Warum kämpfen wir? Und wie hören wir auf? Imitation und Streit - René Girard - E-Book

Warum kämpfen wir? Und wie hören wir auf? Imitation und Streit E-Book

René Girard

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Beschreibung

Menschen und Gemeinschaften begehren Objekte nicht um ihrer selbst willen – sondern sie imitieren das Begehren anderer. Durch dieses »mimetische Begehren«, ein Grundkonzept im Denken des Kulturanthropologen und Religionsphilosophen René Girard (1923–2015), entstehen Rivalität und Konflikte. Wie diese zu einem Ende finden, beschreibt Girard mit einem »Sündenbock-Mechanismus«: Die mimetische Vergiftung bewegt sich weg vom Sehnen hin zu einem Opfer, das alle Schuld zu tragen hat – als ob es tatsächlich verantwortlich wäre. Girard gilt als Theoretiker der Stunde: Seine Überlegungen über Konflikte und Ideologien, wie sie das titelgebende Gespräch und sein letzter Essay »Über Krieg und Apokalypse« pointiert zugänglich machen, lassen uns die Entwicklungen der Gegenwart besser verstehen.

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Seitenzahl: 149

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René Girard / Ulrich Bossier

Warum kämpfen wir? Und wie hören wir auf?

Imitation und Streit

Reclam

E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

 

 

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962076-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014271-4

www.reclam.de

Inhalt

Konflikt (1986)

Über Krieg und Apokalypse (2009)

Gewalt und Religion: Ursache oder Wirkung? (2004)

Verwerfung des Realismus im 20. Jahrhundert

Religiöses Opfern

Innerbiblische ›Unterschiede‹

Die moderne Entwicklung weg von der Gewalt

Conclusio

Opfer, Gewalt und Christentum (1997)

Was ist Gewalt?

Reziprozität

Wie sich Beziehungen ändern

Beziehungen des Verlangens, etwa bei Shakespeare

Freundschaft als Urheberin der Entzweiung zwischen Menschen

Ein ansteckendes Feuer

Bremsmechanismen

Die christliche Erzählung

Ein totalitärer Prozess (1987)

Vergeltung (1987)

Warum kämpfen wir? Und wie hören wir auf? (2005)

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Literaturhinweise (Werke Girards)

Nachwort

Wir streiten, weil wir gleich sein wollen: Wie eine paradoxe Einsicht Karriere macht

Kolonisiertes Verlangen

Freud und Marx lagen falsch

Der Kampf wird zum Selbstzweck

Angst statt Achtung

Bedingungsloser Frieden

Zum Autor

Zur Herausgeberin

Danksagung

Konflikt (1986)

Warum haben alle Menschen – ja, ich zweifellos auch – solch eine bemerkenswerte Fähigkeit zum Konflikt? Warum sind unsere Beziehungen so fragil, so leicht zu beschädigen und so schwer, wenn nicht gar unmöglich zu reparieren?

Die nukleare Sackgasse macht diese Frage heute zur dringlichsten aller Fragen. Neu ist sie freilich nicht. Paradoxerweise könnte die gegenwärtige Dringlichkeit ihre ungeheure Dimension eher verbergen als sie offenbaren. Stellen wir uns einmal für einen Moment vor, Amerika und Russland hätten einander erfolgreich und sorgfältig vernichtet, ohne dem Rest der Welt Schaden zuzufügen. Kann man ernsthaft glauben, dass dann, wo nun die Oberteufel fort sind (wie es die Ayatollahs1 ausdrücken würden), die Welt endlich zum Frieden fände? Bestenfalls käme es zu einer Neuauflage der nuklearen Sackgasse, nur eben mit anderen Protagonisten.

Ein Politikwissenschaftler würde den Fokus wohl auf Amerika und Russland legen, auf Kapitalismus und Kommunismus, doch stellt sich in diesem Zusammenhang eine allgemeinere Frage. Diese ist so allgemein, dass sie abstrakt erscheint, und dabei ist sie ohne Zweifel sehr konkret und sehr real: Woher diese beträchtliche Fähigkeit der Menschen zum Konflikt?

Blicken wir zurück, dann erkennen wir, dass die gesamte Geschichte (und Vorgeschichte) der Menschheit immer rascher und rascher auf eine technische Schwelle zugelaufen ist, jenseits derer die zerstörerische Kraft der Waffen in Zusammenwirken mit der ingeniösen Gabe der Menschheit für Zwietracht keine Alternativen übriglässt als die folgenden zwei, nämlich die baldige Zerstörung allen Lebens auf diesem Planeten oder aber ein bedrohliches Fortfahren des Bisherigen in einer Welt, die permanent am Rande des totalen Desasters steht.

Sollen wir die Schuld an dieser Entwicklung dem Nationalstaat als solchem zuschreiben oder vielleicht gar, wie Jean-Jacques Rousseau, jeglicher Form sozialer Organisation? Das wäre aber bloß eine weitere Methode, der eigentlichen Frage auszuweichen.

Können wir für unsere individuelle und kollektive Gespaltenheit irgendein gewaltiges ›System‹ verantwortlich machen, das uns im Interesse irgendwelcher dunklen Mächte manipuliert? Manche Systeme sind zweifellos besser als andere, nur die Tatsache, dass wir alle sterben müssen, bleibt davon unberührt; aber wir müssen noch jenes System herausfinden, das die ingeniöse Gabe des Menschen zur Zwietracht daran hindert, sich weiterhin zu behaupten. Meiner Meinung nach wurzelt diese Gabe in einer Form der Entfremdung, die viel umfassender und universeller ist als jene, die Marx, Freud und andere entdeckt haben.

Selbst die Leidenschaftlichsten unter uns empfinden nie das Gefühl, dass sie wahrhaft die Personen sind, die sie sein wollen. Für sie ist das wunderbarste Wesen, der einzige Halbgott, immer jemand anders, und dem eifern sie nach und übernehmen dessen Wünsche und Ziele und bescheren sich selbst dadurch ganz sicher ein Leben beständiger Zwietracht und Rivalität mit denen, die sie gleichzeitig hassen und bewundern.

In der alten Sprache religiöser Ethik gilt die Todsünde des Hochmuts als selbstschädigend. Je selbstzufriedener und autonomer ein Mensch zu sein versucht, desto komplizierter und verdrehter verwickelt er sich ins Fremde.

Niemand, scheint mir, kann die außerordentliche Fähigkeit des Menschen zum Konflikt untersuchen, wenn er nicht zuerst erkennt, dass er ein Teil des Problems ist und dass seine schlechtesten Triebe untrennbar vermengt sind mit seinen besten.

Die zwangsläufige persönliche Involviertheit des Fragestellers wie auch der allumfassende Charakter der Frage verleihen meiner Untersuchung einen ›philosophischen‹ oder sogar ›religiösen‹ Einschlag, der wohl dauerhaft verhindert, dass ein Wissenschaftler sie für ›wissenschaftlich‹ hält. Bedeutet dies, dass unsere Wissenschaftskultur diese Frage ignorieren darf? Kann sie sich das wirklich leisten?

Über Krieg und Apokalypse (2009)

Meine Arbeit wird oft als eine Erörterung über archaische Religionen mit den Mitteln der komparativen Anthropologie bezeichnet. Ihr Ziel ist es, den Prozess der Menschwerdung zu beleuchten: den faszinierenden Übergang vom Tiersein zum Menschsein, der sich vor Tausenden Jahren ereignete.

Die zentrale Hypothese meiner Theorie dreht sich in allen Fällen um Mimesis2: Da die Menschen einander imitieren, mussten sie ein Mittel finden, mit der ansteckenden Ähnlichkeit umzugehen, die schlicht und einfach zum Verschwinden ihrer Gemeinschaft führen konnte. Der Mechanismus, mit dem sie dieses Problem bewältigten, war das Sakrifiz (die rituell überhöhte Opferung), das in eine Situation, da jeder jedem gleichsah, wieder Unterschiede einführte.

Dies bedeutet, dass unser Menschsein vom Sakrifiz herrührt; wir sind Kinder der Religion. Was ich, nach Freud, den ›Urmord‹ nenne – die Vernichtung eines sakrifiziellen Opfers, das schuldig an Unordnung, aber gleichzeitig fähig ist, Ordnung wiederherzustellen –, hat sich in den Anfängen unserer Institutionen beständig vollzogen. Seit dem Anbruch des Menschseins wurden dergestalt Millionen unschuldiger Opfer getötet, damit ihre Mitmenschen miteinander zusammenleben konnten oder wenigstens nicht einander vernichteten.

Dies ist die unerbittliche Logik des Sakralen, die ursprünglich von Mythen verschleiert wurde; deren Verbergungspotenz nimmt aber ab, je mehr die Menschen ihrer selbst bewusst werden. Der entscheidende Punkt in dieser Entwicklung liegt in der christlichen Offenbarung. Rituale hatten in einem langsamen Prozess die Menschen erzogen; nach dem Christentum mussten sie ohne diese zurechtkommen. Anders gesagt: Das Christentum hat die Religion demystifiziert.

Nun ist Demystifikation, absolut gesehen, ja etwas Gutes; relativ betrachtet jedoch hat sie sich als etwas Schlechtes herausgestellt, denn wir waren nicht darauf vorbereitet, ihre Konsequenzen zu schultern. Wir sind nicht christlich genug.

Das Paradox lässt sich auch anders ausdrücken: Das Christentum ist die einzige Religion, die ihr eigenes Scheitern vorhergesehen hat. Diese Prophezeiung ist bekannt als die Apokalypse. Tatsächlich ist Gottes Wort in den apokalyptischen Schriften am energischsten: Dort geißelt er Missstände, die gänzlich von den Menschen verschuldet sind, welche sich immer weniger geneigt zeigen, die Mechanismen ihrer Gewalt anzuerkennen. Je länger wir im Irrtum verharren, desto mächtiger schallt Gottes Stimme aus der Verwüstung heraus. Deshalb mag niemand die apokalyptischen Texte lesen, von denen die synoptischen Evangelien und die Paulus-Briefe förmlich überquellen. Deshalb will auch niemand erkennen, dass diese Texte sich uns deshalb wuchtig entgegenstellen, weil wir das Buch der Offenbarung ignoriert haben. Einmal in der Geschichte wurde die Wahrheit über die Identität aller Menschen ausgesprochen, und niemand wollte es hören; dafür halten wir umso wahnhafter an unseren unechten Unterschieden fest.

Zwei Weltkriege, die Erfindung der Atombombe und all die übrigen Schrecken der Moderne haben nicht genügt, um die Menschen – und am allerwenigsten die Christen – davon zu überzeugen, dass die apokalyptischen Texte ein Desaster betreffen könnten, das sich auf dem Weg zu uns befindet. Gewalt wurde über die ganze Welt losgelassen, und wir befinden uns in folgender paradoxer Situation: Indem wir näher an Alpha kommen, gehen wir auf Omega zu: Indem wir den Ursprung besser verstehen, können wir jeden Tag ein bisschen klarer sehen, dass der Ursprung näher rückt. Infolge des Urmordes3 wurden uns Fesseln angelegt, die infolge der Passion wieder fielen – mit der Konsequenz einer Freisetzung von Gewalt weltweit.

Wir können die Bande nicht wieder festzurren, weil wir wissen, dass die Sündenböcke im Sakrifizprozess unschuldig sind. Die Passion Christi hat den sakrifiziellen Ursprung der Menschheit ein für alle Mal enthüllt. Sie demontierte das Heilige und offenbarte seine Gewalt. Und doch: Als die Passion das Heilige freisetzte, setzte sie gleichzeitig auch die Gewalt frei. Die moderne Form des Heiligen ist daher keine Rückkehr zu einer archaischen Form. Es ist ein Heiliges, das satanisiert wurde durch die Tatsache, dass wir uns seiner bewusst sind, und durch seine Exzesse signalisiert sie uns das Bevorstehen der Zweiten Wiederkunft.

 

»Krieg ist«, schrieb Heraklit, »von allem der Vater.«4 Dieses Gesetz der menschlichen Beziehungen wurde im 19. Jahrhundert neu formuliert, ein paar Jahre nach Napoleons Sturz, in einer Amtsstube der Berliner Militärakademie. Und diese Neuformulierung erfasste einen bestimmten Zug der Politik, nämlich die Neigung zu Extremen und die Unfähigkeit, das gegenseitige Hochschaukeln von Gewalt unter Kontrolle zu halten. Der Autor dieser Äußerung, Carl von Clausewitz (1780–1831), konnte sein Buch Vom Kriege nicht mehr vollenden, aber es ist vielleicht der bedeutsamste Text, der je zu diesem Thema geschrieben wurde: eine Abhandlung, welche die Engländer, die Deutschen, die Franzosen, die Italiener, die Russen und die Chinesen wieder und wieder gelesen haben, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum heutigen Tag.

Clausewitz’ Vom Kriege tritt auf mit dem Anspruch, eine Arbeit über Strategie zu sein. Es untersucht die seinerzeit jüngsten Beispiele für die Neigung zu Extremen, die denen, die sie praktizierten, wie üblich nicht bewusst waren. Clausewitz spricht zu uns über sein Spezialgebiet, als hätte er mit den realen Waffengängen ringsherum nichts zu tun oder nichts zu tun gehabt, und das Ergebnis seiner Analyse hat Implikationen, die weit über seine Rede hinausgehen. Er formulierte und half zu identifizieren, was man ›ein Preußentum in seiner verstörendsten Form‹ nennen könnte, ohne allerdings die Konsequenzen dessen zu Ende zu denken, was er da identifiziert hatte.

Wir sind die erste Gesellschaft, die weiß, dass sie sich selbst vollständig zerstören kann. Doch fehlt uns der Glaube, der sich unter diesem Wissen halten könnte. Nicht Theologen haben uns auf den Weg der neuen Rationalität geführt; dies leistete jemand, der 1831 mit 51 Jahren starb. Clausewitz war ein Militärtheoretiker, den Frankreich, England und die Sowjetunion verachteten, ein temperamentvoller Schreiber, der niemanden gleichgültig ließ. Seine Thesen zum damaligen Ist-Zustand haben keine Zukunft. Doch weisen sie eine Unterströmung auf, die man laut verlesen sollte, weil er eine verborgene Wirklichkeit offenbaren könnte.

Es wäre heuchlerisch, Vom Kriege nur als technisches Buch zu sehen. Was geschieht, wenn wir die Extreme erreichen, die Clausewitz nur flüchtig streift, bevor er sie hinter seinen strategischen Überlegungen verbirgt? Dies ist die Frage, die wir uns heute stellen müssen. Clausewitz hat eine erstaunliche Intuition, was den beschleunigten Lauf der Geschichte betrifft, doch verschleierte er seine Erkenntnisse gleich wieder und versuchte seinem Buch den Ton einer technisch-wissenschaftlichen Abhandlung zu geben. Wir müssen daher Clausewitz vervollständigen, indem wir den Weg wieder aufnehmen, den er abgebrochen hat, und ihn zu Ende gehen. Die Interpretation des Werks Vom Kriege zu vervollständigen heißt zu erkennen, dass seine Bedeutung eine religiöse ist und dass nur eine religiöse Interpretation die Chance hat, zu dem vorzustoßen, was an ihm wesentlich ist. Durch Clausewitz’ Text wird die Relevanz apokalyptischer Texte augenscheinlicher und eindringlicher.

Wir dürfen den Autor des Buches Vom Kriege nicht zum Sündenbock machen, wie es in ihrer Zeit Stalin und einer von Clausewitz’ berühmtesten Kommentatoren, Liddell Hart5, getan haben. Uns stellt aber auch die Schüchternheit nicht zufrieden, mit der Raymond Aron6 versucht hat, ihn zu rehabilitieren. Der Grund dafür, dass der Text bis heute nicht völlig verstanden wurde, lieg vielleicht daran, dass er zu oft attackiert und verteidigt wurde. Es ist, als hätten wir noch nicht den Wunsch verspürt, die zentrale Intuition zu verstehen, die er zu verbergen sucht.

Diese ständige Verleugnung ist interessant. Clausewitz war wie alle großen Autoren besessen von Animositäten. Er wollte rationaler sein als die Strategen, die ihm vorausgegangen waren, und da geschah es ihm, dass er plötzlich seinen Finger auf einen Aspekt der Realität legte, der absolut irrational ist. Er schreckte zurück und versuchte, davor seine Augen zu verschließen.

 

Clausewitz nahm die Beziehungen zwischen den Menschen als mimetisch wahr, obwohl sein philosophischer Ansatz dem des Rationalismus der Aufklärung entsprach. Er lieferte alles, was notwendig war, um darzutun, dass die Welt mehr und mehr zu Extremen neigt, und doch behinderte und begrenzte seine Vorstellung seine Intuitionen. Clausewitz und seine Kommentatoren wurden von ihrem Rationalismus gehemmt. Dies beweist bestens, dass eine andere Art von Rationalität erforderlich ist, um die Wirklichkeit dessen zu verstehen, was er flüchtig beleuchtet hat.

Von einer »Wechselwirkung wider das Streben nach dem Äußersten« ist bei Clausewitz die Rede, und im ersten Kapitel schreibt er: Krieg sei »ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem andern das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum Äußersten führen muss.«7 Ohne es zu bemerken, erkannte Clausewitz nicht nur das apokalyptische Schema, sondern auch die Tatsache, dass es verbunden ist mit mimetischer Rivalität. Wie kann diese Wahrheit in einer Welt verstanden werden, die weiterhin ihre Augen verschließt vor den unkalkulierbaren Konsequenzen der mimetischen Rivalität? Nicht nur, dass Clausewitz recht hatte, im Gegensatz zu Hegel und aller modernen Weisheit; vielmehr schließt das, womit er recht hatte, schreckliche Implikationen für die Menschheit ein. Allein dieser Kriegshetzer hat einige Dinge richtig erkannt.

Christus erlaubt es uns, dass wir uns dieser Wirklichkeit stellen, ohne in Wahnsinn zu versinken. Die Apokalypse verkündet nicht das Ende der Welt; sie schafft Hoffnung. Wenn wir plötzlich die Realität erkennen, erleben wir nicht die absolute Verzweiflung einer nichtdenkenden Moderne, sondern entdecken eine Welt wieder, in der Dinge eine Bedeutung haben. Hoffnung ist nur dann möglich, wenn wir über die Gefahr nachdenken, die uns droht; dies macht es jedoch erforderlich, dass wir uns sowohl den Nihilisten, für die alles nur Sprache ist, als auch den pragmatischen Realisten entgegenstellen, die die Vorstellung verwerfen, der Verstand könne zur Wahrheit vorstoßen: Zu dieser Gruppe gehören Staatenlenker, Bankiers und Soldaten, die vorgeben, uns zu retten, während sie uns tatsächlich jeden Tag tiefer in die völlige Zerstörung treiben.

Indem er akzeptierte, gekreuzigt zu werden, brachte Christus Licht in etwas, das »seit Anbeginn der Welt verborgen geblieben«8 war – das Geschehen zu diesem Anbeginn selbst, der einmütige Mord, der zum ersten Mal im hellsten Tageslicht am Kreuz erschien. Um zu funktionieren, mussten archaische Religionen ihren Urmord verbergen, der dann kontinuierlich in rituellen Opfern wiederholt wurde; so schützten sich menschliche Gesellschaften vor ihrer eigenen Gewalt. Indem es den Urmord offenbarte, zerstörte das Christentum die Ignoranz und den Aberglauben, die für solche Religionen unverzichtbar sind. So machte es einen Erkenntnisfortschritt möglich, der bis dahin undenkbar gewesen war.

Befreit von sakrifiziellen Einschränkungen erfand der menschliche Geist Wissenschaft, Technik und alles Beste und Schlechteste in der Kultur. Unsere Zivilisation ist die kreativste und wirkmächtigste, welche die Welt je gekannt hat, aber auch die fragilste und bedrohteste Zivilisation, denn sie besitzt nicht mehr die Absturzsicherungen der archaischen Religion. Ohne Sakrifiz im weitesten Sinne könnte sie sich selbst zerstören, wenn sie nicht achtgibt, was sie eindeutig nicht tut.

War Paulus größenwahnsinnig, als er im Ersten Korintherbrief von der »heimlichen, verborgenen Weisheit Gottes« schrieb, »welche keiner von den Obersten dieser Welt erkannt hat; denn so sie die erkannt hätten, hätten sie den HERRN der Herrlichkeit nicht gekreuzigt«?9 Ich sehe dies anders. Die Herrscher der damaligen Zeit, alles, was Paulus »Mächte« und »Fürstentümer« nennt, hatten Staatsstrukturen, die aufbauten auf dem Urmord, was effektiv, weil verborgen war. Die führende Kraft war hier das Römische Reich, das wesensmäßig Böse war im Absoluten, aber unverzichtbar im Relativen – und immer noch besser als die totale Zerstörung, vor der uns die christliche Offenbarung warnt. Noch einmal: Dies bedeutet nicht, dass die christliche Offenbarung etwas Schlechtes wäre. Sie ist etwas gänzlich Gutes, nur sind wir leider unfähig, mit ihr zu Rande zu kommen.

Ein Sündenbock bleibt solange effektiv, wie wir an seine Schuld glauben. Einen Sündenbock zu haben bedeutet, nicht zu wissen, dass wir einen haben. Sobald uns bewusst wird, dass wir einen Sündenbock haben, verlieren wir ihn auf immer und sehen uns mimetischen Konflikten ausgesetzt, für die es keine Lösung gibt. Dies ist das unerbittliche Gesetz der Neigung zu Extremen. Das Schutzsystem, das im Schaffen von Sündenböcken besteht, wird letztendlich zerstört durch die Erzählungen von der Kreuzigung, weil sie die Unschuld Jesu und nach und nach auch die aller ähnlichen Opfer enthüllen. Der Prozess einer Erziehung, die hinwegführte vom gewalttätigen Sakrifiz, setzte sich in Gang, doch kam er nur sehr langsam voran, und seine Fortschritte blieben weitgehend unbewusst. Erst in unseren Tagen zeigte er bemerkenswerte Ergebnisse, die sich als behagliche Existenz niederschlugen – und gleichzeitig erweist er sich als immer gefährlicher für das Leben auf der Erde.

Damit die Offenbarung gänzlich gut und in keiner Weise bedrohlich werde, müssen die Menschen nur das Verhalten annehmen, das Christus ihnen nahelegt: völligen Abstand nehmen von Rache und Vergeltung und auf die Neigung zu Extremen verzichten. In der Tat, wenn man an der Neigung zu Extremen festhält, wird dies geradewegs zur Vernichtung allen Lebens auf diesem Planeten führen. Diese Möglichkeit streifte Raymond Aron, als er sich zu Clausewitz äußerte. Er schrieb dann eine beeindruckende Arbeit, dazu gedacht, apokalyptische Logik aus seinem Sinn zu vertreiben und sich selbst um jeden Preis den Glauben zu erhalten, dass das Schlimmste vermieden werden könne, dass Abschreckung immer triumphieren würde. Hier bricht eine religiöse Klarsicht an, die dem überlegen ist, was die meisten Menschen ertragen, doch sie genügt nicht. Wir müssen die Interpretation des Textes weitertreiben. Wir müssen die Interpretation vollenden.

Seit der ›romanesken Konversion‹, die sich in meiner Studie von 1961 vollzog, betitelt Figuren des Begehrens10, waren all meine Bücher mehr oder minder explizite Verteidigungen des Christentums. Das Christentum ist ein Urmord in Umkehrung, und das erhellt, was verborgen bleiben muss, um rituelle, sakrifizielle Religionen hervorzubringen. Paulus verglich es mit Nahrung für Erwachsene, im Gegensatz zur Nahrung für Kinder, die die archaischen Religionen gewesen seien. Bei Nietzsche finden sich ähnliche Intuitionen; er sprach vom »infantilen« Charakter der Griechen.