Warum Menschen Böses tun - Gwen Adshead - E-Book

Warum Menschen Böses tun E-Book

Gwen Adshead

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Beschreibung

»Adsheads Mitgefühl ist fast so schockierend wie die Straftaten selbst – ein bemerkenswerter und tiefgründiger Einblick.« THE TIMES Seit über dreißig Jahren arbeitet die führende forensische Psychiaterin Dr. Gwen Adshead mit den schlimmsten Verbrecher:innen, Menschen, die von der Boulevardpresse gern als »Monster« bezeichnet werden. Sie nimmt uns mit in die Therapiesitzung und offenbart, was diese Männer und Frauen denken und erlebt haben. Sie zeigt sie in ihrer ganzen Komplexität, Abgründigkeit und Menschlichkeit. Wie eine Detektivin sucht die Autorin nach den Faktoren, die einen Menschen zum Mörder machen, und entschlüsselt so den Code des Bösen. ›Warum Menschen Böses tun‹ erzählt spannend und mit radikaler Empathie von Grausamkeit und Verzweiflung, aber auch von Veränderung und Heilung.

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Seitenzahl: 583

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Von Mördern und Menschen

Seit über dreißig Jahren arbeitet die führende forensische Psychiaterin Dr. Gwen Adshead mit den schlimmsten Verbrecher:innen, Menschen, die von der Boulevardpresse gern als »Monster« bezeichnet werden. Sie nimmt uns mit in die Therapiesitzungen und offenbart, was diese Männer und Frauen denken und erlebt haben. Sie zeigt sie in ihrer ganzen Komplexität, Abgründigkeit und Menschlichkeit. Wie eine Detektivin sucht die Autorin nach den Faktoren, die einen Menschen zum Mörder machen, und entschlüsselt so den Code des Bösen.

Dabei entlarvt sie nicht nur Mythen und Vorurteile, sondern hinterfragt auch die Strukturen eines Gesundheitssystems, das Therapien oft viel zu spät ermöglicht.

›Warum Menschen Böses tun‹ erzählt spannend und mit radikaler Empathie von Grausamkeit und Verzweiflung, aber auch von Veränderung und Heilung.

»Brillant«

SUNDAY TIMES

»Zutiefst menschlich«

IRISH TIMES

© Philip Vanoutrive

Dr. Gwen Adshead ist eine renommierte forensische Psychiaterin und Psychotherapeutin. Neben ihrer langjährigen Tätigkeit im psychiatrischen Hochsicherheitskrankenhaus Broadmoor Hospital arbeitete sie u. a. in der Bewährungshilfe, im Frauengefängnis und fürs Familiengericht. 2013 wurde Adshead mit der President’s Medal für ihre Verdienste in der Psychiatrie geehrt.

© Patrick Douëtil

Eileen Horne ist eine amerikanische Autorin, Dramatikerin und ehemalige Fernsehproduzentin. Sie hat Kreatives Schreiben in London studiert und mehrere Bücher veröffentlicht.

Roberto de Hollanda arbeitet als Literaturagent, in der Filmbranche und übersetzt aus dem Englischen, Spanischen und Portugiesischen, u.a. Anna Romer, Jack Kerouac, Almudena Grandes und Julia Phillips.

Gwen Adshead und Eileen Horne

WARUMMENSCHENBÖSESTUN

Eine forensische Psychiaterinerzählt von ihren Fällen

Aus dem Englischenvon Roberto de Hollanda

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel

›The Devil You Know. Stories of Human Cruelty and Compassion‹

bei Faber & Faber, London.

Copyright © 2021 by Dr. Gwen Adshead und Eileen Horne

eBook 2022

© 2022 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Roberto de Hollanda

Lektorat: Timea Wanko

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © plainpicture/Leander Hopf

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8268-7

www.dumont-buchverlag.de

Für Laura,

EINLEITUNG

In jenen fernen Zeiten, als Menschen sich im Flugzeug noch miteinander unterhielten, wurde ich manchmal gefragt, was ich beruflich mache. »Ich bin Psychiaterin und Psychotherapeutin und arbeite mit Gewalttätern und -täterinnen«, antwortete ich dann. Die leichte Neugier wich Verwunderung. »Soll das heißen, dass Sie solche Menschen tatsächlich behandeln?« Das führte zuweilen zu einem spontanen Vortrag darüber, »was für ein sinnloser Aufwand« es sei, sich mit »derartigen Ungeheuern« zu beschäftigen. Manchmal bekam ich auch ein eher verwirrtes: »Denen ist doch nicht zu helfen, sind die nicht von Natur aus so?« Gelegentlich mischte sich ein britischer Mitreisender ein und sagte in gedämpftem Ton: »Ehrlich gesagt bin ich der Meinung, dass das Parlament die Todesstrafe wieder einführen sollte.« Heutzutage behaupte ich bei den seltenen Gelegenheiten, dass jemand während des Anschnallens eine Unterhaltung beginnt, ich sei Floristin. Allerdings hat jede:r, der oder die sich von menschlicher Grausamkeit sowohl fasziniert wie auch abgestoßen fühlt, zum Umgang mit Gewalt und denjenigen, die sie ausüben, eine bessere und ehrlichere Antwort verdient, und darum habe ich dieses Buch geschrieben.

Ein lateinisches Sprichwort besagt, dass die Dämonen, die wir kennen, nicht so gefährlich sind wie jene, die wir nicht kennen. Wären meine Mitreisenden Mitglieder einer Therapiegruppe, könnte ich sie bitten, über diesen Satz nachzudenken. Von einer solchen hypothetischen Therapiegruppe aus »Flugzeugsitznachbarn« würde ich mir viel versprechen – bestimmt wäre es eine freundliche, gesprächige Runde. Wir könnten mit den aus der Religion oder der eigenen Fantasie bekannten Dämonen beginnen. »Was ist mit dem Dämon, den wir nicht kennen?«, würde ich dann fragen. »Was wäre er für Sie?« »Offenkundig etwas Fremdes«, würde jemand antworten. »Wie eins dieser Monster, mit denen Sie arbeiten.« Nach und nach würde die Gruppe – so hoffe ich – herausfinden, dass dieser Dämon auch für ein grausames und herabsetzendes Ich stehen könnte, das in uns allen lebt. Das zu akzeptieren, wird einigen nicht leichtfallen, denken wir nur an die schönen Worte von Lears Tochter: »Doch hat er sich von jeher nur obenhin gekannt.«

In den folgenden Geschichten werde ich zeigen, was meine Kolleg:innen und ich mit »diesen Monstern« tun, und wie und warum Zuhören und Mitfühlen einen Unterschied machen können. Ich urteile nicht über diejenigen, die womöglich anderer Ansicht sind, so wie ich auch über meine Patienten und Patientinnen kein Urteil fälle. Jede:r ist fasziniert von dem, was wir »das Böse« nennen, dieser menschlichen Fähigkeit zur Gewalt und Grausamkeit – mehr als genug Beweise lassen sich in unseren Nachrichten- und Unterhaltungsmedien dafür finden.1 Zwar nimmt in den letzten Jahrzehnten den Statistiken zufolge Gewalt, egal in welcher Form, stetig ab, dafür aber wächst unser Verlangen, mehr über sie zu erfahren. Ich schließe mich selbst ausdrücklich ein, immerhin habe ich mir diesen Beruf ausgesucht.

Als ich in den 1980er-Jahren Medizin studierte, war die Psychiatrie noch ein Fachgebiet, das oft übergangen oder missachtet wurde, obwohl seit der Antike Konsens darüber herrscht, dass ein gesunder Geist Voraussetzung für einen gesunden Körper ist. (Und wie es einer meiner Kollegen gern ausdrückt: »Psychiater sind Ärzte, die sich um den einzigen Teil des Körpers kümmern, der zählt.«) Anfangs liebäugelte ich damit, mich in orthopädischer Chirurgie zu spezialisieren, wahrscheinlich, weil ich Dinge reparieren wollte und mich die pragmatische Ausrichtung dieses Fachs reizte. Aber ich fühlte mich auch zur Psychiatrie hingezogen und mich faszinierte, wie sie mit der menschlichen Identität und Kommunikationsfähigkeit zusammenhängt. Ich fand, dass dieser Bereich sowohl intellektuell wie auch emotional überaus stimulierend sein könnte. Ich erkannte, dass Komplexität und Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes gewaltig sind und diese Erkenntnis nicht nur persönlich, sondern auch politisch bedeutsam ist.

Im Laufe der Jahrhunderte fanden Menschen immer wieder andere Bilder für diesen Geist und griffen dabei oft auf die jeweils aktuellen Technologien zurück – heutzutage ist dies meistens der Computer: eine Maschine mit »vorprogrammierter« Identität. Gedanken oder Emotionen werden wie Daten »verarbeitet« und »gespeichert« und wir »wechseln den Modus«, wenn wir verschiedene Funktionen ausführen. Eine derartige Betrachtungsweise eignet sich für bestimmte Forschungsgebiete, sagt aber wenig über die Komplexität der menschlichen Erfahrung aus, insbesondere in dem relationalen Raum, in dem wir alle unser Leben leben. Physiker wie Carlo Rovelli behaupten, das Universum sei relational, daher müsse der Geist ebenfalls relational sein. Wenn das stimmt, dann brauchen wir zutreffendere Bilder, die die organische, sich ständig weiterentwickelnde Natur der psychologischen Erfahrung widerspiegeln.

Ich stelle mir die Psyche lieber als Korallenriff vor: uralt, vielschichtig und geheimnisvoll, nicht ohne Schatten und Gefahren, aber mit einer gesunden Vielfalt. Auf den ersten Blick mag es chaotisch erscheinen, tatsächlich aber ist es ein komplexes, unendlich faszinierendes und strukturiertes Ökosystem. Gerät ein Riff unter ökologischen Stress, bleicht es aus und verkümmert, doch die Wissenschaft hat auch gezeigt, dass es auf Eingriffe reagiert und widerstandsfähiger gemacht werden kann. Als Studentin lernte ich bald, dass das Studium der Psychiatrie einen »Sprung in die Tiefe«, einen »Tauchgang unter die Oberfläche« erfordert, in eine Dunkelheit, in der Dinge von großer Schönheit warten, aber auch Gefahren lauern. Es dauerte eine Weile, bis ich mich akklimatisiert und gelernt hatte, durchzuatmen.

Seitdem durfte ich während meiner langen beruflichen Laufbahn immer wieder Situationen erleben, die mich mit Ehrfurcht und Staunen erfüllten und die ich mit dem Meer und seinen verborgenen Tiefen verbinde – ich liebe E.E.Cummings Vorstellung, dass »es immer unser Selbst ist, das wir im Meer finden«.2 Diesen Werdegang einzuschlagen, war ein immens lohnendes und oft unvorhersehbares Unterfangen; es hat mir gezeigt, dass Gut und Böse, die Vorstellung von Richtig und Falsch, aber auch Kategorien wie Opfer und Täter nicht unumstößlich sind und nebeneinander bestehen können. Anfangs dachte ich, es ginge bei meiner Arbeit darum, Menschen zu helfen, sich besser zu fühlen, aber mit der Zeit lernte ich, dass wir sie dabei unterstützen, »ihre Psyche kennenzulernen«, und das ist etwas ganz anderes. Dieser Prozess verläuft für meine Patienten und Patientinnen nicht schmerzfrei, und auch für mich wurde es manchmal stürmisch. Dabei entstehen zwangsläufig belastende Gefühle, die jedoch eher tiefe Traurigkeit und Hilflosigkeit auslösen als Entsetzen und Abscheu. Meine Aufgabe besteht darin, diese Reaktionen zu erkennen und sie mitfühlend, aber auch distanziert zu benennen; Buddhisten würden es vielleicht als »Schweben im Bardo« bezeichnen.

Während meiner psychiatrischen Ausbildung lernte ich die forensische Arbeit kennen. Sie befasst sich mit den dunkleren Regungen des Bewusstseins, die als potenzielle Risikofaktoren gelten. Das Wort »forensisch« leitet sich vom lateinischen forum ab, einem Ort, an dem Rechtsstreitigkeiten verhandelt wurden. Neben allgemeinen medizinischen Aufgaben wie der Begutachtung, der Erstellung von Diagnosen und der koordinierten Versorgung von Klient:innen befassen sich forensische Psychiater:innen auch mit der Frage, wie eine Gesellschaft auf Menschen, die gegen das Strafrecht verstoßen, reagiert und wie sie mit ihnen umgehen soll. Die Arbeit wirft auch interessante ethische und rechtliche Fragen auf, was die Verantwortung, die Handlungs- und Schuldfähigkeit von psychisch kranken Menschen angeht. Viele forensische Psychiater:innen arbeiten in geschlossenen Einrichtungen als Teil eines Teams von Fachleuten, das eine koordinierte Betreuung anbietet. Sie sind wie »Tauchpartner«, die einen Plan ausarbeiten und sich die Verantwortung für ihre Sicherheit teilen. Ich arbeite von Natur aus gern im Team, davon zeugt meine Arbeit als Gruppentherapeutin (und dieses Buch), daher schien die Arbeit in der Forensik wie für mich geschaffen.

Nach meiner Ausbildung zur forensischen Psychiaterin wurde mir bald bewusst, dass ich auch als Psychotherapeutin arbeiten wollte. Als dieser Berufszweig entstand, waren die meisten Psychiater:innen zugleich Psychotherapeut:innen, aber im späten zwanzigsten Jahrhundert wurden daraus getrennte Disziplinen, und es galt als ungewöhnlich, wenn ein:e Psychiater:in auch als Psychotherapeut:in tätig war. Für mich aber lag die Kunst der Psychiatrie darin, mit Menschen in einen Dialog zu treten und Schritt für Schritt ihre Lebensgeschichte zu entschlüsseln: Ich wollte mit ihnen in die Tiefe gehen und ihnen Zeit und Raum zur Reflexion geben. Während meiner Weiterbildung zur Psychotherapeutin beschäftigte ich mich mit bestimmten Forschungsgebieten wie mütterlicher Gewalt, Trauma und Gruppenarbeit, aber auch mit medizinischer Ethik und der Behandlung von Ärzten und Ärztinnen. Dieses und vieles mehr ist in den folgenden Geschichten eingewoben. Ein wichtiger roter Faden in meiner Arbeit war die Beschäftigung mit den Auswirkungen frühkindlicher Bindungen auf Beziehungen und ihrem Zusammenhang mit späteren Gewalttaten. Dies hatte, wie ich noch darlegen werde, einen großen Einfluss auf meine Vorstellung von menschlichem Verhalten.

Jedes Gewaltverbrechen ist eine Tragödie, nicht nur für die Opfer und ihre Familien, sondern auch für die Täter und Täterinnen. Ich plädiere keineswegs dafür, dass jede Gewalttat entschuldigt wird oder dass unsere Gefängnisse und geschützten Einrichtungen geschlossen werden. Ich glaube fest an Gerechtigkeit und Konsequenzen innerhalb eines humanen Rechtsrahmens, und angesichts einiger schrecklicher Dinge, die ich gesehen oder gehört habe, zweifele ich nicht daran, dass eine bestimmte Gruppe von Gewalttäter:innen in Sicherheitsverwahrung gehört. Ich verstehe auch, warum Menschen das Bedürfnis haben, Gewalttäter:innen zu verurteilen: Rache ist ein tief verwurzelter menschlicher Impuls, so etwas wie ein Ur-Gerechtigkeitsgefühl, das uns aber in unserer Angst und Wut gefangen hält und nur jene Grausamkeit reflektiert, die wir angeblich so verabscheuen. Das kann schmerzhaft sein: Es steckt ein Körnchen Wahrheit in der gängigen Vorstellung, einen anderen Menschen zu hassen sei so, als würde man selbst Gift nehmen und warten, dass der andere stirbt. Und wie Gandhi und andere bemerkt haben, ist es ein Merkmal gerechter Gesellschaften, dass wir den Schlimmsten unter uns mit Mitgefühl begegnen.

Mit der Zeit habe ich mir angewöhnt, meine Patienten und Patientinnen als Überlebende einer Katastrophe zu sehen, wobei sie selbst die Katastrophe sind und meine Kolleg:innen und ich das Erste-Hilfe-Team. Ich begegne ihnen an einem Wendepunkt in ihrem Leben und helfe ihnen, sich mit einer neuen Identität zu arrangieren, die sich vielleicht irreversibel anfühlt. Einer meiner Patienten brachte es auf den Punkt: »Man kann ein Ex-Busfahrer sein, aber kein Ex-Mörder.« Unsere Arbeit fordert von den Menschen, dass sie den Umgang mit ihrer Lebensgeschichte lernen und Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen, und das kann ein schwieriger und langwieriger Prozess sein. Zudem spielt sich unsere Arbeit vor dem Hintergrund wechselnder politischer Programme ab, die Ressourcen und Resultate der Psychiatrie beeinflussen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie der damalige britische Premierminister John Major Anfang der 1990er-Jahre, nicht lange nachdem ich meine forensische Laufbahn begonnen hatte, den berühmten Satz äußerte: »Die Gesellschaft muss weniger verstehen und mehr verurteilen.«3 Die anschließende Welle von Masseninhaftierungen, obligatorischen Mindeststrafen und drastischen Kürzungen innerhalb der psychiatrischen Versorgung hatte sowohl in Großbritannien als auch in der restlichen Welt weitreichende und verheerende soziale Folgen – darüber ist an anderer Stelle von sachkundigen Leuten viel geschrieben und gesagt worden. Ich möchte nur anmerken, dass wir viel zu viele Menschen wegsperren, um das gesellschaftliche Verlangen nach Bestrafung zu stillen, obwohl nur ein kleiner Prozentsatz von ihnen zu grausam oder zu gefährlich ist, um wieder in die Gesellschaft integriert zu werden.

Ich habe mein ganzes Arbeitsleben, mehr als dreißig Jahre, im Nationalen Gesundheitsdienst Großbritanniens (NHS) verbracht. Die meiste Zeit habe ich im Broadmoor Hospital in Berkshire gearbeitet, etwa achtzig Kilometer westlich von London. Broadmoor wurde 1863 als Teil des viktorianischen Vorhabens erbaut, »Asyle« für »geisteskranke Verbrecher« zu errichten (im Griechischen bedeutet »Asyl« »Zuflucht«, wir würden es eher mit »Heim« oder »Anstalt« übersetzen). Es waren Einrichtungen, in denen die Insass:innen manchmal auf unbestimmte Zeit festgehalten wurden. Mit seiner falschen gotischen Fassade und seiner Vergangenheit, zu der auch die Unterbringung einiger berüchtigter Gewaltverbrecher und -verbrecherinnen gehörte, nimmt Broadmoor seit Langem einen besonders schaurigen Platz in den Köpfen der Brit:innen ein. Bei einem Ausbildungsbesuch dort während meines Studiums hielt auch ich diese Anstalt mit der ganzen Gewissheit und Ignoranz der Jugend für antiquiert, ja barbarisch. Als ich dann tatsächlich dort arbeitete, wurde ich eines Besseren belehrt. Unsere geschützten psychiatrischen Anstalten erfüllen eine wichtige humane Funktion, und ich bin froh, dass die meisten anderen entwickelten Länder ähnliche psychiatrische Einrichtungen oder eine angemessene Alternative haben.

Heute gelten Einrichtungen wie Broadmoor nicht mehr als Verliese für Menschen, denen nicht geholfen werden kann und die nie wieder entlassen werden; im Gegenteil, der Schwerpunkt liegt auf Rehabilitation und Genesung, mit einem durchschnittlichen Aufenthalt von fünf Jahren. Im Broadmoor Hospital gibt es inzwischen nur noch etwa zweihundert Betten, nicht mal halb so viele wie zu der Zeit, als ich dort anfing. Viel mehr Menschen werden jetzt in Anstalten mit mittlerer und niedriger Sicherheitsstufe eingewiesen, in denen ich im Laufe der Jahre ebenfalls arbeitete. Die meisten Patient:innen in solchen Einrichtungen werden entweder nach einem Gerichtsverfahren durch eine:n Richter:in eingewiesen oder aus dem Gefängnis zur Behandlung dorthin verlegt, wenn sich ihr psychischer Gesundheitszustand verschlimmert. Es kann aber auch (allerdings seltener) sein, dass sie aus einer privaten oder betreuten Wohnsituation zu uns kommen, weil sie eine Gefahr für andere darstellen.

Als NHS-Mitarbeiterin habe ich auch viel Zeit damit verbracht, Menschen in Strafanstalten zu behandeln. Die psychiatrischen Versorgungsdienste in Großbritannien sind seit den 1990er-Jahren dazu verpflichtet, Gefängnisinsass:innen mit psychischen Problemen zu betreuen. Sogenannte »Inreach-Teams«, spezielle Betreuungsdienste für Personen in Justizvollzugsanstalten, tun ihr Bestes, um die ständig wachsende Anzahl von Insass:innen zu unterstützen und zu behandeln. Ich habe selbst erlebt, dass die Nachfrage nach psychiatrischer Versorgung in den Gefängnissen die Kapazitäten bei Weitem übersteigt und dass eine Inhaftierung psychische Erkrankungen noch verschlimmert. Diese Misere ist bekannt und muss dringend angegangen werden. Man schätzt, dass 70 Prozent der Insass:innen britischer Gefängnisse mindestens unter zwei psychischen Erkrankungen leiden, die von Depressionen über Drogenmissbrauch und -abhängigkeit bis hin zu Psychosen reichen. Die Law-and-Order-Politik der letzten Jahre hat zu einem starken Anstieg von Inhaftierten geführt. In Großbritannien hat sich ihre Zahl seit Beginn meines Studiums verdoppelt, in den USA sogar mehr als verdreifacht. Zwar ist die Kriminalitätsrate in diesem Zeitraum generell gesunken, doch bedeutet die Zunahme der Inhaftierungen (die in England und Wales höher ist als irgendwo sonst in Westeuropa), dass die relative Zahl psychisch kranker Menschen in den Gefängnissen ebenfalls gestiegen ist.4

Diese Zahlen und die verschärfte Rechtslage erklären die ernsten Probleme sozialer und ethnischer Ungleichheit in unserer Welt besser als irgendwelche vermuteten Zusammenhänge zwischen psychischen Erkrankungen und Kriminalität. Die überwiegende Mehrheit der Menschen mit seelischen Erkrankungen wird niemals irgendwelche Gesetze brechen, ja nicht einmal ein Knöllchen bekommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Opfer einer Straftat werden, ist dagegen leider viel größer. Die kleine Gruppe von psychisch erkrankten Menschen, die nach einer Gewalttat im Gefängnis landen, kommt dort nicht gut zurecht. Die Bedingungen sind schon für Menschen, die an Leib und Seele gesund sind, schwierig genug. Der Mangel an Ressourcen hat zur Folge, dass nur 10 bis 20 Prozent der Gefangenen, die als »schwer psychisch krank« eingestuft werden, die benötigte Hilfe und Behandlung erhalten. Selbst dann müssen sie unter Umständen lange darauf warten. Die »Triage« für die Psyche ist nicht so einfach wie die für gebrochene Gliedmaßen oder Schusswunden.

Meine Kolleg:innen und ich müssen mit diesem moralischen Widerspruch und dem Wissen, wie fehlerhaft und unzulänglich das System ist, leben. Wir sind Teil einer Demokratie, in der das Volk die Regierung wählt und unsere Gesetze den Willen der Mehrheit abbilden. Das bedeutet, dass Straftäter:innen unserem Auftrag entsprechend behandelt werden. Auf jede Person mit psychischen Problemen, die ich behandle, kommen viele weitere, die ich nie erreichen werde. Das zu wissen, bedeutet nicht, dass ich aus lauter Protest die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und mich von dannen machen kann – alle Ärzt:innen tun, was in ihrer Macht steht. Im Übrigen gibt es auch viele Menschen, die unsere Hilfe ablehnen, selbst wenn sie ihnen angeboten wird. Man kann niemanden zu einer Psychotherapie zwingen.

Über den Bereich der forensischen Psychiatrie ist in der Öffentlichkeit kaum etwas bekannt. Normalerweise werden psychische Erkrankungen und die Behandlung von Gewalttäter:innen mythologisiert oder falsch dargestellt, oft in fiktionaler Form oder als sogenannte wahre Kriminalfälle, die meist ignorieren, dass wir alle Menschen sind. In einer Zeit, in der offenbar an vielen verschiedenen Fronten abgerechnet wird, habe ich das dringende Bedürfnis, an die Öffentlichkeit zu treten. Die intensiven täglichen Debatten zu vielen akuten sozialen Fragen, die mithilfe von schnellen Kommunikationstechnologien ständig neu befeuert werden, scheinen mir vor allem von Angst geprägt zu sein. Und was ist furchterregender als ein »Monster«, das eine Gewalttat verübt hat? Wie ein Hai, der durch die Schatten des Riffs huscht, wird ein:e Gewalttäter:in vornehmlich als Raubtier wahrgenommen. Dieser Mensch, der wie jeder von uns einmal ein Kind war, mit ähnlichen Vorstellungen von Freude und Kummer wie wir, geht in der Polarität und im öffentlichen Lärm der Verurteilung einfach unter.

Jahrelang habe ich Vorlesungen über Gewalt oder Konzepte wie »das Böse« gehalten, und es hat mir während meiner gesamten Karriere Spaß gemacht, für ein akademisches und professionelles Publikum zu schreiben. Seit einiger Zeit halte ich auch Vorträge in der Öffentlichkeit und fühle mich gewappnet, ein breiteres Publikum einzuladen, mich in die Therapiesitzungen zu begleiten, in denen ich so viel über die Psyche gelernt habe. Aber meine Arbeit kann zäh und verworren sein; manche Patient:innen haben Schwierigkeiten, über ihre Gefühle oder Gedanken zu sprechen, während andere nicht begreifen, was Realität ist. Um meine Erfahrungen weiterzugeben, habe ich mich mit meiner guten Freundin Eileen Horne zusammengetan, einer Dramatikerin und Geschichtenerzählerin. Sie arbeitet seit Langem – wie ich auch – daran, dem Sinnlosen einen Sinn zu verleihen und die Vorstellungskraft zu nutzen, um Mitgefühl zu wecken. Gemeinsam zeichneten wir meinen beruflichen Werdegang durch eine Reihe von Geschichten nach, die auch einen Einblick in die strukturellen Veränderungen des NHS sowie in die Fortschritte der Psychotherapie und des Justizsystems der letzten drei Jahrzehnte ermöglichen. Mein Wissen fußt auf den Erfahrungen, die ich in Großbritannien gemacht habe, aber ich beziehe mich auch auf Studien, Daten und berufliche Praktiken aus anderen Ländern, insbesondere aus den USA.

In meinem Buch ist das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ausgewogen, obwohl Frauen weniger als 5 Prozent aller Straftätigen5 ausmachen. Das liegt daran, dass ich stark in die Forschung zu weiblicher Gewalt involviert war, mit vielen gewalttätigen Frauen gearbeitet habe und es mir wichtig war, dass ihre Stimmen gehört werden. In etwa einem Viertel der Kapitel kommen People of Colour vor, was ungefähr dem Anteil der Insass:innen in Gefängnissen und geschützten Einrichtungen entspricht. Eine aufschlussreiche Tatsache, wenn man bedenkt, dass laut letzten Erhebungen People of Colour nur 13 Prozent der Gesamtbevölkerung Großbritanniens ausmachen. Man darf nicht übersehen, dass in unserem Strafrechtssystem toxische Vorurteile in Bezug auf Kultur, ethnische Zugehörigkeit und Herkunft existieren und Gerichtsurteile von dieser Voreingenommenheit (einschließlich meiner eigenen) beeinflusst werden.

Obwohl ich vorrangig mit Mördern und Mörderinnen arbeitete, die in geschützten psychiatrischen Einrichtungen einsaßen, möchte ich in diesem Buch auch Straftaten wie Brandstiftung, Stalking oder Sexualdelikte aufgreifen, begangen von Personen, die ich im Gefängnis oder während ihrer Bewährungszeit behandelte. In zwei Kapiteln geht es um Menschen, die keines Verbrechens angeklagt waren; ich sollte die potenzielle Gefahr beurteilen, die von ihnen ausging. In allen Fällen erzähle ich, wie und in welcher Funktion ich den Patient oder die Patientin kennenlernte, wie sich unsere jeweilige Interaktion entwickelte (einschließlich der von mir begangenen Fehler), und berichte von anderen Erkenntnissen, Herausforderungen und gelegentlichen Bedrohungen. Einige Themen, die immer wieder Gegenstand der Therapiesitzungen sind, werden vielen Lesenden bekannt vorkommen, beispielsweise der Kampf um die Überwindung eines Traumas, die Notwendigkeit, alte und abträgliche Verhaltensweisen oder Identitäten abzustreifen, oder die Suche nach gesunden Möglichkeiten, mit Wut oder Verzweiflung umzugehen. Mal gibt es Fortschritte zu verzeichnen, mal sind die Probleme hartnäckig. Zwischendurch greife ich populäre Vorstellungen von Diagnosen wie Narzissmus und Psychopathie auf und untersuche die Mythen rund um »telegene« Straftaten wie Serienmord oder das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.

Jedes Kapitel deckt ein anderes Gebiet ab, aber ein wichtiges Thema in diesem Buch und in der gesamten forensischen Arbeit sind die Gewaltrisikofaktoren. Einer meiner Kollegen vergleicht das Ausüben von Gewalt sehr treffend mit dem Zahlenschloss eines Fahrrads: Erst durch eine spezifische Kombination von Stressfaktoren »öffnet sich das Schloss«, und es kommt zur Tat. Die ersten beiden »Zahlen« sind wahrscheinlich gesellschaftspolitischer Natur und spiegeln Einstellungen zu Männlichkeit, Verletzlichkeit oder Armut wider. Um es ganz deutlich zu sagen: Die meisten Gewalttaten auf der Welt werden von jungen, mittellosen Männern verübt. Die nächsten beiden »Zahlen« beziehen sich auf persönliche, biografische Aspekte des Täters beziehungsweise der Täterin, zum Beispiel den Drogenkonsum oder traumatische Erlebnisse in der Kindheit. Die letzte »Zahl«, diejenige, die das Schloss öffnet und eine verletzende, grausame Tat auslöst, ist die faszinierendste. Sie ist häufig idiosynkratisch, reagiert also auf etwas im Verhalten des Opfers, das nur für den oder die Täter:in Bedeutung hat. Das kann eine einfache Geste sein, ein vertrauter Satz, ja sogar ein Lächeln. Im Zentrum meiner Arbeit mit Täter:innen steht immer die Suche nach dieser letzten Gewalt auslösenden Bedeutung und wie sie mit der gesamten Lebensgeschichte, ihrer Selbstnarration, zusammenpassen könnte. Das herauszufinden kann wie das Aufspüren einer schwer fassbaren Beute sein, eines winzigen flinken Fischs in einem verschlungenen Labyrinth aus Korallen. Es erfordert Zeit, Offenheit, die Bereitschaft hinzuschauen und ein wenig Licht.

Einer meiner einflussreichsten Lehrer und Mentoren war Dr. Murray Cox, ebenfalls medizinischer Psychotherapeut in Broadmoor. Er sprach immer davon, wie wichtig es sei, auf die unbewusste Poesie zu horchen, sogar bei denen, die einem auf gefährliche Weise fremd erscheinen. Sein Lieblingsbeispiel stammte von einer Patientin, die einmal sagte: »Ich bin blind, weil ich zu viel sehe, deshalb lerne ich unter einer dunklen Lampe.«6 Diese bemerkenswerte Metapher fasst hervorragend zusammen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Wir alle sind gelegentlich geblendet, sei es aus Angst, Intoleranz oder Verweigerung. Die Person, die im Flugzeug neben mir sitzt und meine Patient:innen für Monster hält, sieht vielleicht auch »zu viel«, wenn sie die Nachrichten verfolgt und die täglichen Schlagzeilen auf Facebook oder in ihrem Twitter-Feed liest. Ich lade die Lesenden ein, sich weit unter die Oberfläche zu wagen, in »die Tiefe zu tauchen«, dorthin, wo dunkle Geschichten viel Erhellendes enthalten. Gemeinsam werden wir einzelnen Menschen statt Datenpunkten oder Geschöpfen aus der Unterwelt begegnen, und ich werde aufzeigen, wie ihr Leben mein eigenes beeinflusst hat und was sie uns lehren können.

Das wird nicht leicht sein. Man braucht radikale Empathie, um sich zu einem Mann zu setzen, der einen anderen Menschen enthauptet, zu einer Frau, die Dutzende Male auf einen Freund eingestochen, oder zu jemandem, der sein eigenes Kind missbraucht hat. Während die Patient:innen den therapeutischen Prozess durchlaufen, fragen Sie sich als Leser:in vielleicht: »Welches Recht haben solche Menschen auf Gefühle wie Liebe, Trauer oder Bedauern?« (Dazu fällt mir Shylock aus Shakespeares »Der Kaufmann von Venedig« ein: »Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?«) Um sie zu verstehen, bedarf es der Vorstellungskraft: Man muss sich dorthin begeben, wo sie sind, um das zu sehen, was sie sehen. Der große Meeresforscher Jacques Cousteau hat einmal gesagt: »Die beste Weise, Fische zu beobachten, besteht darin, selber zum Fisch zu werden.«7 Einige Dinge, die ich Ihnen zeige, werden Sie kaum wieder vergessen können. Aber ich weiß aus eigener Beobachtung, dass es eine gute Übung sein kann, Einsicht aus Erfahrungen zu gewinnen, die uns fremd sind. Ich werde Sie begleiten und mit Ihnen daran arbeiten, Leid in etwas Bedeutsames zu verwandeln. Während das Licht Kapitel für Kapitel zunimmt, wird der oder die Leser:in hoffentlich Möglichkeiten für Akzeptanz und Veränderung erkennen lernen.

Dr. Gwen Adshead

ANMERKUNGEN DER AUTORINNEN

Die folgenden Geschichten sind im Kontext der psychiatrischen Gesundheitsversorgung des Nationalen Gesundheitsdiensts Großbritanniens (NHS) angesiedelt. Der NHS wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, gemäß dem Prinzip, die medizinische Versorgung vom Staat bereitstellen und aus der öffentlichen Hand finanzieren zu lassen, da von einer gesunden Bevölkerung alle Bürger:innen profitieren. Aber die Kosten des NHS sind gestiegen, weil die Menschen länger leben und die medizinischen Technologien und Medikamente immer teurer werden. Mehrere Regierungen haben versucht, den NHS in Richtung eines marktorientierteren Modells zu bewegen, um sich dieser Entwicklung anzupassen. Dadurch wird die Gesundheitsversorgung in Großbritannien aber zu einer Ware, die man kaufen und verkaufen kann, ähnlich dem Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten. Immer mehr Menschen, die es sich leisten können, entscheiden sich dafür, die schrumpfenden NHS-Leistungen mit privaten Zusatzversicherungen auszugleichen. Die anhaltende Umstrukturierung konzentriert sich auf Kostensenkungen, vornehmlich mittels Kürzung von Leistungen. Daher bietet der NHS heute erheblich weniger als früher, besonders mit Blick auf die psychiatrische Gesundheitsversorgung, wie viele unserer Geschichten zeigen. Wir behandeln eine breite Palette von Themen im Zusammenhang mit Straftaten, psychischer Gesundheit, forensischer Psychiatrie und der Behandlung von psychischen Erkrankungen, die allesamt große eigenständige Forschungsgebiete darstellen. Dieses Buch ist weder ein Lehrbuch noch ein umfassender Überblick, auch stellt es keinen Anspruch auf Expertise in allen behandelten Bereichen. Angesichts der komplexen, umfangreichen Literatur und der vielen Debatten über die menschliche Psyche geben wir zu jedem Kapitel am Ende des Buches ein paar ausgewählte Leseempfehlungen und listen die verwendeten Quellen auf. Sie sind für diejenigen Leser:innen gedacht, die sich näher mit dem jeweiligen Thema beschäftigen möchten.

Wenn das Wort »Straftäter:in« im Text auftaucht, ist dies nicht abwertend oder menschenverachtend gemeint; es ist ein Rechtsbegriff, der Menschen bezeichnet, die wegen einer Straftat verurteilt wurden. Auch das Wort »normal« taucht häufig auf, meistens in Anführungszeichen, denn es ist ein belastetes Adjektiv, das sich in einer Welt von Milliarden Menschen einer einfachen Definition entzieht. Die Autorinnen stellen keine Thesen darüber auf, was in einem kategorischen Sinne für eine Gruppe von Menschen oder eine Institution »normal« sein könnte. Zu den ersten Dingen, die Psychiater:innen in ihrer Ausbildung lernen, gehört, dass »Normalität« eher so etwas ist wie Tofu in einer scharfen Suppe, der seinen Geschmack erst durch die anderen Zutaten gewinnt. Scheinbare Normalität kann durchaus ein Schleier sein, hinter dem sich Risiken verbergen, wie mehr als eins der von mir beschriebenen Beispiele zeigen wird.

Ein weiteres Schlüsselwort, das wir während des Schreibens im Auge behielten, ist »Privileg«, und zwar in doppelter Hinsicht: Erstens ist es ein echtes Privileg, Zeuge von Menschen zu sein, die das Wagnis eingehen, zu offenbaren, was Shakespeare als »unsere Blößen« bezeichnet. Dafür schulden wir ihnen Respekt. Zweitens stellt der Begriff »Privileg« auch ein lebenswichtiges medizinisch-rechtliches Konzept dar, will heißen, Informationen über Klient:innen und Gespräche mit ihnen müssen wie private Informationen behandelt werden. Der Schutz der Privatsphäre ist in der forensischen Arbeit nicht nur auf die Täter:innen begrenzt, mit denen wir arbeiten, er umfasst auch ihre Opfer und deren Familien. Unsere Geschichten wurden mit Würde und Respekt für alle verfasst. Es ist offensichtlich weder rechtlich noch ethisch möglich, individuelle medizinische Fälle zu beschreiben, daher haben wir Komposita erstellt, indem wir auf viele Begegnungen und Fallstudien zurückgriffen. Die elf hier vorgestellten, aus lauter Mosaiksteinchen zusammengefügten Porträts sind klinisch und psychologisch korrekt, doch bei Google wird man sie nicht finden.

KAPITEL 1

TONY

»Wer möchte einen Serienmörder übernehmen?« Wir saßen in der wöchentlichen Besprechung der psychotherapeutischen Abteilung unserer Klinik, wo Einweisungen besprochen und anschließend den verschiedenen Ärzt:innen zugeteilt wurden. Die meisten von uns hatten einen neuen Fall übernommen, und jetzt waren wir dabei, die letzten zu vergeben. Die ironische Frage des Teamleiters wurde mit kurzem Gelächter bedacht, doch niemand meldete sich freiwillig. »Wirklich? Keine Interessenten?« Es juckte mich in den Fingern, die Hand zu heben, aber als Unerfahrenste im Raum hatte ich Angst, dass man mich beruflich für naiv halten oder glauben könnte, ich hätte ein unangebrachtes Interesse an dem Fall. Ich konnte das unsichtbare kollektive Achselzucken meiner Kolleg:innen am Tisch förmlich spüren. Die von Unterhaltungsmedien und der Presse aufgeheizte Öffentlichkeit ist immer wieder fasziniert von diesen seltenen Menschen, die mehrere Tötungsdelikte begangen haben. In meinem Beruf dagegen stoßen sie auf erheblich weniger Interesse. Eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft wird für sie nie eine Option sein. Wie einer meiner Kollegen einmal sagte: »Worüber kann man sich schon mit ihnen unterhalten, außer über den Tod?«

Ich hatte noch viel zu lernen. Es war Mitte der 1990er-Jahre, und ich hatte erst kürzlich im Broadmoor Hospital angefangen, einer Einrichtung des NHS inmitten sanfter Hügel und Wälder in einer malerischen Gegend im Südosten Englands, nicht weit vom Eton College und von Schloss Windsor entfernt. Nachdem ich einige Jahre zuvor meine Ausbildung als forensische Psychiaterin beendet hatte, war ich froh, als man mir einen Teilzeitjob als »Locum« – eine Art Vertretung oder Aushilfskraft, die bei Bedarf einspringt – im Broadmoor Hospital anbot, während ich die Zusatzausbildung als Psychotherapeutin absolvierte. Um meine Kenntnisse zu vertiefen, musste ich so viele Stunden wie möglich damit verbringen, Patient:innen in Einzeltherapien zu behandeln, solange ich unter Supervision stand. Ich dachte, dass ein Mann, der keine Perspektive hatte, eine Menge Zeit haben würde – und wenn er über den Tod sprechen wollte, nun ja, auch das gehörte zu meinem Lehrplan.

Vielleicht überrascht es, dass wir diese Diskussion überhaupt führten. Die Einstellung zur psychiatrischen Versorgung von Straftäter:innen, egal ob sie sich in einer Klinik oder im Gefängnis befinden, und die Bereitstellung von finanziellen Mitteln unterscheiden sich weltweit sehr stark. Meine europäischen und australischen Kolleg:innen arbeiten in ähnlichen Systemen wie wir in Großbritannien, wo ein Mindestmaß an Einzeltherapien angeboten wird. Aber viele andere Länder haben nicht einmal das. Vor allem meine amerikanischen Kolleg:innen weisen immer wieder auf diese Unterschiede hin. Nachdem ich eine Reihe von Ländern besucht hatte, um aus erster Hand zu erfahren, wie dort die Dinge funktionieren, fiel mir auf, dass Staaten wie Norwegen oder Holland, die im letzten Jahrhundert die Erfahrung militärischer Besatzung gemacht hatten, die humansten und fortschrittlichsten Einstellungen zur psychosozialen Behandlung von Gewalttäter:innen haben. Einige Studien legen nahe, dass man mit entsprechender Erfahrung diese Mitmenschen eher als Kranke betrachtet, die Regeln brechen, statt als »schlechte Menschen« per se.

»Ich übernehme den Fall«, sagte ich schließlich. »Wie heißt er?« Ich sah meinen Supervisor an, in der Hoffnung, er würde mich unterstützen. Er lächelte zustimmend. »Nur zu, Gwen.« Einer der Oberärzte mischte sich ein: »Ich habe einen wie ihn mal jahrelang im Gefängnis betreut. Er hat nur endlos von seinem Kunstunterricht erzählt und wie gut er Stillleben malen konnte.« Diese Bemerkung kam mir eigentlich interessant vor, aber bevor ich weitere Fragen stellen konnte, reichte mir mein Chef die Einweisungsunterlagen. »Er gehört Ihnen. Tony X. hat drei Männer umgebracht. Ich glaube, er hat sie enthauptet. Ach ja, und übrigens hat er ausdrücklich um eine Therapie gebeten.« Der ältere Kollege warf mir einen vielsagenden Blick zu: »Nehmen Sie sich in Acht.«

Später erzählte mir mein Supervisor, ein Mann mit viel Erfahrung, dass er selbst in seiner ganzen Karriere nur einen Serienmörder persönlich kennengelernt hatte, und auch nur für eine Begutachtung, nicht für eine Langzeittherapie. Ich war froh, dass ich auf sein Wissen und seine Unterstützung bauen konnte. Bis heute schätze ich das Gefühl, von meinen Kolleg:innen aufgefangen zu werden, mehr als alles andere und vermisse es, wenn ich außerhalb von institutionellen Umgebungen arbeite. Ich gestand ihm, dass ich froh sei, eine solche Gelegenheit zu erhalten. Dann aber verließ mich der Mut ein wenig. Ich fing an, mich so gut wie möglich vorzubereiten, musste aber bald feststellen, dass es zwar viele reißerische Berichte über Serienmörder:innen gab, aber nur wenige Informationen darüber, wie man mit ihnen spricht, und nichts darüber, wie man ihnen eine Therapie anbietet.

Definitionsgemäß sind Serienmörder:innen Wiederholungstäter:innen, doch gibt es keinen offiziellen Konsens darüber, wie vieler Opfer es bedarf, um in diesen makabren Club aufgenommen zu werden. In der Vergangenheit hat man viel darüber debattiert und ist zu dem Schluss gekommen, dass es drei oder mehr sein sollten, auch wenn die öffentliche Aufmerksamkeit sich immer unweigerlich auf die kleinere Gruppe jener außergewöhnlichen Individuen stürzt, die nacheinander Dutzende von Menschen umgebracht haben. Es war ein wenig beunruhigend, dass zu dieser Gruppe auch Kollegen und Kolleginnen gehörten. Gewissermaßen hatten sie es sogar leichter und verfügten über die Möglichkeiten, ihre Verbrechen auszuführen und dabei oft jahrelang unentdeckt zu bleiben. Eine Abkühlphase oder kurze Lücke zwischen den einzelnen Morden gehört ebenfalls zu den bekannten Kriterien. Außerdem geht man davon aus, dass sie sich ihre Opfer nicht zufällig aussuchen. Amokläufer:innen, die an einem Tag Dutzende von Menschen umbringen, gehören nicht in diese Kategorie, und aus irgendeinem Grund, den ich nie ganz begriffen habe, auch Politiker und Anführer nicht, die für den Tod von Tausenden oder sogar Millionen Menschen verantwortlich sind.1

Aus der gewaltigen Menge an Literatur, Filmen und Fernsehsendungen, die sich mit diesem Thema befassen, könnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass die Ermordung mehrerer Menschen ein gewöhnliches Verbrechen ist, das ständig und überall geschieht. Doch die Daten liefern ein anderes Bild. Es gibt Belege dafür, dass Serienmorde auf allen Kontinenten vorkommen, aber selbst wenn man jene berücksichtigt, die nicht erfasst werden, unentdeckt bleiben oder auf mangelhaften oder bewusst undurchsichtigen Daten basieren, wissen wir, dass die Anzahl solcher Morde verschwindend gering ist. Ich kann Ihnen ebenso wenig konkrete Zahlen für diese Art von Verbrechen nennen wie für die meisten anderen Formen von Gewalt. Nichts ist sicher, bis auf die Ungewissheit auf diesem Gebiet, und zwar aus einer Vielzahl von Gründen: Zum Beispiel werden Daten erst gar nicht erfasst oder sie sind kaum vergleichbar, da sich im Laufe der Zeit und in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Klassifizierungsstandards und Methoden entwickelt haben. Eine Suchmaschinenabfrage zu den weltweiten Zahlen für Serienmorde ergibt mehr als sechs Millionen Einträge. Die Mehrheit davon bestätigt, dass Serienmörder überwiegend männlich und eine vom Aussterben bedrohte Spezies sind, die in den letzten Jahren immer weiter schrumpft. Dies entspricht den weltweiten Kriminalitätsstatistiken, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren generell einen allmählichen Rückgang von Gewalt aufweisen.

Im Rahmen einer Studie, die 2016 von Professor Mike Aamodt an der Radford University in Virginia geleitet wurde, entstand eine Datenbank, die die letzten hundert Jahre umfasst. Ihr zufolge wurden im Jahr 2015 in den USA neunundzwanzig Serienmörder:innen gefasst, gegenüber einem Spitzenwert von einhundertfünfundvierzig während der 1980er-Jahre.2 Einige FBI-Studien, die ich gesehen habe, beziffern diese Zahlen viel höher (über viertausend im Jahr 1982, zum Beispiel)3, was die Schwierigkeit der Datenerfassung und das Fehlen universeller Kriterien für den Vergleich unterstreicht. Trotzdem legen alle Quellen, die ich gefunden habe, nahe, dass die Anzahl der Serienmorde rückläufig ist. Ein Teil dieses Verdienstes ist den verbesserten Ermittlungs- und Überwachungsmethoden sowie den von verschiedenen Strafverfolgungsbehörden eingerichteten Spezialeinheiten zur Untersuchung und Abschreckung der Täter:innen zu verdanken. Ein weiterer wichtiger Faktor ist wahrscheinlich die weit verbreitete Nutzung von Mobiltelefonen und Sozialen Medien, die es Menschen (Opfern wie Täter:innen) erschwert, spurlos unterzutauchen.

Die Strafverfolgungsbehörden veröffentlichen keine länderspezifischen Vergleichslisten von Serienmörder:innen, aber aus der oben erwähnten Radford-Studie geht hervor, dass die USA mit einem beträchtlichen Vorsprung an der Spitze stehen und fast 70 Prozent aller bekannten Serienmörder:innen der Welt stellen. Dies wird von anderen Quellen, die ich mir angesehen habe, von Wikipedia bis hin zu verschiedenen journalistischen Arbeiten, bestätigt. England nimmt mit 3,5 Prozent den zweiten Platz ein, Südafrika und Kanada folgen mit jeweils etwa 2,5 Prozent, und China mit seiner weitaus größeren Bevölkerung ist mit nur etwas mehr als 1 Prozent an der Gesamtzahl beteiligt. Ich weiß nicht, warum die USA die Liste auf diese Weise anführen, aber es gibt viele Theorien, die von fehlender Waffenregulierung über eine dezentralisierte Strafverfolgung bis hin zu dem in Amerika besonders stark ausgeprägten Individualismus reichen. Es kann aber auch gut sein, dass die Amerikaner:innen diese Täter:innen dank einer freien Presse und einer relativ transparenten Regierung einfach besser aufspüren und uns davon berichten. Aber die Zahl der Serienmörder:innen, die in den USA pro Jahr gefasst werden, ist im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung des Landes von über dreihundert Millionen Menschen immer noch winzig und wird überdies von den »gewöhnlichen« Mordfällen in den Schatten gestellt. In großen amerikanischen Ballungszentren wie Chicago oder New York gelten vierhundert Morde im Jahr als unauffällig. Im Gegensatz dazu entspricht diese Zahl zwei Dritteln der jährlichen Mordrate in ganz England und Wales zusammen.

Als ich Tony kennenlernte, wusste ich, dass Broadmoor schon mehrere Serienmörder:innen aufgenommen hatte, Menschen, die von der Boulevardpresse mit Pseudonymen wie »Ripper« oder »Strangler« bedacht worden waren. Obwohl die meisten psychisch kranken Mörder und Mörderinnen, die in unsere forensische Klinik eingewiesen worden waren, nur ein einziges Opfer umgebracht hatten, trugen diese wenigen Wiederholungstäter:innen dazu bei, dass Broadmoor in der Öffentlichkeit als düsteres Sammelbecken von etwas unaussprechlich Bösem galt. Ich kannte diesen Ruf. Er wurde durch das Erscheinungsbild des Gebäudes, eine viktorianische Festung aus rotem Backstein, noch verstärkt, obwohl Modernisierungsprozesse bereits in Gang waren, als ich 1996 meine Arbeit dort aufnahm. Ich erinnere mich, wie beeindruckt ich anfangs von den scheinbar unzähligen Türen, Schleusen und Toren war. Man brauchte ein komplexes Sortiment an Schlüsseln, die jeden Morgen beim Sicherheitsdienst abgeholt werden mussten und die ich an einem großen, schweren Ledergürtel stets bei mir trug. Anfänglich war es umständlich, aber ich gewöhnte mich daran. Ich entwickelte sogar eine sentimentale Zuneigung für den extragroßen Gürtel, den ich bekam, als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, und habe ihn bis heute behalten.

Das Innere der Anlage erinnerte mich mit seinen verschiedenen Gebäuden und Verbindungswegen anfangs an einen Universitätscampus. Es gab sorgfältig gepflegte Gärten und blühende Bäume. Das Beste von allem war die Terrasse, die einen herrlichen Blick auf vier Grafschaften bot. Ich hielt es immer für eine außerordentliche Geste der Großzügigkeit, diesen Männern und Frauen einen Ort zur Verfügung zu stellen, an dem sie sich frei bewegen konnten, mit einer Perspektive, die zum Nachdenken und zur Hoffnung anregte. Das Gelände war von hohen roten Backsteinmauern umgeben. Für mich waren sie eine nützliche Trennwand zwischen meinem privaten und meinem beruflichen Leben. Sie machte es mir möglich, die Arbeit jeden Abend hinter mir zu lassen und sie bis zu meiner Rückkehr sicher aufgehoben zu wissen.

Am ersten Sitzungstag mit Tony kam ich extra früh, um mich beim Stationspersonal anzumelden und mich zu vergewissern, dass niemand den Raum, den ich reserviert hatte, für sich beanspruchte. Wie in allen Krankenhäusern, in denen ich bisher gearbeitet hatte, gab es in Broadmoor nicht genügend Therapieräume, sodass man immer um seinen Platz kämpfen musste. Außerdem wollte ich das Zimmer so gestalten, wie es mir vorschwebte: die Stühle weit auseinander, der des Patienten am Fenster und meiner in der Nähe der Tür. »Der Klient darf niemals den Zutritt zum Ausgang versperren« – das war eine Weisheit, die ich während der Ausbildung aufgeschnappt hatte und an die ich mich bis heute halte. Ebenso wichtig ist es, einen respektvollen Abstand zwischen einander zu schaffen, um das Denken zu erleichtern und »den Raum des anderen« nicht zu verletzen. Diese soziale Etikette zu wahren, ist für die Therapie enorm wichtig. Ich experimentierte mit dem Winkel, in dem die Stühle zueinander standen, als könnte mir die richtige Platzierung helfen, eine Verbindung zu diesem Fremden herzustellen.

Ich war nervös, denn mir war bewusst, dass ich nach Gefühl und Intuition handeln müsste. Ich hatte nicht viele Informationen über ihn, abgesehen von dem, was ich dem Einweisungsschreiben entnehmen konnte. Zwar gab es damals noch ein Archiv für Patientenakten in der Klinik, und als Arzt oder Ärztin war man befugt, dort hinzugehen und eine Akteneinsicht zu beantragen, aber damals wie heute waren sie nie vollständig. Wir konnten so etwas wie eine Collage aus familiärem Hintergrund, Ausbildung, Krankengeschichte, Polizeiakten, Gerichtsverfahren oder Gefängnisunterlagen zusammenstellen, aber sie blieb immer lückenhaft. Letztendlich wussten wir, dass wir einen Menschen nur dann wirklich kennenlernen können, wenn wir mit ihm sprechen und hoffen, dass er sich uns öffnet.

Heutzutage sind solche Hintergrundinformationen auf Computern gespeichert und werden nicht mehr in verstaubten Aktenschränken aufbewahrt, aber das bedeutet nicht, dass man nur auf einen Knopf drücken oder einen Code eintippen muss, um eine Fundgrube an wertvollem Material aufzutun. Wenn überhaupt, ist es heute, in einer Ära verschärfter Informationskontrolle und neuer gesetzlicher Datenschutzregeln, noch schwieriger, an nützliche Details zu gelangen als zu meiner Anfangszeit. Wir müssen jede Menge Steine aus dem Weg räumen und uns auf eine Reihe von Leuten in verschiedenen Funktionen verlassen, die uns vielleicht helfen wollen, vielleicht aber auch nicht. Manchmal komme ich mir vor wie einer dieser armen Privatdetektive, die man aus Büchern kennt und die einen freundlichen Polizisten einwickeln oder anderweitig um verlässliche Informationen betteln müssen, um an Hinweise zu gelangen. Vielleicht ist das ein Grund, warum ich in meiner Freizeit so gerne Krimis lese: Es ist ein reines Vergnügen, sich zurückzulehnen und jemand anderem die Lösung des Falls zu überlassen.

Ich war mir nicht einmal darüber im Klaren, was ich an diesem ersten Tag mit Tony erreichen wollte oder was die Arbeit mit sich bringen würde. Wie sollten wir jemals wissen, ob es ihm »besser« ging? Und was würde das für jemanden bedeuten, der zu dreimal lebenslänglich verurteilt worden war und wahrscheinlich erst als alter Mann entlassen werden würde, wenn überhaupt? Außerdem hatte ich Skrupel, an der Psyche eines anderen Menschen zu »üben«. Wenn das, was ich anbot, für ihn sinnlos, für mich aber hilfreich war, spiegelte ich dann nicht etwas von seinem ausbeuterischen Verhalten und seiner Grausamkeit wider? Ich rief mir in Erinnerung, dass er ein Bedürfnis oder einen Grund gehabt haben musste, sich um eine Therapie zu bewerben. Ich würde herausfinden müssen, was dieser Grund war, selbst wenn es einige Umwege erfordern sollte. Täuschungsmanöver sind ein Merkmal der Psychopathie, einer schweren Persönlichkeitsstörung, die mit Serienmörder:innen in Verbindung gebracht wird. Ich war mir der Möglichkeit bewusst, dass Tony die Therapie womöglich nur wollte, um sich durch die leere Zeit zu hangeln, die er in Haft verbringen musste. Wenn es so ist, werde ich wohl nicht viel lernen, dachte ich egoistisch. Vielleicht war es idiotisch von mir gewesen, diesen Patienten anzunehmen – aber jetzt war es zu spät für einen Rückzieher. Aus dem Augenwinkel sah ich durch das Panzerglas der Tür, wie ein Mann in Begleitung eines Pflegers auf mich zukam. Es war so weit.

»Herr X.? Guten Morgen, ich bin Dr. Adshead. Danke, dass Sie gekommen sind, um …« »Tony«, fiel er mir ins Wort. Seine Stimme war heiser und ein wenig schroff. Es klang, als wäre auch er nervös. Er ließ sich hereinbitten und den Stuhl am Fenster zuweisen, wo er es sich gemütlich machte, ohne mich anzuschauen. Blicken auszuweichen ist für uns alle nützlich, um Privatsphäre zu wahren. Ich würde nie erwarten, dass jemand schon am Anfang einer Therapie vollen Blickkontakt herstellt. Andererseits wusste ich, dass Tony vor seiner Verurteilung als Kellner gearbeitet hatte, eine Rolle, die von ihm verlangt hatte, sich mit Fremden zu befassen und ihnen in die Augen zu sehen. Flüchtig schoss mir die Frage durch den Kopf, ob er gute Trinkgelder bekommen hatte. War er charmant zu seinen Gästen gewesen? Oder zu seinen Opfern? Es war mir bewusst, dass er versuchen könnte, mich einzuwickeln.

Ich begann die Sitzung damit, einige wichtige Richtlinien für die Therapie in geschützten Einrichtungen durchzugehen. Dazu gehörte vor allem der Grundsatz, dass er ein gewisses Maß an ärztlicher Schweigepflicht erwarten konnte. Sollte er mir allerdings etwas erzählen, das auf Gefahren für ihn selbst oder andere hindeutete, würde ich es seinem Betreuungsteam melden müssen. Unsere gemeinsamen Sitzungen waren Teil der Betreuungsarbeit, und ich erklärte ihm, dass ich mich regelmäßig mit den anderen Mitgliedern des Betreuungsteam austauschte, einschließlich des Pflegepersonals, der Team-Psychologin und des Facharztes für Psychiatrie, der seine Betreuung beaufsichtigte. All das gehörte zu den Bemühungen, ihn zu schützen und eine gewisse Kontinuität zu gewährleisten. Unsere Sitzung würde fünfzig Minuten dauern, erklärte ich ihm, und daran würden wir uns bei jedem Treffen halten müssen.

Gewöhnlich beachte ich diese Regel, auch wenn forensische Kliniken ganz anders sind als Sigmund Freuds gemütliches Sprechzimmer. Er hatte die fünfzigminütige Sitzung oder »therapeutische Stunde« eingeführt, damit er Patient:innen zur vollen Stunde empfangen konnte, ohne dass sie sich im Wartezimmer begegneten, aber vielleicht wollte er auch einfach nur eine Pause zwischen den einzelnen Sitzungen einlegen. Im Gegensatz zu Freud oder den meisten Psychotherapeut:innen, die in einer Privatpraxis arbeiten, empfing ich Patient:innen nicht unmittelbar hintereinander, daher brauchte ich diesen Zeitpuffer nicht. Jeder Tag ist anders, aber es wäre ungewöhnlich für mich gewesen, mit mehr als zwei oder drei Patient:innen am Tag zu arbeiten, zum Teil, weil jede Sitzung im Anschluss detailliert protokolliert werden muss, aber auch, weil ich Zeit brauche, um mich mit Kolleg:innen auszutauschen, die ebenfalls mit den Patient:innen zu tun haben, die ich behandele. Damals war mir schon klar, dass die ersten fünf oder zehn Minuten nach einer Sitzung von unschätzbarem Wert sind, wenn man sich wichtige Sätze oder Ideen, die einem während der Sitzung eingefallen sind, aufschreiben will, solange sie noch frisch im Gedächtnis sind. Normalerweise mache ich mir keine Notizen, während die Patient:innen reden, nicht zuletzt, weil es die Interaktion eher wie ein Verhör als ein Gespräch erscheinen lassen könnte. Außerdem ist es aus offensichtlichen Gründen auch dann keine gute Idee, wenn der oder die Patient:in paranoid ist. Die meisten forensischen Therapeut:innen bringen sich bei, ihre Sitzungen mehr oder weniger im Kopf zu behalten. Als ich mit Tony zu arbeiten begann, war ich noch dabei, diese Fähigkeit zu verfeinern. Ich strengte mich an, mir bestimmte Worte, die die Patient:innen benutzten, zu merken, mir ihre Schlüsselbilder, Metaphern und die Sprache, mit der sie sich selbst beschrieben, genau einzuprägen. Ich fand es hilfreich, die Sitzung in drei Abschnitte zu unterteilen, um zu vermeiden, dass die Dinge in meinem Gedächtnis durcheinandergerieten. Das war nicht immer einfach und erinnerte mich an den englischen Dichter Philip Larkin, der (in Anlehnung an Aristoteles) so schön zusammenfasste, der Roman habe wie eine Tragödie »einen Anfang, ein Kuddelmuddel und ein Ende«.

Tony nickte, während ich ihm die Vorgehensweise erklärte. Er wirkte weder beunruhigt noch sonderlich interessiert. Ich fand, dass er wie ein Schauspieler aussah – nicht unbedingt wie ein Hauptdarsteller, eher wie der unscheinbare Kerl, der sich hinter der Schulter des mächtigen Chefs verbirgt. Er hatte schütteres Haar, doch die nackten Unterarme und Hände waren mit schwarzen lockigen Härchen bedeckt, und aus dem Kragen seines T-Shirts lugten noch mehr hervor. Er war klein, stämmig und leicht übergewichtig. Unsere Klient:innen haben es schwer, nicht zuzunehmen. Sie bekommen kaum Bewegung, das Essen ist kalorienreich, und bestimmte Medikamente führen zu einer Gewichtszunahme. Nachdem ich meine Erklärungen beendet hatte, zeigte er keinerlei Feindseligkeit oder Widerstand, aber er sagte auch nichts. Er saß einfach nur da und schwieg, wahrscheinlich mehrere Minuten lang, und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.

Ich weiß nicht, ob ich heute ein derart langes Schweigen dulden würde, besonders während der ersten Sitzung mit einem Patienten, der möglicherweise ängstlich oder paranoid ist und es als bedrohlich empfinden könnte. Aber in diesem Stadium meiner Ausbildung hatte ich gelernt, dass ein:e Psychotherapeut:in nicht zuerst spricht, sondern den Patienten oder die Patientin die Sitzung so beginnen lassen sollte, wie er oder sie es wollte. Ich wartete, und nach einer Weile merkte ich, dass mir die Stille nichts ausmachte. Tony offensichtlich auch nicht. Er beschäftigte sich träge mit einem Niednagel am Daumen, ohne mich anzusehen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er Zeit brauchte, um mich einzuschätzen, und überlegte, ob er mir vertrauen konnte. Schließlich fiel mir eine Lösung ein. »Was bedeutet diese Stille für Sie?«, fragte ich. Er blickte erschrocken auf. Dann lächelte er freundlich und offen. Ich stellte mir vor, wie nett er sein konnte, wie leicht er jemanden überreden würde, das Tagesgericht oder ein weiteres Glas Wein zu bestellen. »So eine Frage hat mir noch niemand gestellt.«

Ich erklärte ihm, dass eine Therapie gelegentlich seltsame Fragen mit sich brachte, und versuchte, beim Sprechen den Blickkontakt mit ihm aufrechtzuerhalten. Seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten, als wäre die Pupille ein gebrochener Eidotter, der sich in die Iris ergossen hatte. Sein Blick glitt seitlich über meine Schulter zur Glasscheibe der Tür direkt hinter mir, die auf den Korridor hinausging. Dort draußen herrschte ein geräuschvolles Treiben, untermalt vom Dröhnen des Fernsehers auf der Station, der immer lief – damals zumeist auf MTV eingestellt. Stimmengewirr, ein leises, undeutliches Murmeln in einiger Entfernung. Etwas näher beschwerte sich jemand beim Pflegepersonal, und wir hörten ihnen zu, bis sie sich entfernten. Dann antwortete er: »Ich dachte gerade, dass es hier drinnen irgendwie friedlich ist.« Ich glaubte, die vorsichtige Ausdrucksweise zu erkennen, die ich mit Menschen verbinde, für die Englisch eine Fremdsprache ist. »Diese Station ist so laut«, sagte er. »Ist sie das?«, fragte ich zurück. Ich hatte den Eindruck, dass er nicht nur diesen Moment meinte, sondern etwas Wichtigeres ansprechen wollte.

»Der Mann im Zimmer neben meinem schreit die ganze Nacht, und …« Er hielt inne, als müsse er aufpassen, was er sagte, vielleicht wollte er einen guten Eindruck hinterlassen und nicht als Nörgler dastehen. »Ich meine, ich will mich nicht beklagen, hier ist es ja besser als im Gefängnis, aber ich schlafe nicht gut … Also ist es schön, mal ein bisschen Ruhe zu haben. Und Jamie, das ist mein Bezugspfleger, sagt, dass es mir guttun würde. Er ist okay. Ich traue ihm.« Bei mir dachte ich: »Aber bislang hast du noch keinen Grund, auch mir zu trauen«, und machte mir im Geiste eine Notiz, sobald wie möglich mit Jamie zu sprechen. Tonys Kommentar zeigte, wie wichtig die Rolle der Bezugspfleger:innen sein kann. Sie bieten ihren Patient:innen individuelle Unterstützungsgespräche an und wissen in der Regel am besten, wie es ihnen gerade geht. Meine Arbeit muss in die der Pflegekräfte integriert werden, die so viel mehr Zeit mit den Patient:innen verbringen als ich, und ich habe gelernt, mich auf ihre Beobachtungen zu verlassen und ihre Erkenntnisse enorm wertzuschätzen.

Wie dieser Fall und andere zeigen werden, wurde mir im Laufe der Zeit bewusst, wie wichtig es ist, dass die Pflegekräfte und der oder die Therapeut:in zusammenarbeiten, damit nichts übersehen wird – ähnlich wie Lehrpersonen und Eltern zusammenarbeiten müssen, um Kinder bei ihrer Entwicklung zu unterstützen. Das heißt nicht, dass unsere Patient:innen wie Kinder sind (obwohl sich einige offenbar an Erinnerungen aus ihrer Kindheit klammern), aber die Sicherheitsmaßnahmen schränken die Autonomie und Freiheit der Klient:innen auch zwangsläufig ein, was wiederum dazu führen kann, dass sie sich wie Kinder fühlen und von Fachkräften abhängig sind, die ihnen helfen, das zu bekommen, was sie wollen.

Zu keiner Zeit während dieser ersten Sitzung hatte ich den Eindruck, dass Tony in der geschützten psychiatrischen Abteilung war, weil er sie für eine bessere Alternative zum Gefängnis hielt. Die Medien scheinen die Vorstellung zu vertreten, Kriminelle würden versuchen, sich ihren Weg in psychiatrische Kliniken als bequeme Alternative zum Gefängnis zu erschwindeln, doch die Realität sieht ganz anders aus. Das Leben in so einer Anstalt ist eine psychologische Herausforderung. Im Gefängnis kann man sich zurückziehen und bis zu einem gewissen Grad in der Anonymität und Monotonie der Routine untertauchen. In geschützten psychiatrischen Abteilungen hingegen sind Wahlmöglichkeiten und Privatsphäre stark eingeschränkt, und irgendwelche Fachleute wie ich kommen ständig vorbei und stellen lästige Fragen zu Stimmung und Gefühlen. Tatsächlich wollen die meisten Straftäter:innen keineswegs in die Psychiatrie eingewiesen werden, weil es stigmatisierend ist (es gibt einen unschönen Ausdruck dafür: »für gaga erklärt werden«) und der Aufenthalt hier anders als in den meisten Vollzugsanstalten unbefristet sein kann.

Ich fragte Tony, ob er mir mehr über seine Schlafprobleme erzählen könne. Er hatte unter Depressionen gelitten, und Schlaflosigkeit ist ein Ausdruck von Angst- und Stimmungsschwankungen, aber ich war neugierig, weil er das mir gegenüber so schnell erwähnt hatte. »Ich habe Albträume.« Das war ein Anfang. Die meisten von uns erzählen anderen nicht von unseren Träumen oder Albträumen, ohne den Wunsch, sich davon befreien zu wollen. Es gibt festgefahrene Klischees von Therapeut:innen, die Träume interpretieren, um den Patient:innen ihre Psyche zu erklären. Aber die besten Therapeut:innen folgen den Patient:innen, egal wo sie sie hinführen, und gehen davon aus, dass sie sich am besten mit ihrer Psyche auskennen. Damals war ich wie eine Fahrschülerin, die alles nach Vorschrift machen will, und für einen kurzen Augenblick dachte ich ziemlich verzweifelt, dass ich mich vielleicht wie eine »richtige« Analytikerin in Tonys Traum vertiefen sollte. War es das, was er wollte? Aber als ich ihn fragte, ob er mir nicht etwas mehr über seine Albträume erzählen wolle, schüttelte er nur heftig den Kopf. Erneut setzte Stille ein. Ich lehnte mich zurück und versuchte, entspannt zu wirken und ihm mit meiner Körpersprache zu vermitteln, dass ich mit seiner Zurückhaltung einverstanden war. Schließlich ist es nicht einfach für zwei Menschen, die sich nicht kennen, über schreckliche Dinge zu reden.

Ich erinnerte mich an andere erste Sitzungen, an Kolleg:innen und Mentor:innen, die darüber diskutierten, wie man mit Menschen, die getötet haben, spricht oder ihnen zuhört. Bald war ich meilenweit entfernt, bis er wieder anfing zu sprechen und mich zurück in diesen Raum holte. Seine Stimme hatte etwas Herausforderndes. »Wie funktioniert das denn hier? Sitzen wir einfach nur rum? Wollen Sie mir keine Fragen stellen?« Es hatte den Anschein, als fühlte er sich mit der Stille im Raum nicht mehr wohl und versuchte, sie durch seine Fragen zu unterbrechen. Ich erklärte, dass es eine Weile dauern könne, bis wir uns kennengelernt hätten und miteinander wohlfühlten. Dass solche Schweigeperioden zwischenzeitlich kommen und gehen und sich zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich anfühlen konnten. Ich erinnerte ihn daran, dass ihm die Stille nach eigener Aussage eben noch gefallen hatte, und fragte, ob sich daran etwas geändert habe. »Jetzt bin ich aus irgendeinem Grund nervös«, antwortete er. Bei dieser scheinbar harmlosen Antwort horchte ich auf, denn sie zeigte mir, dass Tony fähig war, seine Gefühle wahrzunehmen und auch zu beschreiben, wie sie sich mit der Zeit veränderten. Außerdem hatte er eine direkte Frage beantwortet, ohne sich dagegen zu sträuben. Jedes Mal, wenn ich in meiner Rolle als Therapeutin mit jemandem zu tun habe, möchte ich wissen, ob er oder sie neugierig ist. Willens, sich auf mich einzulassen. Ob er oder sie sich für die eigene Psyche interessiert. Das alles sind gute Zeichen.

Ich wusste, dass es Menschen manchmal leichter fällt, am Anfang der Therapie auf Fragen zu antworten, also stellte ich eine weitere. Ich wollte wissen, ob er einen Zusammenhang zwischen seiner Anspannung und den Albträumen sah, von denen er gesprochen hatte. Er verschränkte die Arme über der breiten Brust. Ich hatte den Eindruck, dass er mich abblocken wollte – selbst sein Herz war von den Armen bedeckt, als wollte er es vor einer vermeintlichen Gefahr schützen. »Ich möchte nicht über die Albträume sprechen. Es würde mich nur aufwühlen, und ich weiß nicht, wie das helfen soll.« Nun, das war deutlich genug. Ich versuchte nicht, ihn zu beruhigen. Es ist ein seltsamer Widerspruch in der Psychologie, dass beschwichtigende Worte den Patienten oder die Patientin zu der Annahme verleiten können, der oder die Therapeut:in wolle eigentlich nicht hören, was ihn oder sie wirklich beunruhigt. Das gilt übrigens auch für andere Milieus – am Arbeitsplatz, in der Schule oder zu Hause –, immer wenn Menschen sich direkt zu emotionalen Themen äußern. Ich musste ihm vermitteln, dass ich da war, um ihm zuzuhören, wenn er dazu bereit war, egal, was er zu sagen hatte, selbst wenn es schwierig wurde. Ich wechselte das Thema, erinnerte ihn daran, dass ich auf seine Bitte hin gekommen war, und fragte unverblümt: »Können Sie mir sagen, warum Sie mit einem Therapeuten sprechen wollten?« Damals stand ich noch am Anfang meiner Karriere, heute, nach vielen Jahren Berufserfahrung, würde ich wahrscheinlich nicht so früh eine »Warum«-Frage stellen, weil sie zu aufdringlich wirken kann. Aber auch diesmal antwortete er bereitwillig: »Weil ich finde … Ich weiß, dass ich verstehen muss, was ich getan habe, und wahrscheinlich könnten mir solche Gespräche dabei helfen. Jedenfalls hat Jamie das gesagt.«

Die Erwähnung seines Pflegers war ein willkommener Anlass, nachzuhaken. Ich fragte, was er vom Team hielt, das sich um ihn kümmerte, und bat ihn, mir zu schildern, wie es dazu gekommen war, dass man ihn in die Klinik verlegt hatte. Er habe schon zehn Jahre seiner lebenslangen Haftstrafe in einem Hochsicherheitstrakt verbüßt gehabt, als er auf einem Treppenabsatz von einigen anderen Häftlingen angegriffen worden sei, die ihn als Triebtäter beschimpft hätten, erzählte Tony. Er geriet ins Stammeln, als er mir beschrieb, wie sich drei Männer auf ihn gestürzt, ihn festgehalten und mit einer selbst gebastelten Waffe auf ihn eingestochen hatten – einer angespitzten Zahnbürste, wie er später erfuhr. Er musste notoperiert werden und konnte von Glück reden, überlebt zu haben. Nachdem er sich körperlich erholt hatte, ging es ihm psychisch weiterhin schlecht, zumal er einen der drei Angreifer eigentlich für einen Freund gehalten hatte. Er unternahm einen ernsthaften Selbstmordversuch, woraufhin er mit einer schweren Depression diagnostiziert und zur Behandlung vom Gefängnis in unsere Klinik verlegt wurde.

Nachdem wir unsere erste Sitzung beendet hatten, fragte ich Tony, ob er noch immer nervös sei. Er sagte, nein, er sei bereit, sich erneut mit mir zu treffen, und setzte hinzu: »Es war nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte.« Das war Musik in den Ohren einer forensischen Psychotherapeutin. Später suchte ich Jamie auf, um mich vorzustellen und mehr über Tonys Schlafprobleme zu erfahren. Er war ein zurückhaltender, sympathischer Mann mit einem warmen Lächeln, der zur psychiatrischen Krankenpflege gekommen war, nachdem er eine Zeit lang als Landschaftsgärtner gearbeitet hatte. Tatsächlich hatte ich den Eindruck, dass seine Beobachtungen so detailgenau waren wie die eines Gärtners, der seine Blumen beschreibt. Er nahm sich Zeit, um über meine Frage nach Tonys Albträumen nachzudenken, und erzählte, wie sie sich auf sein Umfeld auswirkten. »Es ist ein Problem für uns, weil der Mann im Nebenzimmer sich darüber beschwert, dass Tony im Schlaf schreit und ihn immer wieder aufweckt. Aber es gibt nicht viel, was wir tun können. Wir haben kein anderes Zimmer, in das wir ihn verlegen könnten.« Leicht verwirrt verließ ich die Station, und als ich mich auf den mühsamen Weg zurück zum Verwaltungsgebäude machte, Schleuse für Schleuse, Tor für Tor, kam mir plötzlich ein Gedanke: Konnte es sein, dass der Mann, der nachts schrie, und der Mann, der sich über das Geschrei beschwerte, ein und dieselbe Person waren? Handelte es sich beide Male um Tony?

Nach dieser ersten Begegnung wusste ich nicht, was ich von Tony halten sollte. Für die meisten Menschen sind Serienmörder:innen Psychopath:innen – aber ich war mir nicht sicher, ob das wirklich auf ihn zutraf. Es fühlte sich nicht so an, aber wissen konnte ich es nicht. Die Vorstellung, was Psychopathie sein könnte, ist komplex: Im psychiatrischen Diskurs tauchte das Krankheitsbild erstmals in den 1930er-Jahren auf und setzte sich erst nach der Großen Depression und dem Zweiten Weltkrieg wirklich durch. Die Gesellschaft war zunehmend über vereinsamte Männer besorgt, viele davon emotionale Opfer des Krieges und des dadurch verursachten wirtschaftlichen Niedergangs. Sie waren menschlich und sozial derart abgestumpft, dass sie andere wie »Dinge« behandelten statt wie Mitmenschen. In den 1970er-Jahren wurde diese Art von »dissozialem« Verhalten im DSM-3 definiert, der dritten Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, das regelmäßig von der American Psychiatric Association veröffentlicht wird. Eine ähnliche Beschreibung findet sich im ICD, dem von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Handbuch zur Internationalen Klassifikation von Krankheiten (engl. International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Sowohl das DSM als auch das ICD enthalten eine Version dessen, was als »dissoziale Persönlichkeitsstörung« (ASPD) bezeichnet wird, und die meisten Expert:innen sind der Ansicht, dass Psychopathie eine schwere Form davon ist.

1941 veröffentlichte der amerikanische Psychiater Hervey Cleckley eine bahnbrechende Studie mit dem Titel The Mask of Sanity (dt. »Die Maske der Normalität«)4