergänzen, gründete nachweislich in der Focus-Theorie Che Guevaras ebenso wie in Carl Schmitts »Theorie des Partisanen«.8

Auch wenn diese Adaption der Guerilla-Idee nicht mit der späteren RAF in eins gesetzt werden darf, so ist ihre Propagierung der vermutlich wichtigste Hinweis darauf, dass sie aus dem Zentrum der 68er-Bewegung, der antiautoritären Fraktion im SDS, stammte, der in den siebziger Jahren eine praktizierte Form der Stadtguerilla folgen sollte.

Akteure und Akteursgruppen

In einem strengen, objektiven Kriterien genügenden Sinne ist es nur schwer möglich, die Akteure und Akteursgruppen der 68er-Bewegung genauer zu bestimmen. Am ehesten wäre das noch mit dem SDS und anderen linken Studentengruppen wie dem Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD) und dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) möglich. Derartige Untersuchungen, die vor allem nach Fakultäten und Studienfächern unterschieden, sind bereits 1968 angestellt und zum Teil in der Presse veröffentlicht worden. Sie sind hier jedoch nicht weiter von Interesse.

Wichtiger ist es, zwischen den beiden seinerzeit im SDS vorhandenen Fraktionen zu unterscheiden, der traditionalistischen und der antiautoritären. Während die eine sich nicht zuletzt aus Mitgliedern der illegalen KPD rekrutierte und sich am Politikverständnis von Wolfgang Abendroth und der sogenannten Marburger Schule orientierte, ist die letztere aus der avantgardistischen Gruppierung Subversive Aktion hervorgegangen und hat ihr theoretisches Selbstverständnis maßgeblich aus den Theorien der Frankfurter Schule, insbesondere denen Herbert Marcuses, bezogen. In etwas überspitzter Weise kann festgehalten werden, dass sich im SDS damit orthodoxe Kommunisten und undogmatische Sozialisten, zum Teil auch explizite Anarchisten gegenüberstanden.

Die Konfrontation zwischen diesen beiden Ausrichtungen war bereits im März 1966 auf einer einwöchigen Konferenz im Taunus offen aufgebrochen, bei der es um die Geschichte der Arbeiterbewegung und die Frage nach dem revolutionären Subjekt gegangen war.9 Während der Weltjugendfestspiele im Sommer 1968 in Sofia war der Streit zwischen diesen beiden Flügeln so sehr eskaliert, dass ein halbes Dutzend traditionalistisch eingestellter Mitglieder ausgeschlossen wurde. In der Folge gründete sich dann der MSB Spartakus und die traditionell marxistische Strömung ging in Teilen in der neugegründeten DKP und ihren Neben- und Unterorganisationen auf.

Im Gegensatz zum SDS ist die APO ein Sammelbecken ganz unterschiedlicher Personengruppen wie Gewerkschaftlern, Christen und Jungarbeitern gewesen. In ihr versammelten sich vor allem jene, die von der Tatsache, dass die SPD bereit war, mit der Union eine große Koalition einzugehen, tief enttäuscht waren und einen politischen Ausweg durch eine externe Korrektur des sozialdemokratischen Kurses auf dem Wege außerparlamentarischer Kampagnen oder durch die Gründung einer sozialistischen Partei suchten. Auf Grund ihrer Heterogenität lässt sich jedenfalls von ihrer personellen Zusammensetzung, ihrer ideologischen Ausrichtung und den von ihnen artikulierten Interessen her nur schwer eine verallgemeinerbare Verbindung zum gewaltbereiten Milieu herstellen, aus dem dann die Gründung der ersten bewaffneten Gruppierungen zustande gekommen ist.

Das RAF-Führungsquartett bildeten zweifelsohne Horst Mahler, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Ein Rechtsanwalt, eine Journalistin, eine Doktorandin und – ganz nach dem jeweiligen Betrachtungswinkel – ein Anschluss suchender Dandy, Desperado oder Kleinkrimineller. Keiner von ihnen zählte zu den zentralen Akteuren der 68er-Bewegung und niemand war mehr in einem formellen Sinne Mitglied im SDS. Insbesondere die beiden zuletzt Genannten gehörten zur Peripherie: Sie waren im Sommer 1967 so etwas wie »Satelliten der Kommune I«, wo sie im Übrigen auch das Stichwort Warenhausbrandstiftung aufgeschnappt hatten.

Deutlicher wird der Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung und dem Projekt »Stadtguerilla«, wenn man sich der ersten Gruppierung zuwendet, die im Herbst 1969 in den Untergrund gegangen ist. »Untergrund« ist hier nicht etwa in einem übertragenen Sinne als vage Metapher misszuverstehen. »Untergrund« meint Bildung einer geheim operierenden Gruppe, deren Mitglieder Waffen tragen, Decknamen benutzen und sich in konspirativen Wohnquartieren aufhalten. Genau diese Merkmale trafen auf eine aus der Berliner und der Münchner Subkultur entstandene Gruppierung zu – die aus der Bewegung der Haschrebellen hervorgegangenen Tupamaros, genauer die Tupamaros West-Berlin (TW) und die Tupamaros München (TM).10

Die Köpfe dieser beiden ersten terroristischen Organisationen waren mit Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel zwei der drei führenden Angehörigen der Kommune I. Zu den Tupamaros zählten außerdem Georg von Rauch, Thomas Weisbecker, Michael »Bommi« Baumann, Ingrid »Ina« Siepmann, Irmgard Möller, Brigitte Mohnhaupt und andere mehr. Die Berliner Kerngruppe war zuvor mehrere Wochen im Nahen Osten und hatte sich dort von El-Fatah-Kommandeuren an Waffen, dem Umgang mit Sprengstoff sowie dem Bau und der Deponierung von Bomben ausbilden lassen. Am Beispiel dieser beiden Gruppierungen lässt sich die Transformation von einer Keimzelle der antiautoritären Bewegung, der Kommune I, in ein subkulturelles Milieu und die anschließende Abkapselung zu terroristischen Kleingruppen am genauesten studieren. Das alles hatte sich bereits ein halbes Jahr vor Gründung der RAF abgespielt. Im Nachhinein lässt sich sagen, dass es sich um eine Vorstufe der späteren Bewegung 2. Juni gehandelt hat.

Die mit Abstand wichtigste Person für die Gründung der RAF war Horst Mahler.11 Er bewegte sich in der Konstitutionsphase wie die Spinne im Netz und zog die Fäden, einen nach dem anderen. Ob er dies auf eigene Rechnung oder im Auftrag getan hat, muss immer noch als offen gelten. Am 1. Mai 1969 hatte er noch zusammen mit Klaus Eschen und Christian Ströbele das Sozialistische Anwaltskollektiv gegründet.12 Im September 1969 flog er nach London, um dort Rudi Dutschke dazu zu überreden, eine bewaffnete Organisation mit aufzubauen. Dieser lehnte jedoch ab.13 Ab November hielt er engsten Kontakt mit den bereits im Untergrund befindlichen Tupamaros um Dieter Kunzelmann und Georg von Rauch. Die Kommunikation wurde zumeist im SAK abgewickelt, zum Teil aber auch an Orten außerhalb, immer jedoch nach bestimmten Regeln der Konspiration. Dies war umso erforderlicher, weil es dem Berliner Landesamt für Verfassungsschutz gelungen war, dort eine Mitarbeiterin als Sekretärin zu platzieren. Im Dezember 1969 (oder Januar 1970) flog Mahler nach Italien und überredete Baader und Ensslin, die nach Angaben Bommi Baumanns gerade dabei gewesen sein sollen, sich einen VW-Bus zu besorgen, um damit in Richtung Indien aufzubrechen, nach West-Berlin zurückzukehren.

Wenn hier die Rolle von Akteuren erörtert wird, dann sollte auch eine Frage nicht ausgespart bleiben, die die staatliche Seite berührt. Um kaum jemand anders ranken sich derartig viele Gerüchte wie um Peter Urbach, jenen Mann, der lange Zeit eine Doppelrolle spielte, indem er als Undercoveragent bereits in der Kommune I agierte und sich insofern näher als irgendjemand sonst von staatlicher Seite im Zentrum jener Strömungen befand, die sich auf ihrem Weg in den Untergrund mehr und mehr abgeschottet hatten. Der ausgebildete Klempner arbeitete ebenfalls für das Westberliner Landesamt für Verfassungsschutz.14 Er diente sich der Szene als Techniker an und spionierte sie dabei nicht nur aus, sondern instruierte einige von deren Protagonisten auch für gewaltsame Aktionen und versorgte sie für derartige Zwecke mit Waffen und Sprengstoff.

Seine Zeit war endgültig vorüber, als er am 5. Mai 1971 nicht mehr umhin kam, im Prozess gegen Horst Mahler, der wegen Beihilfe zur Gefangenenbefreiung Andreas Baaders angeklagt war, vor dem Moabiter Kriminalgericht als Zeuge aufzutreten. An diesem Tag wurde der damals 30-jährige Urbach von Mahlers Verteidiger, Rechtsanwalt Otto Schily, ins Kreuzverhör genommen. Kurt Neubauer, ein alter Intimfeind Mahlers aus gemeinsamen SPD-Zeiten, hatte seinem Verfassungsschutzagenten eine auf drei Tage beschränkte Aussagegenehmigung erteilt. Was dann folgte, war ein Wortwechsel, der in seiner Absurdität eher an ein Theaterstück Ionescos oder Becketts als an eine Zeugenaussage vor Gericht erinnerte.

Rechtsanwalt Schily: »Haben Sie persönlich im Kreis der Linken Waffen angeboten, Pistolen, Maschinenpistolen, ja sogar Mörser mit Phosphorgranaten?«

Urbach: »Ich darf die Frage nicht beantworten.«

»Haben Sie eine Bombe bei der Kommune I hinterlegt?«