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Blake Gopnik

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Beschreibung

Die definitive Biographie

Andy Warhol ist der bekannteste Künstler der Pop-Art. Seine knallbunten Bildserien von Suppendosen, Bananen oder Hollywood-Stars wie Marilyn Monroe sind bis heute stilprägend, die Gemeinde aus Musen, Celebritys, Drag Queens und Intellektuellen, mit denen er sich in seiner New Yorker »Factory« umgab, ist legendär. In seiner monumentalen Biografie taucht Blake Gopnik tief in das Leben dieser ebenso radikalen wie rätselhaften Kunstfigur ein. Eindrucksvoll zeigt er, wie Warhol nicht nur in seinem Werk die Trennung zwischen Kunst und Leben auflöste und dadurch die Kunstwelt ebenso nachhaltig faszinierte wie revolutionierte. Eine akribisch recherchierte und umfassende Biographie einer der schillerndsten Gestalten des 20. Jahrhunderts. Mit zahlreichen Abbildungen.

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Seitenzahl: 1964

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Die definitive Biografie

Andy Warhol ist der bekannteste Künstler der Pop-Art. Seine knallbunten Bildserien von Suppendosen, Bananen oder Hollywood-Stars wie Marilyn Monroe sind bis heute stilprägend, die Gemeinde aus Musen, Celebritys, Drag Queens und Intellektuellen, mit denen er sich in seiner New Yorker »Factory« umgab, ist legendär. In seiner monumentalen Biografie taucht Blake Gopnik tief in das Leben dieser ebenso radikalen wie rätselhaften Kunstfigur ein. Eindrucksvoll zeigt er, wie Warhol nicht nur in seinem Werk die Trennung zwischen Kunst und Leben auflöste und dadurch die Kunstwelt ebenso nachhaltig faszinierte wie revolutionierte. Eine akribisch recherchierte und umfassende Biografie einer der schillerndsten Gestalten des 20. Jahrhunderts. Mit zahlreichen Abbildungen.

Blake Gopnik, Jahrgang 1963, zählt zu den führenden Kunstkritikern Nordamerikas. Nach seiner Promotion in Kunstgeschichte in Oxford schrieb er für »Newsweek« über Bildende Kunst und Design, bei der »Washington Post« und der kanadischen »Globe and Mail« war er Ressortleiter für Kunst. 2015 war er Fellow am Leon Levy Center for Biography an der City University of New York, 2017 dann Cullman Center Fellow in residence an der New York Public Library. Er schreibt regelmäßig in der »New York Times«.

»Ein monumentales Porträt des Superstars.« The Telegraph

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Blake Gopnik

Warhol

Ein Leben

als Kunst

Die

Biografie

Aus dem Amerikanischen von Marlene Fleißig, Hans Freundl, Ursula Held, Hans-Peter Remmler, Dr. Andreas Thomsen und Violeta Topalova

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Warhol.A Life As Art bei Allen Lane, Penguin Books, "versal" UK.
Alle Zitate von Andy Warhol mit freundlicher Genehmigung von und © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc.
»Poetry in Motion«: Text und Musik by Paul Kaufmann und Mike Anthony. Copyright © 1960 UNIVERSAL SONGS OF POLYGRAM INTERNATIONAL, INC. and UNIVERSAL POLYGRAM INTERNATIONAL PUBLISHING, INC. Copyright Renewed. All Rights Reserved Used by Permission. Reprinted by Permission of Hal Leonard UC.
Vollständige Endnoten zu dieser Biografie sind unter www.cbertelsmann.de/warhol verfügbar.
Copyright © der Originalausgabe 2020 Blake Gopnik Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Jonas Wegerer Bildbearbeitung: Reproline Mediateam Achter Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, nach einer Idee von Tom Etherington Umschlagfoto: © Barton Silverman/The New York Times/Redux/laif Satz: Leingärtner, Nabburg ISBN 978-3-641-26672-1V003
www.cbertelsmann.de

Für Lucy Hogg,

ohne die es dieses Buch – und seinen Autor – kaum geben würde.

Und zum Gedenken an Matt Wrbican,

eine menschliche Fundgrube für alles Warholianische.

Für ihn hätte dieses Buch vor allem noch … länger sein sollen.

INHALT

VORSPIEL: TOD

1 (1928–1934)

Geburt | Pittsburgh | Die Karpato-Ruthenen | Kirche und Glaube

2 (1934–1945)

Familienleben | Schule | Krankheit | Carnegie Institute | Schenley High School | Auf dem Weg zum College

3 (1945–1947)

Kunststudium am Carnegie Tech | Kommilitonen und Dozenten | Ein Quantum Scheitern | Schaufensterdekorationen | Homosexuelles Leben und seine Gefahren | Künstlerische Vorbilder

4 (1947–1949)

Dada und Filmkunst am Tech | Die Outlines Gallery und die Avantgarde | Der Starstudent | Die Ursprünge der »Blotted Line« | New Yorker Horizonte

5 (1949)

Erste Bleiben und Verträge in New York | Modemagazine und Plattencover

6 (1949–1951)

Franziska Boas und das Künstlerleben | Eine Kommune armer Künstler | Tommy Jackson und ein erster Flirt | Eigene Wohnung und Auftragsjagd

7 (1951–1952)

Neuer Luxus | Otto Fenn | Besessen von Capote | Julia Warholas Ankunft |Kommerzieller Erfolg | Skurrile Gedichtbände

8 (1952–1954)

Die Hugo Gallery und eine Hommage an Capote | Lower Lexington | Die Katzen | Der erste Freund |Das erste Toupet

9 (1954–1955)

Das Serendipity | Ausmalpartys | Camp | The Loft Gallery

10 (1955–1956)

Schaufenster | Schuhe, Schuhe, Schuhe | Nathan Gluck macht mit | Die Bodley Gallery

11 (1956–1959)

Freigiebigkeit | Charles Lisanby | Weltreise | Kaufsucht | Edward Wallowitch | Ray Johnson | The Foot Book| Silberne Theaterkulissen | 1000 Names and Where to Drop Them

12 (1960–1961)

Das neue Stadthaus | Krankheit |Kunstsammeln | Die Judson-Memorial-Church | Emile de Antonio | Bedrohung durch die Fotografie | Boom am Kunstmarkt

13 (1961)

Schaufensterdekor wird zu Pop-Art | Yves Klein | Ivan Karp und Henry Geldzahler besuchen das Atelier

14 (1961–1962)

Jugendkultur | Falsche Unschuld | Kritische Rezeption der Pop-Art

15 (1962)

Warhol, ein »Neues Talent« | Suche nach einer Galerie | Geld malen| Suppendosen in Los Angeles | Martha Jackson sagt eine Ausstellung ab | Die Stable Gallery tritt auf den Plan

16 (1962)

Die Geburt des Siebdrucks |Liz Taylor und Baseball | »New Realists« und die Erschaffung des Pop | Marilyn in der Stable Gallery

17 (1963)

Die Feuerwache | Death and Disasters | Theaterkostüme | Fotoautomatenporträts | Ein Porträt von Ethel Scull | Mona Lisa

18 (1963)

Gerard Malanga beginnt mit der Arbeit | Downtown-Dichter | Amphetamine | Downtown-Filmemacher | Amateurfilme mit Jack Smith in Old Lyme | John Giorno in Sleep|Kiss| The Put-On

19 (1963)

Elvis und Liz Taylor in Los Angeles | Die Fahrt nach L.A.| Aufnahme in Hollywood und Marcel Duchamp | Taylor Mead und Naomi Levine in Tarzan| Trauer um J.F.K. |Jackie |Haircut

20 (1964)

Die Entdeckung der Factory | Screen Tests / Billy Name | Die Factory in Silber | Boxen in der Stable Gallery

21 (1964)

Die erste Factory-Party | Most Wanted Men für die Weltausstellung | Eine anzügliche Couch und Blow Job| Das Empire State Building unter Beobachtung | Flowers

22 (1964)

Von Eleanor Ward zu Leo Castelli | Stabiles Einkommen | Baby Jane Holzer, Girl of the Year|Soap Opera| Pop-Art wird Mainstream

23 (1965)

Ein Anti-Weihnachtsbaum | Filmpreise | Speed Freaks| Henry Geldzahler raucht eine Zigarre | Philip Fagan, der erste Liebhaber, mit dem Warhol auch zusammenlebte | 30 Filme in einem Jahr | Der Film und der Tod der Malerei

24 (1965)

Edie Sedgwick | Mit Freunden nach Paris | Superstars | Andy und Edie im Partnerlook | Das Streifenhemd| Der Anfang der Videokunst: Outer and Inner Space| Warhol-Fanclubs | Endlich berühmt

25 (1965)

Rivalitäten in der Factory | Neuzugänge: Paul Morrissey, Brigid Berlin, Bibbe Hansen | Zu viel Party |My Hustler| Danny Williams zieht ein und wieder aus

26 (1965)

Andymanie in Philadelphias ICA| Warhol formt sich seine Persönlichkeit

27 (1966)

The Velvet Underground | Psycho-Dinner | Ingrid Superstar löst Edie ab

28 (1966)

The Exploding Plastic Inevitable| Neue Warholianer: Mary Woronov, Susan Bottomly, Susan Pile | Das Ende der Werbegrafik | Geldsorgen und Hoffnungen | Ein Velvet-Underground-Album

29 (1966)

Silver Clouds und Kuhtapete | Julia Warhola kränkelnd zu Hause | Richard Rheem zieht ein und wieder aus

30 (1966)

Die Kunst der Wiederholung |Ein Porträt von Holly Solomon | Kühe und Wolken im ganzen Land | Eine Bostoner Retrospektive | Die Velvets auf Tour |»You’re In«-Parfüm |Jane Heir, der gescheiterte Spielfilm | Die Geburt der Chelsea Girls

31 (1967)

Max’s Kansas City | Nacktes Fleisch im Film: Bike Boy und Nude Restaurant| Bröckelnde Factory | Rod la Rod |The Andy Warhol Story| Russisches Roulette der Superstars

32 (1967)

Sackgassen-Kunst| Drucke als neue Einkommensquelle |The Chelsea Girls im ganzen Land und in Cannes | Thirteen Most Wanted Men in Paris | Ende der Velvets

33 (1967)

Four Stars – 25 Stunden Film |A: A Novel – 24 Stunden Gespräch |Andy Warhol’s Index (Book)| Vorgetäuschte Vortragsreisen | Gerard Malangas Ausstieg | Die Silver Factory schließt

34 (1968)

Ein neues Studio am Union Square |Lonesome Cowboys in Arizona | Aus Chaos wird Ordnung | Die Überbleibsel der Factory-Clique | Der feine Fred Hughes | Eine Ausstellung in Schweden

35 (1968)

Valerie Solanas |Scum Manifesto|I, a Man| Der Anschlag | Das Krankenhaus | Die Verhaftung

36 (1968)

Genesung | Security im Studio |Midnight Cowboy| Solanas und die Feministinnen |Flesh und das Filmgeschäft | Neue (SUPER-)STARS: Joe Dallesandro und das Transgender-Trio

37 (1968)

Zurück aus dem Krankenhaus | Bearbeitung von Lonesome Cowboys| Hundert glückliche Rockefeller | Mit Julia geht es abwärts | Jed Johnson zieht ein | Wieder im Sattel, aber noch angeschlagen | Pat Hackett, die ideale Ghostwriterin | Krankenhausrechnungen, Klagen und ungedeckte Schecks | Profitable Porträts

38 (1968–1969)

Fuck, ein Blue Movie| Vorstöße in die Konzeptkunst: Staubsauger und Superstars zum Mieten| Raid The Icebox und das Museum als Kunst | Treibende Stühle und Regenmaschinen | Video-Abenteuer |Ein Eisbecher für Schrafft’s

39 (1969)

Valerie Solanas auf freiem Fuß | Weitere Operationen | Cover für Rolling-Stones-Album | Hollywood-Filmpläne scheitern (zweimal) |Male Parade von Gerard Malanga | Die Geburt von Interview| Business-Art, der nächste Schritt nach Pop-Art | Tiefkühlgerichte aus dem Andy-Mat

40 (1970–1971)

Eine (weitere) Warhol-Retrospektive | Bob Colacello und Vincent Fremont kommen an Bord | Andy Warhol, der Super-Shopper | Neue Förderer: Sandy und Peter Brant |L’amour und die Leute darin | Das Leben als Vip | Scheitern am Theater: Andy Warhols Pork und Man on the Moon

41 (1971–1972)

Finanzielle Schummeleien |Nobelkarossen und Immobilien | Leben auf dem Land und Berühmtheiten als Mieter: Lee Radziwill und die Kennedy-Kinder, Mick und Bianca Jagger

42 (1972–1973)

Julia Warhola kehrt zum Sterben nach Hause zurück | Der Vorsitzende Mao und die untote Malerei | Unterwegs in Europas Hautevolee | Große Gesichter mit der Polaroid Big Shot | Gallenstein-Warnschuss |Frankenstein und Dracula in Rom | Mit Liz Taylor inIdentikit

43 (1974)

Warhols Pariser Hauptquartier |Interview, Mode und Gesellschaft | Halston und der Glamour | Die verdrehten Geschlechter von Ladies and Gentlemen |Die Philosophie des Andy Warhol (und seiner Ghostwriter) |Popism, eine (Nicht-)Autobiografie

44 (1974–1975)

Ein neues Zuhause | Jed Johnsons richtet ein | Brigid Berlin kehrt zurück |Time Capsules und die hohe Kunst des Mülls |Erlauchte Praktikanten | Einen Rolls-Royce ins Diamantenviertel | Lunchtreffen bei Interview und deren Ausbeute

45 (1975–1977)

Porträtjagd: Iranische Herrscher und Imelda Marcos |Mit Gerald Ford im Weißen Haus | Mit Jimmy Carter in Georgia | Kommerzielle Kunst: Sportler, Haustiere, Autos und Häuser | Victor Hugo und der Akt als Landschaft | Piss Paintings

46 (1977–1980)

Studio 54 | Shadows | Porträts im Whitney |Bad, der letzte Film | Jed Johnson geht

47 (1981)

Warhol als Model |Exposures: Gesellschaftsleben | Ronald Feldmans Business-Projekte | Externe Dienstleistung durch Rupert Smith

48 (1982–1983)

Die New Art Kids | Warhol und Basquiat | Rorschach-Bilder| Shoppen und Sammeln

49 (1982–1986)

Das Coned-Studio | Andy Warhol TV | Stress mit Fred Hughes |Werbung |The Love Boat| Camouflage-Gemälde | Jon Gould | Aids |Wohltätigkeit à la Warhol

50 (1986–1987)

Kristalltherapie | Letzte Abendmahle in Mailand | Zusammengenähte Fotos | Der letzte Laufsteg | Probleme mit der Gallenblase | Die verhängnisvolle Operation

Nachspiel: Das Leben nach dem Leben

Ein Wort zu den Quellen

Dank

Bildnachweis

Bildteil

Warhol zeigt seine Operationsnarben nach dem Attentat.

VORSPIEL

TOD

Das erste Mal starb Andy Warhol am 3. Juni 1968 um 16.51 Uhr. So jedenfalls lautete die bittere Einschätzung der Assistenzärzte in der Notaufnahme des Columbus-Krankenhauses in New York. Rund zwanzig Minuten zuvor war der Künstler von Valerie Solanas niedergeschossen worden, einer verstörten Mitläuferin der Factory, seinem berühmten Studio, mit dem er erst kurz zuvor an den Union Square umgezogen war. Bis zum Eintreffen des Rettungswagens war Warhol langsam, aber sicher am Verbluten gewesen. Als der Patient in das nur wenige Häuserblocks entfernte Krankenhaus eingeliefert wurde, konnten die jungen Ärzte in der Notaufnahme weder einen Puls noch einen nennenswerten Blutdruck ausmachen. Der Patient war leichenblass, mit einer Spur ins Blaue. Nach allen geläufigen Maßstäben lag es nahe, diesen 39-jährigen Weißen, der 1,80 Meter groß und 66 Kilo schwer war, beim Eintreffen ins Krankenhaus für tot zu erklären.

Als der augenscheinlich tote Patient auf der Trage hereingeschoben wurde, kontrollierte ein begabter Chirurg namens Giuseppe Rossi gerade einen Patienten, der sich auf der Intensivstation erholte. Rossi bekam die Ankunft über die Lautsprecheranlage mit und eilte in die Notaufnahme, um zu sehen, ob er gebraucht wurde. Vor ihm lag allem Anschein nach ein Leichnam, regungslos und mit geschlossenen Augen, auf einer Trage voller Blut. Während die jüngeren Kollegen dem Vierzigjährigen den Fall erläuterten, hob er ein Augenlid an und bemerkte, dass sich eine noch lebende Pupille im grellen Licht des Krankenhauses zusammenzog. Es gab Arbeit.

Rossi suchte zunächst nach der Ursache für den tiefen Schockzustand, in den sein Patient – er hielt ihn zunächst für einen der Penner vom Union Square – gefallen war. Er fand die saubere Eintrittswunde einer einzigen Kugel an der rechten Körperseite Warhols, etwa auf mittlerer Höhe des Brustkorbs, und er sah heftiges Bluten an der zerfetzten Austrittswunde am Rücken links. Die Ärzte brachten einen Thoraxkatheter an, um den kollabierenden rechten Lungenflügel in den Griff zu bekommen, schoben einen Beatmungsschlauch in Warhols Luftröhre und begannen, Sauerstoff in den Körper zu pumpen. Sie forderten Blutkonserven an und schoben den Patienten rasch durch die Korridore und in den Aufzug, um ihn noch lebend in den OP-Raum zu bekommen.

Es sollte sich für Warhol als Glücksfall erweisen, dass Rossi an diesem Tag der zuständige Arzt war. Der Chirurg war nach dem Krieg aus Italien in die USA eingewandert. Damals bot ihm das expandierende amerikanische Gesundheitssystem die Möglichkeit, sich auf dem neuen Gebiet der Operation am offenen Herzen weiterzubilden. Da es allerdings für einen Migranten wie Rossi noch immer schwierig war, eine Festanstellung zu finden, arbeitete er mal hier, mal da in Notaufnahmen in ganz New York – unter anderem in Harlem, wo er es mit jeder Menge Schussverletzungen zu tun hatte. Jahre bevor die Krankenhäuser Traumaspezialisten hatten, war Warhol durch puren Zufall in den Händen eines hochqualifizierten Thoraxchirurgen gelandet, der alles über Schussverletzungen wusste.

Die Assistenzärzte schnitten Zugänge in Warhols Ellbogenvenen und brachten Schläuche für die Versorgung mit Blut und anderen Flüssigkeiten an; dabei hinterließen sie Narben, die in den Armen eines Mannes, der zeitlebens in die Kirche ging, auch als Wundmale seines christlichen Glaubens hätten durchgehen können. Ohne sich die Zeit für das übliche fünfminütige Händewaschen vor der OP zu nehmen, machte sich Rossi augenblicklich auf die Suche nach der Quelle der Blutung, die kurz davor war, den vor ihm liegenden Körper in eine Leiche zu verwandeln. Er schnitt in Warhols linken Brustkorb – das zuerst eingeschnittene Gewebe war bereits zu trocken, um noch nennenswert zu bluten – und fand einen bösen Riss im unteren Lungenlappen, den er für den Moment mit einer riesigen Metallklammer schloss. Noch während Rossi am Werk war, stellte der Anästhesist einen Herzstillstand fest. Rossi schnitt in Warhols Herzbeutel, der von der Kugel verschont geblieben war, und massierte das Organ von Hand. Wieder haarscharf am Tod vorbei.

Nun schnitt Rossi in Warhols rechte Seite, von nahe der Eintrittswunde bis fast zum Brustbein, um nach weiteren Verletzungen Ausschau zu halten. Es kursierten Geschichten, dass Warhols Körper von drei oder vier Kugeln durchlöchert wurde oder dass ein einzelnes Projektil einer teuflischen Flipperkugel gleich in seinem Torso hin- und hergeprallt wäre. Rossi stellte fest, dass nur ein einziges Projektil in den vor ihm liegenden todgeweihten Mann eingedrungen und in gerader Linie wieder ausgetreten war. Er sah, wo das Geschoss die vena cava inferior gestreift hatte, eine riesige Vene in der Brust- und Bauchhöhle, die für den Rückfluss des Blutes aus den Beinen zum Herzen zuständig ist. Genau dort hatte sich ein Blutpfropf gebildet, der ein unmittelbares Verbluten des Patienten verhinderte. Rossi setzte einen weiteren Schnitt in die Brust des Sterbenden, vom Brustbein tief durch Warhols Bauchmuskulatur bis hinab zum Nabel. Mit einer Sperrvorrichtung hielt er das ganze Durcheinander geöffnet, um sich einen Überblick über den angerichteten Schaden verschaffen zu können. »Ich habe noch nie im Leben so viel Blut gesehen«, erinnerte sich Maurizio Daliana, der Oberarzt zu jener Zeit.

Rossi fand noch mehr Verwüstung: zwei Löcher im Bogen des Zwerchfellmuskels, den die Kugel auf dem Weg durch Warhols Körper rechts und links durchschlagen hatte; die Verbindung von der Speiseröhre zum Magen war abgetrennt, sodass Nahrungsbrei und Magensäure von unten austreten konnten; der linke Leberlappen war gequetscht; und aus der vollkommen zerstörten Milz floss mehr Blut als aus jedem anderen Organ. Solanas Kugel hatte auch in Warhols Därmen schreckliche Löcher hinterlassen, was dazu führte, dass Exkremente austraten und die Gefahr einer tödlichen Infektion erhöhten.

Was von der Milz noch übrig war, war nicht mehr zu retten, und auch der verletzte Leberlappen war ein hoffnungsloser Fall. Rossi isolierte ihn mit groben Stichen vom Rest des Organs, damit er ohne weiteren Blutverlust herausgeschnitten werden konnte. Noch immer wurden Bluttransfusionen in Warhols Körper gepumpt, die aus den neu angebrachten Öffnungen wieder hinausliefen. Am Ende der Operation hatte er zwölf Transfusionseinheiten erhalten; in einen unbeschädigten Körper passen normalerweise zehn.

Als die Dinge wieder halbwegs unter Kontrolle zu kommen schienen, kam erneute Unruhe im OP auf: Die medizinischen Spitzenkräfte der Klinik statteten dem Ort des Geschehens einen Besuch ab. Sie sagten den behandelnden Chirurgen, der Mann, dessen Leben sie gerade zu retten versuchten, wäre der Superstar der Kunstszene, Andy Warhol – der Mann, durch den der Begriff »Superstar« erst seine Berühmtheit erlangte –, und unten würden jede Menge Reporter und Anhänger warten. »Er darf nicht sterben«, sagten die Besucher.

Rossi hatte bis dahin kaum etwas von dem Künstler oder seinen Extravaganzen gehört.

Er widmete sich wieder dem geöffneten Körper und nahm die komplizierten Eingriffe vor, die noch zu erledigen waren. Er kümmerte sich um die perforierten Därme, schnitt die beschädigten Teile heraus und nähte die sauberen Enden wieder zusammen. Dann musste die abgetrennte Speiseröhre wieder mit dem Magen verbunden werden, die heikelste Prozedur an jenem Abend. Rossi musste die Stelle mit hochfeinen Seidenfäden vernähen und sicherstellen, dass der Anschluss an den Magen absolut perfekt war. Der kleinste Versatz oder eine zu starke Narbenbildung hätte die Schluckfähigkeit massiv beeinträchtigen und für Warhol katastrophale Folgen haben können. Ein mit ihm befreundeter Arzt erinnerte sich, dass er später in der Tat Probleme mit dem Essen hatte.

Erschöpft von der langen und anstrengenden Operation schloss Rossi sämtliche Kanülen zum Absaugen an und nähte den Körper wieder zu, mit dessen Innenleben er sich so intensiv beschäftigt hatte. Aus Gründen der Bequemlichkeit und Sicherheit – vielleicht hatte er auch seine Zweifel, ob der Patient lange genug leben würde, um sich überhaupt daran zu stören – setzte Rossi riesige Nähte, die Warhols Rumpf mit einem frankensteinhaften Netz von Narben überzogen. Er sollte sie in den Jahren danach immer wieder stolz vorzeigen.

… mit Julia Warhola und seinem großen Bruder John.

1

1928–1934

GEBURT | PITTSBURGH | DIE KARPATO-RUTHENEN | KIRCHE UND GLAUBE

»Der schrecklichste Ort, wo ich je im Leben war«

Andy Warhol – genauer: Andrew Warhola – wurde am 6. August 1928, an einem mäßig heißen Sommertag mit bedecktem Himmel, in einer düsteren kleinen Wohnung in der Orr Street im Stadtteil Soho von Pittsburgh geboren.

Andys ältester Bruder Paul, sechs Jahre zuvor im gleichen Zimmer zur Welt gekommen, erzählte später, er hätte die Schreie seiner Mutter gehört, »und dann sagte jemand, ›Es ist halb sechs‹«, wobei offenblieb, ob dabei vom frühen Morgen oder vom späten Nachmittag die Rede war. Je nachdem, wem Sie mehr Glauben schenken wollen, war entweder ein Arzt oder eine Hebamme bei der Geburt dabei.

Warhols Vater, ebenfalls Andrew mit Namen (geboren als Andrej oder Andrii), war slawischer Herkunft und wurde erst wenige Monate vor der Geburt seines gleichnamigen Sohnes offiziell Amerikaner. Andrej war Arbeiter wie so viele tausend andere, die im Stahlwerk Jones and Laughlin ihren Lebensunterhalt verdienten, ein paar Schritte den Hügel hinab, am Ufer des vergifteten Monongahela River. Hier arbeitete er, bevor er ins Baugeschäft wechselte und für eine Firma, die sich auf das »Umziehen« ganzer Gebäude auf Rollen spezialisiert hatte, kreuz und quer durchs Land zog. Es heißt, er hätte die »leichtere« und sesshaftere Arbeit im Stahlwerk vorgezogen, aber irgendwie schaffte er das nicht. Auch wenn er nur 1,68 Meter groß war, wog er doch 84 Kilo und hatte auffallend muskulöse Arme. Kurz nach Warhols Geburt wurde Andrej – der ebenfalls »Andy« gerufen wurde und mit diesem Namen sogar sein Testament unterschrieb – die Gallenblase entfernt, eine Operation, die nach Angaben seines Sohnes Paul nicht ganz erfolgreich verlief. Sechs Jahrzehnte später sollte praktisch die gleiche Operation Andy junior das Leben kosten.

Die schreiende junge Mutter hieß Julia. Sie war 36 Jahre alt, Hausfrau und Immigrantin, die so gut wie kein Englisch sprach und einen Ehemann und drei Söhne zu versorgen hatte: Der mittlere der drei Jungen hieß John und war drei Jahre älter als Andy. Mehrere Wochen am Stück, bisweilen sogar Monate, lebte ihr Mann auf Baustellen in diversen Bundesstaaten. Ein Foto aus dem Jahr 1930 zeigt ihn und sein Arbeitsteam in Indianapolis, wie sie ein 12 000 Tonnen schweres Gebäude verlegten, das noch bewohnt war. Julia war eine Art Witwe auf Zeit – solange mit der Arbeit alles gut ging. Im Zuge der Großen Depression im Jahr 1929 war Andrej zeitweise ohne Job, und Julia arbeitete als Putzfrau und verkaufte die Produkte ihres handwerklichen Geschicks von Haustür zu Haustür. Warhol erzählte einmal, die Suppe der Familie wäre keineswegs von Campbell’s gewesen. Sie bestand vielmehr aus Wasser, Salz, Pfeffer und Ketchup – Marke Heinz, versteht sich, immerhin ein Vorzeigeprodukt aus Pittsburgh und hergestellt von einem Familienbetrieb, der später zu einem Förderer des Künstlers werden sollte.

Die Wohnung in der Orr Street bestand aus zwei Zimmern im ersten Stock eines winzigen Holzreihenhauses. Die Wände waren »einfache Holzplanken, die das Stockwerk quer abtrennten – genau genommen eher schlichte Latten, noch nicht einmal Planken«, erinnerte sich ein Nachbar. Warmwasser gab es nicht, ein Plumpsklo fand sich außerhalb des Hauses – in der Welt der Warholas keine nennenswerte Schmach, aber im Winter gewiss kein Vergnügen. Kurz zuvor hatte ein Reformer aus Pittsburgh in einer Studie über den Stadtteil Soho seine Verachtung für die »unhygienischen Höhlen« geäußert, sie seien »Brutstätten von Seuchen ohne Anschluss ans Kanalnetz, nur darauf wartend, Krankheiten zu verbreiten und die Gesundheit der Anwohner in der Umgebung zu gefährden«, beklagte er und nannte die Häuser in der Gegend »regelrechte Feuerfallen«. Eine im Jahr 1922, dem Geburtsjahr von Paul Warhola, veröffentlichte Stadtgeschichte beschrieb die Wohnungen des Viertels als »alt und wenig attraktiv … bewohnt von eingewanderten Stahlarbeitern und ihren Familien«.

In den zwei Jahren nach Warhols Geburt waren die Warholas zweimal umgezogen. Am Ende landeten sie ein Stück weiter die Straße runter und ein wenig weiter oben auf der Statusleiter, in einer Vierzimmerwohnung mit Kanonenofen, einer verzinkten Sitzbadewanne und einer Toilette, zwar ohne Anschluss an die Kanalisation, aber immerhin innerhalb der Wohnung gelegen. Die drei Jungen schliefen in einem Bett, »aber du kamst dir nicht arm vor deshalb, schließlich lebten alle anderen genauso«, erinnerte sich John Warhola. Sie teilten sich dieses Haus in der Beelen Street mit einer weiteren Familie und bezahlten 18 Dollar pro Monat für diesen Luxus, etwa ein Viertel des monatlichen Einkommens.

Das Pittsburgh, in dem Andy Warhol aufwuchs, war nicht bloß eine typische amerikanische Arbeiterstadt. Es war vielmehr der Archetyp für dieses Leben und die dazugehörigen Sorgen und Nöte. 1914 stellte eine Wohltätigkeitsorganisation namens Russell Sage Foundation eine Veröffentlichung mit dem Titel The Pittsburgh Survey fertig. In sechs dicken Bänden lieferte sie das allererste Beispiel für eine systematische Stadtsoziologie. Der Survey erlangte weltweite Berühmtheit und machte auch die Stadt bekannt, die als potenziellen Standort des industriellen Fortschritts, aber auch als Ort ganz konkreter Not galt. H. L. Mencken drückte es in einem Essay gar nicht lange vor Warhols Geburt so aus: »Hier gab es unermesslichen, schier unvorstellbaren Reichtum – und es gab menschliche Behausungen, die so abscheulich waren, dass selbst streunende Katzen einen großen Bogen darum machen würden.«

Aus Pittsburgh zu kommen und zur Arbeiterklasse zu gehören, war ein eindeutig »markantes« Merkmal – ähnlich wie wenn man aus Los Angeles kommt und beim Film tätig ist. Während seines gesamten Erwachsenenlebens tat Warhol mehr, um diese ihm anhaftenden Wurzeln loszuwerden oder zu verschleiern, als dass er sie genutzt oder näher erforscht hätte. 1949, Warhol war gerade erst in New York angekommen, bat ihn der Redakteur einer Zeitschrift um einen knappen biografischen Überblick. Warhol gab ihm so gut wie nichts: »Mein Leben füllt noch nicht einmal eine Postkarte. Ich wurde 1928 in Pittsburgh geboren, in einem Stahlwerk, wie alle dort«, schrieb er und räumte damit ein Klischee aus dem Weg, das auf ihn gar nicht zutraf – schließlich arbeitete sein Vater in Wirklichkeit ganz woanders auf dem Bau. Dennoch war dies ein Höhepunkt der Selbstoffenbarung. Nachdem er es in New York endgültig geschafft hatte, wurde Warhols eigene Erzählung noch vager: Er wurde 1929 geboren, vielleicht auch ’30 oder gar erst ’33 – selbst gegenüber seinem Arzt log er über sein Alter – mal im schicken Philadelphia oder in Newport, Rhode Island, mal im bescheidenen Forest City oder in McKeesport, Pennsylvania. In den 38 Jahren, die er in New York lebte, kam Warhol nicht mehr als eine Handvoll mal zurück in seine Heimatstadt, über die er einmal sagte, sie sei »der schrecklichste Ort, wo ich je im Leben war«; einmal erinnerte er sich mit einem Kommilitonen aus dem College, dass der Smog schlimm genug gewesen sei, um ein weißes Hemd bis zum Abend schwarz werden zu lassen. »Ich erzähle nicht gern etwas über meine Vergangenheit, und außerdem erfinde ich sie jedes Mal neu, wenn ich gefragt werde«, gestand Warhol einmal – mehr oder weniger – in einem Interview, bei dem seine Worte aus dem Zusammenhang gerissen und bisweilen schlicht erfunden worden waren. 1965 hatte er dem Who’s Who erzählt, er wäre in Cleveland geboren und Kind der adligen – und gänzlich fiktionalen – »von Warhols«. Zwei Jahre später warf ein Warhol-Forscher hilflos die Arme in die Höhe: »Allgemein wird angenommen, er wurde irgendwann zwischen dem 27. Juli und dem 17. August geboren – und er sei irgendwo zwischen 39 und 47 Jahre alt.« Die Verwirrung währte bis in die 1990er.

Warhols Pop-Art wird mitunter als Feier seiner bescheidenen Herkunft beschrieben – viele der anderen bedeutenden Vertreter der Pop-Art entstammten eher der Mittelschicht –, allerdings geht es dabei genauso um den Aufstieg aus diesen ärmlichen Verhältnissen. In seiner Kindheit gab es tatsächlich weder Thunfischkonserven aus dem Supermarkt noch Campbell’s Dosensuppen oder all die anderen schicken Markenartikel der Eisenhower-Ära, die Warhol später in seiner Kunst zelebrierte – vor dem Zweiten Weltkrieg waren diese Produkte noch der Elite vorbehalten. (Erst ab Anfang der 1960er, als Warhol mit diesen Marken spielte, begann die Werbung, auch die Arbeiterklasse zu locken.) Eine Nachbarin der Warholas aus den 1930ern, die auch 2015 noch im Heim ihrer Kindheit wohnte, konnte sich an keine Nahrungsmittel in Dosen in der Küche ihrer Mutter erinnern, wenngleich ihre Familie relativ wohlhabend war. »Konserve« bedeutete, wie sie sagte, dass man das Gemüse in Gläsern einweckte.

Julia kochte selbst mit schlichten, von Andrej handgefertigten Utensilien, und als sich die Warholas etwas mehr leisten konnten als verdünntes Ketchup, gab es die typische Kost der Einwanderer. Eine Suppe aus selbst angebauten Tomaten, Kohlrabi und Rettich, oder, wie sich einer der Brüder erinnerte, aus dem Lieblingshuhn vom Hinterhof. Die Familie machte ihre eigene »Kolbasi«-Wurst, anstatt beim Metzger zu kaufen. Selbst als Warhols Karriere in New York anlief, bot Julia den Besuchern noch immer selbstgemachte Hühnersuppe an, keine Dosenware.

Andy Warhol wurde in eine gesellschaftliche Schicht hineingeboren, die nicht einmal auf der untersten Stufe der sozialen Leiter stand. Selbst nach den bescheidenen Maßstäben der Arbeiterklasse in Pittsburgh stand er vielmehr quasi knöcheltief im Schlamm. Der starke slawische Akzent seiner Eltern zählte nicht zu den üblichen und gesellschaftlich noch einigermaßen akzeptierten Zungenschlägen, die eine schottische oder deutsche, irische oder italienische Herkunft verrieten. Die Warholas galten üblicherweise als die typischen »Slawen«, und, wie es der The Pittsburgh Survey beschrieb, »der Slawe hinterlässt nur langsam und unauffällig Eindruck auf die Vorstellungskraft der Gemeinde … es gebricht ihm an der Lebendigkeit, die den Italiener so sehr auszeichnet«.

Eine Kapitelüberschrift hielt für die vornehme Leserschaft – im gediegenen schottischen Tonfall eines Carnegie – folgende erhellende Botschaft bereit: »Der Slawe ist ein Mensch – trotz alledem.« Der Survey verurteilte, dass den Slawen höhere Mieten abverlangt wurden, ebenso wie die Verachtung, mit der ihnen ihre ebenfalls eingewanderten Nachbarn begegneten, wegen »ihrer Bereitschaft von Anfang an, für jeden Lohn und unter noch so schlechten Bedingungen zu arbeiten«. Unter den ungelernten Arbeitern »kann man sagen, dass Slowaken, Kroaten, Serben und Russen (griechisch-orthodox) wohl die schwersten, gefährlichsten und der Gesundheit abträglichsten Aufgaben zu erledigen hatten«. Etwa 80 Prozent der Arbeiter in den riesigen Hüttenwerken von Carnegie Steel waren Slawen.

Andrej Warhola senior, einer der »robusten und unterwürfigen« Slawen, die Pittsburghs Vorarbeiter aufzuspüren versuchten, wurde 1886 in einem ärmlichen Dorf namens Mikova am damals äußersten östlichen Rand des Habsburgerreichs geboren. Die Bewohner gehörten zu einer kaum bekannten ethnischen Gruppe, die heute als Karpato-Ruthenen oder schlicht Ruthenen bezeichnet werden. Eine Pittsburgher Ruthenin erinnerte sich an einen Artikel im Magazin Life aus den 1930ern, in dem ihre Heimat als der Ort beschrieben wurde, an dem »die am wenigsten zivilisierten Menschen Europas leben«. Ärmlich ist das Dorf noch immer, das heute in der Slowakei im Grenzgebiet zur Ukraine und Polen liegt, an den Ausläufern der Karpaten. Über den größten Teil von Warhols Leben lag Mikova in jenem künstlichen, multi-ethnischen Staat namens Tschechoslowakei, und Warhol benannte diese üblicherweise als Herkunftsland seiner Familie, auch wenn ihm durchaus klar war, dass es sich um ein künstliches politisches Gebilde neueren Datums handelte. Wie viele Einwanderer dieser Epoche zog er die ethnische Unschärfe politischer Grenzen einer weitreichenderen kulturellen Spezifik vor – wenngleich er gewiss wusste, dass die Tschechoslowakei selbst zumindest teilweise von seinen ruthenischen Ahnen gegründet wurde – zu einer Zeit, in der sein Vater bereits als Neuankömmling in Pittsburgh lebte.

Mikova hatte zu den Zeiten Andrejs kaum 500 Einwohner, was dennoch reichte, um den Ort in »Oberdorf« und »Unterdorf« aufzuteilen. Die Bewohner lebten von der Bewirtschaftung ihrer Felder: Jede Familie hatte eine kleine Mühle zum Mahlen des Getreides, aus dem dort wachsenden Flachs und Hanf wurde Tuch gesponnen, und die Schafe lieferten Käse, Wolle und Felle. Dennoch war es schwer, ohne Saisonarbeit auf einer der größeren Farmen im ungarischen oder slowakischen Tiefland über die Runden zu kommen. Bis 1914 wagte rund eine Viertelmillion Menschen die brutale, sämtliche Ersparnisse aufzehrende und dazu auch noch illegale Emigration nach Amerika, auf die zumeist härteste körperliche Arbeit folgte. Aber für die ruthenische Dorfbevölkerung war dies immer noch eine Verbesserung gegenüber den Lebensverhältnissen in der Heimat.

1909 ging es der Familie Warhola – »Warchola« gesprochen – aus dem Oberdorf mit ihrem ordentlichen Stück Land und sogar ein paar Bienenstöcken besser als vielen anderen in Mikova, aber das wollte nicht viel heißen. Für die 17-jährige Julia Zavacky, eine Nachbarin Andrejs, deren Familie in etwa den gleichen mittelmäßig bis ärmlichen Status hatte, war es definitiv nicht genug. Sechs Jahrzehnte später erinnerte sich Julia, wie sie ob der Aussicht auf ihre arrangierte Heirat, auch wenn der »so gut aussehende« Andrej der Auserwählte war, so lange weinte, bis dieser ihre Zuneigung mit einem legendären Süßigkeiten-Geschenk erkaufte. Andrejs Süßigkeiten mögen wohl weniger schwer ins Gewicht gefallen sein als seine Verbindungen nach Amerika: Um das Jahr 1905 hatte er bereits einen Vorstoß in die Neue Welt gewagt – damals hat er sich wahrscheinlich eine Zeit lang als Bergarbeiter verdingt. Das war der übliche erste Job slawischer Neuankömmlinge in Pennsylvania, und es ist die Art von Arbeit, von der Warhol bisweilen im Zusammenhang mit seinem Vater sprach – sofern er es nicht vorzog, seine Herkunft zu verleugnen.

Der Hochzeitstermin im Mai nahte, und es war in der Erinnerung Julias eine große, drei Tage lange Feier, ihr Haar geschmückt »wie Gold«. Andrej trug Schärpen und einen weißen Mantel, es gab ein Festessen mit »Eiern, Reis mit gebuttertem Zucker, Huhn, Nudeln, Zwetschgen mit Zucker, Brot, süßes Brot, selbstgebackene Kekse«, nebst einer Kapelle mit nicht weniger als sieben Roma, die zu Tanz und Unterhaltung aufspielten.

Innerhalb der nächsten Jahre hatte sich Andrej jedoch erneut nach Amerika aufgemacht, diesmal zusammen mit seinem jüngeren Bruder Jozef, seine Frau und die vier Tage alte Tochter ließ er zurück. Er sollte nie wieder heimkehren. Andrej floh vor der Verpflichtung in die Armee der Donaumonarchie. Agenten der Dampfschiffgesellschaften, die für amerikanische Industrielle arbeiteten, aber wie Einheimische gekleidet waren, um den Behörden des Kaiserreichs nicht aufzufallen, erinnerten die jungen Männer stets an ihren bevorstehenden Militärdienst, um ihnen dann die Tickets für die Überfahrt in die Neue Welt zu verkaufen. Einer der Warhola-Brüder, der daheimblieb, wurde später einberufen und starb an seinen im Ersten Weltkrieg erlittenen Wunden. Aber es gab auch andere Stimmen. So betrachtete ein Stahlarbeiter aus Pittsburgh, der in den Kriegen Russlands um die Jahrhundertwende gekämpft hatte, seine Erfahrungen auf dem Schlachtfeld als »nicht weiter schlimm im Vergleich mit dem, was er in den Stahlwerken erleben musste. In den Kriegen hatte er keinen Kratzer abbekommen, im Stahlwerk hatte er ein Bein verloren.«

Andrejs Aufbruch dürfte Julia kaum überrascht haben. Es war das Übliche in der Gegend, und mehrere ihrer Geschwister hatten sich bereits in der Nähe von Pittsburgh niedergelassen, in der Region um Lyndora, wo ihre Nachfahren bis heute leben. Dennoch steckte sie in einem schwierigen Dilemma. Sie saß bei ihren alternden Schwiegereltern fest, die ihr alle möglichen häuslichen Dienste abverlangten, und dazu sollte sie sich auch noch um die eigenen jüngeren Geschwister und ein Baby kümmern. Hier erlebte sie die erste Tragödie ihres Lebens: Sie verlor das Baby nach nur sechs Wochen.

Während des Ersten Weltkriegs kämpften Deutsche und Russen in der und um die Region. Auch Mikova war unmittelbar betroffen, woraufhin die Erde mit den Schädeln gefallener Soldaten übersät war, die glänzten »wie riesige weiße Pilze«, wie sich Julia erinnerte. Sie floh in die Berge und Wälder, ihr Haus wurde abgebrannt, sie verlor alles – »Krieg, Krieg, Krieg … welch unvorstellbarer Schrecken«. Ihr Vater (ein weiterer Andrej) war im Jahr ihrer Hochzeit gestorben, ihre Mutter starb im letzten Kriegsjahr – an Kummer über eine Falschmeldung, der zufolge ihr Sohn in der Schlacht gefallen wäre, so wird erzählt. Julia blieb mit zwei deutlich jüngeren Schwestern zurück, für die sie sorgen musste. Laut Überlieferung der Familie hat Andrej mehrmals versucht, seiner Frau Geld zu schicken, damit sie zu ihm nach Amerika kommen konnte, und jedes Mal sei es irgendwo auf dem Weg gestohlen worden. 1921 konnte Julia die Reise endlich selbst organisieren, dank eines Darlehens von einem Dorfpriester.

Der gewaltige Kontrast zwischen dem Leben mit 500 Menschen und der eigenen Verwandtschaft inmitten der Felder und Wälder der Karpaten und einem Leben in einer rußgeschwängerten Großstadt mit 600 000 Einwohnern, einem Völkergemisch aus Italienern und Deutschen und Iren und Juden – und hier und da auch ein Presbyterianer, der nichts Besseres zu tun hatte, als seine Verachtung gegenüber dem Rest der Welt hinauszuposaunen –, lässt sich unschwer ausmalen. Andrej sorgte noch nicht einmal dafür, dass das Paar unter seinesgleichen wohnen konnte, im sogenannten Ruska dolina – »Tal der Ruthenen«, einem Flusstal, in dem sich andere Leute aus dem Dorf zusammengetan und eine Kirche gebaut hatten.

Das Leben in den USA muss für Julia zweifellos einer Entwurzelung geglichen haben – ein Schicksal, das sie mit ihrer gesamten Sippe in Ruska dolina teilte, und es traf sie noch mehr als die üblichen Einwanderer. Daheim in der alten Heimat waren Mikovaner wie die Warholas und die Zavackys einfach nur »unsere Leute«, irgendeiner weiteren ethnischen Identität bedurfte es nicht. Sie setzten sich allein durch ihren Heimatort, ihre winzigen Dörfer irgendwo weit hinter den Bergen, von anderen Gruppen ab. In den USA dagegen wurde von den Neuankömmlingen erwartet, sich in eine ethnische Schublade einzufügen, ganz so wie es alle anderen auch taten, die über Ellis Island ins Land kamen. Waren sie Polen? Nein. Rumänen? Gewiss nicht. Ungarn, Serben, Kroaten? Nichts von alledem. Sie hatten eine Sprache, die sie von allen anderen unterschied, dem Slowakischen ähnlich und nicht sehr weit entfernt von Russisch oder Ukrainisch, aber doch auch anders als die genannten drei – po nashomu nannte das Warhols Verwandtschaft, was so viel bedeutet wie »was wir sprechen«. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde »Karpato-Ruthenen« zur bevorzugten Bezeichnung für die Volksgruppe, die in den meisten Ländern, in denen diese Menschen heute leben, als eigenständig angesehen wird.

Aufzeichnungen über amerikanische Einwanderer und The Pittsburgh Survey unterschieden die Volksgruppe der Warhols von anderen slawischen Völkern als »Ruthenen«, allerdings könnten mit dieser Bezeichnung auch Menschen abgedeckt sein, die eher den Ukrainern oder Slowaken zuzurechnen wären. Die Warholas und ihresgleichen könnte man auch als »Russinen« bezeichnen, sofern man sie nicht »Rusniaken« – oder noch verwirrender, einfach »Ukrainer« oder »Russen« – nennen wollte. Ein Zavacky aus der Generation Warhols meinte, er würde sich selbst als russisch bezeichnen, wohl wissend, dass das nicht stimme, »aber es ist nun mal ein großes Land, das jeder kennt«. Bis auf den heutigen Tag nennen Julias Verwandte in Lyndora die Sprache ihrer Alten »Russisch« und verwenden keine der zahlreichen anderen – ebenfalls falschen – Bezeichnungen wie »Slawisch« oder »Tschechisch« oder »Slowakisch«, wie sie Warhol selbst bevorzugte und wie sie bis heute manche Pittsburgher Warholas benutzen. Eine Frau, die in Soho in der Nähe der Warholas wohnte, beschrieb sie als »Slowaken und Polacken« – irgendeinen slawischen Mischmasch eben –, die stärker amerikanisierten Nachbarn sahen in ihnen schlicht ein paar weitere »Hunkies«, auf die man mit Verachtung herabblickte. Dass die ruthenischen Bibeln und Zeitungen in den gleichen kyrillischen Schriftzeichen gedruckt wurden, wie sie auch die bösen Kommunisten bevorzugten, machte die Sache natürlich nicht besser.

Die weltweite Bewegung der karpato-ruthenischen Kultur hat versucht, die Wurzeln der Warholschen Kunst in der bäuerlichen Heimat seiner Eltern zu verorten. Seine »persönliche Note« wurde mit derjenigen auf den handbemalten Ostereiern der Ruthenen verglichen, wobei geflissentlich ignoriert wurde, dass eine der beachtlichen Errungenschaften Warhols doch gerade die Ablehnung einer solchen persönlichen Note sowie des Malens von Hand war. Zwar weisen seine frühen Werbegrafiken tatsächlich gewisse volkstümliche Elemente auf, allerdings ist daran nichts spezifisch Ruthenisches, sie sind vielmehr so generisch, dass sie eigentlich jeder bäuerlich geprägten Kultur entstammen oder eben von einem guten Illustrator frei erfunden und entwickelt sein könnten. Volkstümliche Stilelemente findet man in Warhols Frühwerk auf Schritt und Tritt, was heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist.

Sinnvoller wäre die Frage, inwieweit Warhol in seiner Eigenschaft als Ruthene – oder Rusniake oder Russine oder Russe – vielleicht geradezu prädestiniert war, eine durch und durch amerikanische Kunst zu kreieren. Bei einer der seltenen Gelegenheiten, bei der er über seine ethnische Herkunft befragt wurde, bestritt Warhol jedes Interesse an der Sache: »Ich fühle mich immer als Amerikaner – zu hundert Prozent.« Da ein eigenes Staatsgebilde außerhalb jeder Möglichkeit lag, konnten die Ruthenen umso mehr auf Amerikas nicht-ethnisch konstituierte Nation setzen, ebenso wie auf sein pan-ethnisches Verbraucherverhalten – Dosensuppe, Thunfisch, Autos und Filmstars, allesamt Themen der größten Kunstwerke Warhols. In dieser Hinsicht waren sie ein wenig wie die auf der ganzen Welt verteilten Juden, wenn auch ohne die bindende Kraft evidenter und massenhafter Verfolgung. Sie waren typische Bindestrich-Amerikaner, ebenso wie all die Italo-Amerikaner und Hungaro-Amerikaner in der Nachbarschaft, allein mit dem Unterschied, dass es nichts gab, was sie vor ihren Bindestrich hätten setzen können. Warhol wuchs daheim auf als »einer von uns«, quasi als unbeschriebenes Blatt – ein »Fantasiegebilde«, wie es nach der Anregung eines Reporters auf seinem Grabstein hätte stehen sollen – draußen in der weiten Welt. Dieses nicht näher spezifizierte Außenseitertum war vielleicht das wertvollste Geschenk, das ihm seine Vorfahren mitgegeben hatten. So konnte er in die Rolle des amerikanischen Jedermann schlüpfen: Er konnte der Nation ihre eigene Kultur auf eine Art erklären, wie es nur ein Beobachter von außen konnte, und zugleich formte er sie aus ihr heraus aktiv um.

Wenige Tage nach Warhols sechstem Geburtstag, kurz bevor er in die Schule kam, zog seine Familie in ein Neubaugebiet in der multi-ethnischen Dawson Street, eine bessere Gegend am Südrand des bürgerlichen Stadtteils Oakland im Osten von Pittsburgh, etwas oberhalb der Enklave der Ruthenen gelegen. In den Abgründen der Großen Depression hatte Andrej irgendwie die 3200 Dollar in bar aufgetrieben, die es brauchte, um ein hübsches kleines Haus zu erwerben, das davor in den Besitz der Bank zurückgegangen war, gleich neben dem Haus seines Bruders Jozef. Jozef schrieb sich inzwischen »Joseph« und war ein Riese von Mann, der im Stahlwerk arbeitete. Die Brüder wiesen zusammenpassende Narben im Gesicht auf, die sie sich im Suff bei einer Schlägerei nach einer Hochzeitsfeier eingehandelt hatten, die Leute hatten Angst vor ihnen. Laut den Dokumenten wurde Andrejs neues Zuhause für einen Dollar erworben, was ein Hinweis auf irgendeinen Steuertrick sein könnte – später, als Warhol begann, richtig gutes Geld zu verdienen, war er sich für solche Dinge auch nicht zu schade.

Das Haus in der Dawson Street, eine mit Ziegeln verblendete Doppelhaushälfte, war erst acht Jahre alt. Es gab einen Hof und eine Badewanne – gänzlich unbekannte Luxusgüter nach den Maßstäben von Soho und ganz besonders geschätzt vom sechsjährigen Andy. Trotz der Zwangsenteignung lag der Kaufpreis des Hauses – der etwa dem entsprach, was ein Arbeiter in drei Jahren verdiente – auf dem Niveau anderer Immobilien, die zu der Zeit in Pittsburgh gehandelt wurden. Die Jahre im ebenso billigen wie tristen Soho könnten auch eine bewusste finanzielle Entscheidung gewesen sein, um auf ein Haus zu sparen, und nicht etwa nur dadurch bedingt, dass sich die Familie nichts Besseres hätte leisten können. Andrej hatte den Ruf eines Pfennigfuchsers: In den Tagen in Soho wurde die Familie wieder und wieder aus der vertrauten Umgebung gerissen, wenn Andrej etwas aufgetan hatte, das ein paar Dollar Monatsmiete weniger kostete; er reparierte eigenhändig die Schuhe der Kinder mit Werkzeugen, die bis heute erhalten geblieben sind. Arbeit gab es kaum in der Weltwirtschaftskrise, also verbrachte er seine Zeit damit, das neue Haus so herzurichten, dass die Familie einziehen konnte – Böden abschleifen, Tapete von der Wand kratzen, von einem Maler die Wände streichen und tapezieren lassen, weil der »wirklich günstig« war.

Andrej scheint auch beachtliche gesellschaftliche Ambitionen verfolgt zu haben. Eine Nachbarin beschrieb ihn als »immer einen kleinen Schritt voraus«, der Pittsburgh Survey sah »Slowaken« wie ihn als »die ehrgeizigsten und energischsten« unter den Slawen an. Die neue Adresse der Familie in Oakland wurde zum Teil gewiss auch wegen der Chancen gewählt, die sich dort boten: Die Entwicklung der Gegend wurde von Planern als Modell der neuen »City Beautiful«-Bewegung hochgehalten, während der Survey eine regelrechte Kampagne gegen Soho startete – man hielt den dortigen Schrecknissen den sorgfältig geplanten und eifrig publik gemachten Glanz von Oakland entgegen, mit seinen Parks und eindrucksvollen neuen Museen, Konzerthallen und einer Bibliothek.

Während des größten Teils von Warhols Kindheit befand sich das ultimative Statussymbol Oaklands ein paar Blocks oberhalb der Dawson Street. Die neue »Cathedral of Learning« beherrschte sowohl Skyline als auch Schlagzeilen: Das Universitätsgebäude war ein neogotischer Wolkenkratzer mit 42 Stockwerken und Quell gewaltigen Stolzes für die Bürger der Stadt. Als Publicity-Gag für die Bildungskathedrale ließ die Universität 97 000 Schulkinder der Stadt für 10 Cent das Stück Bausteine für das Gebäude kaufen – Warhols Schule steuerte immerhin 76 Dollar bei. Er beobachtete die Fertigstellung des Turms von der Eingangstreppe des elterlichen Hauses – er machte sogar Fotos davon –, und diese kolossale Kindheitserinnerung versteckte sich wohl auch hinter einer der wichtigsten filmischen Arbeiten Warhols, seiner acht Stunden langen Beobachtung jenes anderen Kolosses, der später seinen Horizont prägte: das Empire State Building.

Warhols Schule war die Holmes Elementary, die in einem eindrucksvollen Gebäude aus dem Jahr 1893 untergebracht war, nur ein paar Häuser die Dawson Street hinauf; über tausend Kinder aus allen ethnischen Gruppen gingen dort zur Schule. »Es war der wunderbarste Ort, den man sich als Schüler vorstellen konnte«, sagte ein Klassenkamerad Warhols, in Erinnerung an das Schulorchester und andere ambitionierte Angebote.

Wie viele Schulen, die an die fortschrittliche Bildungsbewegung des 20. Jahrhunderts glaubten, bot auch Holmes den Schülern ehrgeizigen Kunstunterricht. »Dieser Kleine war sehr, sehr gut im Zeichnen«, erinnerte sich Catherine Metz, Warhols Lehrerin in der zweiten Klasse, fünfzig Jahre nachdem er ihr Schüler war. »Alle seine Lehrer schienen seine künstlerischen Fähigkeiten zu erkennen, und sie kamen zu ihm und boten ihm an, vielleicht eine Bordüre für das Klassenzimmer zu malen oder etwas in der Art.«

Ohne Geld für Spielzeug oder anderweitige Unterhaltung – bis Andy acht Jahre wurde, gab es im Hause Warhol noch nicht einmal ein Radio – beschäftigte Julia ihre Jungen mit Kunst. Das ist ein wichtiges Thema in den Jugenderinnerungen der älteren Brüder – »wir alle drei waren in Kunst immer Einserschüler«, sagte John. Julia belohnte schöne Bilder mit Schokoriegeln, die meistens Warhol gewann, und sie sorgte dafür, dass das Handwerkszeug zum Malen stets vorrätig war. Die drei Brüder nutzten Fotos aus Zeitschriften (»Footballer, Flugzeuge und dergleichen«) als Vorlage für ihre Bilder, und so sollte es Warhol während seiner ganzen Karriere halten. Julia ermunterte die Kinder, Schmetterlinge und Engel zu malen, und diese sollten dann auch zu den Hauptmotiven von Warhols kommerziellem Bildmaterial in den 1950ern werden.

Eine aufschlussreiche Geschichte zirkulierte in unterschiedlichen Versionen über Warhols ersten Schultag – vielleicht war es auch der Kindergarten, da eine Fassung sich offenbar unweit der ersten Wohnungen der Warholas in Soho abspielt. Warhol war von seinem älteren Bruder Paul – laut anderer Quellen von einem Nachbarn – regelrecht in die Schule geschleppt worden, und er fühlte sich dort so elend, dass er alsbald die Flucht ergriff und tränenüberströmt nach Hause rannte. Angeblich soll ihn ein kleines Mädchen geschlagen haben, das, wie Paul Warhola bisweilen behauptete, schwarz gewesen sein soll. Diese mysteriöse Geschichte tauchte oft zusammen mit einer weiteren auf, in der Warhol an einem Baseballspiel in der Nachbarschaft beteiligt gewesen sein soll, sich aber irgendwann einfach davonmachte, um sich auf die Treppe vor dem Haus der Warholas zu setzen und zu zeichnen. Ob es den Schlag der Mitschülerin oder das Baseballspiel wirklich gegeben hat, ist gar nicht so wichtig: Die Geschichten bilden jedoch den Ursprung der Entwicklung einer Persönlichkeit ab, die eindeutig nicht die Art von Männlichkeit ausstrahlte, welche das Pittsburgh jener Zeit von einem Jungen erwartete, und die in ihrer weiteren Entwicklung geradezu zu einem Pionier der Grenzüberschreitung in Sachen Geschlechterrollen werden sollte. »Er malte Bilder von Dingen wie Blumen und Schmetterlingen – da merkte ich schon, dass er anders war«, erinnert sich sein Bruder John an jenen schicksalhaften Tag des Baseballspiels, und er beschrieb auch die farbenfrohen Tulpen, die der zehnjährige Warhol später im Garten hegte und pflegte. Vierzig Jahre später konnte Warhol sein Anderssein mit Stolz verkünden: »Jeder weiß, dass ich schwul bin.«

Der ultimative Beweis für Warhols spezielle Art des »Andersseins« mag sich ergeben haben, als ihm sein Bruder Paul eines der mannhaften Fleisch- und Pommes-Sandwiches aus dem Primanti’s kaufte, einem bekannten Restaurant in Pittsburgh, und Andy nur die Hälfte davon schaffte.

Bei der Wahl ihres neuen Hauses in Oakland war ein wichtiger Aspekt für die Warholas die Nähe zur Kirche der Familie, der Kirche des Heiligen Johannes Chrysostomos, die zu ihrer byzantinisch-katholischen Glaubenskongregation gehörte. Sie lag am Fuß des Abhangs in Ruska dolina, und jeden Sonntag zogen Julia und die Jungen – mit Andrej, wenn der gerade zu Hause war – gemeinsam dorthin, um zu beichten und verschiedene Gottesdienste zu besuchen; gelegentlich gingen sie auch an anderen Tagen zur Kirche, um verschiedene Liturgien zu feiern, die ihr Kirchenjahr vorsah. Andrejs Söhne erinnerten sich an den Vater als streng und tief gläubig, er verbot jede Art von Spiel oder Arbeit an Sonntagen, »aber alle Leute waren so«, sagte John Warhola. Julias Religiosität sah vermutlich ganz ähnlich aus: stärker auf die Kirche ausgerichtet als andere, was aber nicht verwundern kann in einer Gemeinde, die um das Gebet herum aufgebaut ist – oder durch das Gebet erst entsteht, wie sie gesagt hätten. Voll Bewunderung sprachen die Leute von Julias »sechs Meilen« langem Fußweg von den jeweiligen Wohnorten der Familie in Soho bis zur Kirche, aber das meinte den Hin- und Rückweg, und eine Strecke von fünf Kilometern zu Fuß zurückzulegen war zu der Zeit nicht unüblich und keineswegs ein Zeichen extremer bußfertiger Hingabe. Als die Straßenbahnen nach der großen Überschwemmung von 1936 den Betrieb einstellten, erlegte Julia ihren Jungen sogar noch längere Fußmärsche auf, nur um bei Bekannten vorbeizuschauen, und ihr Schwager in Mikova scheuchte seine Familie über noch viel längere Distanzen, um zu der von ihm bevorzugten Kirche zu gelangen. Nach dem Umzug in die Dawson Street waren die Warholas nur noch einen Spaziergang durch schattige Gassen und Kopfsteinpflasterstraßen von der Kirche entfernt, der mühelos in einer halben Stunde zu schaffen war.

St. Chrysostomos war im Jahr 1910 von ein paar ruthenischen Neuankömmlingen in Pittsburgh gegründet worden. Zuerst errichteten sie eine hölzerne Kirche samt Turm beinahe im Stil von New England, der keinerlei Erinnerung an die schönen hölzernen Karpatenkirchen der Heimat hervorrief. Dort wurde Warhol getauft. Um 1932 jedoch brauchte die blühende Gemeinde etwas Größeres. Anstatt das alte Gebäude abzureißen, setzten sie es auf Rollen und verlegten es aufs Grundstück nebenan, damit die neue, vom byzantinischen Stil inspirierte und gemauerte Kirche genau am Standort der alten gebaut werden konnte. Da Andrej Warhola beruflich mit solchen Hausumzügen zu tun hatte, ist es wahrscheinlich, dass er an dem Projekt beteiligt war – später arbeitete er jedenfalls für genau die Firma, die die Verlegung der Kirche bewerkstelligt hatte.

Die Chrysostomos-Gemeinde weihte das neue Gotteshaus zu der Zeit ein, als die Warholas in die Nachbarschaft zogen. Diese Kirche war das Zentrum ihrer ruthenischen Gemeinde, und sie war der Mittelpunkt von Julias Leben in dieser Gemeinde. Die ganz spezielle christliche Geschichte der Karpato-Ruthenen war untrennbar mit ihrer Gruppenidentität und ihrer geografischen Herkunft verbunden. Die christlichen Andachten in den Karpaten hatten seit jeher ihren Ursprung in den Regeln und Riten der byzantinisch-katholischen Ostkirche: Die Liturgie wurde in Kirchenslawisch gesungen (das slawische Äquivalent zum Lateinischen), Priester konnten heiraten, und die Firmung der Kinder fand noch im Kleinkindalter statt. Vor rund 400 Jahren jedoch wurden diese bäuerlichen Gläubigen davon überzeugt, Rom und dem Papst Gefolgschaft zu schwören, als neue »Unierte« oder »Ruthenische« Kirche, von der nicht verlangt wurde, ihre Gottesdienste nennenswert zu verändern. Streng genommen wurden die Warholas, die Zavackys und ihre Verwandtschaft damit römisch-katholisch. In Amerika angekommen, verlangte man jedoch plötzlich von ihnen, den Anweisungen irischer Bischöfe zu folgen, und die konnten die Gepflogenheiten der Slawen nicht ausstehen – umgekehrt war es allerdings nicht anders. In den 1920ern sah sich Rom deshalb veranlasst, den Ruthenen in Amerika ein gewisses Maß an eigenständiger Kirchenverwaltung zu gewähren, unter der sperrigen Bezeichnung »Apostolisches Exarchat der Vereinigten Staaten von Amerika, Treu dem orientalischen Ritus (Ruthenen)«. Das Exarchat hatte seinen Sitz in Pittsburgh und pflegte rege Verbindungen in die alte Heimat. Schon allein der Name vermittelt eine Vorstellung von den barocken Verwicklungen dieser kirchlich-politischen Gegebenheiten.

Die zahlreichen Warhol-Versteher, die ihn schlicht als »katholisch« bezeichnen, lassen völlig außer Acht, dass dies in der Welt von Andrej und Julia ein ausgesprochenes Reizwort war. Warhols Bruder erinnerte sich einer »natürlichen Feindseligkeit« – die selbst vor körperlicher Gewalt nicht Halt machte – zwischen den irischen und den »slowakischen« Katholiken im Stadtviertel ihrer Kindheit.

»Kein byzantinischer Gläubiger würde sich jemals römisch-katholisch nennen«, meinte der ruthenische Theologe David Petras. Hätte Julia Warhola einen Sonntag in einer römisch-katholischen Kirche ihrer Zeit zugebracht, wäre ihr das Gehörte und Gesehene zutiefst fremdartig erschienen. Wieso grummelt der Priester auf Lateinisch vor sich hin, anstatt aus vollem Halse Kirchenslawisch zu singen? Wie war das mit all den Gemeindemitgliedern, die da schweigend mit ihren Rosenkränzen saßen? Wieso stimmten sie nicht in die Liturgie mit ein, wie sie und ihre Leute das immer taten? Wieso saßen nicht die Männer auf der einen Seite der Kirche und die Frauen auf der anderen, und wieso bevorzugten diese Iren grummelige, dürre Hymnen gegenüber dem herzhaften Gesang, den sie kannte? Im selben Jahr, als die Warholas nach Oakland zogen, äußerte der Vatikan, man sei besorgt, die alten Gebräuche der byzantinischen Katholiken, vor allem die verheirateten Priester, könnten zum »Quell schmerzvoller Verwirrung oder dem Eindruck des Skandals für die Mehrheit der amerikanischen Katholiken werden«.

Als Kind wie als Erwachsener fühlte Warhol, dass diese spezielle religiöse Identität ihn auf seltsame Weise von den anderen unterschied: Die byzantinischen Katholiken bekreuzigten sich »verkehrt herum« und feierten das Weihnachtsfest am »falschen« Tag. Eine Nichte Warhols sprach über das byzantinische Weihnachtsfest als »so ganz anders und bedeutungsvoll«, verglichen mit den römisch-katholischen Messen, und die Kirche der Warholas, St. Johannes Chrysostomos, setzte sich geradezu militant dafür ein, dieses Besondere zu erhalten und sich gegen das katholische Establishment aufzulehnen, während andere ruthenische Kirchen nachgaben.

Der Vielzahl an Katholiken in den Kreisen, in denen Warhol später verkehrte, wurde oft große Bedeutung beigemessen, aber vielleicht ist das nichts weiter als ein gewöhnlicher statistischer Zufall. Warhols Umfeld stellt eine zu kleine Stichprobe dar – da ist kaum zu erwarten, dass sich dort eine gleichmäßige Verteilung der in Amerika vertretenen Religionen manifestiert. Vielleicht wäre es präziser zu sagen, Warhol bevorzugte Außenseiter, Aufsteiger und andere Immigranten – von hübschen jungen Männern mit schwarzen Locken ganz zu schweigen –, und in diesen Kategorien waren Katholiken stark vertreten, nicht zu reden von zahlreichen Juden. Zumindest einige der prominentesten Warhol-Jünger – vor allem Edie Sedgwick wäre hier zu nennen – waren amerikanische Protestanten der alten Schule, sein Freund während der ganzen 1970er war Lutheraner, einer seiner engsten Vertrauten in den späteren Jahren war ein Anhänger der Christian Science. In jedem Fall ist schwer zu erklären, wie Warhol eine katholische Mehrheit unter seinen Anhängern hätte durchsetzen wollen: Es ist nicht überliefert, dass er Neuankömmlinge einen Fragebogen zur Religion hätte ausfüllen lassen oder dass er einen Gefolgsmann hätte fallen lassen, weil der nicht bereit gewesen wäre, sofort vor dem Papst niederzuknien.

Die Verbindungen zwischen Warhols religiösem Hintergrund und seiner späteren Identität sind komplexer Natur. »Als Andy noch ein Junge war, dachten wir, er würde Priester werden. Selbst wenn er unter Druck stand, fluchte er nie«, sagte John Warhola einmal, allerdings klingt das eher wie ein allgemeiner Kommentar über das Benehmen des Jungen und sagt wenig über dessen Religiosität aus – zumal Warhol niemals Unterricht in Kirchenslawisch genommen hatte, wie ihn seine Brüder ertragen mussten. Warhol war sein Leben lang gewiss ein regelmäßiger Kirchgänger, zumindest ab und an; eine ruthenische Quelle meint, er wäre ein echtes »Fördermitglied« der byzantinischen Gemeinde seiner Mutter in New York gewesen. Wir können aber nicht ins Herz des Künstlers blicken und wissen daher nicht, ob sich darin tiefe Religiosität ausdrückt oder vielmehr ein Mix aus Sinn für Ästhetik und einem recht praktischen Aberglauben – immerhin trug er auch Quarzkristalle zur Abwehr von Krankheiten, was sich wiederum nicht ohne Weiteres als weniger sinnvoll oder normal oder wirksam abtun lässt als ein christliches Gebet.

Gemessen an der bloßen Wortanzahl zeigen Warhols Tagebücher, dass er an seinen Kristallen wesentlich größeres Interesse gehabt haben muss als an seiner Religion. Die Art und Weise, wie er geweihtes Wasser gleichsam als heiliges Desinfektionsmittel im Haus verspritzte, erscheint selbst nach den Maßstäben des Zweiten Vatikanischen Konzils als heidnisch. Warhol war gewiss nicht »religiös« in dem Sinn, dass er um die Details der konkreten Vorschriften und der theologischen Grundlagen seines Glaubens wusste oder Wert darauf gelegt hätte – und das wäre für einen guten Katholiken eigentlich unabdingbar, sei er nun Anhänger des byzantinischen oder des römischen-katholischen Ritus.

Sein langjähriger Mitarbeiter Bob Colacello, der römisch-katholisch erzogen wurde, meinte: »Er sagte, die Messe dauert ihm zu lang und die Beichte wäre ihm unmöglich, weil er sicher war, der Priester würde ihn durch den Schirm hindurch erkennen und seine Sünden ausplaudern, und die Kommunion hat er nie empfangen, weil er wusste, dass das ohne Beichte ein Sakrileg wäre.«

Seine häufigen sonntäglichen Besuche in der Kirche galten nur gelegentlich der eigentlichen Messe. Meistens erschien er entweder vor oder nach dem Gottesdienst, dann setzte er sich irgendwo auf eine der hinteren Bänke. »Ich gehe immer nur fünf Minuten«, erzählte er in seinem Tagebuch, »fünf oder zehn Minuten.« Warhol verneinte klar und deutlich die Existenz eines Lebens nach dem Tod, und der Glaube an ein solches Leben im Jenseits ist so ziemlich das wichtigste Element jedes christlichen Glaubens. »Ich glaube an den Tod nach dem Tod«, sagte er einmal. »Wenn es vorbei ist, ist es vorbei.«

Warhol klang mitunter weniger wie ein Heiliger und mehr wie ein Ästhet, genau wie all die Atheisten und Juden, die ebenso die sakrale Baukunst und ihre Liturgien bewundern und studieren: »Ich mag Kirche. Sie ist leer, wenn ich hingehe. Ich gehe umher. Es gibt so viele wunderschöne katholische Kirchen in New York. Ich habe auch schon einige Episkopalkirchen besucht.« Die römisch-katholische Kirche von St. Vincent Ferrer, die er in seinen späteren Jahren frequentierte, war tatsächlich ein eindrucksvoller neogotischer Bau, der sehr viel Ähnlichkeit mit einem der schicken protestantischen Kirchengebäude von New York hatte und der gewiss jeden Besucher mit einem Auge für Schönheit in der Baukunst anzog. Warhol sagte, er hätte die katholische Liturgie immer »bezaubernd« gefunden.

Ethnische Gepflogenheiten mögen auch eine Rolle bei seinen Kirchenbesuchen gespielt haben. Wie eine ruthenische Aktivistin über ihre eigenen Besuche in Warhols Kirche der Kindheit erzählte: »Ich bin Heidin, aber ich gehe trotzdem noch immer jeden Sonntag hin.«

Einer der allerersten Liebhaber Warhols betonte, der Künstler sei niemals in die Kirche gegangen, als sie Anfang der 1950er gemeinsame Nächte verbrachten, und eine Anhängerin, die Mitte der 1960er mehrere Jahre in engem Kontakt mit Warhol stand, meinte, für sie sei es unvorstellbar, dass er irgendeiner Religion angehöre. In den frühen 1970ern, nach der religiösen »Erweckung«, die Warhol angeblich während der Rekonvaleszenz nach dem Attentat erlebt haben soll, antwortete er auf direkte Fragen, ob er Katholik sei, rundheraus mit »Nein«. (Als er ein paar Jahre später gefragt wurde, ob er an Gott glaube, antwortete er allerdings: »Ich denke schon.«)

Warhol führte gewiss ein weniger heiliges Leben, kreierte mehr gotteslästerliche Kunst und beging mehr Todsünden, als es für das Gewissen eines gläubigen Katholiken in der Definition seiner Zeit erträglich gewesen wäre. Am Karfreitag 1977, dem Tag des Gedenkens an den Tod Christi, entschied sich Warhol für einen Besuch des grotesken Horrorfilms Carrie. Einer seiner späteren Anhänger, ein Katholik, meinte, er halte das Mitspielen in einem Warhol-Film für frevlerisch; sein Priester war der gleichen Ansicht, sagte aber, es wäre eine lässliche Sünde, schließlich machte man das ja nur, um den Lebensunterhalt zu sichern. Der Prior von Warhols letzter Kirche, der dem Künstler zweifellos einiges an Toleranz entgegenbrachte, sagte dennoch, der Lebensstil des Künstlers wäre »absolut unvereinbar« mit der katholischen Lehre.

Nach Warhols Tod war der römisch-katholische Klerus in New York willens, ihm sein gottloses Verhalten zu vergeben und eine Trauerfeier in der St. Patrick’s Cathedral abzuhalten. In der Trauerrede bei seinem Begräbnis in Pittsburgh stellte der byzantinisch-katholische Priester jedoch sehr wohl klar, dass Warhol seinen Lebensweg in großer Distanz zur Kirche gegangen sei. Er verglich ihn mit jenem sündigen Dieb, dem zu vergeben Jesus über sich brachte. »Ich musste mir gewisse Abwehrmaßnahmen einfallen lassen, um für das Bild der Kirche einzustehen«, sagte der ruthenische Trauerredner, als er genau deshalb kritisiert wurde.

Ungeachtet dessen, wie es tief drinnen in Warhols Seele aussah, besteht die vielleicht wichtigste Erkenntnis darin, dass er seinen Zeitgenossen wie der ganz normale, schwule, politisch linke Partygänger und Avantgardist erschien, und dass genau dies das Bild war, das er gegenüber dem Rest der Welt abzugeben beschlossen hatte. »Es macht Spaß, in die Kirche zu gehen«, war sein Kommentar zur Religion in einem seiner allerletzten Interviews. Seit Warhols Tod versuchen manche besonders eifrige Anhänger, sein sittlich-moralisches Andenken zu säubern, ganz so, als wäre ihr Held der Schönen Künste ein noch größerer Held, wenn er in seinem Verhalten konventioneller und regeltreuer gewesen wäre – dabei beruhen seine künstlerische Größe und Identität doch gerade und vor allem auf seinen Grenzüberschreitungen.

Selbst mit Blick auf die eher praktischen Aspekte des stilistischen Einflusses ist schwer zu sagen, welche Bedeutung seine Kirchenbesuche beim Heiligen Johannes Chrysostomos in der Zeit der Kindheit gehabt haben könnten. Das Motiv der Wiederholung in seiner Kunst wurde mit den dekorativen Bilderfolgen in der Kirche verglichen, aber Serialität gab es in der Zeit, als Warhol erwachsen wurde, überall in der modernen Kunst und Bilderkultur. Überdies geht es bei den Ikonen gerade darum, dass jede einzelne eine absolut eigenständige Bedeutung und Identität repräsentiert, wie die byzantinisch-katholischen Priester in ihren Predigten immer wieder betonen, während Warhol mit den endlosen Wiederholungen eines Bildes dessen Kernbotschaft und Aussagekraft verwässern und zugleich verstärken wollte. Er verwandelte Marilyn Monroes einmaliges Porträt in ein beliebiges Produkt im Supermarktregal, umgeben von identischen Bildern. In Marken ausgedrückt, war sie der Heinz-, während Liz Taylor der Hunt’s-Ketchup war.

Schlüssiger scheint der Ansatz mancher Beobachter, die den goldglänzenden Hintergrund bei einer Handvoll von Warhols Marilyn-Bildern mit den Goldgrundmalereien verglichen, die heutzutage auf dem riesigen Altaraufsatz in der Kirche seiner Familie zu bewundern sind. Dummerweise – aus der Sicht dieser Theorie – beweisen alte Fotos, dass diese goldenen Bilder erst lange nach der Zeit installiert wurden, in der Warhol seine Sonntage beim Heiligen Chrysostomos verbrachte. Zu seiner Zeit war der Altaraufsatz mit Heiligenbildern vor Landschaftshintergrund bedeckt, inspiriert durch die italienische Renaissancemalerei. Und auch in der alten Heimat hatten die Gläubigen üblicherweise Heiligenbilder gesehen, wo im Hintergrund viel mehr blauer Himmel zu sehen war als güldener Glanz.