Warum wir an falsche Sätze glauben - Michael Neumayer - E-Book

Warum wir an falsche Sätze glauben E-Book

Michael Neumayer

4,9

Beschreibung

Die ethischen Defizite von Finanzmärkten und Unternehmen sind offensichtlich. Unethisches Verhalten aber ist nicht nur für die Gesellschaft verheerend, sondern - auf Dauer - auch unökonomisch. Was sind die tieferen Ursachen dafür? Michael Neumayer zeigt auf, dass diese in "falschen Sätzen" zu suchen sind, unreflektierten und ego-zentrierten Denkmustern, die unsere Handlungen und inneren Einstellungen prägen. Und er zeigt, wie Entscheidungsträger aus dieser "selbstverschuldeten ethischen Unmündigkeit" heraustreten, das heißt ethische Entscheidungs- und Handlungskompetenz erwerben können: dadurch, dass die inneren Einstellungen und Haltungen immer wieder hinterfragt und geschult werden. Dabei gilt es, auf der Basis eines persönlichen ethischen Navigationssystems nicht Regeln umzusetzen, sondern umzudenken und offen zu sein für andere, im Austausch mit der gesamten Wirklichkeit zu bleiben und achtsam gegenüber dem, was diese Wirklichkeit übersteigt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 198

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Neumayer

Warum wir an falsche Sätze glauben

Besser entscheiden mit dem ethischen GPS

MICHAEL NEUMAYER

WARUMWIRANFALSCHESÄTZEGLAUBEN

Besser entscheidenmit dem ethischen GPS

echter

Für Carmen, Daniel und Rafael

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2016

© 2016 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand

Satz: Hain-Team (www.hain-team.de)

ISBN

978-3-429-03992-9

978-3-429-04886-0 (PDF)

978-3-429-06306-1 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Inhalt

Einleitung

1. Entwicklung einer ethischen Unternehmenskultur

1. Theologie und Unternehmensberatung?

2. Brücken bauen zwischen Wirtschaft und Ethik

3. Neue Anforderungen an eine „angemessene Risiko-Kultur“

4. Hybris und falsche Sätze

4.1 Die Hybris der „sakralisierten Markt-Mechanismen“

4.2 Die Hybris der ethosfreien Finanzräume

5. Prinzipienbasierte Unternehmenskultur

5.1 Compliance als Basis der Risiko-Kultur

5.2 Regeln oder Prinzipien?

5.3 Die Schachmetapher

5.4 Gibt es ethische Autopiloten?

5.5 Vorteile einer diskursiven Ethik

2. Warum treffen wir schlechte Entscheidungen?

1. Falsche Begriffe und Memes

2. Falsche Sätze

3. Das Phänomen der eingebildeten Zusammenhänge

4. Muster und „ungeordnete Anhänglichkeiten“

5. Der Traum vom Fuchs

6. mauvaise foi

7. Falsche Sätze und die Sinnfrage: warum denn nicht „42“?

3. Umdenken mit dem ethischen GPS

1. Drei persönliche Voraussetzungen

2. Das ethische GPS

2.1 G wie Gewissen

2.2 P wie Personalität

2.3 S wie Selbstverständnis

3. Wo bleiben die Tugenden?

4. Die drei Siebe des Sokrates

5. Indifferenz als Betriebsmodus des ethischen GPS

6. Indifferenz und falsche Sätze

7. Angst, Scham und Schuld als Quelle von falschen Sätzen

7.1 Die Erfahrung der Angst

7.1.1 Die Wirkung konkreter Ängste

7.1.2 „Gestelle“ der Angst-Abwehr

7.2 Die Erfahrung der Scham

7.2.1 Der „Unternehmertypus“: Scham und Depression?

7.3 Die Erfahrung von Schuld

7.3.1 Ich bin – also bin ich schuldig? – Der Spruch des Anaximander

7.3.2 Unschuldig schuldig werden

7.4 Die Überwindung von Angst, Scham und Schuld

7.5 Indifferenz und Angst

8. Upgrade für das Selbstverständnis: „Unterscheidung der Sätze“

9. Umdenken mit dem ethischen GPS

10. Einige praktische Entscheidungshilfen

10.1 Drei mögliche Zeiten der Entscheidung

10.1.1 Dritte Zeit – Erste Weise: Indifferenz und rationale Diskussion

10.1.2 Dritte Zeit – Zweite Weise: Monte-Carlo-Baumsuche und Emotionen

10.2 Mit Widersprüchen umgehen

10.3 Weitere Hilfen für den persönlichen Entscheidungsprozess und Zusammenfassung

4. Unternehmensethik als Diskurs

1. Drei Grundhaltungen beim Begleitgespräch nach Sigmund Freud

1.1 Freie Assoziation

1.2 Gleichschwebende Aufmerksamkeit

1.3 Abstinenz

2. „Orte des Zuhörens“ in Unternehmen

3. Der ethische Diskursprozess

3.1 Grundprinzipien der Kommunikation 1

3.2 Grundprinzipien der Kommunikation 2

4. Blockchain-Diskurs

5. Epilog

Anhang

Anmerkungen

Einleitung

Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat. – Es ist also kein Lehrbuch. – Sein Zweck wäre erreicht, wenn es einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete.

(aus: Ludwig WITTGENSTEIN, Vorwort zu Tractatus logico-philosophicus1)

Ich gestehe Ihnen gleich: Möglicherweise bin ich ein Nexialist. Ein ungewöhnliches Wort, ich weiß. Doch es ist nicht gleich nötig, Google zu bemühen – lassen Sie mich zuvor eine kleine Geschichte erzählen. Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, las ich einen Science-Fiction-Roman. Der Held von Altmeister A. E. van Vogts klassischer Space Opera The Voyage of the Space Beagle – Dr. Elliott Grosvenor – rettet nicht nur einige Male die Besatzung des Raumschiffs Space Beagle vor gefährlichen Aliens, sondern, wenn ich mich richtig erinnere, schließlich auch die ganze Galaxie. Das Besondere dabei ist nun die Art und Weise, wie Grosvenor die großen Probleme angeht und löst. Er ist – Sie ahnen es – Nexialist. Im Rahmen des Romans ist mit Nexialismus eine neuartige Wissenschaft gemeint, der es gelingt, die Essenz und Ideen aller anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu verknüpfen und zusammenzudenken. Der raumfahrende Nexialist Grosvenor ist aber kein bloßer „Allround-Wissenschaftler“ – also einer, der von allem ein wenig Ahnung hat und daher eigentlich doch wieder von nichts weiß –, sondern einer, der die wesentlichen Prinzipien und Ideen der unterschiedlichsten Wissenschaften kreativ zu etwas Neuem so geschickt zu verknüpfen versteht, dass auch sehr komplexe Probleme praktisch lösbar werden. Kurz: Nexialismus à la van Vogt ist eine praktische Metawissenschaft, die mehr ist als die Summe der spezialisierten Einzelwissenschaften.

Dennoch rettet die Besatzung der Space Beagle unter Grosvenor die Galaxie nicht durch einen einfachen nexialistischen Trick – es gibt bei dieser Mission kein billiges Happy End: Viele Jahre lang lockt die Space Beagle den gefährlichen Antagonisten in die Leere des intergalaktischen Raumes, bis das Wesen schließlich verhungert. Hier klingt an: Komplexe Probleme haben nicht immer rasche und bequeme Lösungen, manchmal ist viel Zeit und Mühe aufzuwenden. Wer van Vogts Geschichte im Zeitalter der globalen Erwärmung liest, kann eine gewisse Ironie darin sehen, dass das gefährliche Alien – es ernährt sich von sterbenden Lebensformen aller Art – ganze Planeten zu gigantischen Treibhäusern umgestaltet, sodass die veränderten Biosphären der resultierenden Dschungelplaneten ihm optimale Nahrungsbedingungen ermöglichen.

Die Idee einer Nexus-Wissenschaft erscheint uns im 21. Jahrhundert nicht mehr so ungewöhnlich – im Gegenteil –, erinnert sie doch an postmoderne sogenannte integrale oder systemische Ansätze oder auch ein wenig an interdisziplinäre Kombinationsstudiengänge (Wirtschaftspsychologie, Wirtschaftsinformatik usf.). Nur veröffentlichte van Vogt The Voyage of the Space Beagle im Jahr 1950, also in einer Zeit, da der Typus des Universalgelehrten eben gerade nicht mehr gefragt war, sondern Spezialisten. Die Frage nach dem Sein des Ganzen der Wirklichkeit war doch sehr aus dem Blick verschwunden, Welt und Wirklichkeit schienen in einzelwissenschaftliche Fragen und technologische Antworten zerlegt. Es war die Nachkriegszeit, in der Martin Heidegger in der modernen Technologie und Technik die zeit- und schicksalsgemäße Gestalt einer Metaphysik erblickte, die vor lauter manipulierbaren und konstruierten Seienden die Beziehungsmöglichkeit zum Sein, dem tiefsten Daseinsgrund, vergessen hatte. Eine Metaphysik, die er „verwinden“ wollte durch eine Besinnung auf die Seins-Vergessenheit und schließlich im Hinhören auf die Dichtungen Hölderlins. Oder, um an einen ähnlichen Gedanken über Magie und Maschinen aus J. R. R. Tolkiens Silmarillion anzuknüpfen, eine Zeit, in der die Menschen ihre Daseinsbedingungen durch Maschinen und Roboter radikal ändern und kontrollieren wollten – und gerade durch diese Hybris bis heute immer wieder zu Fall kommen. Hiroshima, Tschernobyl, Contergan, Bhopal, Seveso, Exxon Valdez, Ozonloch, Fukushima, anthropogene Faktoren des Klimawandels – die Liste der Unfälle oder Auswirkungen technologischer Hybris ist lang. Nicht verwunderlich, dass Dystopien im Science-Fiction-Genre häufig anzutreffen sind.

Diese Anmerkungen sollen aber nun nicht vorzeitig in eine postmoderne Technologie-Kritik oder Nachhaltigkeitsdiskussion o. Ä. münden. Mit den Auswirkungen wirtschaftlicher Hybris aber werden wir uns immer wieder im ersten Abschnitt des Buches beschäftigen. Zunächst geht es aber darum, zu bekennen, dass ich als Kind von der Idee des Nexialismus doch einigermaßen fasziniert war. Würde ich – so fragte ich mich damals mehr oder minder ernsthaft – einmal wenigstens ansatzweise Nexialist sein? Und: Wie wäre das praktisch überhaupt möglich? Sie ahnen richtig: Das www (World Wide Web) war noch nicht online, als ich den Roman las. Aber was nützt Wikipedia, wenn ich nicht weiß, wie ich mit den Informationen umgehen soll? Bequemer Zugang zu vielen Informationen ist für sich alleine aber noch keine hinreichende Bedingung, um gute Entscheidungen treffen zu können (wenn ich die Schachregeln kenne, bin ich noch kein guter Schachspieler).

Wenn ich heute auf meine langjährige Berufserfahrung als Investmentbanker zurückblicke, dabei nicht vergesse, dass ich ursprünglich Mathematik studiert hatte und mich in den letzten Jahren vor allem mit Theologie und Philosophie beschäftigt habe; und wenn ich in meinem Beruf als Unternehmensberater für ethische Fragen (Motto: „Brücken bauen zwischen Ethik und Wirtschaft“) auf Methoden zurückgreife, die ich aus meiner Praxis als Exerzitienbegleiter und aus der Geistlichen Begleitung kenne und modifiziert habe, dann muss ich doch sagen, dass es in meinem Leben so etwas wie ein praktisches nexialistisches Moment gibt. Es ist wirksam in der wechselseitigen Befruchtung meiner unterschiedlichen Berufs-, Ausbildungs- und Lebenswege, im Zusammenführen von reflektierten Erfahrungen, im Ausprobieren neuer Ideen und Ansätze. Vielleicht wird man also durch die Verknüpfung von Erfahrungen praktischer Nexialist.

Nexialistisch zu denken bedeutet, die Vielfalt der Wirklichkeit wahrzunehmen und ihre Unterschiedlichkeiten ungetrennt und unvermischt in Beziehung setzen zu können. Von diesem Denkansatz ist dieses Buch geprägt. Keine Angst: Trotz des dicht gewebten Nexus bleibt darin deutlich ein gedanklicher roter Faden zu erkennen, der zum zentralen Anliegen dieses Buches hinführt. Vor dem Hintergrund offensichtlicher ethischer Defizite in Finanzmärkten und in Unternehmen soll mein Verständnis von Ethik als diskursiver Prozess deutlich werden. Kritisch beleuchtet werden ein allzu normatives Ethikverständnis sowie ein radikal konstruktivistischer Lebensvollzug, der letztendlich – gewollt oder ungewollt – das Ego (= das egoistische Ich!) zum Maß aller Dinge macht und keine Offenheit mehr für Transzendenz kennt. Mit Transzendenz meine ich hier Selbst-Überschreitung. Sie bedeutet nicht gleich eine unmittelbare Einbindung in dieses oder jenes religiöse System, sondern einen „kopernikanischen“ Aufbruch. Dabei verlasse ich die Umlaufbahn um meinen Ego-Planeten und beginne eine Entdeckungsreise in eine Wirklichkeit, die ich nicht selbst hervorbringe. Ich versuche aufzuzeigen, dass ethisches Handeln schrittweise besser gelingen kann, wenn wir zunächst beginnen, die Gründe für unsere selbstverschuldete ethische Unmündigkeit aufzudecken und unsere Mentalität zu hinterfragen. Solche Gründe sind beispielsweise unreflektierte Verhaltensmuster, persönliche Unaufrichtigkeit, egoistische „Wirklichkeitsbrillen“ oder der Glauben an „falsche Sätze“. Falsche Sätze drücken insbesondere solche Handlungsprinzipien und inneren Einstellungen aus, die nur Selbstentfremdung und Selbstinstrumentalisierung bewirken. In falschen Sätzen spiegeln sich unsere ungeordneten Anhänglichkeiten, wie Ignatius von Loyola2 alles nennt, was unsere Lebensentwicklung nachhaltig blockiert.

Der Glaube an falsche Sätze lässt unser individuelles Leben und die Gestaltung einer gemeinsamen Wirklichkeit misslingen. Woran liegt das? Warum glauben wir an falsche Sätze – und wie hängen sie mit ethischer Unmündigkeit zusammen? Wohl setzt ethisches Handeln ethische Grundsätze voraus, entscheidend bleibt aber die praktische Frage, wie diese Prinzipien im konkreten Einzelfall zur Entscheidungsfindung angewandt werden. Um die Möglichkeit eines rein normativen ethischen Handelns grundsätzlich zu hinterfragen, verweise ich auf analoge Schwierigkeiten bei der axiomatischen Grundlegung der Mathematik. Wenn sogar mathematische Systeme unvollständig sein können, stellt sich umso berechtigter die Frage, ob es so etwas wie „ethische Autopiloten“ für die komplexen Entscheidungen und Handlungsalternativen unseres Alltags und unserer Berufswelt geben kann. Autopiloten haben Schwierigkeiten, in unserer vielschichtigen und komplexen Wirklichkeit zu navigieren. Und die Antwort wird lauten: Es gibt keine „ethischen Autopiloten“, keine vollautomatischen Unterscheidungssysteme, wohl aber ein persönliches ethisches Navigationssystem, ein ethisches GPS. Aber auch ethische Grundsätze müssen von Zeit zu Zeit mit dem ethischen GPS hinterfragt werden. Es gibt keinen absolut gefestigten ethischen „archimedischen Punkt“, von dem aus alles Ethische entschieden werden könnte. Um gute Entscheidungen treffen zu können, müssen wir bereit sein, uns offen mit anderen auszutauschen: Es bedarf eines offenen Dialogs (Diskurses) zur Klärung der Fragen, der die gesamte Wirklichkeit mit einbezieht.

Die Offenheit des Dialogs ist aber keine äußerliche. Die Diskursfähigkeit mit der Wirklichkeit beginnt dabei schon im stillen inneren Dialog mit mir selbst. Ich muss mit mir selbst aufrichtig ins Gespräch kommen können. Und es bedarf einer inneren Haltung des bleibenden Hinhörens und einer Offenheit gegenüber dem, was über mich und alle anderen Menschen hinausgeht. Dabei wird das Hören zunächst wichtiger sein als die voreiligen Bemühungen, gleich zu antworten. Sonst höre ich doch wieder nur meine eigenen Vorurteile.

Das Buch will Sie einladen, diese und andere Gedanken mitzudenken und mich auf den Wegen des Nachdenkens zu begleiten. Es wäre sehr schön, wenn wir unterwegs gewissermaßen ins Gespräch kämen oder Sie den einen oder andern Impuls mitnehmen könnten. Ich werde von meinen Erfahrungen erzählen, von Einsichten, Gedanken und Ideen. Und ich stelle insgesamt deutlich mehr Fragen, als ich Antworten geben kann. So gesehen, ist es definitiv kein Lehrbuch (siehe eingangs das Wittgenstein-Zitat). Anders als Wittgenstein hoffe ich aber, dass schließlich für Sie ein roter Faden erkennbar wird, auch wenn Sie solche oder ähnliche Gedanken doch noch nicht hatten.

Wie sehen die Schritte entlang dieses Fadens nun konkret aus? Am Anfang stehen theoretische und praktische Überlegungen zur Entwicklung einer ethischen Unternehmenskultur. Ausgangspunkt sind dabei konkrete Erfahrungen aus meiner Berufswelt und die konkreten Anforderungen der Finanzaufsichtsbehörde BaFin an die Etablierung einer „angemessenen RisikoKultur“ in Kreditinstituten. Danach spüren wir möglichen Gründen nach, warum wir falsche Entscheidungen treffen. Zur Sprache kommen im dritten Kapitel u. a. menschliche Daseinserfahrungen wie Angst, Scham und Schuld. Diese Erfahrungen können zu Quellen falscher Sätze werden, wenn wir in unserem Leben damit nicht reflektiert umgehen, sondern sie verdrängen. Einer der Ausgangspunkte ist dabei die Erfahrung existenzialer Angst, wie sie Martin Heidegger sehr eindrücklich beschrieben hat.3 Diese „ontologische“ Erfahrung der Angst4 – der Erfahrung des Nichts und der möglichen Nichtigkeit meines Lebens – differenziert sich in viele unterschiedliche Formen der Furcht, die meine Mentalität prägen können. Entscheidungskompetenz setzt voraus, dass wir mit der Angst umzugehen lernen – das ist das Wesentliche für ein Umdenken mit dem ethischen GPS.

Nachdem wir einige praktische Entscheidungshilfen kennengelernt haben, sind wir bereit zum offenen Dialog mit anderen. Eines der Scharniere „vom Ich zum Wir“ ist dabei das Ideal des herrschaftsfreien Diskurses im Sinne von Jürgen Habermas. Dabei bleiben wir realistisch und erkennen, dass es in der Praxis wenigstens einen relativ herrschaftsfreien Diskurs geben kann. Durch diesen Diskurs können „Menschen guten Willens“ beispielsweise ethische Vernunft-Prinzipien erarbeiten und gemeinsame Ziele anstreben, die gut, wahr und notwendig sind: die UN-Menschenrechtskonvention (1948), die zehn Prinzipien der UN-Global-Compact-Initiative für Unternehmensführung (1999), die sechs UN Principles for Responsible Investment (PRI) 2006, die 2015 erneuerten UN Sustainable Development Goals (SDGs): 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung für 2030; das von 195 Staaten verabschiedete Pariser Klimaschutzabkommen 2015 und die 2015 erneuerten 13 Prinzipien für (ethische) Unternehmensführung des Basel Committee on Banking Supervision (BCBS) usf. Doch wieder können wir bei den Prinzipien und Zielen nicht stehenbleiben. Weiterführender Dialog muss klären, wie sie in konkreten Situationen anzuwenden sind und durch welche Maßnahmen diese Ziele erreicht werden können. Das konkrete Begehen all dieser Entscheidungs- und Handlungswege – seien es berufliche oder private – erfolgt wirklich auf eigene Gefahr. Denn es gibt, wie gesagt, trotz der guten Prinzipien und der offenen Diskurse keine garantierten Erfolgsrezepte. Letztendlich werden wir bei der Umsetzung von Zielen besser vorankommen, wenn entlang der Wege die Einsicht wächst, dass unser ethisches GPS stets im Modus des Hinhörens und Suchens operieren muss.

1.Entwicklung einer ethischen Unternehmenskultur

1. Theologie und Unternehmensberatung?

Was hat Theologie eigentlich mit Unternehmensberatung zu tun? Damit meine ich nicht etwa eine Frage nach der theologischen Begründung einer Unternehmensethik, sondern wie sich die persönliche Glaubenshaltung von christlichen Theologen in der Ethik-Beratung ausdrücken kann. Welche Bedeutung hat die theologische Sichtweise für meine Frau und mich in unserer unternehmerischen Ethik-Beratung5?

Unsere Aufmerksamkeit gilt nicht zuallererst dem „abstrakten Unternehmen“ an sich, sondern all den Menschen, die dort arbeiten. Wir sehen immer den „ganzen Menschen“ als Person mit unantastbarer Würde und der freien Möglichkeit zur Mitgestaltung einer allen Menschen gemeinsamen Wirklichkeit, insbesondere der Arbeitswelt. Es ist eine menschenfreundliche und wohlwollende Anthropologie: Jede Person soll sich – individuell und doch ungetrennt von den Mitmenschen – entfalten können und dabei auch die Entwicklungsmöglichkeiten der Mitmenschen unterstützen und fördern unter den Aspekten Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Beständigkeit. Den Daseinserfahrungen von Angst, Scham und Schuld setzen wir die Erfahrungsmöglichkeiten von Lebensfülle, mitmenschlicher Nähe, Liebe und persönlicher Würde sowie die Möglichkeit zu Umkehr und Dankbarkeit und schließlich auch die Annahme der eigenen Unvollkommenheit gegenüber.

Als Theologen wecken wir das Bewusstsein für die Endlichkeit der Person – die aber stets unzureichende Rechtfertigung für Nihilismus oder Egozentriertheit bleibt. Als Ethics Counselors erinnern wir an die individuelle und gemeinsame Verantwortung gegenüber den Ressourcen der Biosphäre, die wir nicht nur für uns, sondern auch für künftige Generationen kultivieren müssen. Wir plädieren für die Notwendigkeit einer diskursbasierten Ethik zur gemeinsamen Entscheidungsfindung in Unternehmen zwecks Gestaltung einer nachhaltigen und gerechten Gesellschaft. Wir ermutigen durch Wort und Tat zur bleibenden Hoffnung auf eine bessere Zukunft auch angesichts ungerechter sozialer Strukturen: für die Hoffnung der Armen und Unterdrückten auf Befreiung. Wir haben Verständnis für die bleibende personale Unvollkommenheit und die Widersprüchlichkeiten des Daseins: Fehlentscheidungen können passieren. Umkehr und Neuanfang sind aber immer wieder möglich – und die „Vergebung“ von Fehlentscheidungen der anderen wird nachdrücklich empfohlen.

Als Theologen anerkennen wir die Pluralität, Eigengesetzlichkeit und Selbstorganisation und Evolution (Autopoiesis) der gesamten Wirklichkeit, die wir als Eine begreifen – die sich nicht eindeutig in Subjekt und Objekt oder Ich, Du und Es zerlegen lässt. Denn jede Person lebt vernetzt mit anderen in-der-Welt: Andere Weltanschauungen nennen diese Sichtweise alternativ „ganzheitlich“, „systemisch“ oder „integral“. Die eine Wirklichkeit aber entsteht durch das Wechselspiel mannigfaltiger Teilsysteme mit unterschiedlichen Prinzipien und Zielen und lässt sich nicht widerspruchsfrei in diese auflösen. Daher müssen persönliche ethische Navigationskompetenz und Diskursfähigkeit eingeübt werden, sodass eine Unterscheidung nicht nur zwischen richtig und falsch, sondern auch von gut und besser gelingen kann.

Als Theologen warnen wir aber auch vor den Gefahren der menschlichen Hybris (= Überheblichkeit und Selbstüberschätzung) und persönlichen Unaufrichtigkeit: Denn die je eigene Wirklichkeitskonstruktion ist nicht vollständig überschaubar und steuerbar; sie ist nicht wirklich die Wirklichkeit. Vollkommen alleine kann es die Einzelperson nicht schaffen, nur gemeinsam mit anderen wird eine bessere Wirklichkeit gelingen können. „Ich“ kann ohne „Du“ und „Wir“ weder wahrhaft „menschlich“ leben noch etwas Gutes gestalten. Das um sich selbst kreisende Ich, das egoistische Ego, verbleibt in einem Zustand der Selbstentfremdung und Unaufrichtigkeit (mauvaise foi, siehe Kapitel 2.6), der die eigene Daseinsentwicklung und Selbststeuerung wesentlich einschränkt, das Gewissen unterdrückt und die Dialogfähigkeit mit anderen behindert.

Ebenso klar sagen wir: Märkte, Unternehmen und Organisationen sind keine ethosfreien Räume. Ökonomie ohne ethisches Bewusstsein ist inhuman. Und gegenüber einem radikal-konstruktivistischen Ansatz betonen wir einen Daseinsvollzug, der sich seiner bleibenden Vorläufigkeit, Unvollständigkeit und „Modellhaftigkeit“ bewusst bleibt, aber dennoch auf Erlösung hoffen darf (aber eben nicht auf „Selbsterlösung“). Um der eigenen Selbstverzweckung und Unaufrichtigkeit vorzubeugen, muss der Lebensvollzug stets offen bleiben innerhalb eines Horizonts, der größer ist als alle Entwürfe und Wirklichkeitsdeutungen. Wir fordern zur Transzendenzbereitschaft auf und zum Deuten der „Zeichen der Zeit“. Auch bemühen wir uns um eine zeitgemäße und existenziell tragfähige Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube: Die theologisch geschulte Vernunft bewahrt Glauben vor Aberglauben, Mythos und religiösem Fundamentalismus, und der vernünftige und aufgeklärte Glaube bewahrt die Vernunft vor der Hybris und den Gefahren des Positivismus, der radikalen Wirklichkeitskonstruktion, des wissenschaftlichen Reduktionismus, der technologischen Allmachtsphantasien („Technologie als Magie“) und der politischen Ideologien. Wahre Menschlichkeit bedarf einer Offenheit gegenüber dem Unerwarteten und Unbegreiflichen, das über mich selbst und die anderen, über „meine“ und „deine“ Wirklichkeit hinausgeht und alles umfängt und trägt. In ihrer Gesamtheit ermöglichen uns diese Haltungen in der unternehmerischen Ethik-Beratung, die Menschen beim Umdenken, Erkennen, Entscheiden und Handeln mit engagierter Gelassenheit zu begleiten.

2. Brücken bauen zwischen Wirtschaft und Ethik

Wie treffen ManagerInnen eigentlich unternehmerische Entscheidungen? Welchen Preis hat wirtschaftlicher Erfolg? Kann wirklich alles getan werden, was nicht verboten ist? Ist mit der Unterscheidung von richtig und falsch schon alles getan? Wie können Veränderungsprozesse in Unternehmen besser gelingen? Wie werden die fortschreitende Automatisierung und Digitalisierung die Arbeitsbedingungen der Menschen in Betrieben künftig verändern? Alle diese und ähnliche Fragen gipfeln in der Frage: Passen Ethik und Wirtschaft überhaupt zusammen?

Und es sind berechtigte Fragen, denn im Bewusstsein der Gesellschaft bekommt das Thema „Ethik in Unternehmen“ einen zunehmend großen Stellenwert. Gerade junge Menschen achten bei der Wahl des künftigen Arbeitgebers immer stärker auf das ethische Bewusstsein des Unternehmens. Und spätestens seit der globalen Finanzkrise forcieren Politiker auch auf internationaler Ebene ethische Maßnahmen. Beispielsweise empfehlen die G7-Finanzminister nachdrücklich die Entwicklung eines internationalen Code of Conduct für den Finanzsektor. In Deutschland plant die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), neue Vorgaben für die Entwicklung einer angemessenen ethischen Risiko-Kultur in die Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) aufzunehmen.6 Dabei will sich die Aufsichtsbehörde an den überarbeiteten und im Juli 2015 veröffentlichten Grundsätzen des Basel Committee on Banking Supervision (BCBS)7 orientieren. Daher stellt sich dringlicher denn je die Frage, wie Finanzunternehmen eine ethische Risiko-Kultur konkret entwickeln und fördern können – und wie BaFin und Deutsche Bundesbank diese Entwicklung künftig überprüfen und beaufsichtigen werden. Was sind mögliche konkrete Schritte, eine ethische Risiko-Kultur praktisch entwickeln zu können? Auf welche Indikatoren und Maßnahmen können die Supervisoren dabei zurückgreifen?

Mit solchen Fragen beschäftige ich mich gemeinsam mit meiner Frau in unserer Unternehmensberatung für ethische Unternehmenskulturentwicklung. So gesehen versuchen wir Brücken zu bauen zwischen Wirtschaft und Ethik. Aber: Kann das überhaupt gelingen? Oder gibt es vielleicht gar einen grundsätzlich nicht überbrückbaren Widerspruch zwischen wirtschaftlichen und ethischen Anforderungen? Lassen sich Gewinnstreben unter Konkurrenzdruck und ethische Prinzipien vereinbaren? Insofern man Ethik nur als einigermaßen starres Regelwerk und die Anwendung von unumstößlichen Prinzipien versteht, bleibt diese Frage vielleicht tatsächlich offen. Mit noch mehr Regulierung lässt sich wahrscheinlich keine ethischere Wirtschaft gestalten oder erzwingen. Zu viel Bürokratie bewirkt nur eine Abwehrhaltung und regt die Unternehmen dazu an, neue Umgehungsmöglichkeiten auszuprobieren. Daher sollte auch im Bereich der Unternehmensethik auf Subsidiarität geachtet werden. Ethisches Handeln und ethisches Bewusstsein lassen sich nicht ohne weiteres an Strukturen delegieren.

Unser professioneller Ansatz ist daher ein anderer: Unter Ethik verstehen wir einen diskursiven Prozess zur Erörterung von Handlungsmöglichkeiten. Ethikfähigkeit ist also primär Entscheidungskompetenz, nicht bloß der automatische Vollzug von vernunftbasierten Regeln. Damit der ethische Prozess gelingen kann, sind gewisse innere Einstellungen und Haltungen der Beteiligten notwendig. Erst die Auffassung von Ethik als Prozess ermöglicht es, wirklich tragfähige Brücken zu bauen. Ethisch belastbare Brücken verbinden die ökonomischen Anforderungen mit anderen Aspekten der Wirklichkeit im Sinne einer integrativen „Sowohl-als-auch“-Haltung. Mit einer regelbasierten und ausschließenden „Entweder-oder“-Mentalität wird es hingegen sehr schwierig, die Herausforderungen der vielschichtigen und mitunter auch widersprüchlichen Wirklichkeit gemeinsam zu bewältigen.

3. Neue Anforderungen an eine „angemessene Risiko-Kultur“

Die BaFin hat gemeinsam mit der Bundesbank am 19. Februar 2016 einen Konsultationsentwurf für eine Neufassung der Ma-Risk (= Mindestanforderungen an das Risikomanagement) veröffentlicht. Wie bereits in dem BaFin-Fachartikel Risiko-Kultur: Anforderungen an eine verantwortungsvolle Unternehmensführung im Sommer 2015 angekündigt, plant die BaFin, in die MaRisk künftig Anforderungen an eine „angemessene Risiko-Kultur“ der Finanzinstitute aufzunehmen. Im Allgemeinen Teil 3 (= AT) wird in der MaRisk-Novelle folgender neue und entscheidende Satz eingefügt: [Zur Verantwortung der Geschäftsleiter] zählt auch die Entwicklung, Förderung und Integration einer angemessenen Risiko-Kultur innerhalb des Instituts und der Gruppe.

Was aber ist eine „angemessene Risiko-Kultur“? Risiko-Kultur wird in der Erläuterung zu AT 3 Tz. 1 wie folgt beschrieben: „Die Risiko-Kultur beschreibt allgemein die Art und Weise, wie Mitarbeiter des Instituts im Rahmen ihrer Tätigkeit mit Risiken umgehen (sollen). Die Risiko-Kultur soll die Identifizierung und den bewussten Umgang mit Risiken fördern und sicherstellen, dass Entscheidungsprozesse zu Ergebnissen führen, die auch unter Risikogesichtspunkten ausgewogenen sind. Kennzeichnend für eineangemessene Risiko-Kultur ist vor allem das klare Bekenntnis der Geschäftsleitung zu risikoangemessenem Verhalten, die strikte Beachtung des durch die Geschäftsleitung kommunizierten Risikoappetits durch alle Mitarbeiter und die Ermöglichung und Förderung eines transparenten und offenen Dialogs innerhalb des Instituts zu risikorelevanten Fragen.“

Diese Sätze klingen gewiss bedeutungsvoll. Aber was wird von MitarbeiterInnen und ManagerInnen nun konkret erwartet? Welchen persönlichen Beitrag können und sollen sie persönlich in ihrem täglichen Geschäft zur Etablierung einer angemessenen Risiko-Kultur leisten? Und warum verwendet die BaFin den Begriff „Kultur“ – und nicht beispielsweise: „angemessenes Risiko-Management“? Die verwendeten Begriffe Risiko-Kultur und Risikoappetit zeigen, dass es der Aufsicht um viel mehr geht als um Zahlen, Daten oder Fakten. Die Anforderungen richten sich an die Menschen selbst. An ihre inneren Haltungen und Einstellungen im Umgang mit dem Risiko. Risikokennziffern werden von Computern berechnet, die Risiko-Kultur aber wird vom Management und von allen Angestellten gemeinsam kultiviert.

Markus HOFER von der BaFin erläutert: „[…] eine angemessene Risiko-Kultur umfasst aber eindeutig mehr als die Kommunikation von Risikotoleranzen, die Entwicklung eines Limitsystems, mittels dessen Risiken begrenzt werden, und die Überwachung der Einhaltung dieser Limits. Vielmehr geht es auch um die Förderung eines kritischen Dialogs innerhalb des Instituts – nicht nur auf den Führungsebenen –, der die frühzeitige Identifizierung von Risiken ermöglicht. Vor allem aber müssen die Institute ein Wertesystem einrichten, dem sich alle Mitarbeiter verpflichtet sehen. Wie die Institute zu diesem Ziel gelangen, bleibt ihnen selbst überlassen; wesentlich wird sein, die Mitarbeiter zu motivieren und zu überzeugen, sich entsprechend des Wertesystems ethisch und ökonomisch wünschenswert zu verhalten“8

Erinnern wir uns kurz daran, was Kultur eigentlich bedeutet. Das Wort leitet sich vom lateinischen Begriff cultura ab, der mit „Pflege“, „Bearbeitung“ oder „Ackerbau“ übersetzt wird. Das lateinische Verb colere