Wäre Luther nicht gewesen - Michael Lösch - E-Book

Wäre Luther nicht gewesen E-Book

Michael Lösch

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Beschreibung

Die Kehrseite der Reformation Die Kehrseite der Reformation   Wie wäre die deutsche und europäische Geschichte ohne Martin Luther verlaufen? Zur Zeit Luthers hatten Renaissance und Humanismus kritisches Denken und ein selbstbewussteres Menschenbild entwickelt, die römische Kirche war mit ihrem Latein am Ende. Luthers Kritik traf ins Schwarze und hatte eine elektrisierende Wirkung auf das gesamte Abendland. Hier bot sich eine große Chance für eine grundlegende Kirchenreform. Doch Luther unterwarf den Menschen wieder der völligen Abhängigkeit von Gottes Gnade und zugleich dem Gottesgnadentum der weltlichen Herrscher. Er wurde vom Reformator zum Fundamentalisten, wetterte gegen die aufständischen Bauern, hetzte gegen die Juden und verprellte mit seinem Starrsinn Anhänger wie Gegner. Ohne ihn hätte es die Kirchenspaltung nicht gegeben. Und schon gar nicht die so verhängnisvolle Verbindung von politischer Macht und religiöser Konfession, die in den verheerenden Dreißigjährigen Krieg mündete. Ein provokativer Zwischenruf zum Luther-Jahr 2017 und ein kritischer Blick auf die Reformation und ihre Folgen  

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Michael Lösch

Wäre Luther nicht gewesen

Das Verhängnis der Reformation

Ein Thesenbuch

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

Meiner Tochter Martha, die – wie niemand sonst – mein Leben verschönert und beglückt.

Konjunktivisches Vorwort

Wäre Luther nicht gewesen, wäre die Geschichte friedlicher verlaufen. Alles war reif für den Wechsel. Es sind zunächst die Gedanken, die an die Tore der Geschichte klopfen. Länderübergreifend herrschte die Gewissheit, dass es eines Gegenentwurfs zur maroden katholischen Kirche bedürfe. Die Suche danach war lange vor Luther in Gang. Die aus Byzanz geflüchteten Humanisten hatten die Welt bereits einen großen Ruck nach vorn gebracht. Zu viele und wertvolle Ideen bevölkerten nun die Köpfe der Zeitgenossen. Die emanzipatorischen Gedanken von Pico della Mirandola oder Erasmus von Rotterdam waren unter den Gelehrten bereits Allgemeingut geworden. Kaum ein Kleriker, kaum ein Intellektueller, der die neuen Inhalte der Renaissance und des Humanismus nicht kannte. Reformatorische Vorläufer, wie etwa Jan Hus, hatten so gut wie jeden lutherischen Gedanken vorformuliert. Die Suche nach einer neuen Kirche hatte also einen point of no return erreicht. Dafür bedurfte es keines Reformators namens Martin Luther. Wieso hatte etwa der Dominikaner Savonarola mit seinen Brandpredigten schon Ende des 15. Jahrhunderts so großen Erfolg? Weil die Zeit nach Reformen und Reformatoren gerufen hat. Und Savonarola war ein kleines Licht, kein Kopf wie Luther. Er hat nur das in Gang gebracht, was schon wartete und auf jeden Fall gekommen wäre: eine Reform des Glaubens und der Kirche; möglicherweise eine, die den unterschiedlichen Verhältnissen angemessen war, in Italien, in Frankreich, England, Böhmen oder Deutschland.

Und das wäre ohne Luther friedlicher verlaufen?

Englands Trennung von Rom war alles andere als harmonisch, keine Frage, aber sie hat keinen »Weltkrieg« nach Europa gebracht, als den man den Dreißigjährigen Krieg bezeichnen kann. Den hat erst Luthers Kampfmoral entzündet. Dabei wäre es auch anders möglich gewesen. Man denke an die Abspaltung der Orthodoxen, ohne einen prominenten Neinsager à la Luther und ohne das bekannte Blutvergie- ßen. Lange vor Beginn der Neuzeit hat sich die osteuropäische Kirche in einem schleppenden Prozess von Rom abgesondert, mit Byzanz als Zentrum, gern Ostrom genannt. Ostroms Kirche reichte vom heutigen Russland über den Balkan bis Kleinasien, auch Teile Süditaliens gehörten wegen der dort ansässigen Griechen dazu.

Ostrom war schlicht der sogenannten normativen Kraft des Faktischen gefolgt: Westrom verlor über die Zeiten seine alte Macht und Stärke, und es gab die aus der Antike herrührenden Unterschiede zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen. Eine Verständigung zwischen den beiden Roms war also allein schon wegen der Sprachbarrieren schwierig.

Dann fiel 1453 Ostrom. Die Osmanen besetzten den Nahen Osten und Südosteuropa. Die byzantinischen Gelehrten setzten nach Italien über und wiesen viele neue Wege. Hinzu kommt: Westeuropa machte sich auf die Suche nach dem Rest der Welt, Afrika, Asien und die beiden amerikanischen Kontinente wurden entdeckt und erobert; die Technik nahm eine sprunghafte Entwicklung. Die Geisteselite entdeckte mit Pico die Würde des Menschen, Erasmus schrieb gegen den Krieg, Giordano Bruno ließ dem Geist Leine, die Vernunft erhob ihre Schwingen und schweifte erkundend in alle Richtungen. Nikolaus Kopernikus nahm der Erde ihre bislang behauptete Zentralstellung und setzte die Sonne in den Mittelpunkt unseres Planetensystems, Leonardo da Vinci ließ den lieben Gott im Himmel und stellte den Menschen in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit. Der sollte gesund und schön sein, fliegen und tauchen können, vor allem sich seiner selbst gewiss sein. Auch Päpste lenkten den Blick auf dieses neue rege Treiben, sie suchten die Nähe zu den großen Kundschaftern, sie begannen zu verstehen: Das ist neu. Und zukunftsweisend.

Dann kommt Luther und dreht die Zeit zurück: Er verspottet Kopernikus, die Erde hat der Mittelpunkt der Welt zu sein, so steht es in der Bibel. Sie allein zählt, und danach wird bestimmt, wie und was der Mensch zu tun und woran er zu glauben hat. Wer anders glaubt und handelt, muss mit strikter Ablehnung und Strafe rechnen. Luther beschert der Unbarmherzigkeit des Mittelalters eine Renaissance. Mit der Bibel in der Hand und der Suggestivkraft seiner Sprache überzeugt er jeden. Selbst Erasmus, der Vorsichtige, der Skeptiker, ist infiziert und geht ein Stück mit. Doch ganz gegen des Skeptikers Suche nach Balancen zwingt Luther der Geschichte ein mörderisches Tempo auf: Bauernkrieg, Hugenottenkriege und Dreißigjähriger Krieg sind die Folgen seiner revolutionären Theologie. Und auf Luthers Radikalisierung antwortet eine hochnäsige katholische Kirche mit eigener Radikalisierung: einer blutigen Inquisition. Die alte und die neue Kirche grenzen sich mit blindem Dogmatismus voneinander ab. Was ist geschehen?

Luther ist vor Kaiser und Reich getreten: Ich habe eine Überzeugung, sagt er. Ich widerrufe, wenn mir einer nachweist, dass ich falschliege. Das zeigt Wirkung, auch bei den Mächtigen. Die denken weniger theologisch, sondern eher machtpolitisch. Sie empfinden Roms Selbstherrlichkeit als demütigend. Ein Heer von romfreundlichen Gelehrten meldet sich gegen Luther zu Wort, selbst der englische König greift zur Feder. Aber Luther verlangt Beweise, sonst seien das, sagt er, nur Behauptungen, die jeder erheben könne. Seine Frage ist: Steht es in der Heiligen Schrift? Ja oder nein? Wenn nicht, ist es Menschen- und nicht Gotteswerk. Das Argument, es gehe ja nicht nur um die Schrift, sondern auch um eine große Kirche, lässt er nicht gelten, und das leuchtet vielen ein. Rom hat sich einfach zu lange und zu sehr danebenbenommen, es reicht. Die Öffentlichkeit und viele Fürsten sind bereit, sich Luther anzuschließen.

Ist Luther also ein Held? Ja, aber einer des Mittelalters! Einer, der gekommen ist, das Schwert zu bringen und nicht den Frieden, wie er betont; einer, der das dekadente Rom am liebsten in Blut ertrinkend gesehen hätte; einer, der das Abschlachten der aufständischen Bauern befürwortet, weil sie seine Bibel anders auslegen als er; einer, der fest an die Existenz des Teufels glaubt; einer, der Gott alles und dem Menschen nichts anheimstellt. Mag der Mensch noch so tugendhaft, menschenfreundlich und selbstlos sein, wenn Gott, der strenge Vater, ihn nicht mag – Pech gehabt. Ein Fanatiker, der den rechten, nämlich seinen Glauben, über alles und jeden erhebt, wie heute die Dschihadisten, die, wie Luther, die Vernichtung der Juden empfehlen. Er geht weiter: Nirgendwo steht, dass die Kirche eine Institution ist, Kirche kann auch im Herzen sein. Er nimmt den Gotteshäusern die Seitenaltäre mit ihren zahllosen Heiligen, die jedem Bergmann, Dachdecker oder Almhirten zur Seite standen, die über jedes Dorf, jeden Brückenkopf oder Hafen schützend die Hand hielten als Patron, als Schutzherr und Mittler zwischen Mensch und einem fernen Herrgott. Die Schutzheiligen gegen Hochwasser, Gluthitze, Feuer oder Dürre werden exkommuniziert, die zahllosen Himmelsfürsprecher für jeden Belang müssen – dank Luthers Schriftauslegung – verschwinden. Die Buntheit der Heiligen, die nach Region und Infrastruktur geprägte religiöse Vielfalt – alles wird hinausgefegt. Solche Vielgötterei sei Menschenwerk, Hokuspokus und Mummenschanz, sagt Luther. Theologisch gesehen, mag er recht haben (hat er?), den Menschen aber weist er den Weg in eine neuerliche Vertreibung. Nicht aus dem Paradies, aber aus einem menschlichen, durchaus erfinderischen Glauben. Dem lutherischen Menschen gelten nur die Worte der Heiligen Schrift. Dass auch die Schrift Menschenwerk ist, so wie jede Kirche, die sich mit den Zeiten ein eigenes Aussehen gibt, lässt er nicht gelten. Zu Recht wird er heute von den meisten Historikern als Fundamentalist bezeichnet. Dem Fundamentalisten eignet, zu viel steuern zu wollen. Luthers Steuerungsbedürfnis ist es geschuldet, dass er so viel – zu viel – meinte, regeln zu müssen. Er mischt sich sogar in das Verhalten der Jugend ein, die ihm zu viel tanzt. Ohne Luther aber hätten die anstehenden Aufgaben und deren Bewältigung auf verschiedenen Schultern ruhen können. Der eine hätte die Bibel übersetzt, der andere die Reform der Kirchenhierarchie vorangetrieben, der dritte hätte soziale Probleme im Auge gehabt, der vierte den Zölibat, und irgendein kleines Mönchlein hätte aus seiner naiven Vermittlung des Glaubens die schönsten Kirchenlieder geschrieben. So aber hat Luther das allein geschultert, weil ihm in diesen viel zu großen Dingen der nötige Weitblick, aber auch die christologische Durchdringung der Frohen Botschaft gefehlt hat.

Und Rom? Hätte Rom einem Treiben ohne Luther einfach zugesehen? Nein, aber es hätte wenig unternommen. Es hat ja auch gegen Luther wenig unternommen, wie viel weniger indes, wenn die Reformation dezentral, also an diesen und jenen Ecken geglüht hätte? Wir müssen uns das Weltbild der Renaissance-Päpste vorstellen, die ihren Katholizismus mehr und mehr vernachlässigten, solange sie nur die Macht behalten konnten. Diese Päpste waren eher Fürsten als heilige Väter. Den Druck auf die Kirche waren sie ohnehin gewohnt, den hatte es lange vor Luther schon gegeben. Man kann sich durchaus vorstellen, dass der eine oder andere Papst, auch aus Gründen der Machterhaltung, dem Zeitgeist Rechnung getragen und einer Multiplex-Kirche ihre geografisch-kulturellen Eigenheiten zugestanden hätte.

Es hat damals viele Überlegungen gegeben, die in die Zukunft wiesen. Eine Zukunft, in welcher der Mensch und nicht mehr nur Gott im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen würde. Der Humanismus erstrebte vor allem eines: Emanzipation und Freiheit des Menschen, denen sich Luther mit aller Macht entgegenstellte. Wenn wir also einen zweiten, größeren Helden neben Luther suchen, dann ist es die Zeit selbst, die allgemeine Entwicklung, die Fülle der neuen, aus der Vernunft resultierenden Gedankenbilder. Nicht zu vergessen die Entdeckung der Neuen Welt, die Gründung einer ganz neuen europäischen Zivilisation, die dann 250 Jahre später die Menschenrechte in ihre Verfassung setzen wird. In dieser Zeit des allgemeinen Fortschritts aber ragt aus allem ein Einzelmonolith hervor: der Buchdruck. Der Buchdruck eröffnet den pluralistischen und demokratischen Diskurs. Was in einer Region zensiert oder verboten wurde, kam in der Nachbarschaft an die Öffentlichkeit. Nie zuvor ist der Durchschnittsmensch mit einer solchen Fülle an Informationen versorgt und zu einer eigenen Stellungnahme ermutigt worden. Man kann das als Beginn des Informationszeitalters bezeichnen, dessen Geschichte noch heute fortgeschrieben wird. Ohne den Buchdruck hätte Luther keine solche Wirkung gehabt, denn gerade er hat es wie kaum ein anderer verstanden, seine Revolte sprachmächtig und überzeugend für die Öffentlichkeit zu formulieren. Mit einem Wort: Luther war right place, right time. Wäre er früher in die Welt getreten, wäre er bestenfalls ein Jan Hus, Wilhelm von Ockham oder John Wyclif gewesen. Erst durch den Buchdruck sind die Mittel zur Hand, um eine neue Kirche zu gründen. Während sich seine Vorläufer an den Zentren des europäischen Geisteslebens aufhielten, saß Luther, wie er selbst sagte, am Rande der Zivilisation. Der Buchdruck nimmt diesem Rand seine Beschränkung. Ohne die Möglichkeit der massenhaften Publikationen wäre Luthers Suche nach einem Gegenentwurf zum römischen Katholizismus im Sande verlaufen. So aber kann ein großer, in der Provinz wirkender Prediger mit Hilfe medialer Präsenz der Welt die Pistole auf die Brust setzen. Sie muss sich entscheiden, und hat das auch getan. Ohne Buchdruck wäre das nicht möglich gewesen. Und ohne Luther…? Der Buchdruck – nie wählerisch – hätte die zweite Riege der Reformatoren ebenso populär gemacht wie Luther. Denn alle Welt wartete auf das eine Wort, auf das Nein. Und die zweite Riege, der Luthers Kraft und Ausdauer fehlte, hätte nicht revolutioniert, sondern reformiert, mit Erasmus und Philipp Melanchthon an der Spitze. Die Geschichte der Reformation wäre also anders, wahrscheinlich langsamer verlaufen. Und weniger blutig. Zumindest das sadistische Abschlachten von mindestens 75 000 Bauern ist ohne Luther fraglich. Reformen sind friedfertiger als Revolutionen mit ihren blinden menschenverachtenden Gewissheiten. Noch einmal: Luther war kein Reformator, sondern ein Revolutionär, das hat er mit seiner Rücksichtslosigkeit und Intransigenz bewiesen. Als hochbegabter Publizist hat er mit den neuen Mitteln der Vernunft (und diese konterkarierend) der Versenkung im Glauben das Wort geredet. Die nachmittelalterliche Aufklärung, die wir Neuzeit nennen, wäre ohne diesen der Auseinandersetzung zugeneigten Luther friedlicher verlaufen. Daran kann kein Zweifel bestehen.

Mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 aber, wonach es Sache des Landesherrn war, die Religion seiner Untertanen zu bestimmen, kam es dann zu einer geistigen und geistlichen Vergewaltigung des Einzelnen, die man sich für unsere Gegenwart besser nicht vorstellt. Luthers Lehre hat dort gewirkt, wo die Zeit und ihre Menschen noch nicht reif waren, in Deutschland, und hat dort, wo alles überreif von den Bäumen hing, in Italien, die Ernte verhindert. Gerade hier, im damals fortschrittlichsten Land der Welt, wird Luthers Lehre als zu hart, zu unaufgeklärt abgelehnt. Eine solche Reformation will man nicht, sie ist zu lebens- oder menschenfeindlich. Und so wird ausgerechnet in Italien die längst hinterfragte Stellung des Papstes wieder gefestigt.

England geht einen eigenen reformatorischen Weg. Der Brexit des englischen Königs vollzieht sich aus einem sehr einfachen Grund, ihm war die Macht des Papstes hinderlich geworden. Heinrich VIII., seines Zeichens ein überzeugter Katholik, schafft sich per Handstreich seine eigene, romfreie Kirche, die sich im Lauf der Jahrhunderte – wie die Lutherkirche nicht zölibatär – durchaus konsequent weiterentwickelt hat. Gut vorstellbar, dass sich Heinrichs neue Kirche über Norddeutschland und die skandinavischen Länder ausgebreitet hätte. Und ungeachtet des anglikanischen Einflusses hätte es auch aus Italien renaissancehaft-hell in den Norden geschienen, aus der Schweiz vielleicht nicht gar so freudlos, aus Frankreich imperial bombastisch, wie es Heinrichs England vorgemacht hat, aus Spanien stolz und gemessen, aus Deutschland diskussions- wie kompromissorientiert, aus Skandinavien monarchisch von oben, aus Böhmen eigensinnig konsequent. Und bei diesen möglichen Lichtquellen soll hier noch auf einen besonderen Aspekt unserer Spekulation hingewiesen werden: die massenhafte Auswanderung nach Amerika. Amerikas Kirchen hätten sich sehr wahrscheinlich auch ohne den Wittenberger in zahlreichen, großen und kleinen Reformationen erneuert. Ein scheckiges Freikirchentum, eine ziemlich freie amerikanische Ladung evangelischer Konfessionen hätte sich langsam aber sicher über Europa ergossen, mit laut und feurig gefeierten Gottesdiensten, mit einem Liederkanon, der bis in die Unterhaltungsmusik unserer Tage gereicht hätte, wo Gott noch bei seinem lebendigen Namen gerufen worden wäre, ohne das alte katholische Geleier europäischer Protestanten. All das hätte die kirchliche Welt unbekümmerter und leichter werden lassen können – wäre Luther nicht gewesen.

Freilich, auch der Einfluss der Neuen Welt wäre mit Konflikten verbunden gewesen. Ob es indes ohne Luther zu einer Katastrophe wie jener des Dreißigjährigen Krieges gekommen wäre, sei zumindest einer ungebundenen Spekulation anheimgestellt, die vor allem fragt: Wie nachhaltig hat Luthers Entweder-oder-Denken polarisiert? Wie sehr hat seine Kompromisslosigkeit ein Gesetz von Gewalt und Gegengewalt etabliert? Gilt Luthers Katholiken- und Judenhass nicht stellvertretend jedem, der einen »falschen« Glauben hat?

Und wie hat der lutherisch-richtige Glaube individuell gewirkt? Er hat das erfolgreiche, in seiner Privatheit durchaus glaubwürdige und produktive evangelische Pfarrhaus errichtet. Es kann sich in der Tat sehen lassen. Gotthold Ephraim Lessing, Georg Christoph Lichtenberg, Albert Schweitzer, Malcolm X und Angela Merkel sind Pfarrerskinder. Auch der Gott-ist-tot-Verkünder Friedrich Nietzsche gehört dazu.

Häufig wird Max Webers große Darstellung der protestantischen Ethik nur als Erfolgsgeschichte verstanden: Der lutherische Glaube sei Motor für den wirtschaftlichen Erfolg. Der typische Protestant hätte über die Freiheit seines neuen Denkens den kapitalistischen Unternehmungsgeist beflügelt, aus der Reduktion auf das Eigentliche des Glaubens sei eine Reduktion auf das Eigentliche im Leben erwachsen und das seien Ernst, Fleiß und Disziplin. Darüber ist viel gestritten worden. Aufs Konto der Weber-Gegner geht, dass es zunächst die Italiener waren, die trotz ihres Katholizismus’ Erfolg hatten und die ersten Kapitalisten wurden. Und es waren zunächst die katholischen Könige und ihre Seefahrer, die aus kapitalistischen Erwägungen Kolonien gründeten. Die Weber-Anhänger weisen hingegen auf empirische Fakten, wonach in den USA die Protestanten wirtschaftlich erfolgreicher seien als die Katholiken. Das hieße dann vielleicht auch: Wäre Südamerika protestantisch, wäre es auch wirtschaftlich, sprich kapitalistisch, erfolgreicher. Der Psychoanalytiker Tilmann Moser setzt in seiner eindrucksvollen Bekenntnisschrift ›Gottesvergiftung‹ einen interessanten, vielleicht ungewollten Akzent hinzu: »Da du (Gott) ein unerkannt großartiger Gott warst unter den Katholischen, die meine Familie gleichzeitig anstaunte, beneidete und verachtete, musste ich im Verhalten beweisen, dass du der bessere Gott seist. Welch geniale Identifikationsschlinge hast du da um meinen Fuß gelegt: Ich war mitverantwortlich für deinen Ruhm, für den historischen Sinn der Reformation, ich musste mitbeweisen, dass Luther recht hatte, wenn er Papst und Weihrauch und Ablass aus seiner Kirche hinauswarf.« Den Faden weiterspinnend könnte man sagen: In einer materialistischen Welt lässt sich der Beweis für den besseren Glauben trefflich mit einem Mehrerwerb an materialistischen Gütern führen.

Zugleich steht Moser in der langen Reihe selbstquälerischer Protestanten, die hängenden Kopfes den lutherischen Gott nicht mehr ertragen können. Der Psychoanalytiker hat an seinem Glauben schwer gelitten: »Du (Gott) haustest in mir wie ein Gift… Du bist in mich eingezogen wie eine schwer heilbare Krankheit… Ich habe dir schreckliche Opfer gebracht an Fröhlichkeit, Freude an mir und anderen …«. Man mag das als persönliche Erfahrung einer blind-religiösen Erziehung interpretieren, an anderer Stelle aber rechnet Moser mit der von Luther erhobenen Prinzipienhoheit ab: Sein Gott sei »eine Normenkrankheit, eine Krankheit der unerfüllten Normen«. Und in Bezug auf Luthers Lehre des Ausgeliefertseins an Gottes Gnade schreibt Moser: »Fast zwanzig Jahre lang war es mein oberstes Ziel, dir (Gott) zu gefallen. Das bedeutet, dass ich immer und überall Schuldgefühle hatte. Belustigt haben mich Freunde immer wieder auf einen Mechanismus hingewiesen: Ich war zu Besuch, fühlte mich wohl, hatte aber ein schwer greifbares Gefühl, vielleicht doch Fehler gemacht zu haben […] Es war eine fundamentale Unsicherheit in mir, ob ich nicht etwa Normen verletzt hätte. Du hast mir gründlich die Gewissheit geraubt, mich jemals in Ordnung fühlen zu dürfen, mich o. k. finden zu können.«

Der anerzogene protestantische Ernst mit seiner Freudlosigkeit hat da einen ungeschützten jungen Menschen in die Verzweiflung angesichts eines Gottes getrieben, der alles entschieden hat. Mit seiner Prädestinationslehre verkündete Luther einen Allmächtigen, der von Anbeginn bestimmt hat, ob man zu den Geretteten oder den Verdammten gehört. Moser überfällt »eine entsetzliche Lähmung, weil alles (!) aussichtslos erschien«. Und erschüttert liest man, was ihn umtreibt, einen, den man ohne jede Herablassung und mit großem Mitgefühl als armes Schwein bezeichnen kann: »Dein Hauptkennzeichen für mich ist Erbarmungslosigkeit. Du hattest so viel an mir verboten, dass ich nicht mehr zu lieben war.« Welch eine bittere Schlussfolgerung: »dass ich nicht mehr zu lieben war«!

I Zeitpanorama

Janusköpfige Zeit

Was prägt jene Zeit, die man mit Humanismus und Glaubenskampf überschreibt? Jacob Burckhardt staunte über die Erhellungen durch das Studium der Antike, über den generellen Neustart aus eigener, menschlicher Kraft, befreit von den alten, klerikalen Konstrukten. Er spricht von Wiedergeburt und hat insofern recht, als sich ab 1300 – Italien macht den Anfang – tatsächlich viel tut. Es ist, als drehte sich die Welt schneller, vielerorts leuchtet sie, als erwachte sie endlich aus dem Jahrhunderte währenden Schlaf der Vernunft. Das ist die eine Seite. Die andere ist immer noch sehr dunkel. Nicht allein, weil Luther im Licht stehend schreckliche Schatten wirft, sondern weil auch Gott genau jener zu sein scheint, den Luther als gnadenlos fürchtet. Der Mensch wird nicht nur wach-, er wird auch grausam durchgerüttelt. Er mag sich größer denn je fühlen und wird kleiner denn je gemacht. Geht ihm hier ein Licht auf, kommt dort die größte Finsternis über ihn, da, wo er an sich zu glauben beginnt, belehrt ihn Gott eines Schlechteren, dort, wo er sich befreit, wird er nach Sodom und Gomorrha deportiert, auf dass ihm klar sei, wer hier letztlich das Sagen hat. Wer die vor- und die nachlutherische Zeit erfühlt, hat vor allem zwei Empfindungen: Staunen und Schaudern. Man bestaunt den diesseitsfrohen Giovanni Boccaccio, die abendländischen Weisen Pico della Mirandola, Erasmus von Rotterdam oder Giordano Bruno, man betrachtet die Männer der Macht und des Geldes, die Sforza, Medici oder die Fugger. Zugleich schaudert man angesichts der Unbarmherzigkeit eines Hernán Cortés oder der Brüder Pizzaro, die ganze Völker und Kulturen vernichten. Man schaudert beim Anblick der Heimsuchungen Gottes: Dürre, Hochwasser und Pest zwingen Europas Menschen in ein Delirium, das unmenschlicher und verblendeter nicht sein kann. Auf der Suche nach einem Sündenbock geht man in Christi Namen mit einem Sadismus vor, als wäre Christus nicht der Botschafter der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, sondern der Prototyp der menschgewordenen Bestie. Hinzu kommt die Frage nach der Konfession, dem rechten Glauben; sie ist – wie soll man es anders nennen? – die Pest, der schwarze Tod des Herzens. Seit Luther entscheidet die Frage nach der richtigen Weltanschauung über Leben und Tod, sie bringt eine Verhärtung der Fronten und daraus die blinde Verfolgung Andersgläubiger. Und das reicht bis zu Adolf Hitler und Josef Stalin und darüber hinaus.

Streunen als Erkundung

Kennt das klassische Mittelalter das Reisen vor allem als ritterliches Abenteuer, als Aventiure, schickt sich die Neuzeit an, auch weniger Hochgestellte in die Welt zu führen. Der Chronist seines eigenen Lebens, der Südtiroler Oswald von Wolkenstein (1377?–1445) verlässt als Zehnjähriger sein Zuhause, um als Knappe zu dienen. Er stolpert durch ein Leben voller Unwägbarkeiten und Katastrophen und endet als hochdekorierter Freund des Kaisers.

Wolkenstein ist nicht nur ein Idealtyp der neuen Zeit, sondern auch der frühe Gegenentwurf zu Luthers Leben und Persönlichkeit. Wo sich Luther in die dunklen Klausen des Augustinerklosters zurückzieht, tritt Wolkenstein den Weg an in eine Welt, die so angenommen wird, wie sie ist. Während Luther sich in eine Zelle einschließt, öffnet sich Wolkenstein zu einer weiten und vorurteilslosen Ausschau. Plagt sich Luther mit durchaus zeittypischen Ängsten, lässt Wolkenstein sie fahren. Auch er kennt die Verzweiflung angesichts der jenseitigen Schrecken, doch ist seine Diesseitslust größer als die Sorge um sein Seelenheil. Er weiß das und richtet sich positivistisch denkend danach ein. Die Welt ist, wie sie ist, man nehme sie an und mache es nach Möglichkeit gut. Luther foltert sich mit dem befürchteten Zorn des Allmächtigen, Wolkenstein kommt unter die Folter eines weltlichen Gerichts, wendet sich dann aber desto lustvoller einem bewegten Leben in der weiten Welt zu. Eines seiner Gedichte listet etliche der bereisten Gegenden auf: die Barbarei (Land der Berber), Arabien, Armenien, Persien, das Land der Tataren, Syrien, die Romanei (Ostrom, Byzanz), das Türkenland, Ibernien (Georgien), Preußen, Russland, Eifenland (Estland), Letto (Lettland), Livland (Litauen), Tennmark (Dänemark), Sweden, Prabant und so weiter. Er durchmisst so gut wie ganz Europa, den Nahen Osten und Nordafrika. »Ich wollte sehen, wer die Welt wie gestaltet«, meint er faustisch.

Vermutlich auf Burg Schöneck im Pustertal als Angehöriger des niederen Adels geboren, hat Oswald als zweiter Sohn keinen Anspruch aufs väterliche Erbe und zieht als Knappe, wohl in der Obhut eines Deutschordensritters, durch die Welt. Er beteiligt sich an Feldzügen und kriegerischen Handlungen, anfangs in niederer Stellung; wahrscheinlich ist sein erstes Pferd gestohlen und eigentlich ein Maultier. Er kämpft mit seinem erzürnten Bruder, weil er dessen Frau bestohlen hat, und wird mit dem Schwert verletzt. Weil er sich an einem Putsch gegen den Tiroler Herzog Friedrich IV. von Österreich beteiligt hat, wird er gefangen genommen, einem peinlichen Verhör unterzogen und dem Landesherrn übergeben, der ihn gegen ein hohes Lösegeld freilässt. Wolkenstein opponiert weiter und unterwirft sich erst nach sechs Jahren dem missliebigen Herzog – als letzter der Adelsfrondeure.

Zur Erfahrung seines Lebens gehört, dass er als Schiffbrüchiger im Schwarzen Meer zusammen mit einem Russen auf einem Weinfass überlebt. In ironischer Kontrastierung beschreiben seine Lieder sein »törichtes« Leben, ein virtuos inszeniertes Stück Selbstdarstellung. Das Lied »Es fügt sich« weist ihn als einen Mischtypus der Neuzeit aus, halb Simplicissimus, halb Kolumbus: »In Fremde und Elend, in mancherlei heißen und kalten Winkeln habe ich gelebt, bei Christen, Orthodoxen, Heiden. Drei Pfennig in dem Beutel und ein Stücklein Brot waren mein Reisegeld. Durch falsche Freunde hab ich viele Tropfen Bluts vergossen, ich glaubte schon, ich müsste sterben. Laufbursche, Koch war ich und Pferdeknecht, auch Ruder zog ich – das tat weh.« Auf einer Insel Nios will er 400 Frauen ohne einen einzigen Mann erlebt haben, kein Mensch habe ein schöneres Bild gesehen, meint er, aber er bleibe gleichwohl der Angebeteten treu: »Ach Gott, wäre ihr nur halbwegs meine Last bewusst … Ihr Knaben, Mädchen, bedenkt, welch Leid die Liebenden ertragen!« Vierzig Jahre ist er bereits in »wütende Kämpfe« verstrickt und hält sich des ungeachtet an die Dichtkunst und den Gesang. Er lässt sich von der schönen und lieblichen Königin von Aragon piercen, man lacht ihn aus, und als der Kaiser das sieht, schlägt er ein Kreuz und fragt verstohlen, ob das nicht wehgetan habe. Pralle Sinnesfreude paart sich mit banger Jenseitserwartung. Mal liebt er die Welt, mal verachtet er sie. Letztendlich schöpft er, stellvertretend für die beginnende Neuzeit, nur die dargebotenen Möglichkeiten aus. Er hat Minnedienst geleistet, aber, das klassische Bild brechend, nicht an einer Angehörigen des Hofes, sondern an einer Brixener Schulmeisterstochter. Schließlich heiratet er eine schöne, gebildete und wohlhabende Frau. Sie hat eine wunderbar klare Stimme, und er verfasst für sie die schönsten seiner Liebesduette. Sieben Kinder werden geboren. Zwiespältig schreibt er: »Ich, Wolkenstein, lebe wahrlich bar aller Vernunft.«

Er erlebt das Konstanzer Konzil (1414–1418), steht im Dienst des Hus-Verräters Sigismund, der ihn als Gesandten bis Nordafrika schickt, wo er an der Eroberung der maurischen Stadt Ceuta (gegenüber von Gibraltar) teilnimmt. Er begleitet Sigismund zur Kaiserkrönung nach Rom. Hier hat er, schätzt man, das aus der Innsbrucker Handschrift bekannte Porträt fertigen lassen, das ihn als einäugigen Edelmann zeigt, von schlechter Ernährung gekennzeichnet, wie wir das bei vielen anderen Bildnissen dieser Zeit, auch jenem Luthers, kennen. Wolkenstein stirbt mit 68 Jahren. Damals ein hohes Alter, vor allem angesichts der Strapazen, die ihn begleiteten. Vom einfachen Steigbügelhalter hatte er es zur Position eines Diplomaten und Emissärs gebracht.

Seine versteckte Gottesferne ist im 14./15. Jahrhundert noch äußerst selten. Nur einige Vaganten und entlaufene Mönche deuten eine individuelle Gottesgleichgültigkeit an, etwa, wenn der kriminelle Streuner François Villon (1431–1463) vor seiner befürchteten Hinrichtung schreibt: »Ich bin François, was mir Kummer macht,/gebürtig aus Paris …,/ von dem ellenlangen Strick/wird mein Hals erfahren,/was mein Hintern wiegt.«

Das sind rotzige Bekenntnisse zu einem Leben und Sterben außerhalb des Glaubens, zu einer nahezu existenzialistischen Auffassung. Die Welt draußen wird erfahrbarer und scheint für jeden etwas anzubieten. Folgt der Dichter Villon noch den Vorgaben eines lyrischen Vagantentums, brechen materialistisch spekulierende Seefahrer zu weit entfernten und völlig unbekannten Ufern auf. Neue Zivilisationen werden entdeckt und unters Schwert gezwungen. Eine Zeit kalter Mitleidslosigkeit erreicht mit den neuen Welterschließungen einen Höhepunkt, immer und konsequent unter der Legitimation des Kreuzes.

Der Anfang der Entdeckungen – das Ende der Entdeckten

Mit der Eroberung der Kanarischen Inseln durch die Spanier beginnt die Zeit der geografischen Entdeckungen und des Kolonialismus. Die Unterwerfung riesiger Reiche mit geringsten Mitteln geht einher mit riesigen Opfern der Entdeckten. 1443 kehren die Portugiesen erstmals mit afrikanischen Sklaven heim. Auf der Suche nach einem Seeweg nach Indien umsegelt 1488 Bartolomeu Dias (1450?–1500) die Südspitze Afrikas. 1492 entdeckt Christoph Kolumbus (1451?–1506) Amerika. Vasco da Gama (1469?–1524) setzt Dias’ Unternehmung fort und erreicht Indien. Er ist der erste Europäer, dem das per Schiff gelingt. Mit großer Ladung kostbarer Gewürze, vor allem Pfeffer, der einen ähnlich hohen Wert hat wie Gold, trifft der Seefahrer in Lissabon ein, wo ihm ein triumphaler Empfang bereitet wird. Als Luther ins Kloster geht, erscheint Vasco da Gamas Reisejournal gedruckt und auf Deutsch in Nürnberg. Für Waren- und Finanzströme gibt es nun neue Handelswege, Lissabon und später Antwerpen werden global agierende Handelsmetropolen. Nicht nur Gewürze, auch allerlei asiatische Waren finden sich auf den europäischen Märkten. In Spanien bricht der Portugiese Ferdinand Magellan (1480–1521) zu einer Reise auf, die ihn binnen zwei Jahren um die Erde führen wird. Während Luther 1520 seine drei wichtigen Schriften ›An den christlichen Adel‹, ›Von der Babylonischen Gefangenschaft‹ und ›Von der Freiheit eines Christenmenschen‹ veröffentlicht, erobert Hernán Cortés (1485–1547) Mexiko. Aufgrund einer aztekischen Prophezeiung über die Rückkehr eines hellhäutigen und bärtigen Gottkönigs wird Cortés für einen Abgesandten des Himmels gehalten und mit Ehren empfangen. Der Aztekenherrscher Moctezuma beschenkt die Spanier zur Begrüßung freundlich naiv mit enormen Mengen an Gold und Edelsteinen. Er hofft, sie gnädig zu stimmen. Nolens volens verbündet er sich mit dem unerbittlichen Cortés, dessen Geisel er ist. Später wird er dafür von seinen Untertanen, den aufgebrachten Bewohnern der Hauptstadt Tenochtitlán, gesteinigt. Die Spanier werden in der »traurigen Nacht« zwar aus der Stadt vertrieben. Nach dreimonatiger Belagerung aber fällt sie in die Hände der Eroberer zurück. Cortés lässt die Aztekenmetropole dem Erdboden gleichmachen. Auf den Ruinen wird Mexiko-Stadt erbaut. Die weitere Annexion Mexikos ist von widerlichen Grausamkeiten an der einheimischen Bevölkerung begleitet. Von den etwa 15 Millionen Einwohnern leben 100 Jahre später noch etwa drei Millionen. Waren die Opfer nicht im Kampf gefallen, starben sie an dem aus Europa eingeschleppten Grippe erreger, mangels entsprechender Abwehrkräfte.

Ab November 1532 erobern die Brüder Hernando und Francisco Pizarro mit nur 200 Soldaten das im heutigen Peru liegende Inka-Reich. Durch einen Hinterhalt bringen die Spanier den Herrscher Atahualpa in ihre Gewalt und ermorden ihn, nachdem er den Konquistadoren einen Raum mit Gold und zwei Räume mit Silber übergeben hat. Der geringen Truppenstärke der Spanier stehen mindestens 20 000 Inkas gegenüber. Dass sie dennoch besiegt wurden, lag am ungewohnten Anblick der Pferde und dem Krach der Feuerwaffen. Auch hier spielte die Hautfarbe der Spanier eine Rolle, Weiß war für die Inka die Farbe des Schöpfergottes, gegen den man nicht aufbegehrt. Im November 1533 nehmen die Spanier Cuzco, die Hauptstadt des Inka-Reiches, ein und stecken sie in Brand. 1535 gründen die Eroberer die neue Hauptstadt Ciudad de los Reyes, das spätere Lima.

Das Ende der Indiokultur führt in eine neue Katastrophe. Weil mit der Vernichtung der Indios billige Arbeitskräfte fehlen, greifen die Konquistadoren nach Afrika aus und kaufen dort Sklaven als »Nachschub«. Während Luther 1534 seine deutsche Bibelübersetzung herausgibt, schickt sich das christliche Abendland an, unter der Hoheit des Erzbistums Funchal auf Madeira die Diözese Goa zu errichten. Das Gebiet hat eine Ausdehnung vom Kap der Guten Hoffnung bis nach Japan. In Luthers Lebenszeit fallen die Umschiffung Afrikas, die Kolonisierung Indiens, die Kolonisierung Süd- und dann Nordamerikas und teilweise sogar Japans. Geholfen haben dabei die neuen technischen Hilfsmittel.

Erfindungen fast symbolisch – Kompass, Schießpulver, Turmuhr, Buchdruck

Man stellt sich manchmal die vielleicht müßige Frage, ob neue Erfindungen die Zeit bewegen oder ob die bewegte Zeit die neuen Erfindungen herbeizwingt. Die großen geografischen Entdeckungen jedenfalls bedienten sich einer Technologie, die gewissermaßen kommen musste. Hatte sich der Seefahrer früher, als er noch küstennah umhersegelte, an Sonne, Sternen und Landmarkierungen orientiert, führte die Erfindung des Magnetkompasses zu einer wesentlich verbesserten Richtungsbestimmung auf hoher See. Bis es so weit war, erlebte das Ur-Navi eine technische Vorform, den sogenannten nassen Kompass. Er war ungenau und kam nicht zu breiter Anwendung. Um 1400 setzen europäische Seefahrer die über einer Windrose schwebende Kompassnadel in ein festes Gehäuse, ein bedienungsfreundliches Instrument, das ein bis dahin unerreicht präzises Navigieren ermöglicht. Der umtriebige Leonardo da Vinci macht einen praxisgerechten Verbesserungsvorschlag: den Einsatz einer kardanischen Aufhängung. So wird die Funktionsfähigkeit des Kompasses auf dem unruhigen Schiff verbessert. Die Aufhängung findet sich auch in der Kombüse. Der Kochherd hält sich damit immer gleich gerade, die Schwankungen der Fahrt auf hoher See werden ausgeglichen.

Verwunderlich freilich ist das vergleichsweise späte Aufkommen einer anderen technischen Neuerung, des Fernrohrs. Zweihundert Jahre musste die Seefahrt warten, bis dieser Fernseher der Schifffahrt seine Dienste erweist; erst ab 1608 kommt es zum Einsatz und dient zunächst der unchristlichen, nämlich kriegerischen Seefahrt. Die aufstrebenden Niederländer setzen das Fernglas gegen die feindlichen Spanier ein.

Auf dem Festland wird zur Orientierung auch in die Ferne gesehen, auf eine der Windrose ähnliche Scheibe. Die neu erfundenen Turmuhren machen dem Menschen nicht nur die getaktete Zeit, sondern auch die eigene Endlichkeit bewusst. Nicht zufällig findet sich die gute alte Sanduhr mit penetranter Regelmäßigkeit in den damaligen Totentanzdarstellungen. Um zu veranschaulichen, wie kurz die irdische Existenz vor Gott sei, hält der Ablasshändler Johann Tetzel (1465?–1519) sie bei seinen Predigten parat. Sehet, könnte er der Bibel folgend gesagt haben, unser Leben währet siebzig Jahr’, und wenn’s hochkommt, so sind’s achtzig, und es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. Der furchtsame Gläubige bekommt nun statt der Sanduhr die Turmuhr vorgesetzt, sie ist immer sichtbar, wo immer er steht. So wird Stunde um Stunde die Zeitlichkeit des Menschen so unerbittlich wie übersichtlich vorgeführt. Die Verbreitung der astronomischen Uhren zwingt ihn dann auch noch zum weltanschaulichen Hochsprung. Über die Tageszeit hinaus zeigt das Zifferblatt die Stellung von Sonne, Mond und Sternen. Der Blick hebt sich über den eigenen Tellerrand, über den eigenen Horizont, von den irdischen richtet er sich auf die planetarischen Verhältnisse. Und: Weiß der Teufel, ob Gott dort draußen wirklich wohnt. Angesichts der Legendenkultur ist gut vorstellbar, dass etwa die Astronomische Uhr am Altstädter Rathaus in Prag 1410 ein weit stärkeres Faszinosum war als heute. Diese Uhr gehört nicht allein zu den großen technischen Wunderwerken der anbrechenden Neuzeit. Mit ihrer Position an einem weltlichen Gebäude zählte sie die ersten Stunden einer Zeit, da der Einzelne die Käseglocke religiöser Bestimmung nicht nur verlassen durfte, sondern beunruhigenderweise verlassen musste. Mit seinem technischen Können erhob sich der Mensch aus seiner vermeintlichen, lang verkündeten Minderwertigkeit ein Stück weiter vor Gott empor. Dem einen mochte das Genugtuung bereiten, dem anderen machte das Angst.

Beängstigend war auch das aus China stammende Schießpulver. Im Hundertjährigen Krieg kommt es zum Einsatz. Der Mensch wird genauso laut wie Gott. Die mittelalterliche Kriegführung des gepanzerten Ritters mit Pferd und Lanze weicht jener des mit einer Handfeuerwaffe bewehrten Söldners. Und weiter hinten lauern statt der Bogenschützen donnernde Kanonen. So hörbar wie diese war bisher nur der Allmächtige. Je lauter und größer des Menschen Kanonen, umso größer deren Vergötterung, dann deren Befürchtung. Hatte der Eintritt des fabrizierten Knalls in die Welt noch die Komponente eines bubenhaften Triumphs, erkennt man entsetzt dessen Zerstörungskraft. Unter Gott war der Knall eher Allegorie, unter des Menschen Herrschaft wird er Terror. Es läuft darauf hinaus: Es ist nicht Gott, der richtet, sondern der Mensch.

Auch stille Neuerungen kommen. Einige Jahre nach Luthers Tod wird der Bleistift als portables Schreibgerät populär. Heute ist er nicht mehr aus Blei, sondern aus Grafit. Gegen Tinte und Federkiel hat er allerdings keine Chance. Immerhin ergänzt er den Silberstift, der speziell präpariertes Papier braucht und zumindest anfangs blass bleibt, bis der Strich des Silbers auf dem mit Schwefel versetzten Papier nachdunkelt. Und gegenüber der Tinte hat der Bleistift doch einen entscheidenden Vorteil: Er reagiert auf den kleinsten Druck. Die Blüte der Bleistiftzeichnung erlebt dann allerdings erst das 19. Jahrhundert.

Ab 1450 setzt sich die folgenreichste technische Erfindung seit dem Rad (und vielleicht dem Papier) durch, der Buchdruck. Nichts drückt die Zeit mehr vorwärts. Zu Recht wird Johannes Gutenberg (1400?–1468) als der Mann der Zeit verstanden. Er ist kein Erfinder, er ist ein Geschäftsmann, der auf der Suche nach Rationalisierung auf die beweglichen und wiederverwendbaren Lettern stößt. Keine andere Neuerung hat einen derart umstürzlerischen und folgenreichen Charakter. Ohne den Buchdruck ist die einsetzende Aufklärung des Menschen undenkbar – und seine Verdunkelung. Gedruckt wird nicht nur, was emanzipiert, auch Hass- und Hetzschriften gegen wehrlose Minderheiten und Außenseiter finden den Weg in die Öffentlichkeit. Nun beginnt, was sich Gutenberg nicht hat träumen lassen: das Informationszeitalter. Der Lehr- und Forschungsbetrieb wird in neue, sehr breite Bahnen gelenkt. Das Geschäft blüht; gedruckt wird alles, was Geld bringt, Religiöses, große Werke der Antike und des Mittelalters, auch Flug- und Streitschriften. Selbst der Ablasshandel wird per gedrucktem Flugblatt belebt. Neue Nachrichten verbreiten sich für damalige Verhältnisse mit atemberaubender Geschwindigkeit. Der frühere Hauptinformant, die Kirche, wird entscheidend zurückgedrängt. Ihr Meinungsmonopol schwindet. Ab jetzt ist Information und Bildung nicht mehr dem lesenden und schreibenden Klosterinsassen vorbehalten, sie gehört bald jedem. Keine andere technische Entwicklung hat eine durchschlagendere politische Wirkung. Ohne sie hätte es Luther kaum zu dieser Popularität bringen können, er wäre ein Gelehrter mit begrenztem Wirkungskreis geblieben. Berechnungen zufolge werden bis zum Ende des 15. Jahrhunderts 40 000 Buchtitel mit einer Gesamtauflage von acht Millionen Exemplaren veröffentlicht. Das wirkt auf die Zeitgenossen wie heute der Siegeszug des Internets. Die Bevölkerung schickt sich an, selbst zu urteilen, Luthers Bibelübersetzung erreicht eine Verbreitung, wie sie vorher undenkbar gewesen wäre. Eine schon um 1330 entstandene, durchaus gelungene Bibelübersetzung hätte bei entsprechender Multiplikation eine ähnliche Wirkung haben können. Jetzt kennt man nicht einmal den Namen des Übersetzers und nennt ihn einfach und unschön: OBÜ – den »Österreichischen Bibelübersetzer«. Seine Arbeit wurde im 20. Jahrhundert wiederentdeckt. Wie Luther will auch OBÜ mit seinem reich illustrierten und sprachlich virtuos gehaltenen Werk dem Durchschnittsmenschen die Heilige Schrift in der Alltagssprache näherbringen; wie Luther scheint er der Überzeugung, jeder solle selbst seinen Gott lesend finden. Und das knapp 200 Jahre vor dem Wittenberger. Hier zeigt sich bereits indirekt der Gedanke, die Heilige Schrift bedürfe keiner Auslegung. Doch zu dieser Zeit fehlte noch Gutenbergs Technik medialer Massenverbreitung. Vielleicht hätte der Reformator dann nicht Luther geheißen, und OBÜ hätte einen klangvolleren Namen bekommen. Auch die in Prag auf Deutsch geschriebene Wenzelsbibel von etwa 1390 sei erwähnt. Sie war eine Auftragsarbeit des böhmischen Königs und sollte dem Nichtlateiner die Glaubensgeschichte nahebringen. Oder die Lübecker Bibel, die ein Vierteljahrhundert vor Luther entstand. Auch sie ist ein durchaus gelungenes und überzeugendes Dokument religiöser Erbauung auf Deutsch. Sie besticht mit ausführlichen Kommentaren, einem perfekten Schriftbild und 152 kunstvoll in den Text eingefügten Holzschnitten und Initialen. Doch fast kein Mensch kannte sie. Die Zeit wartete auf Gutenberg.

Neues Denken teuer bezahlt