Warum Politik so oft versagt - Ben Ansell - E-Book

Warum Politik so oft versagt E-Book

Ben Ansell

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Beschreibung

Wie wir uns selbst und unsere politischen Institutionen verändern müssen, um unsere gemeinschaftlichen Ziele zu erreichen

Klimawandel, Armut, Kriege: Wir wissen ziemlich genau, was die größten Gefahren für uns als Gesellschaft sind und wie wir sie lösen könnten – und dennoch enttäuscht unsere Politik uns immer wieder. In seiner brillanten Analyse zeigt der britische Politikprofessor Ben Ansell, warum Politik so oft scheitert. Wir sind in fünf großen politischen Fallen gefangen: Denn als Kollektiv feiern wir einerseits die Ideale von Demokratie, Gleichheit, Solidarität, Sicherheit und Wohlstand – aber als egoistische Individuen handeln wir täglich dagegen. Wir wollen Gleichheit, aber unseren eigenen Wohlstand nicht antasten. Wir streben nach Sicherheit, aber nur, wenn sie unsere Freiheit nicht einschränkt. An vielen Beispielen – von Klimahandeln bis zur Reichensteuer – zeigt Ben Ansell: Nur wenn wir unsere Uneinigkeit akzeptieren, unsere Institutionen erneuern und unsere sozialen Normen ändern, kann es uns gelingen, unsere politischen Versprechen wirksamer und stabiler zu machen und die fünf zentralen Herausforderungen der Politik zu überwinden.

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Seitenzahl: 602

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Klimawandel, Armut, Kriege: Wir wissen genau, was die größten Gefahren für unsere Gesellschaften sind und was wir dagegen unternehmen müssten – und dennoch enttäuscht die Politik uns immer wieder. In seiner brillanten Analyse zeigt der britische Politikprofessor Ben Ansell, warum Politik so oft scheitert. Als Kollektiv feiern wir einerseits die Ideale von Demokratie, Gleichheit, Solidarität, Sicherheit und Wohlstand – aber als egoistische Individuen handeln wir täglich dagegen. Wir wollen Gleichheit, aber unseren eigenen Wohlstand nicht antasten. Wir streben nach Sicherheit, aber nur, wenn sie unsere Freiheit nicht einschränkt. An vielen Beispielen zeigt Ben Ansell, wie unsere Institutionen und unsere Werte politische Lösungen verhindern – und wie wir das ändern können.

Ben Ansell ist Professor für vergleichende demokratische Institutionen am Nuffield College der Universität Oxford. Nach Abschluss seiner Promotion in Harvard lehrte er mehrere Jahre an der University of Minnesota und wurde 2013 mit nur 35 Jahren als Professor an die Universität Oxford berufen. 2018 wurde Ansell zum Fellow der British Academy ernannt und war damit einer der jüngsten Fellows seiner Zeit. Er leitet zurzeit das vom European Research Council geförderte Projekt »The Politics of Wealth Inequality«, ist Mitherausgeber der Zeitschrift Comparative Political Studies für vergleichende Politikwissenschaft und Autor von drei preisgekrönten wissenschaftlichen Büchern. »Warum Politik so oft versagt« ist sein erstes Buch für ein breites Publikum.

»Ben Ansell ist einer der weltweit führenden Experten für die Dilemmata moderner Demokratien. ›Why Politics Fails‹ ist eine prägnante und packende Darstellung der politischen Themen, die uns alle angehen.« Daniel Ziblatt

»Das Buch untersucht, warum es Gesellschaften so schwerfällt, gemeinsame Ziele wie Demokratie, Gleichheit, einen anständigen Wohlfahrtsstaat, Sicherheit vor Kriminalität und nachhaltigen Wohlstand zu erreichen.« The Financial Times

Besuchen Sie uns auf www.siedler-verlag.de

Aus dem Englischen von Gisela Fichtl

Siedler

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Why Politics Fails. The Five Traps of the Modern World and How to Escape Them bei Viking, einem Imprint von Penguin Books, Penguin Random House UK.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © Ben Ansell 2023

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

Siedler Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Fabian Bergmann

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30415-7V001

www.siedler-verlag.de

Meinen Eltern

Inhalt

Einleitung: Einfache Probleme – doch für die Politik unlösbar

Teil I  Demokratie

So etwas wie den »Willen des Volkes« gibt es nicht

1  Westminster: Mittwoch, 27. März 2019

2  Was bedeutet Demokratie?

3  Die Demokratiefalle

4  Der Weg aus der Demokratiefalle

Teil II  Gleichheit

Gleiche Rechte und gleiche Lebensumstände schließen einander aus

5  Jeff Bezos fliegt ins All

6  Was bedeutet Gleichheit?

7  Die Gleichheitsfalle

8  Der Weg aus der Gleichheitsfalle

Teil III  Solidarität

Solidarität interessiert uns nur, wenn wir sie selbst brauchen

9  Obamacare: Samstag, 20. März 2010, Washington, D. C.

10  Was bedeutet Solidarität?

11  Die Solidaritätsfalle

12  Der Weg aus der Solidaritätsfalle

Teil IV  Sicherheit

Anarchie lässt sich ohne das Risiko der Tyrannei nicht vermeiden

13  Lockdown: Rom, Samstag, 8. März 2020

14  Was bedeutet Sicherheit?

15  Die Sicherheitsfalle

16  Der Weg aus der Sicherheitsfalle

Teil V  Wohlstand

Was uns kurzfristig reicher macht, macht uns auf lange Sicht ärmer

17  Paris: Samstag, 12. Dezember 2015

18  Was bedeutet Wohlstand?

19  Die Wohlstandsfalle

20  Der Weg aus der Wohlstandsfalle

Wie Politik gelingen kann

Anhang

Dank

Anmerkungen

Bibliografie

Personenregister

Sachregister

Einleitung: Einfache Probleme – doch für die Politik unlösbar

Die Schlagzeile in der New York Times kam einem Paukenschlag gleich: »Höhere Kohlendioxidbelastung wohl Grund für die Klimaerwärmung«. Der Autor, Waldemar Kaempffert, stellte eine Theorie vor, die bereits 1861 entwickelt worden war, aber erst jetzt wieder aufgegriffen wurde: Die Kohlendioxidemissionen durch den Menschen könnten die Erdatmosphäre dauerhaft aufheizen.

Kaempffert betonte, dass schon ein scheinbar geringer CO2-Anstieg schwere Konsequenzen haben könnte, wenn »die Polarregionen in tropische Wüsten und Dschungel verwandelt werden, in denen Tiger umherstreifen und farbenprächtige Papageien in den Bäumen krächzen«. Einmal abgesehen von der blumigen Schilderung vertraten die Wissenschaftler, mit denen Kaempffert gesprochen hatte, die Ansicht, dass der Anstieg der globalen Temperaturen in den »letzten sechzig Jahren« auf »die Erhöhung des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre um 30 Prozent durch den Menschen« zurückzuführen sei, »das bedeutet einen Anstieg um 1,1 Grad Celsius pro Jahrhundert«.

Dieser weitsichtige Artikel erschien in der Times vom 28. Oktober 1956. Die »letzten sechzig Jahre« globaler Erwärmung, von denen Kaempffert hier sprach, waren die Zeit seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf denen diese Vorhersagen beruhten, waren bereits an die hundert Jahre alt.

Mehr als wiederum sechzig Jahre später empfinden wir die Warnungen als deutlich realer. Die globalen Temperaturen sind um ein weiteres Grad angestiegen. Und der Wandel beschleunigt sich. Das derzeit optimistischste Szenario geht von weiteren 1,5 Grad Celsius aus, was die Aussicht auf krächzende Papageien in der Arktis durchaus näher rücken lässt. Wahrscheinlicher aber sind Wüstenbildungen in großen Teilen Südeuropas, Indiens und Mexikos sowie lokal auftretende Überschwemmungen und Milliarden von Menschen auf der Flucht.

In den späten 1950er-Jahren war sich die Wissenschaft noch nicht sicher, was den globalen Temperaturanstieg hervorrief (und ob überhaupt bewiesen werden konnte, dass die Temperaturen stiegen). Inzwischen können wir uns, trotz der Einwände von Klimawandelskeptikern, nicht mehr darauf hinausreden, dass wir nicht wüssten, was passiert. Die Debatte hat sich längst von der Frage, ob die Menschen für den Klimawandel verantwortlich sind, auf die Frage verlagert, was – wenn überhaupt – wir dagegen tun können. Das ist ein gewisser Fortschritt, der jedoch eine entscheidende Frage aufwirft. Wenn die Katastrophe jetzt auf uns zurollt, was in aller Welt haben wir eigentlich die letzten siebzig Jahre getrieben?

Der Klimawandel ist ein einfaches Problem, aber politisch unmöglich zu lösen. Mit »einfach« meine ich, dass der Weg von A nach B – Kohlendioxidemissionen führen zum Aufheizen der Erdatmosphäre – direkt und klar nachvollziehbar ist. Die Reduktion – oder gar die Beseitigung – von Kohlendioxid ist die offensichtliche Lösung. Wir verstehen die wissenschaftlichen Zusammenhänge. Hingegen verstehen wir nicht, wie wir jemanden dazu bringen können, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen, obwohl er uns doch alle betrifft. Warum waren wir so passiv, obwohl wir seit Jahrzehnten wissen, dass er eine fundamentale Bedrohung für die Menschheit darstellt?

Kohlendioxid ist ein globales Problem, die Politik aber agiert hoffnungslos in einer Weise, die jeweils nur das eigene Land im Blick hat. Wenn ich mehr Verschmutzungen erzeuge, bleiben die Emissionen nicht innerhalb meiner nationalen Grenzen. Sie werden auch für die anderen zum Problem. Und umgekehrt. Doch wenn ich nur ein kleines Land bin, werden meine Verschmutzungen schon nicht allzu viel Schaden anrichten – allein kann ich das globale Klima ohnehin nicht verändern. Dies gilt natürlich nicht nur für mich – es gilt für die meisten anderen Länder. Wir alle machen lieber weiter wie bisher und hoffen, dass jemand anderes die Kosten für die CO2-Reduktion schultert. Es gibt keine Weltregierung, die uns wirksam sanktionieren könnte. Also erhitzen wir in Ermangelung einer effektiven internationalen Vereinbarung weiter munter die Atmosphäre. Unsere Politik scheint nicht einmal mächtig genug zu sein, um auf eine existenzielle Bedrohung reagieren zu können.

Aber vielleicht ist sie es ja doch. Im Lauf der letzten Jahrzehnte, zumindest seit dem sogenannten Erdgipfel, der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio 1992, gab es konzertierte politische Bemühungen, die uns aus unserer Untätigkeit wecken sollten. Sie waren allerdings nicht immer erfolgreich. Das Kyoto-Protokoll von 1997, das den reichen Ländern verbindliche Ziele setzte, wurde entweder nicht mitunterzeichnet (USA), war doch nicht verbindlich (China) oder wurde ausgesetzt (Kanada). Die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen, ein Versuch, Kyoto wiederzubeleben, scheiterte 2009 kläglich. Doch das Pariser Klimaabkommen von 2015 schien weitgehend gelungen zu sein, trotz des vorübergehenden Austritts der Vereinigten Staaten durch die Trump-Regierung. Sein Erfolg ist das Ergebnis seiner Flexibilität, von absichtlich vagen Formulierungen und der Verschiebung von Entscheidungen in die Zukunft. Auch wenn dies alles andere als perfekt ist, so zeigt es doch, dass Politik nicht notwendig versagt.

Der Klimawandel konfrontiert uns mit fünf zentralen politischen Herausforderungen. Er stellt unsere Vorstellung von Demokratie infrage: Bringen wir wirklich einen stabilen globalen Konsens zustande, wie wir die Emissionen senken können, der nicht ins Chaos führt oder polarisiert?

Dabei stellen sich fundamentale Fragen über Gleichheit: Sollten reichere Länder mehr zur Lösung des Klimawandels beitragen, und hat jedes Land das gleiche »Recht«, Verschmutzungen zu erzeugen?

Der Klimawandel zwingt uns auch, uns den Fragen über globale Solidarität zu stellen: Was schulden die Menschen in den entwickelten Ländern den Menschen in ärmeren Ländern; sind wir bereit, jene, deren Küstenorte oder Strandgrundstücke durch steigende Meeresspiegel bedroht sind, aus ihrer ausweglosen Situation zu befreien?

Möglicherweise berührt das wiederum die internationale Sicherheit: Wie bewältigen wir den Massenexodus von Klimaflüchtlingen; wie setzen wir ohne internationale Strafverfolgung und Rechtssysteme internationale Klimagesetze durch?

Und vor allem gefährdet der Klimawandel unser aller Wohlstand: Riskieren wir Dürren, Hungersnöte und Verschmutzung, indem wir die Umwelt für kurzfristige Gewinne ausbeuten, und setzen wir darüber hinaus nicht langfristig unsere Überlebensfähigkeit auf unserem ziemlich einsamen Sonnentrabanten aufs Spiel?

Dies sind existenzielle politische Probleme. Neu sind sie nicht. Seit Jahrtausenden kämpfen wir als Spezies darum, die kollektiven Ziele Demokratie, Gleichheit, Solidarität, Sicherheit und Wohlstand zu erreichen. Und es stehen uns jenseits des Klimawandels weitere große Herausforderungen bevor: von Armut über Polarisierung bis hin zu Pandemien. Wir brauchen Lösungen. Politik ist nicht vollkommen, aber sie könnte unsere letzte Hoffnung sein, eine gemeinsame Basis zu finden.

Eine gemeinsame Basis

Politik. Ein heikler Begriff. Manche verbinden damit abstoßende, korrupte Machenschaften von Politikerinnen und Politikern. Für andere beschwört er Chancen herauf – die Möglichkeit, gemeinsam etwas zu erreichen, was niemand von uns allein bewerkstelligen kann. Oder vielleicht stimmt beides. Politik bedeutet zunächst einmal die Art, wie wir kollektive Entscheidungen treffen. Die Art, wie wir in einer unsicheren Welt gegenseitige Verpflichtungen eingehen. Und Politik ist für die Lösung unserer Dilemmata von Klimawandel bis Bürgerkrieg, von globaler Armut bis zur Corona-Pandemie von wesentlicher Bedeutung.

Doch Politik ist ein zweischneidiges Schwert: Sie verspricht nicht nur, unsere Probleme zu lösen, sie schafft auch neue. Wir brauchen sie, aber oft verabscheuen wir sie auch. Wir suchen nach Alternativen: leistungsfähigen Märkten, technologischem Fortschritt, starken oder moralisch integren Führungspersönlichkeiten, die etwas bewirken können. Doch ohne Politik sind sie falsche Götter, denn jede technologische Sofortlösung, jeder perfekt gestaltete Markt, jede rechtschaffene Führungspersönlichkeit, die »für das Volk« spricht, wird auf uns Menschen und unsere Neigung zu Uneinigkeit, Widerspruch und Fehlverhalten treffen.

Politik ist die Art und Weise, wie wir mit den unausbleiblichen Meinungsverschiedenheiten umgehen. Wir können Politik nicht vermeiden oder sie uns wegwünschen. Wahlen haben Gewinner und damit auch Verlierer. In einer ungleichen Welt müssen manche Menschen mehr Geld aufbringen als andere. Über eine Polizei und Armeen zu verfügen, die uns schützen, wirft die simple Frage auf, wer uns vor ihnen schützt. Wenn wir versuchen, die Politik in einem Bereich außen vor zu lassen, taucht sie anderswo wieder auf – sie ist stets präsent und widersteht dem Versuch, sie zu ignorieren oder zu verdrängen –, drückt man die Zahnpasta in der Tube an einer Stelle weg, quillt sie bekanntlich an anderer wieder hervor. Ob man Politik verabscheut oder wertschätzt, wir sind auf sie angewiesen, wenn wir außerhalb unserer eigenen kleinen Welt etwas erreichen wollen.

Gibt es etwas, das wir beide wollen, Sie und ich, trotz aller offensichtlichen Differenzen? Die meisten Menschen sind sich – egal, wie gegensätzlich wir oberflächlich betrachtet zu sein scheinen – in einigen Dingen einig. Tatsächlich sind es fünf. Fünf Dinge, die bei der Bewältigung unserer existenziellen Herausforderungen wie dem Klimawandel eine zentrale Rolle spielen. Fünf Dinge, die auch eine Reihe von Fallen bereithalten, die wir vermeiden müssen. Schauen wir sie uns einmal genauer an.

Demokratie

Ein umstrittenes Modell, keine Frage. Betrachten wir sie als das Recht und die Möglichkeit einer breiten Öffentlichkeit, ihre Führung zu wählen und sie wieder abzusetzen. Nur etwa die Hälfte der Weltbevölkerung lebt derzeit in Ländern, die grob gefasst »demokratisch« sind. Dennoch ist die Idee für viel mehr Menschen attraktiv, unter anderem für jene, die in autoritär geführten Staaten ausharren müssen. 86 Prozent der Menschen glauben nach dem World Values Survey, einer globalen Werteerhebung in demokratischen und nicht demokratischen Ländern, dass Demokratien entweder eine »sehr« oder eine »ziemlich« gute Regierungsform sind. Auch 90 Prozent der Menschen in China, Äthiopien, Iran und Tadschikistan stimmen einer der beiden Aussagen zu. Tatsächlich erweist sich die Demokratie in diesen vier autoritär geführten Ländern sogar als beliebter als in den Vereinigten Staaten. Vielleicht meinen die Menschen dort etwas anderes, wenn sie von Demokratie sprechen, und die Skepsis ist größer, wenn man in einer solchen lebt. Doch die Herrschaft des Volkes durch das Volk, vielleicht sogar für das Volk, bleibt eine verlockende Vorstellung.

Dennoch war das letzte Jahrzehnt für Demokratien unerfreulich. Die »dritte Welle« demokratischer Umbrüche, die Mitte der 1970er-Jahre begann und in den frühen 1990ern die meisten kommunistischen Regime hinwegspülte, verebbte Anfang des 21. Jahrhunderts oder verkehrte sich sogar ins Gegenteil. Autoritäre Kräfte von Russland bis China ließen im militärischen Bereich vermehrt ihre Muskeln spielen. Die »Heimstätten« der Demokratie von Griechenland über Großbritannien bis hin zu den Vereinigten Staaten gerieten durch umstrittene Referenden, Erfolge populistischer Parteien und Angriffe auf die Mainstream-Medien, Behörden und die Wissenschaft ins Trudeln.

Die Demokratie mag ein weitverbreitetes Ideal sein, doch sie steht eindeutig unter wachsendem Druck. Manchmal klagen wir über das Chaos und die mangelnde Entschlossenheit, wenn sich Demokratien scheinbar zu keiner Entscheidung durchringen können. Ein anderes Mal fürchten wir die Wut und das Gift politischer Polarisierung, wenn sich die Parteien gegenseitig beschimpfen. Dennoch bleibt die Demokratie trotz ihrer Mängel für die meisten von uns unentbehrlich. Herauszufinden, wie sie effektiv funktionieren kann, ist eine der zentralen Herausforderungen unserer Epoche.

Gleichheit

Wie schon der Begriff »Demokratie« bedeutet auch der Begriff »Gleichheit« für verschiedene Menschen Unterschiedliches. Im Kern jedoch geht es darum, dass jeder gleichbehandelt wird, ohne Ansehen der Person, unparteiisch und gerecht. Nur sehr wenige erklären offen, dass Menschen systematisch ungleich behandelt werden sollten, auch wenn in unseren Gesellschaften Rassismus und Sexismus noch immer grassieren. Doch Gleichheit reicht über eine gerechte Behandlung hinaus, sie beinhaltet auch Chancengleichheit und gerechte Lebensumstände. In diesem Bereich gibt es eine hitzigere öffentliche Debatte. Die gängige »Links-rechts-Politik« in den wohlhabenden Ländern dreht sich oft um die Frage, wie die Einkommen der Reichen besteuert und auf die weniger Vermögenden umverteilt werden sollen.

Sogar bei diesem Thema, das mag überraschen, herrscht ein breiter Konsens in der Bevölkerung. 2019 waren nur 7 Prozent der Bürger wohlhabender Länder nicht der Meinung, dass die »Einkommensunterschiede« in ihren Ländern zu groß seien. 70 Prozent wünschten sich mehr Engagement ihrer Regierung, um die Kluft zu schließen. Und davon stimmten traurigerweise wiederum 70 Prozent überein, dass sich die Politikerinnen und Politiker ihres Landes »nicht darum kümmerten«, die Einkommensunterschiede zu verringern. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die meisten Menschen exakt gleiche Einkommen wünschen. Doch die Daten dieser Umfrage legen nahe, dass eine breite Unzufriedenheit über das Ausmaß der Ungleichheit herrscht, die wir in unserem Alltag wahrnehmen.

Ungleichheit mag also unbeliebt sein, doch konnte dies offensichtlich nicht verhindern, dass die Einkommen und Vermögen in der gesamten industrialisierten Welt immer weiter auseinanderklaffen. Wir leben in einem Zeitalter eines offensichtlichen Ungleichheitsparadoxons: Die globale Ungleichheit ist zurückgegangen, da Milliarden Menschen in China und Indien aus der Armut befreit wurden; in den wohlhabenden Ländern jedoch wächst die Ungleichheit seit den 1980er-Jahren dramatisch. Die Schließung von Fabriken und stagnierende Löhne in den reichen Ländern führten zu Reaktionen sowohl gegen wohlhabende urbane Regionen als auch gegen den Handel mit ärmeren Ländern. Die politischen Auswirkungen dieser Abwehrreaktion waren gravierend und stellten die bisherige Rechts-links-Politik in Amerika und Europa auf den Kopf, als Populisten, die »Globalisten« anprangerten, eine Wahl nach der anderen gewannen. Gleichheit, beziehungsweise ihr Fehlen, war wieder in den Mittelpunkt der Politik gerückt.

Solidarität

Niemand von uns ist vor Schicksalsschlägen gefeit. Wir können sterbenskrank werden oder morgen von einem Bus überfahren werden. Unser Berufsleben ist ebenfalls nur selten ein geradliniger Aufstieg von A (Hungerlohn) nach B (Reichtum). Manchmal haben wir Pech. Wir hoffen, dass uns andere, die gerade gute Zeiten erleben, helfen können, wenn wir am Boden liegen, so wie wir es auch umgekehrt tun würden. Das ist Solidarität: Unterstützung für die Mitbürgerinnen und Mitbürger, die eine schwere Zeit durchmachen. Häufig wird darum gestritten, wer Solidarität zeigen sollte und in welchem Ausmaß. Doch egal, ob sie vom Staat oder von der Kirche ausgeht, ob sie im eigenen Land oder bei den Ärmsten der Welt beginnt, Solidarität war immer schon ein weitverbreiteter menschlicher Impuls.

In den wohlhabenden Demokratien unserer Tage sind die populärsten politischen Maßnahmen solidarische – zugleich handelt es sich um die stark aufgeladenen Themen und heißen Eisen, mit denen man leicht politischen Selbstmord begeht, wenn man sie unvorsichtigerweise aufgreift: die Sozialversicherung in den Vereinigten Staaten etwa oder der Nationale Gesundheitsdienst, der in Großbritannien eine vermeintlich »heilige Kuh« ist. In den reichen Ländern glauben 95 Prozent der Menschen, dass der Staat für die Gesundheitsversorgung zuständig sein soll. Sogar in den USA, wo die Rolle der Behörden in der Gesundheitsversorgung, vorsichtig formuliert, lückenhaft ist, wünschen sich 85 Prozent, dass der Staat hier Verantwortung übernimmt.

Und manchmal erfahren wir globale Solidarität direkter, als wir uns hätten vorstellen können. Lange wurde weltweite Gesundheitsversorgung als eher abseitiges Thema empfunden: etwas, das die Menschen »da draußen« betraf – die Zielgruppen für Entwicklungshilfe und internationale Hilfsorganisationen, aber nichts, was bei uns wirklich existenzielle Sorgen verursacht hätte. Die Corona-Pandemie hat die Risikoabwägung drastisch verändert. Mit einem Mal waren Arm und Reich, der wohlhabende Westen und der globale Süden, in Krankheit und Gesundheit miteinander verbunden. Pandemien halten sich nicht an Staatsgrenzen. Covid-19 offenbarte weltweit auch erhebliche Unterschiede im Zugang zu Gesundheitsleistungen. Die Frage, mit wem wir uns solidarisch fühlen, ist wichtiger denn je, wenn ein Virus aus einem vernachlässigten Slum in den Tropen unerkannt bis in die schimmernden Penthouse-Wohnungen in Manhattan vordringen kann. Oder natürlich auch in umgekehrter Richtung.

Sicherheit

Vielleicht ist das grundlegendste menschliche Bedürfnis, sicher zu sein und zu überleben. Wenn wir uns auf irgendetwas einigen können, dann darauf, dass wir alle am Leben und gesund bleiben wollen. In weltweiten Umfragen gaben 70 Prozent der Menschen an, dass ihnen Sicherheit wichtiger sei als Freiheit, wobei der Anteil in Ländern, in denen akut Krieg herrschte, am höchsten war. Für den größten Teil der Menschheitsgeschichte gehörte kriegerische Gewalt zu den tragischen Gewissheiten des Lebens. Doch in den letzten Jahrzehnten, bis zur russischen Invasion in der Ukraine, waren Kriege zwischen Staaten selten geworden.

Auch der Alltag ist sicherer geworden als früher. Über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte hinweg wurde der Frieden durch »Selbsthilfe« aufrechterhalten – wir fingen unsere Verbrecher selbst. Heute haben wir professionelle Polizeibehörden, die – wenn auch oft alles andere als unvoreingenommen – weitgehend in der Lage sind, für öffentliche Ordnung zu sorgen. Das Vertrauen in die Polizei ist im Allgemeinen hoch: Gut drei Viertel der Menschen in den USA, Großbritannien, Deutschland und Japan haben ein »großes« oder »sehr großes« Vertrauen in die Polizei. In Ländern wie Brasilien, Guatemala oder Mexiko, in denen die Mordrate und die Kriminalität allgemein hoch sind, ist das Vertrauen in die Polizei dagegen verständlicherweise gering und das Bedürfnis nach Sicherheit im Vergleich zu dem nach Freiheit besonders hoch.

In den letzten Jahrzehnten stieg das Gewaltniveau innerhalb der Länder von Menschenrechtsverletzungen über Terrorismus bis hin zu Bürgerkriegen. Polizeigewalt ist in vielen wohlhabenden Ländern zu einem zentralen politischen Problem geworden. Manchen Berichten zufolge war das Jahr 2016 das gewalttätigste seit dem Zweiten Weltkrieg. Können wir die regional auftretende Gewalt, die Länder von der Demokratischen Republik Kongo bis Afghanistan heimsucht, verhindern? Können wir dafür sorgen, dass sich zu unserem Schutz eingesetztes Militär und die Polizei nicht gegen uns wenden? Und bedeutet die Invasion Russlands in der Ukraine eine Rückkehr zu den »schlechten alten Zeiten« zwischenstaatlicher Kriege?

Wohlstand

Wir alle wünschen uns genug Geld zum Leben. Die meisten von uns wollen mindestens so viel, wie sie heute haben. Und viele hatten Glück: Wir alle, die wir in der industrialisierten Welt leben, verfügen über einen Luxus, von dem unsere Vorfahren vor zehn Generationen nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Wir haben uns sogar schon daran gewöhnt, unseren Wohlstand innerhalb nur einer Generation zu steigern. Weltweit halten 80 Prozent der Menschen ihr Leben für genauso gut oder besser als das ihrer Eltern – in China sind es sogar 90 Prozent.

Doch das grenzenlose Wirtschaftswachstum hat seine Schattenseiten. Wir können nicht einfach Energie erzeugen, ohne dass es Folgen hätte. Möglicherweise heizen wir unseren Planeten bis über die Grenzen seiner Belastbarkeit hinaus auf. Und wir müssen rasch handeln. Der Intergovernmental Panel on Climate Change, kurz Weltklimarat, schätzt, dass die globalen Temperaturen um das Jahr 2040 über die »tolerierbare« Grenze von zwei Grad Celsius ansteigen.

Die Folgen in Form von Dürren, Überschwemmungen und Hitzetod wollen nicht so recht in unsere Köpfe, obwohl die Zunahme von »Jahrhundert«-Fluten, -Erdrutschen und anderen Naturkatastrophen uns bereits einen verstörenden Ausblick auf unsere Zukunft gewährt. In vielen wohlhabenden Ländern wie Australien, Deutschland und Italien halten doppelt so viele Menschen Umweltschutz für wichtiger als Wirtschaftswachstum wie umgekehrt. Ein Zielkonflikt, der sich auszuwirken beginnt. Wir alle mögen uns globalen Wohlstand wünschen, doch ihn zu bewahren, ist davon abhängig, dass wir die Zerstörung unseres Planeten stoppen oder zumindest massiv eindämmen.

Politische Ökonomie

Demokratie. Gleichheit. Solidarität. Sicherheit. Wohlstand. Wunderbare Dinge. Ziele, auf die sich die meisten von uns vernünftigerweise einigen können, selbst wenn wir über die Mittel streiten, wie sie erreicht werden sollen, oder idealerweise nur noch über die Feinheiten ihrer Ausgestaltung. Kollektive Ziele wie die genannten sollten erreichbar sein – und auch wenn wir sie nicht vollständig umsetzen können, sollten wir doch zumindest in der Lage sein, uns auf sie zuzubewegen.

Was also hindert uns, fokussiert unsere Ziele anzusteuern? Und was gefährdet sie? Wir selbst. Oder vielmehr unsere Politik. Im politischen Alltag geraten unsere individuellen Eigeninteressen und die kollektiven Ziele aneinander. Und oft überlagert das Eigeninteresse das kollektive Ziel. Wir fordern beispielsweise weiterhin billiges Benzin, um unsere SUVs betanken und über das Wochenende nach Paris fliegen zu können, obwohl wir unseren Planeten damit langsam zum Kochen bringen. Ich werde in diesem Buch zeigen, wie sich die Kluft zwischen Eigeninteresse und kollektivem Ziel auswirkt und wie wir Politik so nutzen können, dass sie effektiv für unsere Ziele arbeitet. Anders ausgedrückt, wie wir verhindern, dass Politik so oft versagt.

Meine Argumente und Erkenntnisse stützen sich auf die Politische Ökonomie, eine Denkschule, die sich ernsthaft damit auseinandersetzt, wie Individuum und Gesellschaft interagieren. Wenn wir mit einem Modell des Einzelnen beginnen – was wollen wir, und wie erreichen wir dieses Ziel? –, in einem nächsten Schritt dann unseren Blick weiten und auf die Gesellschaft als Ganzes richten, erkennen wir, dass unsere besten Pläne durch … nun ja, uns selbst untergraben werden. Wir werden sehen, dass unsere privaten Interessen in ein kollektives Chaos münden, und uns damit auseinandersetzen, wie wir den selbst gestellten Fallen entkommen.

Mein Weg zur Politischen Ökonomie führte über ein Studium der Geschichte. Wie andere Gesellschaftswissenschaften – aber anders als die Geschichte – sucht die Politische Ökonomie nach allgemeinen Gesetzen und Mustern, die menschliches Verhalten in der Vergangenheit und Zukunft erklären können. Und wie so mancher Bekehrte stellte ich fest, dass ich die Methoden, die für meine bisherigen Forschungen galten, nicht weiterverfolgen wollte – weg von der Kontingenz und Spezifität der historischen Untersuchung hin zur Universalität, Klarheit und direkten Anwendbarkeit der Politischen Ökonomie.

Sie geht von einfachen Modellen des Individuums mit Eigeninteressen aus und betrachtet dann, wie diese Individuen interagieren und sich gegenseitig beeinflussen. Wir erarbeiten und entwickeln daraus mathematische Modelle, die Verhaltensweisen erklären und vorhersagen – nicht aus fehlgeleitetem Neid auf die Physik, sondern weil uns diese Modelle zwingen, die Konsequenzen unserer Thesen über den Menschen zu Ende zu denken.

Politische Ökonomie stellt und beantwortet Fragen zur Mikropolitik unseres täglichen Lebens – wie stehe ich zur Finanzierung der Rentenversicherung, wenn ich ein Haus kaufe? – bis hin zur Makropolitik des Lebens aller – bedroht steigende Ungleichheit unsere politische Stabilität? Dies geschieht unter der Annahme, dass Menschen im Großen und Ganzen gleich sind – Politikerinnen und Wähler, Reiche und Arme –, dass sie den gleichen Versuchungen unterliegen und vor denselben Fallen stehen. In diesem Buch will ich zeigen, wie leistungsfähig und aufschlussreich, ja wie schön sogar manchmal dieser Erklärungsansatz unserer Welt ist.

Die Grundthese, auf der die Politische Ökonomie beruht, lautet, dass jeder Mensch egoistisch ist, oder zumindest eigennützig. Es gibt vieles, was Sie sich wünschen, und Sie werden Ihr Möglichstes tun, um es zu erreichen. Eigeninteresse herrscht überall. Es erklärt, warum wir so handeln, wie wir es tun. Und warum wir davon ausgehen sollten, dass auch andere so handeln.

Sie mögen einwenden, dies sei eine sehr zynische Weltsicht. Doch sich mit Eigennutz auseinanderzusetzen, bedeutet nicht, ihn zu billigen. Er ist gewiss kein moralischer Kompass, nach dem Sie Ihr Leben ausrichten sollten. Eigennutz ist vielmehr ein nützliches Analysewerkzeug: die Grundlage der Theorien, die wir entwickeln, um menschliches Verhalten zu erklären. Die Politische Ökonomie nutzt das Modell des Eigennutzes nicht nur zur Beschreibung, Erklärung und Vorhersage individuellen Verhaltens, sondern auch, um Regierungen politische Strategien zu empfehlen – eine Politik, die das Leben aller verbessert, obwohl jeder von uns Eigeninteressen verfolgt.

Eine Fokussierung auf Eigeninteressen bedeutet, die Welt als eine Welt aus Individuen zu begreifen. Statt von Klassen, Kulturen oder anderen Gruppen zu sprechen, beginnen wir beim einzelnen Menschen und bauen darauf auf. Denn das Konzept von »Gruppeninteressen« ist fragwürdig – warum sollten sich Einzelpersonen in einer Gruppe gleich verhalten? Wie kann man behaupten, eine Gruppe habe eigene Präferenzen? Schließlich haben Gruppen keinen eigenen Willen.

Aber Individuen haben einen eigenen Willen. Wir haben Präferenzen. Es gibt Dinge, die wir mögen, und solche, die wir ablehnen, und wir können unsere Präferenzen gewichten. Entsprechend versuchen wir zu taxieren, wie sich das gewünschte Ergebnis erreichen lässt. In einer idealen Welt treffen wir die bestmögliche Wahl. Mathematisch gesprochen, »maximieren« wir unser Glück entsprechend unseren Optionen, indem wir die Wahl treffen, die uns den höchsten »Nutzen« bringt. Wir verfügen also über eine Reihe von Präferenzen darüber, was passieren soll oder was wir erreichen wollen. Und wir entscheiden uns für die Möglichkeit, die uns am besten gefällt. Das ist das Konzept des Eigennutzes.

Die wichtigsten Erkenntnisse der Politischen Ökonomie ergeben sich aber nicht allein aus der Annahme, dass Menschen Präferenzen besitzen und die gewünschte Option wählen. Das würde zu der recht geistlosen Erkenntnis führen, dass Menschen möglichst viel von allem wollen. Ein höheres Einkommen macht mich glücklicher. Und ich werde immer noch glücklicher, je mehr ich verdiene. Und das bis ins Unendliche. Doch voraussichtlich wird uns etwas davon abhalten, den Nutzen immer weiter zu steigern. Dieses Etwas ist die Welt, die uns umgibt.

Menschen stoßen immer an eine Grenze, die sie daran hindert, genau das zu bekommen, was sie wollen. Diese Grenze kann physisch sein – es gibt nur eine begrenzte Menge Erdgas oder Gold auf dem Planeten Erde. Sie kann institutionell sein – ich könnte mein Einkommen dadurch maximieren, dass ich alle Banken des Landes ausraube, doch dabei werde ich es mit den Strafverfolgungsbehörden zu tun bekommen, die mich davon abhalten, mein Ziel zu erreichen. Und in vielen Fällen werden auch soziale Grenzen gesetzt – das Verhalten anderer schränkt meine Möglichkeiten ein.

Die Beschränkungen erzeugen Zielkonflikte und verlangen uns Kompromisse ab. Wir können nicht alles bekommen, was wir uns wünschen, und müssen uns entscheiden, worauf wir verzichten wollen. Kompromisse sind ein alltäglicher, banaler Teil unseres Lebens. Wenn wir in einen Laden gehen und Kaffee einer bestimmten Marke kaufen, schließen wir mehrere Kompromisse: Wir ziehen diese Marke einer anderen vor; wir entscheiden uns für Kaffee statt für Tee; und wir tauschen Geld gegen den Nutzen, dafür Kaffee zu bekommen. Und da wir das Geld durch Arbeit verdienen, erhalten wir den Nutzen, den uns der Kaffee schenkt, im Tausch gegen das Grundelement unseres Daseins: Zeit.

In der Politik geht es immer um Zielkonflikte und Kompromisse. Wenn ich in einer Wahlkabine stehe, entscheide ich mich zwischen verschiedenen Kandidaten. Letztlich tausche ich, was ich an der einen Partei mag, gegen das, was mir die andere bietet. Ich kann mir zum Beispiel niedrigere Steuern wünschen, zugleich aber sozial äußerst liberal eingestellt sein – ob ich am Ende im Vereinigten Königreich Labour oder die Konservativen wähle, in den USA die Republikaner oder die Demokraten und in Frankreich die Parti Socialiste, Macrons Renaissance oder die Republikaner, hängt davon ab, wie ich meine Präferenzen gegeneinander abwäge.

Ich habe sogar schon Zielkonflikte hinter mir, indem ich überhaupt zum Wählen gegangen bin. Wählen kostet Zeit und Mühe. Es mag von Nutzen sein, wenn die Partei, die ich präferiere, gewinnt, sodass es die Kosten aufwiegt, in einer Schlange vor der Wahlkabine anstehen zu müssen. Aber dass meine persönliche Stimme den Ausschlag gibt, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Wäge ich sachlich die Vorteile eines Sieges meiner Partei gegen die winzige Wahrscheinlichkeit ab, dass meine Stimme entscheidend ist, werde ich die Kosten, die eine Stimmabgabe verursacht, deutlich höher bewerten. Das bedeutet, dass es vielleicht gar nicht rational ist, wählen zu gehen. Daraus folgt, so argumentiert man in der Politischen Ökonomie, dass die Präferenzen der Menschen ein Element wie »Pflicht« enthalten müssen, das diesen Umstand ausgleicht und damit eine Vorhersage ermöglicht, wer tatsächlich zur Wahl geht. Wenn ich das Gefühl mag, etwas bewirken zu können, wenn ich besonders politisch interessiert bin oder mir von der Arbeit freinehmen kann, werde ich wählen gehen. Im Gegensatz dazu wird die Wahlbeteiligung unter gleichgültigen, apolitischen oder finanziell schlechter gestellten Menschen, die es sich nicht leisten können, sich freizunehmen, niedrig ausfallen.

Auch Politikerinnen und Politiker agieren eigennützig. Kongressabgeordnete in den USA klagen häufig darüber, dass sie einen Großteil ihrer Zeit mit Anrufen bei potenziellen Spendern verbringen statt mit Politik. Warum legen sie das Telefon nicht beiseite und wenden sich der eigentlichen Arbeit eines Abgeordneten zu? Weil sie keine Gesetze machen können, ohne zuvor die Wahl zu gewinnen. Und um Wahlen zu gewinnen, brauchen sie die Unterstützung ihrer Wählerinnen und Wähler. Doch woher sollen die wissen, wie sie wählen sollen? Aus den Werbespots der Parteien, und die kosten Geld, die Amtsinhaberin genauso wie den Herausforderer. Also werden beide Kandidaten zu einem finanziellen »Wettrüsten« im Wahlkampf getrieben, schließlich wollen sie gewählt werden. Es liegt nicht daran, dass Politiker käuflich oder dumm wären (obwohl es auch solche gibt) – ihr Verhalten erklärt sich durch die Entscheidungen, die sie treffen, und die Kompromisse, die sie eingehen müssen, um gewählt zu werden.

Darauf zu bestehen, die Eigeninteressen bei der Betrachtung politischen Handelns im Blick zu behalten, mag eindimensional anmuten. Aber ich behaupte, es wirkt ziemlich befreiend. Wir müssen nicht davon ausgehen, dass manche Menschen edlere Motive haben als andere. Oder manche einfach unverständlich handeln. Häufig steckt hinter dem Verhalten der scheinbar selbstlosesten Menschen oder dem, was als wohltätiges, aufgeklärtes öffentliches Interesse erscheint, eine von Eigennutz gesteuerte Logik.

Nehmen wir das Thema Bildung. Die meisten Meinungsumfragen zeigen eine große Unterstützung für öffentliche Investitionen in das Bildungssystem. Möglicherweise wünschen sich die Menschen tatsächlich höhere Bildungsausgaben. Vielleicht aber schämen sie sich auch einfach nur, in einer Umfrage zuzugeben, dass ihnen die Finanzierung der Schulen egal ist. Graben wir jedoch etwas tiefer, erkennen wir ziemlich deutliche Unterschiede, die sich mit den grundlegenden Eigeninteressen decken. Insbesondere für wohlhabende Menschen stellt öffentliche Bildung eine Bedrohung dar. Sie müssen nicht nur mehr Steuern für die Ausbildung der Kinder anderer Leute zahlen, diese besser ausgebildeten Kinder werden auf dem Arbeitsmarkt dann auch noch zur Konkurrenz für die eigenen Kinder. Bildungsausgaben sind für Reiche »doppelt schlecht«.

In der Bildung spielen Eigeninteressen überall eine Rolle. Von autoritären Regimen, die von Reichen geführt werden, würde man vermuten, dass sie öffentliche Ausgaben drosseln und die Schulpflicht aufheben – was angefangen bei Franco in Spanien bis hin zu Marcos auf den Philippinen tatsächlich der Fall war. Ebenso würde man davon ausgehen, dass rechte Parteien weniger bereit sind, Geldmittel für Bildung zur Verfügung zu stellen oder sie in ihren Parteiprogrammen zu erwähnen – was in ganz Europa von Deutschland bis Großbritannien auch zu beobachten ist. Und schließlich könnte man annehmen, dass Reiche Bildungsausgaben seltener unterstützen, was sich tatsächlich in den öffentlichen Meinungsumfragen in wohlhabenden Ländern widerspiegelt. Reiche wenden sich am häufigsten gegen die staatliche Unterstützung einkommensschwacher Studierender, wenn die Zahl der Einschreibungen an den Universitäten bereits hoch ist. Eben weil eine breite Hochschulbildung die Abschlüsse ihrer eigenen Kinder »entwerten« könnte.

Das Konzept des Eigennutzes ist äußerst hilfreich, um das Verhalten der Leute zu verstehen. Doch was geschieht, wenn sich eigennützige Menschen zusammenschließen? Dann stehen wir einem neuen Problem gegenüber, dem des kollektiven Handelns.

Eines der wenigen Gesetze in der Politikwissenschaft lautet, dass sich Demokratien nicht gegenseitig bekämpfen. Die »Kabeljaukriege« zwischen Großbritannien und Island – nicht weniger als NATO-Verbündete – sind eine seltene Ausnahme. Diese Konflikte, die sich von den 1950er- bis in die 1970er-Jahre hinzogen, entzündeten sich daran, dass Island seine exklusiven Fangrechte im einst an Kabeljau reichen Nordostatlantik erweitern wollte. Im Lauf der Jahrzehnte brachen die Kabeljaubestände drastisch ein, und mit dem Rückgang der Fischbestände wuchsen die Spannungen zwischen isländischen und britischen Fischern. Die Konflikte führten zu einem Unfalltod durch Stromschlag, Schüsse wurden abgefeuert, Schiffe gerammt, Fregatten versenkt und Aufklärungsflugzeuge eingesetzt. Die Isländer statteten ihre Küstenwache sogar mit Drahtscheren aus, um die Netze der britischen Fangschiffe zu zerschneiden, wenn sie vorbeifuhren.

Warum waren Island die exklusiven Fangrechte so wichtig? Das Problem bestand darin, dass die Eigeninteressen britischer Fischer die isländischen Fischer direkt betrafen und umgekehrt. Fische sind eine seltsame Ressource – ihr Angebot ist begrenzt, aber es ist schwer, andere vom Fang abzuhalten. Besitzt man einen Milchviehbetrieb, gehören einem die dazugehörigen Kühe und die Milch, die sie geben. Will jemand Fremdes Zugriff auf den Betrieb, stehen ihm die Eigentumsrechte im Weg. Will man sich die Kühe oder die Milch aneignen, muss man einen für beide Seiten akzeptablen Betrag bezahlen.

Das Meer zu besitzen, ist jedoch nicht leicht, und es ist schwer zu überwachen. Außerhalb der »exklusiven Fischereigebiete« auf hoher See hat niemand das Recht, Gebühren auf den Fischfang zu erheben, er ist also im Grunde für alle frei. Auch wenn ich, so wie Island, exklusive Gebietsrechte beanspruche, sind Fangboote auf dem Meer schwer zu kontrollieren und lassen sich nicht wirksam fernhalten. Folglich fischen beide Parteien mit zu vielen Fischern im selben Meer. Und am Ende dezimieren sie gemeinsam innerhalb kürzester Zeit die Fischbestände.

Die Fischerei ist ein klassisches Beispiel für die »Tragik der Allmende«. Ohne Privateigentum kann jeder nach Herzenslust Fische fangen. Das klingt großartig, doch je mehr ich fische, desto weniger Fische bleiben für Sie. Mein Eigeninteresse verletzt am Ende das Ihre und umgekehrt. Wenn wir uns an ein einklagbares Abkommen binden könnten, bei dem wir beide einen angemessenen Anteil erhielten, aber Überfischung verhinderten, wären wir am Ende beide glücklicher. Insgesamt hätten wir damit ein besseres Ergebnis erzielt. Doch wenn sich dieses Abkommen nicht kontrollieren ließe – was im stürmischen Nordatlantik schwierig wäre –, würden wir unserem momentanen Eigeninteresse folgen und fischen, bis nichts mehr da wäre. Wirtschaftswissenschaftler bezeichnen den Effekt der wechselseitigen Beeinflussung der Fischer als »externen Effekt«. Ein externer Effekt tritt dann ein, wenn eine dritte Partei – ein isländischer Fischer – von einer Markttransaktion zwischen zwei anderen Parteien betroffen ist – einem Fischer an der schottischen Küste und einem Restaurantbesitzer in Glasgow, der seinen Fisch kauft. Die Politik ist somit voller externer Effekte. Die meisten sind negativ. Eine Politik, die die Energieerzeugung subventioniert, führt zu Verschmutzung, die die lokalen Strände und damit die Lebensgrundlagen von Menschen zerstört, die dort Hotels und Restaurants betreiben. Eine verkehrsberuhigte Zone in einem Londoner Stadtbezirk führt zu verstopften Straßen in einem anderen Viertel. Manchmal gibt es zum Glück auch positive externe Effekte. Ein neuer Rosengarten, den ein Nachbar mit grünem Daumen angelegt hat, steigert den Wert der Grundstücke, die einen unverstellten Blick auf den Garten haben. Doch in jedem Fall hat das eigennützige Verhalten einer Gruppe von Menschen Einfluss auf das Leben anderer.

Diese »Probleme kollektiven Handelns« tauchen immer dann auf, wenn eine Gruppe eigennütziger Individuen auf eine Weise handelt, die – vielleicht unbeabsichtigt – ein übergeordnetes kollektives Ziel untergräbt. Probleme kollektiven Handelns treten auf, weil wir voneinander abhängig, interdependent, sind. Wie ich handle, wirkt sich auf die Umgebung aus, in der Sie sich bewegen, und somit auf Ihre eigenen Entscheidungen. Und die Probleme, auf die wir in diesem Buch stoßen, weil wir umzusetzen versuchen, was wir alle wollen, laufen auf dieses Spannungsverhältnis hinaus. Wir können nicht von anderen Menschen verlangen, ihre Eigeninteressen zu ignorieren und »das Richtige« zu tun – die Fischerei einstellen, auf das Autofahren verzichten, die Verschmutzung stoppen –, also können wir es auch von uns selbst nicht verlangen. So beginnen Tragödien.

Die Politik als Versprechen

Politische Ökonomie ist so faszinierend wie herausfordernd, weil Menschen – unser Untersuchungsgegenstand – auf das, was andere tun, reagieren können. Nicht nur das, Menschen vermögen vorwegzunehmen, was andere tun werden. Probleme kollektiven Handelns entstehen, weil wir so schlau sind. Wir können sie nicht darauf schieben, dass Menschen sich so »dumm« verhalten. Doch das erhöht den Druck. Wir müssen uns selbst überlisten, wenn wir unsere Probleme lösen wollen. Und das geschieht mithilfe der Politik.

Was ist Politik? Oberflächlich betrachtet sind es Parteien, die Wahlkampf machen. Oder Abgeordnete, die Gesetze erlassen und politische Entscheidungen treffen. Oder Länder, die Bündnisse schließen und Verträge unterzeichnen. Grundlegender jedoch geht es in der Politik darum, sich gegenseitig Versprechen zu geben.

Wir alle, Sie und ich, geben ständig Versprechen. Wir treffen mit jemandem eine Vereinbarung, etwas zu tun. Wir versprechen unseren Ehepartnern, einen erholsamen Urlaub zu verbringen. Wir versprechen unseren Vorgesetzten, eine Aufgabe pünktlich zu erledigen. Versprechen sind nicht immer schön. Auch Gangsterbosse machen Versprechungen – etwa einen Ladeninhaber zu drangsalieren, der sein Schutzgeld nicht bezahlen will. Das alles sind jedoch individuelle Versprechen. In der Politik geht es darum, wie wir einander kollektive Versprechen geben – Abgeordnete ihren Wählerinnen, Präsidentinnen ihrem Parlament, Verbündete ihren Gegnern.

Ein Versprechen ist eine Vereinbarung, in Zukunft etwas zu tun. Es unterscheidet sich von einem Vertrag jedoch darin, dass es von dritter Seite nicht juristisch eingefordert werden kann. Wird ein Versprechen nicht erfüllt, hat man keinen Rechtsanspruch. Hält sich Ihr Partner nicht an sein Versprechen, nun, dann sind Sie auf sich allein gestellt.

Auch in der Politik lässt sich ein gebrochenes Versprechen nicht einklagen. Scheitert eine Regierung daran, ihr Parteiprogramm umzusetzen, kann man sie dafür nicht vor Gericht zerren. Beschließt eine Partei, aus einer Koalition auszusteigen, haben die anderen Parteien Pech. Scheut ein Verbündeter vor seinem Beistand zurück, wenn man angegriffen wird, gibt es keinen internationalen Gerichtshof, den man anrufen könnte. Das Einhalten von Versprechen kann man nicht einklagen. Sie beruhen auf Vertrauen und Erwartungen. Sie sind immer mit einem gewissen Grad an Unsicherheit verbunden.

Politik gründet auf unsicheren Versprechen, weil es keine der Politik übergeordnete Macht gibt. Die Politik kann ein Rechtssystem schaffen, das unser wirtschaftliches und soziales Handeln verbindlich regelt. Aber die Politik selbst können wir nicht auf diese Weise steuern. Im Grunde ist jede Entscheidung darüber, wer Macht ausüben soll, wer welche Rechte und Pflichten hat, eine weitere Reihe an Versprechen, die wir einander gegeben haben. Außerhalb der Politik kann uns nichts zwingen, diese Versprechen zu halten. Zudem ist Politik ein soziales Konstrukt und kontingent. Politische Entscheidungen können nicht dauerhaft und endgültig sein. Genau wie Versprechen haben politische Entscheidungen nur in unseren Köpfen Bedeutung, und sie können revidiert werden.

Nehmen wir noch einmal das Fischereiproblem im Nordatlantik. Die Ozeane gehören niemandem. Und selbst wenn sie jemandem gehören würden, wäre es nahezu unmöglich, Unbefugte zu überwachen. Rechtliche Vereinbarungen wären nicht einklagbar, weil wir Zuwiderhandlungen gar nicht entdecken würden. Auf internationaler Ebene gibt es keine Polizei, keine Geschworenen oder Richter, die Rechtsverletzungen verfolgen und bestrafen könnten. Stattdessen müssen die Länder im Namen ihrer Fischer gegenseitige politische Versprechen abgeben. Diese Vereinbarungen können dazu beitragen, die Erwartungen festzuschreiben und kurzfristig Überfischung zu vermeiden. Doch wie wir im Fall Islands gesehen haben, das seine Fischereirechte kontinuierlich erweiterte, lässt sich unmöglich verhindern, dass Menschen ihre Versprechen brechen, wenn sie glauben, das sei in ihrem Interesse. Daher müssen stets neue Versprechen gemacht werden. Politik endet nie.

Dieses Buch wird zeigen, dass Politik Versprechen geben kann, die das Erreichen unserer fünf Ziele – Demokratie, Gleichheit, Solidarität, Sicherheit und Wohlstand – vorantreiben. Aber diese Versprechen können brüchig und vergänglich sein.

Demokratie: Wir können Wahlgesetze und gesetzgebende Institutionen schaffen, um unsere chaotischen Präferenzen im Zaum zu halten; doch die Gesetze können von ihren politischen Gegnern demontiert werden.

Gleichheit: Die reiche Elite kann angesichts einer drohenden Revolution oder der Unzufriedenheit der Massen versprechen, den Wohlstand an das Volk umzuverteilen; doch hat sich das Volk einmal beruhigt, kann die Elite ihr Wort brechen und die Menschen weiter unterdrücken.

Solidarität: Wir sind in schweren Zeiten wahrscheinlich gewillt, eine Politik, die für soziale Absicherung sorgt, zu unterstützen; doch womöglich unterlaufen wir sie in guten Zeiten, indem wir die Steuern ablehnen, die für ihre Finanzierung erhoben werden müssen.

Sicherheit: Wir wünschen uns eine Polizei, die stark genug ist, um uns zu schützen; aber sie kann ihre Macht auch ausnutzen und sich gegen uns wenden.

Wohlstand: Wir wollen, dass wir angesichts so fundamentaler Herausforderungen wie dem Klimawandel zusammenarbeiten; doch zugleich fordern wir billigen Treibstoff für unsere Autos.

Wir geben uns ständig gegenseitig Versprechen. Und versuchen dann, uns wieder aus ihnen herauszuwinden. Wie können wir also dafür sorgen, dass unsere politischen Versprechen wirksamer und stabiler werden? Warum versagt Politik? Und wann ist sie erfolgreich?

Politische Versprechen sind erfolgreich, wenn sie selbstverstärkend sind. Wenn wir den Problemen kollektiven Handelns begegnen wollen, müssen unsere Versprechen den Samen für die eigene Stabilität bereits in sich tragen. Wir müssen dafür sorgen, dass es schwierig wird, sie zu brechen. Und der beste Weg dahin ist, zu versuchen, politische Institutionen zu schaffen, die ihnen eine gewisse Dauerhaftigkeit verleihen – offizielle Gesetze und Standards –, und soziale Normen zu etablieren – informelle Erwartungen an unser Verhalten. Diese Institutionen und Normen leben über den Moment ihrer Entstehung hinaus weiter: Sie bilden den gedeihenden Wald, der aus den Samen früherer politischer Versprechen erwachsen ist.

Politische Institutionen sind nichts anderes als diese offiziellen Gesetze, Regeln und Einrichtungen, die für stabile und dauerhafte Entscheidungen sorgen. Häufig assoziieren wir Institutionen mit den Menschen, die die Gesetze schreiben und durchsetzen, und mit den Gebäuden, in denen sie ihre Arbeit tun, die Gerichte und Parlamente. Doch bei einer Institution kommt es nicht auf die Mauern aus Stein an, sondern die offizielle Niederschrift politischer Versprechen. Institutionen sorgen für die Verbindlichkeit unserer Entscheidungen. Sie stabilisieren die Prognosen darüber, wie andere handeln werden, sodass wir selbst effektiv entscheiden können. Institutionen sind die Inkarnationen vergangener Versprechen, sie vermögen die aktuellen Bedürfnisse somit nicht immer perfekt abzudecken. Politik ist ständig in Bewegung. Aber selbst wenn der Schuh nicht exakt passt, sollten wir es uns gut überlegen, bevor wir ihn wegwerfen.

Ein anschauliches Beispiel ist die Filibusterregel im US-Senat. Der Filibuster erlaubt, dass lediglich vierzig von hundert Senatoren Gesetze stoppen können. Anfangs ermöglichte es der Filibuster einem einzelnen Senator, seine Rede immer weiter in die Länge zu ziehen, um so die Verabschiedung eines Gesetzes zu blockieren, was das gesamte Regierungshandeln zum Stillstand bringen konnte. Daraufhin wurde in den 1970er-Jahren eine Vereinbarung getroffen, die es den Parteien erlaubte, ein Gesetz durch die bloße Absichtserklärung zu »filibustern«. Seither ist für die Verabschiedung der meisten Gesetze im Senat eine Mehrheit von sechzig Senatoren erforderlich.

Der Filibuster richtete in vielerlei Hinsicht Schaden an – er führte dazu, dass kleine ländliche Bundesstaaten überrepräsentiert waren und etwa in den 1960ern für die anhaltende Blockade von Bürgerrechtsreformen sorgten. Doch es ist auch nicht ohne Risiko, diese Regel aufzuheben. Zwischen 2009 und 2015 plädierten die Demokraten dafür, den Filibuster abzuschaffen, um zu verhindern, dass die Republikanische Minderheit im Senat die Reformen von Präsident Obama blockierte. Letztendlich strichen die Demokraten den Filibuster für alle Verfügungen des Präsidenten und die Ernennungen von Richtern, mit Ausnahme des Supreme Court.

Es dauerte nicht lange, da fiel ihnen diese Entscheidung auf die Füße. Als die Republikaner 2016 die Kontrolle im Senat und im Kongress übernahmen und den Präsidenten stellten, konnten sie den Filibuster auch für die Ernennung der obersten Richterinnen und Richter am Supreme Court abschaffen und innerhalb kürzester Zeit drei aufeinanderfolgende Berufungen für den Obersten Gerichtshof mit etwas mehr als fünfzig Stimmen durchbringen – eine äußerst knappe Mehrheit. 2022 entschieden diese Richter gegen das lang geltende Recht der Amerikanerinnen auf Abtreibung. Institutionen mögen zuweilen dysfunktional sein, aber sie steuern unsere Erwartungen und das Verhalten von Politikerinnen und Politikern innerhalb und außerhalb ihrer entsprechenden Ämter. Fehlen sie jedoch, steht am Ende nichts anderes als das Prinzip »Macht schafft Recht«, und die Mächtigen unterdrücken die Ohnmächtigen.

Politische Normen sind informelle Verhaltensregeln, denen andere bereits folgen und denen wir selbst ebenfalls entsprechen wollen. Das kann aus positiven wie negativen Gründen der Fall sein. Vielleicht übernehmen wir Normen, weil wir am Beispiel anderer erkennen, was das Beste für uns selbst ist. Oder wir akzeptieren sie, weil die anderen uns dafür bestraften, würden wir die Normen nicht erfüllen. Normen steuern unser Denken, unsere Wahrnehmung der Welt und wem wir vertrauen. Sie sind unsichtbar, aber hocheffizient, um kollektives Verhalten zu lenken – möglicherweise deutlich effizienter als offizielle Verordnungen politischer Institutionen.

Freilich sind Normen weniger konkret und schwerer durchzusetzen als offizielle Regeln. Sie herbeizuführen oder sich darauf zu berufen, ist für Politiker schwierig. Nicht jeder Präsident ist ein Kennedy oder ein Obama und hat das Talent, viele Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, die Welt neu zu betrachten und ihr Verhalten entsprechend zu ändern. Zudem waren nicht alle von Kennedy oder Obama fasziniert. Selbst wenn Normen eine wesentliche Rolle für wirksame politische Lösungen spielen, können sie Probleme wie den Klimawandel, Polizeigewalt oder politische Polarisierung nicht ohne die stärkere Macht von Gesetzen und Institutionen lösen.

Da Politik so sehr von Institutionen und Normen abhängt, entwickelt sie sich weltweit auch so unterschiedlich. Echte Demokratien verfügen über verhaltenssteuernde Normen, die sich deutlich von den Normen in Diktaturen unterscheiden. Für Staatsangehörige autoritärer Länder ist der Anreiz groß, ihre wahren Meinungen und Neigungen zu verschleiern und anders darzustellen, und es ist unwahrscheinlich, dass sie ihrer Regierung oder ihren Mitbürgern ein tiefes Vertrauen entgegenbringen.

Auch zwischen verschiedenen Demokratien sind drastische Unterschiede zu beobachten. In der Wissenschaft wird häufig der Erfolg von Ländern wie Dänemark und Schweden mit ihrem integrativen Wahlsystem, dem hohen sozialen Vertrauen und der geringen Korruption hervorgehoben. Doch sind dies keine gottgegebenen Eigenschaften nordischer Länder (denken Sie nur an die Wikingerzeit). Es sind lang bestehende politische Verhaltensmuster, die nur schwer auf andere Länder übertragbar sind und sich auf ein Netz ineinandergreifender Institutionen und Normen stützen. In diesem Buch werden wir ein breites Spektrum länderübergreifender und historischer Erfahrungen unter die Lupe nehmen, die Aufschluss darüber geben, auf welche Weise Institutionen und Normen dafür sorgen, ob Politik erfolgreich ist oder ob sie scheitert.

Demokratie, Gleichheit, Solidarität, Sicherheit und Wohlstand sind etwas Großartiges. Doch sie alle konfrontieren uns jeweils mit einer politischen Falle, die von unseren Eigeninteressen ausgelöst wird und uns daran hindert, unsere kollektiven Ziele zu erreichen. Diese Fallen sind kein tragisches Schicksal. Aber sie sind tückisch, allgegenwärtig und manchmal sogar verführerisch.

Wir haben also zwei Optionen. Wir können lernen, die Fallen »in freier Wildbahn« zu erkennen und vorsichtig zu umgehen. Oder, die traurige Variante, wir sitzen bereits in der Falle. Dann müssen wir einen Weg finden, ihr zu entkommen. Nur wenn wir verstehen, warum Politik versagt, können wir herausfinden, wie wir sie zum Erfolg führen.

Teil I  Demokratie

So etwas wie den »Willen des Volkes« gibt es nicht

1  Westminster: Mittwoch, 27. März 2019

Wir kamen eine Stunde zu früh am Eingang des Unterhauses in London an. Wir hatten mit langen Schlangen gerechnet. Die Medien waren in heller Aufregung, nachdem auch der dritte Versuch der Premierministerin Theresa May krachend gescheitert war, ein Brexit-Gesetz zu verabschieden. In den politischen Kreisen Großbritanniens wurde eifrig über die nächsten Schritte und Schachzüge diskutiert. Die britischen Parteien hatten die Kontrolle über ihre eigenen Abgeordneten verloren. Die Demokratie schien nicht mehr zu funktionieren. Chaos brach aus. Konnte man den parlamentarischen Stillstand umgehen? Musste das Parlament nicht in der Lage sein, sich auf etwas zu einigen?

Iain McLean und ich waren ins Parlament gebeten worden, um die Abgeordneten bei der Suche nach einer Lösung zu unterstützen. Der Weg zu den Sitzungssälen führte uns die Treppe hinauf und an den Statuen längst verstorbener Regierungschefs vorbei. Hier saßen wir auf grünen Wildlederstühlen in einem ansonsten leeren Gang und warteten auf unsere Gastgeber. Iain dürfte Großbritanniens führender Wahlrechtsexperte sein, er ist Autor eines Buches mit dem Titel What’s Wrong with the British Constitution? (»Was stimmt nicht mit der britischen Verfassung?«). Falls überhaupt jemand zu einem Verfahren raten konnte, mit dem die Blockade aufzulösen war, dann Iain. Ich war als Spezialist für politische Institutionen zur Unterstützung eingeladen worden. Aber was, wenn selbst Iain, mit oder ohne meine Hilfe, keine Lösung fände? Was, wenn der Brexit grundsätzlich zu komplex war, um ihn zu lösen?

Sollte all das nicht einfacher sein? Das EU-Referendum von 2016 war ein folgenschweres Ereignis in der britischen Politikgeschichte. Der Brexit war die Folge einer einfachen Abstimmung über eine scheinbar einfache Frage: »Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder aus der Europäischen Union austreten?« Die Stimmen für den Austritt gewannen überraschend mit 52 zu 48 Prozent – möglicherweise ein Zeichen für ein gespaltenes Land, aber dennoch ein klarer Sieg. Gelebte Demokratie.

Die Probleme begannen, als die Politik zu entscheiden hatte, welche Art Brexit umgesetzt werden sollte. Das Volk hatte gesprochen. Aber was hatte es gesagt? Es gibt viele Länder in Europa, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind: von Norwegen über die Schweiz bis hin zur Türkei und Russland. Manche, wie Norwegen und die Schweiz, haben sehr enge Beziehungen zur EU, übernehmen ihre Gesetze und ermöglichen europäischen Staatsangehörigen die freie Einwanderung. Andere, etwa die Türkei, teilen die Handelspolitik mit der EU, sonst aber herzlich wenig. Und wieder andere – Russland, Armenien und Aserbeidschan – werden von der EU auf Abstand gehalten. Und nun »Austritt aus der Europäischen Union«? – Ja. Aber wie?

Die letzten drei Jahre hatte Theresa May versucht, darauf eine Antwort zu finden. Im Anschluss an die einfache Abstimmungsfrage erwies sich die Frage, auf welche Weise sich das Vereinigte Königreich von einer Organisation lösen wollte, der es über vierzig Jahre lang angehört hatte, als Albtraum. Es mussten alle möglichen Entscheidungen getroffen werden, die nicht auf dem Stimmzettel gestanden hatten. Sollte Großbritannien Teil des Europäischen Binnenmarktes bleiben, was eine Begrenzung der EU-Einwanderung verhindern würde? Sollte Großbritannien Teil der Europäischen Zollunion bleiben, damit aber auf eigene Handelsabkommen verzichten? Oder sollte es jegliche Zusammenarbeit mit der EU aufkündigen und sich ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Folgen allein auf den Weg machen?

Ein besonderes Problem stellte sich in Nordirland. Nach Generationen gewaltsamer Konflikte hatte das Karfreitagsabkommen von 1998 zu zwei Jahrzehnten Frieden zwischen Katholiken und Protestanten geführt. Doch dieser Frieden beruhte zum Teil auch auf der Europäischen Union – die Mitgliedschaft sowohl Großbritanniens wie Irlands hieß, dass es zwischen Irland und Nordirland keine wirtschaftlichen Grenzen gab. Aber die Briten hatten für einen Austritt aus der EU gestimmt, und das bedeutete die Aussicht auf eine »harte Grenze« zu Irland, was den Frieden gefährden konnte. Die einfache Brexit-Abstimmung entpuppte sich ein weiteres Mal als Entscheidung mit komplexen Folgen, die viele Wähler – und Politiker – nicht vorhergesehen hatten.

Theresa Mays eigene Lösung versuchte den Spagat zwischen diesen Herausforderungen, dazu musste sie wie eine Polarforscherin unbehaglich auf auseinanderdriftenden Eisschollen balancieren. Sie wollte den Binnenmarkt verlassen, um die Einwanderung kontrollieren zu können. Sie wollte die Zollunion verlassen, damit Großbritannien eigene Handelsabkommen schließen konnte. Aber sie bot zugleich als Rückversicherung den Backstop an, der das Abweichen Großbritanniens von EU-Regeln oder der Handelspolitik so lange aufschieben würde, bis eine Lösung für die Irlandfrage gefunden wäre. Der Backstop bedeutete aber, dass Großbritannien viele weitere Jahre in der legislativen Einflusszone der EU verharren würde.

Das war ein Kompromiss, der kaum jemandem gefiel. May versuchte Anfang 2019 drei Mal, ihr Brexit-Gesetz durch das Parlament zu bringen. Jedes Mal wurde es von einer ziemlich eigenartigen Koalition abgelehnt. Einige konservative Brexit-Befürworter stimmten mit der Begründung dagegen, dies sei kein »richtiger Brexit«. Sie wollten die Europäische Union komplett verlassen – friss oder stirb, komme, was wolle. Brexit-Gegner in der Labour-Partei stimmten gegen das Gesetz, weil es sich eben um den Brexit handelte. Sie wollten ein zweites Referendum, vermutlich weil sie sich eine andere Antwort erhofften.

Eine einfache Volksabstimmung zwischen zwei Optionen war zu einem grandiosen Fiasko geworden, als sich herausstellte, dass es deutlich mehr als nur zwei Arten des Austritts gab. Theresa Mays Gesetz garantierte Großbritannien formal tatsächlich den Austritt aus der EU, so wie das Volk es gefordert hatte. Das Problem war das Wie. Demokratie erwies sich als schwierig.

Schließlich begaben Iain und ich uns durch die stillen Gänge zu einem hufeisenförmigen Tisch im parlamentarischen Sitzungssaal, an dem zwei Abgeordnete, ein Konservativer und ein Labour-Abgeordneter, warteten. In der britischen Politik ist es höchst ungewöhnlich, dass sich ein Konservativer Abgeordneter gegen die eigene Regierung auf die Seite eines Labour-Kollegen stellt, aber sie hatten beide erkannt, dass sie in dieser Frage zusammenarbeiten mussten. Mit dem abgelehnten Gesetzentwurf der Regierung und mindestens fünf möglichen Brexit-Gesetzen im Umlauf, dazu einem Referendum darüber, ob man die ganze Sache nicht abblasen sollte, wollten sie wissen, ob es irgendein Verfahren gebe, mit dessen Hilfe das Parlament zu einer Entscheidung gelangen könne. Mit anderen Worten: Ließ sich das demokratisch lösen?

Wir stellten eine Reihe unterschiedlicher Abstimmungsverfahren vor, die dem Parlament zur Verfügung standen. Jedes hatte andere Stärken. Manche begünstigten Kompromissentscheidungen. Andere würden zu einer klaren, wenn auch polarisierenden Entscheidung führen. Und wieder andere Wahlverfahren prüften, ob es überhaupt eine Option gab, die eine Mehrheit der Abgeordneten auf sich vereinen konnte.

Nachdem wir das Für und Wider der verschiedenen Abstimmungsregeln erklärt hatten, stoppte uns der Konservative Abgeordnete und zog einen Schluss, der auf der Hand lag: Die Abgeordneten konnten sich nicht einigen, also würden sie sich auch nicht auf eine Regel einigen, nach der diese Vereinbarung zustande kommen sollte. Die Entscheidung für ein Wahlverfahren wäre demnach lediglich eine Stellvertreterdebatte. Somit standen wir wieder am Anfang.

Doch die beiden hatten bereits einen Plan im Ärmel. Für den Abend war eine Reihe von »Probeabstimmungen« über einzelne Brexit-Optionen angesetzt. Man hatte sich für das einfachste Verfahren entschieden – die »Zustimmungsabstimmung«, bei der jede Option für sich betrachtet werden würde und die Abgeordneten lediglich angeben sollten, ob sie diese Option befürworteten. Dies würde auf jeden Fall dazu beitragen, herauszufinden, welchen Optionen die Abgeordneten zustimmen könnten. Die schwierigere Aufgabe, welche Option davon gewählt würde, wäre auf einen anderen Termin verschoben.

Die Zustimmungsvoten wurden abgegeben, als wir Westminster verließen. Als die Abstimmungsglocken läuteten, drängten sich die Abgeordneten zur Wahl darüber, mit welchen Optionen sie leben könnten. Big Ben schlug gerade neun Uhr, als Iain und ich bei einem Drink in einem Pub gegenüber dem Parlament die Beratungsgespräche nachbereiteten. Auf Twitter verfolgte ich die Abstimmung. Ein Vorschlag nach dem anderen wurde abgelehnt. Nicht eine einzige Option wurde von einer Mehrheit der Abgeordneten angenommen. Angesichts unzähliger Optionen war die parlamentarische Demokratie bewegungsunfähig geworden.

Prinzipiell wünschen wir uns Demokratie, doch in der Praxis lässt sie sich oft nicht verwirklichen. Und damit befinden wir uns bereits im Zentrum der Demokratiefalle: So etwas wie den »Willen des Volkes« gibt es nicht. Die britische Öffentlichkeit hatte gesprochen. Doch das Parlament konnte nicht liefern. Selbst wenn man die Demokratie auf die beiden Alternativen »Austritt oder Verbleib« reduzierte, schien es unmöglich, einen konkreten Weg für die Umsetzung in der Praxis zu finden. Das Leben ist im Allgemeinen komplizierter als einfache Ja-oder-nein-Fragen – es gibt die unterschiedlichsten Kompromisse und Möglichkeiten, den Wählerwillen umzusetzen. Gab es in Sachen Brexit und seiner Realisierung denn wirklich einen klaren »Willen des Volkes«? Offensichtlich nicht.

2  Was bedeutet Demokratie?

Demokratie scheint ein Ziel zu sein, auf das wir uns alle verständigen können. Das gilt selbst für jene, die nicht in einer Demokratie leben. Der World Values Survey stellt regelmäßig die Frage: »Wie wichtig ist es für Sie, in einem Land zu leben, das demokratisch geführt wird?« Die Antwort kann man auf einer Skala von 0 bis 10 gewichten. Es überrascht kaum, dass in gefestigten Demokratien wie Dänemark und Deutschland drei Viertel der Befragten der Demokratie die volle Punktzahl geben. Doch auch in vielen Ländern, die alles andere als demokratisch sind – China, Ägypten, Simbabwe, Venezuela –, schreiben zwei Drittel der Menschen der Demokratie eine hohe Bedeutung auf der Skala mit mindestens 9 Punkten zu. Es ist gut möglich, dass die Menschen ein anderes Verständnis von Demokratie haben; vielleicht halten die chinesischen Staatsbürger ihren Einparteienstaat gar für eine »Demokratie des Volkes«. Nicht jeder wünscht sich dort eine Demokratie nach westlichem Vorbild. Doch im Prinzip scheinen die meisten mitbestimmen zu wollen, wie ihre Länder regiert werden.

Die Idee der Demokratie – wörtlich »Herrschaft des Volkes« – ist einflussreich und universell. Auch wenn es in der Sozialwissenschaft im Detail unterschiedliche Definitionen von Demokratie gibt, steht der Gedanke der Selbstregierung immer im Mittelpunkt. Wir alle sollten in politische Entscheidungen, die uns betreffen, eingebunden sein.

Doch bringt die Demokratie regelmäßig Ergebnisse hervor, die nicht konsensfähig sind. Oft bleibt Uneinigkeit. Und genau diese Meinungsverschiedenheiten sind der Kern der Demokratiefalle: So etwas wie den »Willen des Volkes« gibt es nicht.

Wie wir beim Brexit gesehen haben, führt es ins Chaos, wenn sich die Menschen nicht einig sind. Um zu bekommen, was sie wollen, gehen sie strategisch vor, sie manipulieren und verdrehen Tatsachen. Der individuelle Impuls, das gewünschte Ziel erreichen zu wollen, triumphiert über unsere Fähigkeit, eine stabile kollektive Vereinbarung zu erreichen. Jedes Mal, wenn wir uns einem Konsens zu nähern scheinen, kann jemand, der mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, durch einen neuen Vorschlag alles wieder zunichtemachen.

Doch selbst wenn wir das Chaos umgehen und am Ende kollektive Entscheidungen treffen, bedeutet das nicht, dass wir unsere Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt hätten. Demokratie endet nicht selten in einem Schreiduell zwischen Gewinnern und Verlierern, reißt Freunde und Nachbarn auseinander und polarisiert uns. Damit Demokratie gelingt – und die Politik nicht mehr versagt –, müssen wir auf dem schmalen Grat zwischen Chaos und Polarisierung balancieren.

Sogar die engagiertesten Verfechter der Demokratie haben ihre Mängel erkannt, wie Winston Churchill in seinem berühmten Diktum: »Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen – abgesehen von allen anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden.« Doch was meinen wir mit »Demokratie«? Und warum ist sie angesichts ihrer Mängel so erstrebenswert? Generationen von Politikwissenschaftlern haben über diese Fragen heiß debattiert – was sowohl einen Eindruck davon vermittelt, wie umstritten Demokratie ist, als auch davon, wie endlos Wissenschaftler sich mit diesem Thema befassen können. Im Kern dieser Debatte findet sich ein gewisser Konsens. Die berühmteste – und für uns geeignetste – Definition stammt von Joseph Schumpeter, einem Österreicher, der 1883 in der heutigen Tschechischen Republik geboren wurde.

Schumpeter war sehr selbstbewusst. Zu seinen erklärten Zielen gehörte es, der größte Wirtschaftswissenschaftler der Welt zu werden, der glänzendste Reiter Österreichs und der beste Liebhaber Wiens. Er behauptete, zwei dieser Vorsätze erreicht zu haben, welche beiden, blieb offen. Schumpeters Antwort auf die Frage, was wir unter Demokratie verstehen sollten, war da um einiges klarer. Für ihn bestand das zentrale Element der Demokratie – was immer sonst noch wichtig sein mag – darin, dass »Einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben«.

Aus diesem einfachen Satz folgt dreierlei. Erstens, »die Stimmen des Volkes«: Die breite Öffentlichkeit entscheidet, wer regiert. Zweitens, »ein Konkurrenzkampf«: Eine öffentliche Abstimmung mit nur einer Option ist sinnlos. Und drittens, »die Entscheidungsbefugnis«: Eine Wahl ist auch dann sinnlos, wenn der erfolgreiche Kandidat am Ende nicht handeln kann.

Man beachte, dass hier nichts steht, was einer Demokratie gute Politikerinnen und Politiker garantierte. Doch zumindest kann »das Volk« sie rauswerfen, wenn sie sich als Katastrophe erweisen. Das klingt allerdings nicht gerade großartig – womit sich Churchills ironischer Aphorismus erklärt. Aber man sollte sich vor Augen führen, was passiert, wenn wir einen dieser drei demokratischen Grundsätze verletzen.

Lassen wir »die Stimmen des Volkes« weg, wer hat dann die Entscheidungsbefugnis? Wahrscheinlich eine kleine Elite – die Aristoteles »Oligarchie« nannte. Eliten haben häufig Partikularinteressen: Wohlhabende wollen in der Regel nicht besteuert werden und alte Privilegien nicht aufgeben. Zudem werden, ohne dass »das Volk« in seiner Gesamtheit entscheiden kann, ganze Gruppen ausgeschlossen oder unterdrückt: in Großbritannien vor 1918 die Frauen, in den USA bis 1965 die Afroamerikaner.

Da tut sich natürlich die hoch umstrittene Frage auf, wer eigentlich »das Volk« ist. Manche Länder, etwa Rumänien, erlauben allen im Ausland lebenden Bürgerinnen und Bürgern zu wählen; andere, wie das Vereinigte Königreich, gestatten manchen Einwanderern, zur Wahl zu gehen (solchen, die aus dem Commonwealth stammen), anderen aber nicht (EU