Warten auf Kafka - Martin Becker - E-Book

Warten auf Kafka E-Book

Martin Becker

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Beschreibung

»Was man hier erlebt, das ist manchmal so absurd wie in einem Theaterstück von Václav Havel. Oder vertrackt wie in einer Erzählung von Franz Kafka. Sie finden, ich übertreibe? Dabei habe ich doch noch gar nicht angefangen. Außerdem: Die Geschichten stimmen vielleicht nicht immer alle hundertprozentig, aber dann hätten wir uns nicht in der Kneipe treffen dürfen, wenn Sie die absolute Wahrheit hören wollen.« Martin Becker versammelt Biographien und Geschichten tschechischer Autorinnen und Autoren und verbindet sie in seinen Essays mit leichter Hand zu einer literarischen Seelenkunde des Landes.

Es sind Geschichten vom Ankommen und vom Abschied. Vom Bleiben, obwohl man es nicht mehr erträgt. Vom Gehen, obwohl man lieber bleiben möchte. Von unwahrscheinlichen Begegnungen und vom Humor, vom Zauber und von der Melancholie. Beckers Buch lädt ein, Tschechien aus einem anderen Blickwinkel zu erleben und sich in der eigenwilligen Literatur des Landes zu verlieren.

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Seitenzahl: 280

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Zum Buch

»Was man hier erlebt, das ist manchmal so absurd wie in einem Theaterstück von Václav Havel. Oder vertrackt wie in einer Erzählung von Franz Kafka. Sie finden, ich übertreibe? Dabei habe ich doch noch gar nicht angefangen. Außerdem: Die Geschichten stimmen vielleicht nicht immer alle hundertprozentig, aber dann hätten wir uns nicht in der Kneipe treffen dürfen, wenn Sie die absolute Wahrheit hören wollen.« Martin Becker versammelt Biographien und Geschichten tschechischer Autorinnen und Autoren und verbindet sie in seinen Essays mit leichter Hand zu einer literarischen Seelenkunde des Landes.

Es sind Geschichten vom Ankommen und vom Abschied. Vom Bleiben, obwohl man es nicht mehr erträgt. Vom Gehen, obwohl man lieber bleiben möchte. Von unwahrscheinlichen Begegnungen und vom Humor, vom Zauber und von der Melancholie. Beckers Buch lädt ein, Tschechien aus einem anderen Blickwinkel zu erleben und sich in der eigenwilligen Literatur des Landes zu verlieren.

Zum Autor

MARTIN BECKER, 1982 geboren. Macht Radio. Schreibt Bücher. Mag Hunde. Er ist in der sauerländischen Kleinstadt Plettenberg aufgewachsen, freier Autor für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Literaturkritiker beim Deutschlandfunk und bei Deutschlandfunk Kultur und berichtet in Features und Reportagen unter anderem aus Tschechien, Frankreich, Kanada und Brasilien. 2007 erschien sein mehrfach ausgezeichneter Erzählband »Ein schönes Leben«, 2014 sein Roman »Der Rest der Nacht«, 2016 seine »Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien«, 2017 sein Roman »Marschmusik«, außerdem die Anthologie »Die letzte Metro. Junge Literatur aus Tschechien« (gemeinsam mit Martina Lisa). Er realisierte eine Reihe von Hörspielen und Lesungen gemeinsam mit dem tschechischen Schriftsteller Jaroslav Rudiš. Martin Becker lebt in Köln.

MARTIN BECKER

WARTEN AUF KAFKA

Eine literarische Seelenkunde Tschechiens

Luchterhand

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© 2019 by Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: buxdesign | Daniela Hofner unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture / Stock 4B / Felbert & EickenbergUmsetzung eBook: Greiner & Reichel, KölnISBN 978-3-641-22294-9V002
www.luchterhand-literaturverlag.dewww.facebook.com/luchterhandverlagwww.twitter.com/luchterhandlit

Inhalt

Erstes Bier: Prager Vorwort

Ganz klein, ganz groß? Eine Annäherung an das tschechische Erzählen

Zweites Bier: Ankommen mit unbestimmtem Auftrag

Fünfhundert Kronen. Der unverwüstliche Wert der Božena Němcová

Ungeduldige Katzen. Eine Reise zu Bohumil Hrabal

Drittes Bier: Himmelhoch jauchzend oder das Gegenteil. Prager Seelenversuche

Das Schwejk-Syndrom. Ein tschechischer Traum, ein tschechisches Trauma

Molche, Meerschweinchen und Menschen. Eine kleine politische Fabelkunde

Mit Golem-Tours durch Prag. Verzauberung durch Entzauberung

Viertes Bier: Warten auf Kafka. Eine Nacht im Nonstop

Kafka ist schon da. Ein Versuch über die Allgegenwärtigkeit des Herrn K.

Träumen wie zum Trotz. Lenka Reinerová und ihr geliebtes Prag

Fünftes Bier: Herr Blumfeld serviert. Eine letzte Rettung

Der Präsident ist tot. Ein viel, viel zu später Nachruf auf Václav Havel

Ota aus der Straßenbahn. Eine Hommage an einen alten Mann, den ich gut kannte

Sechstes Bier: Karenins Reisen. Eine Schwärmerei mit Hund

Einfach Petr. Der Müllsortierer als Poet

Nur manchmal in der Kneipe. Eine Würdigung der tschechischen Gegenwartsliteratur und eine Handvoll Empfehlungen

Siebtes Bier: Die Seele von Prag. Ein zweckloser Abschiedsversuch

Schnaps zum Schluss. Literaturverzeichnis

ERSTES BIER

Prager Vorwort

Schön, dass Sie den Weg gleich gefunden haben! Ich weiß, der Laden sieht nicht so einladend aus, aber das täuscht, das täuscht. Das ist eine ordentliche tschechische Kneipe, und abends ist hier sogar richtig was los.

Sie sind wirklich alle wegen der Seelenkunde da? Das ist ja schön. Doch, da sind Sie hier richtig. Nein, der Stammtisch der Altstadtfreunde sollte im Raum nebenan stattfinden.

Also, Klischee hin oder her: Wenn wir über tschechische Bücher und die tschechische Seele reden wollen, dann müssen wir zusammen in der Kneipe sitzen. Das Kneipengespräch ist hier nämlich so etwas wie Poesie, aus dem Katzenjammer danach wird nüchterne Alltagsprosa geschmiedet. Damit sind wir schon mittendrin, aber kommen Sie erst einmal in Ruhe an!

Setzen Sie sich zu uns, bestellen Sie sich ein erstes Bier. Natürlich ein großes, was denn sonst? Mögen Sie nicht? Dann nehmen Sie einfach ein alkoholfreies. Da fällt mir eine tolle Geschichte ein: Ein tschechischer Freund von mir hat aus Solidarität einen ganzen Abend über nur alkoholfreie Biere bestellt, weil ein Kumpel von ihm Trinkverbot vom Arzt hatte. Am Ende hatte jeder von denen drei Liter alkoholfreies Bier intus – und sie fühlten sich besoffener als von echtem Pilsener, auch der Kater am nächsten Tag war schrecklicher als jemals zuvor. Aber ich schweife ab. Vielleicht hätte ich zu meiner Seelenkunde doch nicht in die Kneipe einladen sollen? Hier kommt man meistens zu nichts. Oder immer gleich zum großen Ganzen, aber davon reden wir später.

Wo waren wir? Ach ja: Die tschechischen Bücher und die tschechischen Geschichten. Die begleiten mich schon lange.

Ich war noch kein einziges Mal in Prag gewesen, da hatte mir Milan Kundera schon längst seine Melancholie eingeimpft.

Später dann, wenn es allzu melancholisch wurde, hat der Sound des tschechischen Underground mich vom Weltschmerz befreit, Autorinnen und Autoren, die vom gesellschaftlichen Keller aus gegen das Regime anschrieben und dafür sogar ins Gefängnis gingen.

Aber von alledem sprechen wir noch lang und breit, jetzt lassen Sie uns zuerst anstoßen. Prost! Na zdraví! Gute Reise!

Eine Seelenkunde Tschechiens also. Klar spielt die größtenteils in der Kneipe. Hat auch schon der berühmte Bohumil Hrabal geschrieben: Er setze der Wirklichkeit die Hefepilze der Fantasie zu. Und das schäumt, verstehen Sie?

Wenn wir das eine Weile gemacht haben, dann gehen wir raus in die Welt. Zum Beispiel nach Kersko, in die Waldsiedlung in der Nähe von Prag, wo dieser Hrabal mit unzählbar vielen Katzen hauste. Oder wir fahren an die Berounka, wo die Fische sich heute noch die Geschichten von Ota Pavel erzählen.

Später schauen wir uns einen Fünfhundertkronenschein an – und wissen bald, was der mit zwanzig Mark, einer Großmutter und Aschenbrödel zu tun hat.

Da fällt mir ein: Haben Sie eigentlich schon gegessen? Wenn ich Ihnen was raten soll: Nehmen Sie für den kleinen Appetit den eingelegten Hermelín und dazu einige Ertrunkene, falls Sie Fleisch mögen. Oder doch lieber das Gulasch oder den frittierten Käse für den großen Hunger? Der ist hier in der Kneipe übrigens hausgemacht, angeblich hat der Großonkel der Schwester der Wirtin das Geheimrezept für die Tartarensoße im Böhmischen Paradies entdeckt, und zwar an einem Sommertag des Jahres1966, als er gerade dabei war, ein Gedicht zu schreiben über die …

Oh, ich bin schon wieder nicht bei der Sache, soll ich Ihnen vielleicht einfach irgendwas zu essen bestellen?

Schnitzel mit Pommes, echt? Na gut, dann eben Schnitzel mit Pommes.

Übrigens, ich will auch in die Prager Altstadt mit Ihnen. Die lassen wir uns von Lenka Reinerová zeigen, der letzten auf Deutsch schreibenden Autorin Prags, die 2008 verstorben ist, deren Geschichten uns aber immer noch durch die Melantrichgasse und andere Straßen führen, deren verwunschene Magie heute ersetzt worden ist durch touristische Taschenspielertricksereien. Aber auch Entzauberungen können verzaubernd sein. Zumindest in unserer schäumenden Fantasie. Vorausgesetzt, es ist genug Hefe im Spiel.

Wollen Sie lieber nur Nachtisch? Die Palatschinken sind meistens eine sichere Bank. Sogar der Kaffee ist mittlerweile ganz passabel, wenn der Wirt einen guten Tag hat.

Manchmal können Sie in der Kneipe ja sogar Kräutertee bestellen, und zwar sogar nach Mitternacht, das müssen Sie sich mal vorstellen!

Mitternacht ist ein gutes Stichwort: Neben den Tagesausflügen in die tschechische Literatur will ich Ihnen von den seltsamen Geschichten erzählen, die mir hier passiert sind. Die gehören zu meiner Seelenkunde nämlich unbedingt dazu. Oft spielen sie nachts. Denn nachts gerät man, wenn man nur eine Sekunde nicht aufpasst, in einen fürchterlichen Sog. Und dann vergisst man Zeit und Raum.

Was ich Ihnen von Prag und dem Rest des Landes erzählen will, das sind Geschichten vom Ankommen und vom Abschied.

Vom Bleiben, obwohl man es nicht mehr erträgt.

Vom Gehen, obwohl man lieber bleiben möchte.

Von unwahrscheinlichen Begegnungen und vom Humor und vom Zauber und von der Melancholie, die ich nirgendwo sonst so gefunden habe wie in diesem Prag, wie in diesem Tschechien.

Was man hier erlebt, das ist manchmal so absurd wie in einem Theaterstück von Václav Havel. Oder vertrackt wie in einer Erzählung von Franz Kafka.

Sie finden, ich übertreibe? Dabei habe ich noch gar nicht angefangen. Außerdem: Die Geschichten stimmen vielleicht nicht immer alle hundertprozentig, aber wenn Sie die absolute Wahrheit hören wollen, dann hätten wir uns nicht in der Kneipe treffen dürfen.

Bevor ich richtig ins Schwafeln komme, werde ich Ihnen erzählen, wie das alles angefangen und wer mir das mit der Seelenkunde eigentlich eingebrockt hat. Ich habe es mir nämlich nicht ausgesucht, die »Organisation« hat mich ja quasi dazu genötigt, diese ganzen Geschichten zu erleben. Welche »Organisation«? Tja, wenn ich das wüsste! Aber darüber reden wir wirklich lieber später.

Sie müssen übrigens nichts tun und noch nicht mal Eintritt bezahlen für das, was ich Ihnen die nächsten Stunden erzählen werde. Das Bier geht natürlich aufs Haus! Ich lehne mich mal aus dem Fenster: Wenn es gut läuft, dann werden Sie am Ende nicht nur angetrunken sein, sondern am Schluss meiner Seelenkunde auch das Herz an dieses wunderliche, wundersame Prag und Tschechien verloren haben. Das geht nämlich tatsächlich ganz schnell und exzellent.

Ach, Sie haben ja auch schon ausgetrunken! Zum Glück ist noch Nachmittag. Trotzdem schon bereit fürs zweite Bier?

Ganz klein, ganz groß?

Eine Annäherung an das tschechische Erzählen

»Herzlich willkommen im Land der Geschichten.« Seit einigen Jahren begrüßt die offizielle tschechische Tourismusagentur Besucherinnen und Besucher mit einer einfachen Botschaft: »Czech Republic – Land of Stories.« Normalerweise würde man einen solch lieblosen Spruch den Verantwortlichen aus der Werbebranche um die Ohren hauen. Man würde dem Geld nachtrauern, das für diese schlichte Botschaft aus dem Fenster geworfen wurde, Geld, mit dem man so viel Besseres hätte anstellen können. Ich weiß, ich weiß, Geschichten sind schön und gut, Geschichten gehen immer – aber welches Land hat denn keine zu bieten, egal, ob gute oder schlechte oder langweilige? Würde man als Staat nicht viel eher auffallen, wenn man sich als »Land ohne Geschichten« bezeichnete? Land der Geschichten, und das in der Konkurrenz mit den größeren und großen Nachbarländern, von denen manche sogar über ein Meer verfügen und somit, entschuldigt, liebe Nachbarn, über ein stark erweitertes Erzählpotenzial? Ist das wirklich euer Ernst? Ja, ihr meint es ernst. Bierernst sogar. Das »Land der Geschichten« ist nämlich durch und durch ein Land der Geschichten. Mit Leib und Seele. Ganz und gar. Das hat mich immer schon an Tschechien fasziniert: dass man gar nicht viel tun muss, um in den Sog des Erzählens zu geraten, um in diesem Prag und in diesem Land andauernd Geschichten erzählt zu bekommen, Geschichten zu erleben oder sogar selbst Geschichten zu schreiben, grotesk, originell, absurd, unglaublich – und nicht selten alles zugleich.

Mich hat das sogenannte »Land der Geschichten« schon als kleines Kind beschäftigt, vollkommen unbewusst natürlich, aber doch sehr früh. Mal auf gute, mal auf weniger gute Weise. Letztlich haben diese frühzeitigen Begegnungen mit der tschechischen Kultur meinen Blick auf das Land von Anfang an geprägt: In den Achtzigern sah ich Serien und Filme aus der Tschechoslowakei im Westfernsehen – natürlich »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«, selbstverständlich ebenso die Geschichten von Herrn Tau, der kraft seiner Fantasie und auf geradezu magische Weise schrumpfen konnte, wenn es ihm gefiel. »Pan Tau« war, obwohl mir der freundliche Herr in seinem makellosen Anzug durch seine Stummheit mitunter unheimlich war, eine Figur wie aus dem Paradies.

Direkt aus der Hölle hingegen kam für mich an einem Nachmittag vor dem Fernseher – ich war damals im Vorschulalter – die böse Frau Not, für mich die persönliche Gegenspielerin des guten Herrn Tau. Das filmische Puppenspiel »Paní Bída«, gedreht im Jahr 1983, hat mir damals tatsächlich ein veritables Trauma zugefügt. Das kreide ich natürlich eher meiner anfälligen Konstitution als der exzellenten Arbeit der Regisseurin Vlasta Pospíšilová an – oder anders, vielleicht hat mir dieser tschechoslowakische Alptraum in Puppenspielform deshalb jahrelange Angstzustände beschert, weil er so präzise ist in der Darstellung der Grausamkeit. »Frau Not« ist eine Geschichte, die ganz der Gesetzmäßigkeit sozialistischer Erziehung zu gehorchen scheint: Die Not kommt als alte Frau mit Kopftuch zur arglosen Familie eines Handwerkers, nachdem der König ihr keinen Einlass gewährt hatte. Sie lässt Mäuse aus ihren Schuhen, zerstört das Haus der Familie und wirft einen Galgen als Erinnerung in die Verwüstung hinein. Überall, wo sie auftaucht, hinterlässt sie Elend, Panik und Schrecken. Sogar den dicken, faulen und raffgierigen König treibt sie in den Tod. Aber gegen die Not, liebe Kinder, so die Moral des Films in den letzten Szenen der für ein Kind sehr langen Viertelstunde, ist ein Kraut gewachsen. Man muss nur fleißig sein. Als Frau Not nämlich zur Handwerksfamilie zurückkehrt und das gerade wieder hergerichtete Haus erneut ruinieren möchte, da werden ihr Werkzeuge gereicht – doch gegen Arbeit ist die Not allergisch, versagt auf ganzer Linie und rennt davon. Die Grausamkeit der Not hatte ich noch erfassen können – die Wendung hin zum Guten hingegen ging an mir vorbei, ich war so erschrocken, dass ich jahrelang mit niemandem über die Begegnung mit Frau Not sprach. Die Intensität dieser tschechoslowakischen Geschichte aus einem nicht real existierenden Land der Märchen wurde fast ein Jahrzehnt später abgelöst von einem anderen, noch intensiveren Horror aus Prag, zumindest wurde uns das in der Schule so beigebracht. Nach den ersten Kurzprosatexten war ich hin und weg. In dieser Form war mir das noch nie passiert: dass Literatur heftig auf mich einschlug wie eine Axt auf ein gefrorenes Meer. So etwas wie Kafka hatte ich noch nie erlebt – und es sollte in dieser extremen Ausprägung auch nicht mehr passieren. So entstand nicht nur der Wunsch, selbst Autor zu werden (tatsächlich war es Kafka, der das auslöste, aber bei wem war es Kafka nicht?), zugleich begann ich, mir über dieses offenkundig seltsame Prag Gedanken zu machen. Weil die übliche westdeutsche Klassenfahrt nach Prag nicht vorgesehen war, imaginierte ich ein goldenes Bild der Goldenen Stadt: verwunschene Gassen und noch verwunschenere Gässchen, emsige Menschen in Kleidung aus der Zeit um die Jahrhundertwende, überall Kutschen und natürlich Kafkaesken. Na gut, dass es Bierstuben in Prag gibt und Kneipen, das bekam ich mit, aber es sollte wiederum fast ein Jahrzehnt vergehen, bis ich das erste Mal in einer solchen Kneipe saß – und ich neben dem Horror mit sozialistischem Antlitz und der gigantisch komischen Alptraumwelt der Samsas und Roßmanns noch weitere wesentliche Spielarten des tschechischen Erzählens kennenlernte.

Die Kneipe war und ist für ein tiefergehendes Verständnis ein wunderbarer Initiationsort: Dort spielen nicht nur auffällig viele Kurzgeschichten und Bücher, dort kann man sie auch hören, die unglaubwürdigsten Erlebnisse, die einem selbst Freunde gern mit erhobenen Fingern schwörend erzählen – und deren Wahrheitsgehalt dennoch von Bier zu Bier immer stärker angezweifelt werden kann.

Am Rande: Natürlich stellt man im Laufe der Jahre häufig fest, dass ausgerechnet die kuriosesten Räuberpistolen wirklich stimmen, dass das, was sich der Typ da beim Bier zusammenfabuliert, einer Wahrheit entspricht, die jede Fiktion um Längen schlägt.

Die Kneipe als Refugium, die Kneipe als Ort, an dem im Laufe der Jahrhunderte ohne Angst vor Repressionen Tschechisch gesprochen werden konnte, die Kneipe als erstes Wohnzimmer, weil die eigene Wohnung viel zu klein ist: In der Tat ist das ein tschechischer Topos, der die Kultur des Landes nach wie vor prägt – ein Mythos, an dem selbst strenge Rauchverbote, Warnungen vor übermäßigem Alkoholkonsum und eine strenge Registrierkassenpflicht für jedes einzelne Bier in den letzten Jahren nicht rütteln konnten. Untrennbar damit verknüpft ist der Alltag, aus dem heraus typisch tschechische Geschichten entstehen und auch die sind eben nicht einer engen Idee von Realismus verhaftet: Die Fantasie ist durchaus frei, und die Kraft der Ausschmückung hat ein niemals zu unterschätzendes Potenzial. Sogar dem ganz alltäglichen Kulturjournalismus liegt eine spezifische Art zugrunde, die Welt zu sehen. Warmherzig und mit Witz und mit einem geschärften Bewusstsein für skurrile Details. Selbstverständlich mit einem steten Hang zur Melancholie, selbstverständlich mit einem überragenden Sinn fürs Komische, der in Mitteleuropa seinesgleichen sucht. So verschieden und so hart und so schlimm die Themen auch mitunter sein mögen, die verhandelt werden – Humor ist geradezu Voraussetzung für eine in Tschechien gebraute Erzählung. Die originellste Geschichte hätte allerdings keine Chance, sich durchzusetzen – wenn da nicht ebenso originelle Figuren wären. Diese fröhlichen und verrückten Scharen von Außenseitern und Getriebenen, diese unüberschaubare Zahl an kleinen und großen Verlierern, die ihrer Existenz dennoch ein Stück Würde abgewinnen können und die mit einer enormen Zuneigung beschrieben sind. So sind sie, die typisch tschechischen Helden, die Bahnwärter und die Soldaten, die Klinikärzte und die Papierpresser, die Zoowärter und die Schläger, die immer mit viel Pech auf der falschen Seite gestanden haben: von der Geschichte überrollt, im eigenen Leben komplett verloren, aber trotzdem noch da, aber trotzdem noch längst nicht bereit, für immer zu schweigen. Sich selbst nicht allzu ernst nehmend, den Lauf der Welt sowieso nicht. Was soll man auch tun, außer einen Witz aus dem Elend zu zimmern, das uns umgibt?

Das alles sagt etwas aus über das tschechische Selbstbild: Immer wieder ist das kleine Land im Laufe der Jahrhunderte fremdbestimmt gewesen, immer wieder gab es schmerzliche Niederlagen zu verkraften, immer wieder wurde die Leidensfähigkeit des Volkes hart auf die Probe gestellt – sei es in jüngerer Geschichte durch die brutale Herrschaft der Nationalsozialisten, sei es danach durch die düstere Zeit des Kommunismus, in der das Aufkeimen von Freiheit und Selbstbewusstsein bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 von russischen Panzern erdrückt wurde. Die tschechischen Bücher, die mich fasziniert haben, sind direkt oder indirekt mit diesen historischen Umwälzungen verbunden – die Geschichte hat Geschichten geschrieben.

Diese Grundpfeiler des tschechischen Erzählens – und somit auch der tschechischen Literatur – reichen weit bis in die Praxis des zeitgenössischen Schreibens hinein. Schaut man sich eine möglichst repräsentative Auswahl tschechischer Gegenwartsliteratur an, fallen schon auf den ersten Blick gemeinsame Themen auf: Fast alle Texte spielten irgendwann in der Dorfkneipe oder in einer Prager Bar, fast aus jeder Geschichte schaute melancholisch eine Außenseiterfigur heraus und wartete oder wartete nicht mehr auf bessere Zeiten, fast überall waltete zwischen den Zeilen diese spezielle Verschrobenheit, die allerspätestens mit dem Auftauchen des braven Soldaten Schwejk Einzug gehalten hat in das Schreiben in Böhmen und Mähren. Bei aller Folklore, bei aller Komik, bei aller Bierseligkeit: Man sollte die tschechische Literatur keinesfalls unterschätzen oder nur eindimensional betrachten, man sollte sie nicht abtun als provinzielle Weltbeschreibung, eingeklemmt irgendwo in der mitteleuropäischen Kulturgeschichte zwischen den großen und mächtigen Spielern. Der Schwejk hat weltliterarischen Rang, ebenso werden die erbafelten Geschichten eines Bohumil Hrabal international beachtet – erst kürzlich setzte eine Gruppe enthusiastischer Filmemacherinnen und Filmemacher in den USA seinen Text »Allzu laute Einsamkeit« als aufwändig gedrehtes Puppenspiel um. Übrigens nur eine weitere Verfilmung eines Werks von Hrabal, die weit über die Grenzen Tschechiens hinaus große Beachtung fand: »Liebe nach Fahrplan« wurde 1968 mit dem Oscar für den besten ausländischen Film ausgezeichnet.

Die tschechische Literatur als Weltliteratur? Kleines Land, große Geschichten?

Milan Kundera, neben Bohumil Hrabal einer der prominentesten tschechischen Schriftsteller internationalen Rangs (obgleich das Verhältnis zu seinem Heimatland als äußerst schwierig und komplex gilt und er sich selbst mittlerweile nicht mehr als tschechischer Autor empfindet), hat sich in einem Text aus dem Jahr 1991 mit diesen Fragen beschäftigt. So schreibt Kundera in seinem Vorwort zur Anthologie »Die Prager Moderne«: »Ein kleines Volk erlebt seine Existenz als ewiges ›Sein oder Nichtsein‹, als Vabanquespiel, während für die großen Völker die eigene Existenz eine Selbstverständlichkeit ist.«1 Das hat natürlich Konsequenzen: Der Horizont des eigenen Landes kann nicht den großen Kontext ersetzen, das hindert die kleineren Literaturen daran, sich als wesentlicher Teil der Weltliteratur zu begreifen. In Russland sei es möglich, die gesamte literarische Bildung theoretisch nur aus russischer Literatur zu ziehen, in Frankreich entsprechend nur aus der französischen Literatur – das wäre in einem kleinen Land wie Tschechien schwierig. Oft gebe es deshalb zwar das Gefühl der unbedingten Wertschätzung von Weltliteratur – zugleich sei das aber auch weit weg, »etwas, das sich woanders befinde, hinterm Horizont, hinter den Grenzen des Landes«.2 Dennoch erstrahlt die Literatur kleiner Länder wie Tschechien erst im globalen Kontext, wirkt sie in diesem übergeordneten Gefüge gerade nicht provinziell.

Milan Kundera greift wiederum auf Bohumil Hrabal als Beispiel zurück – und findet einen Bruder im Geiste, eine Verwandtschaft, die man so nicht unbedingt vermuten würde, wenn man an Hrabals überbordende böhmische Kneipengrotesken denkt. Einerseits gäbe es niemanden in Böhmen, der so und genau so schreiben würde wie Hrabal: auf sein Heimatland bezogen also einmalig.

Wohl aber existieren, sagt Kundera, Verbindungen in andere (kleine) Weltliteraturen – beispielsweise bis auf die Karibikinsel Martinique, wo der Schriftsteller Patrick Chamoiseau geboren wurde. Kundera muss bei dessen Romanen ständig an seinen Landsmann Hrabal denken, eine karibisch-tschechische Analogie, wenn man so will: »Die gleiche von allen Fesseln befreite Fantasie, von der die Surrealisten geträumt haben, eine ebensolche Verwurzelung im plebejischen Leben der einfachen Menschen.«3

Milan Kundera selbst stellte für mich übrigens den Zugang zur auf Tschechisch verfassten Literatur dar: mein erster Kontakt zur tschechischen Art, von vertrackten Geschichten und aussichtslosen Zwischenmenschlichkeiten zu erzählen. Wahrscheinlich hat Kunderas »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins«, 1984 im französischen Exil des Autors veröffentlicht und erst 2008 offiziell erstmals in Tschechien publiziert, ganze Generationen von jungen Menschen wie mich dazu bewegt, an einem winterlichen Tag nach Prag zu reisen. Ohne jedes Vorwissen, aber mit den Bildern der tragikomischen Kundera’schen Liebeskummerromantik im Kopf.

Während ich mich in Kundera wie von selbst verloren habe, brauchte ich bei Hrabal, das gebe ich zu, viele Anläufe, um überhaupt einen Fuß in die Tür dieses Universums zu bekommen, das so bescheiden und mitunter läppisch daherkommt und den leichten Plauderton nahezu perfekt simuliert. Natürlich gibt es die vermeintlich rührseligen Kneipenszenen, natürlich gibt es den vermeintlich launigen wie launischen Schriftsteller im Selbstinterview, natürlich, und das tat ich am Anfang, konnte man dem Irrglauben erliegen, es handele sich bei Hrabals Schreiben um eine folkloristische Art, die vorgeblich kunterbunte böhmische Existenz zu verstehen. Doch geht es Hrabal immer um mehr. Geht er aufs Ganze, setzt man bei manchen seiner Bücher zum dritten Mal an, wo man vorher spätestens auf Seite zwanzig gescheitert war – um plötzlich zu bemerken, dass dieser Ausflug in das Land der Geschichten modern und aufregend ist, dass sich das Geschehen der ganzen Menschheit durchaus im regennassen Kopfsteinpflaster des kleinen Örtchens Nymburk spiegeln kann, wo Hrabal aufgewachsen ist.

Mein Glück war auch, dass ich neben Kundera und Hrabal nach meinem ersten Besuch in Prag schnell Autorinnen und Autoren traf, die direkt greifbar und ansprechbar waren, deren Bücher den aktuellen Diskurs der tschechischen Literaturszene prägten: Der Autor Jaroslav Rudiš wurde rasch ein Freund, und die Gedichte von Petr Borkovec zum Beispiel begleiteten mich über Monate hinweg, obwohl ich mit Poesie nicht selten meine liebe Not habe. Doch der Dichter aus der kleinen Gemeinde Černošice an der Prager Stadtgrenze hatte mich schon nach wenigen Zeilen gewonnen: weil seine Gedichte sich so unprätentiös, ja, geradezu bescheiden zeigen, weil sie Geschichten erzählten, schmerzlich und wehmütig oft und noch häufiger sehnsüchtig – weil man diese Gedichte wieder und wieder lesen konnte, weil sie dieses typisch Tschechische hatten, einen unwiderstehlichen Sog eben. »Feldarbeit« hieß der Band, den ich eine Zeit lang immer bei mir trug, erdige Poesie, die den Alltag in den Blick nimmt.

Im Laufe der Zeit gesellten sich mehr und mehr Autorinnen und Autoren hinzu, mit deren Werken ich mich in meinem Kapitel über die Gegenwart noch ausführlich beschäftigen werde, aber mit Kafka und Kundera und Hrabal und Rudiš brach für mich das Eis, hatte die tschechische Art des Schreibens etwas in mir angestoßen, wusste ich, dass mich diese kleine, große Literatur in den folgenden Jahren intensiv beschäftigen würde.

Um nochmals auf den Anfang meiner Überlegungen zurückzukommen: Zweifelsohne ist Tschechien ein Land der Geschichten. Weil das Erzählen um Kopf und Kragen so wichtig, so besonders und so einmalig ist, ist es die Literatur des Landes gerade auch. Berührt es meine Seele wieder und wieder und ist wegen seiner häufigen Lebensnähe geradezu prädestiniert dazu, im Zentrum einer Seelenkunde zu stehen. Natürlich werde ich keine lückenlose Literaturgeschichte Tschechiens liefern können. Das ist auch gar nicht mein Ziel. Ich nehme Lücken bewusst in Kauf, um eine subjektive Auswahl an Autorinnen und Autoren zu treffen, an Romanen und Stücken und Geschichten und Begegnungen, die mich bewegt haben.

Verbunden mit der Einladung, mit dieser literarischen Seelenkunde in der Hand die Bücher des Landes zu entdecken. Und damit die Geschichten und damit die Menschen und damit eine warmherzige Art, das Leben so zu nehmen, wie es ist – und ihm in jeder noch so aussichtslosen Lage am Ende doch zumindest ein kurzes Lächeln abzupressen.

ZWEITES BIER

Ankommen mit unbestimmtem Auftrag

So, das ging schnell, wir machen weiter – haben Sie alle Ihr zweites Getränk? Gut, dann setze ich fort: Liebe beginnt manchmal mit einem plötzlichen Türklingeln am Morgen und endet mit dem Geräusch einer sich schließenden Kneipentür. Dieser Satz eines verlassenen Liebenden fällt am Ende eines tschechischen Kinofilms, den ich vor Jahren gesehen und dessen Namen ich gleich wieder vergessen hatte. Ich musste oft an ihn denken, denn mit einem Läuten an meiner Tür fing ja auch diese Prager Verstrickung an, die mich bis heute zwangsläufig beschäftigt: Jemand musste mich empfohlen haben, denn ohne dass ich etwas Gutes getan hätte, wurde ich eines Morgens eingeladen. Einfach so.

Ich lag noch im Bett, als es klingelte. Der Postbote. Beim Aufstehen spürte ich ein unangenehmes und ungewohntes Ziehen in der Magengegend, ich hatte nicht zu viel getrunken, und für Hunger war es noch viel zu früh. Ich öffnete, der Postbote eilte die Stufen zu mir in den dritten Stock herauf und überreichte mir, völlig außer Atem, einen großformatigen Umschlag, der nicht in den Briefkasten passte. So riesige Sachen bestellen, und dann noch von so weit weg, grummelte er atemlos im Gehen. Theoretisch hätte mich so etwas wochenlang verärgert, praktisch aber sollte ich jenen Postboten lange nicht mehr wiedersehen, aber das wusste ich in diesem Moment noch nicht. Der Postbote hatte mir einen Umschlag aus der Tschechischen Republik überreicht, von Hand und sehr ordentlich beschriftet, allerdings ohne Absender. Als hätte ich geahnt, dass gerade ein Wunder geschieht, riss ich den Brief noch im Flur mit zitternden Fingern auf und – war irritiert: Ich fand ein kleineres (diesmal unbeschriftetes) Kuvert, schon beim Öffnen fielen mir einige Münzen entgegen: tschechische Kronen. Exakt abgezählt für die erste Straßenbahnfahrt in Prag. Außerdem ein Bündel Geld, ich zählte zehntausend Kronen in kleinen Scheinen – und ein Zugticket, gültig nur heute, dafür aber in sämtlichen Zügen.

Eine unangenehme Verwechslung, dachte ich, man muss das sofort aufklären, irgendwer wartet in genau diesem Moment auf genau diesen Brief und sitzt auf heißen Kohlen, fast wäre ich dem Postboten hinterhergehetzt, dann entdeckte ich meinen Namen auch in der Anrede des Begleitschreibens. Was war hier eigentlich los? Fangen so nicht besonders dröge Fernsehkrimis an? Durch einen banalen Fehler (Namensverwechslung, Verrutschen in der Zeile des Telefonbuchs) sieht man Dinge, die man nicht hätte sehen sollen, schon ist man Mitglied einer ehrenwerten Familie oder einer Vereinigung, kurz, man steckt mittendrin im Sumpf des Verbrechens, im nächsten Augenblick überlagert das Geräusch klickender Handschellen das eigene Jammern – und der schnappatmende Postbote zieht eine gehässige Grimasse und ruft im Weggehen: Sehen Sie, das haben Sie jetzt davon, man soll gar nicht erst so riesige Umschläge öffnen, erst recht nicht von so weit weg.

Bevor ich den Brief las, sah ich mich, von meinen Vorstellungen getrieben, wie ein gehetztes Tier um, nahm den großen Umschlag und den kleinen Umschlag, schloss leise die Wohnungstür hinter mir und drehte den Schlüssel zwei Mal. Man weiß ja nie. Woher kamen diese Fantasien? Mir war, als hätte ich sie mit dem Aufreißen dieses Umschlags befreit und müsse jetzt selbst sehen, was ich mit ihnen anstelle. »Wertester Herr B.«, so begann der Brief eines gewissen Herrn Cimrman, »ich sende Ihnen die allerherzlichsten und verbindlichsten Grüße von der wunderschönen Moldau.« Man sei auf Grundlage verschiedener Empfehlungen aus gesellschaftlichen, kulturellen und sogar politischen Kreisen auf mich aufmerksam geworden, mein Optimismus, meine Neugierde und mein unverwüstlicher Frohsinn prädestinierten mich für diese schwierige Aufgabe, von der niemand wisse, wie sie letztlich ausgehen werde, schließlich habe man dieses Experiment noch nie gewagt. Ich hielt kurz inne: Aufgabe? Experiment? Hatte ich mir mit dem Aufreißen des Umschlags nicht nur allerlei paranoide Visionen eingehandelt, sondern mich mit dem Berühren des Geldes auch stillschweigend einverstanden erklärt? War ich bereits das schneeweiße Prager Versuchskaninchen mit rot leuchtenden Augen, das nicht wusste, was ihm nun blühen würde?

Ich überflog den Rest: Dieser Cimrman war Vorsitzender der sogenannten »Organisation zur Pflege und Entwicklung der tschechischen Seele«. Ich war ausgesucht worden, für ein Jahr an einer sogenannten Seelenkunde zu arbeiten, für die ich lediglich einige ungefährliche Aufgaben bewältigen und im Rahmen dessen recherchieren und beobachten müsste. Und das bei komplett freier Zeiteinteilung. Niemand nehme es mir übel, wenn ich ablehnte, überhaupt, die »Organisation« übe aus Prinzip keinerlei Druck aus und wehre sich gegen alle Dogmen, ich solle es einfach als sehr tschechisches Angebot nehmen, wie es eben manchmal vom Himmel und uns vor die Füße fällt.

Rasch zog ich mein Telefon aus der Hosentasche und suchte im Netz nach dem, was ich in Zukunft nur noch als die »Organisation« bezeichnen würde. Das Ergebnis? Gar keins. Nichts. Man fand sie nicht. Weder Cimrman noch die Organisation, die sich mit Erforschung oder Pflege oder gar der Entwicklung tschechischer Seelen beschäftigt. Auch keine ähnliche Einrichtung existierte. Wer machte so etwas? War das ein sehr elaborierter und noch dazu kostspieliger Streich? Was sollte ich jetzt machen? Alles ignorieren? Das wäre zu schade gewesen um die Fahrkarte und das Geld. Die Sache einer entfernten Freundin oder einem Bekannten mit listigem Lächeln übergeben und fein raus sein? Nein, dafür war es mir zu wichtig. Zu wichtig? Was dachte ich denn da schon wieder? Nur wenige Minuten nach dem Auftauchen in meinem Leben hatte es die »Organisation« also schon mit ihren Schmeicheleien geschafft, dass ich diesen ganzen Wahnsinn als wichtige Sache ansah. Was hatte ich zu verlieren? Ich war in einer komfortablen Situation, ich war frei und konnte jederzeit abbrechen, ich hatte in den vergangenen Jahren in Prag immer wieder Erleuchtungen gehabt, seltsame und fast magische Zustände erlebt, im Grunde genommen war ich felsenfest davon überzeugt gewesen, dass ich irgendwann wirklich in dieser Stadt leben würde. Nur die Art und Weise überraschte mich dann doch. Ich fragte mich, wer dort geplaudert haben könnte, denn vielen Leuten hatte ich nicht davon erzählt.

Ich musste nichts ausfüllen, ich musste nichts bestätigen, ich musste nichts abklären, ich musste nur meinen Koffer packen und in den Zug steigen. Ich sollte für einige Tage in eine von der »Organisation« bezahlte Pension einkehren, da meine Wohnung (schrieben sie allen Ernstes, dass ich eine Wohnung bekommen würde?) noch in Vorbereitung sei, meine erste Aufgabe zur Erforschung der tschechischen Seele, teilte mir die »Organisation« direkt mit, war denkbar einfach: Ich sollte ankommen.

Frag nicht nach, das ist dein Lottogewinn, ging es mir plötzlich durch den Kopf, was wir Weg nennen, ist Zögern, am Abend wäre ich in Prag und in der Kneipe, und ich müsste keinen Handschlag dafür tun.

Ich warf die Kronenscheine hoch und jubelte, und plötzlich zog es wieder in der Magengegend, mir wurde vor lauter Glück ganz übel und schwarz vor Augen, und ich sackte in meinem Wohnungsflur zusammen. Das war die nächste Premiere, auch das war mir noch nie passiert.

Ins Bett legen, Bananen essen und Tee trinken, den Magen schonen, haben Sie das verstanden? Das kann ich nicht, sagte ich zum Doktor, einem Landarzt ganz alter Schule, der eigentlich erst dann wirklich alarmiert war, wenn die Lage geradezu aussichtslos schien. Ich hatte mich in seine Notfallsprechstunde geschleppt, jetzt sah er mich ausdruckslos an. Wenn Sie nicht lebensmüde sind, dann lassen Sie das sein, sagte der Arzt. Die »Organisation« wird mir Schwierigkeiten machen, sagte ich. Welche Organisation denn, in Gottes Namen? Ich schreibe Sie für eine Woche krank, das sollte auch Ihrer Organisation genügen. Und jetzt gehen Sie Bananen kaufen. Und danach ab ins Bett. Sie haben recht, Herr Doktor, sagte ich und wartete, bis der in die Jahre gekommene Nadeldrucker die Krankschreibung ausgespuckt hatte. Danke für Ihre klaren Worte. Dafür bin ich ja da, sagte der Doktor, läuten Sie die Nachtglocke, wenn es schlimmer wird. Haben Sie einen guten Tag.