Warum wir denken, was wir denken - Jordan B. Peterson - E-Book

Warum wir denken, was wir denken E-Book

Jordan B. Peterson

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Beschreibung

Warum entstehen in verschiedenen Kulturen stets ähnliche Mythen und Glaubensvorstellungen? Und was sagt das über menschliche Denkprozesse und unser Verständnis von Welt aus? Der klinische Psychologe und Bestsellerautor Jordan B. Peterson erklärt mithilfe der Psychoanalyse und der neuesten Erkenntnisse aus der Neuropsychologie, dass hinter diesen kulturellen Phänomenen grundlegende, psychologische Strukturen angelegt sind, die dazu dienen, das Leben tagtäglich zu bewältigen. Bahnbrechend und provokant analysiert der kanadische Kulturkritiker anhand zahlreicher Beispiele die Bedeutung unseres Glaubens, gibt beeindruckende Einblicke in das Wesen und die Funktion unseres Gehirns und lehrt uns dadurch ein verantwortungsvolleres Miteinander.

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Seitenzahl: 1262

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und [email protected]

4. Auflage 2023

© 2019 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 1999 bei Routledge, einem Mitglied von Taylor & Francis Group LLC. unter dem Titel Maps of Meaning. © 1999 by Routledge. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Marion Preuß

Übersetzung: Nathalie Weber und Albrecht Schreiber

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: Shutterstock/doom.ko, Charunee Yodbun

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print 978-3-86882-947-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-244-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-245-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Ich öffne meinen Mund und rede in Gleichnissen, ich verkünde, was seit der Schöpfung verborgen war.

(Matthäus 13:35)

Inhalt

VorwortDescensus ad Inferos

1 ErfahrungslandkartenObjekt und Bedeutung

2 BedeutungslandkartenDrei Analyseebenen

Normales und revolutionäres Leben: Zwei prosaische Geschichten

Neuropsychologische Funktionsweise: Die Natur des Geistes

Mythologische Darstellung: Die konstituierenden Elemente des Erlebens

Die Große Mutter: Bilder des Unbekannten oder unerforschtes Gebiet

Der Göttliche Sohn: Bilder des Wissenden, der Explorationsprozess

Der Große Vater: Bilder des Bekannten, oder erforschtes Gebiet

3 Lehrzeit und EnkulturationÜbernahme einer gemeinsamen Weltanschauung

4 Abweichendes VerhaltenInfragestellung gemeinsamer Weltanschauungen

Einführung: Die paradigmatische Struktur des Bekannten

Besondere Formen von Anomalien

Der Aufstieg der Selbstbezüglichkeit und die permanente Kontaminierung der Anomalie mit dem Tod

5 Die feindlichen BrüderArchetypische Antworten auf das Unbekannte

Einführung: Der Held und der Widersacher

Der Gegenspieler: Entstehung, Entwicklung und Darstellung

Der Gegenspieler in Aktion: Eine Allegorie des 20. Jahrhunderts

Heroische Anpassung: Freiwillige Rekonstruktion des Weltbilds

Das alchemistische Verfahren und der Stein der Weisen

Abschließende Erkenntnis: Die Göttlichkeit des Interesses

Bibliografie

VorwortDescensus ad Inferos

Etwas, das wir nicht sehen können, schützt uns vor etwas, das wir nicht verstehen. Was wir nicht sehen können, ist die Kultur in ihrer intrapsychischen oder inneren Manifestation. Was wir nicht verstehen können, ist das Chaos, das die Kultur hervorbrachte. Wenn die Struktur der Kultur, wenn auch unabsichtlich, zerstört wird, kehrt das Chaos zurück. Wir würden alles tun – wirklich alles –, um uns vor dieser Rückkehr zu schützen.

Andererseits aber ist gerade der Umstand, dass ein allgemeines Problem das Ganze einer Persönlichkeit erfasst und in sich aufnimmt, eine unzweifelhafte Garantie dafür, dass der, welcher darüber spricht, es auch wirklich erlebt und vielleicht sogar erlitten hat. Der Letztere spiegelt uns das Problem eben gerade durch sein Persönliches wider und zeigt uns damit eine Wahrheit […].«1

Ich wuchs, sozusagen, unter dem Schutz der christlichen Kirche auf. Das heißt nicht, dass meine Familie ausgesprochen religiös war. Ich besuchte mit meiner Mutter als Kind konservative evangelische Gottesdienste. Meine Mutter war aber weder dogmatisch noch autoritär, und sie sprach zu Hause nie über religiöse Dinge. Mein Vater war wohl im Grunde Agnostiker, zumindest im traditionellen Sinne. Er weigerte sich, auch nur einen Fuß in eine Kirche zu setzen, ausgenommen bei Hochzeiten und Be­erdigungen. Nichtsdestotrotz durchdrangen die historischen Überbleibsel der christlichen Morallehre unsere Familie und prägten unsere Erwartungen und den zwischenmenschlichen Umgang zutiefst. Als ich aufwuchs, gingen die meisten Menschen noch in die Kirche. Außerdem waren alle Regeln und Erwartungen, die die bürgerliche Gesellschaft ausmachten, jüdisch-christlicher Natur. Selbst die wachsende Zahl derer, die formale Rituale und religiöse Überzeugungen ablehnten, akzeptierten noch implizit die Regeln, die das christliche Leben ausmachten – und handelten danach.

Als ich etwa zwölf Jahre alt war, meldete mich meine Mutter zum Konfirmandenunterricht an, womit ich in den Kreis der erwachsenen Mitglieder der Kirche eingeführt werden sollte. Ich wollte nicht teilnehmen. Die Einstellung meiner übermäßig religiösen Klassenkameraden (es waren nicht sehr viele) gefiel mir nicht und ihr Mangel an sozialem Status stieß mich ab. Die verschulte Atmosphäre gefiel mir nicht. Noch wichtiger war allerdings, dass ich das, was man mir beibrachte, nicht für bare Münze nahm. Einmal fragte ich den Pfarrer, wie er die Geschichte der Genesis mit den Schöpfungstheorien der modernen Wissenschaft in Einklang brachte. Er hatte es gar nicht erst versucht. Zudem schien er in seinem Herzen mehr von der Evolutionstheorie überzeugt zu sein. Ich suchte ohnehin schon nach einer Ausrede zu gehen, und das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Religion war meiner Meinung nach etwas für die Dummen, Schwachen und Abergläubischen. Ich hörte auf, in die Kirche zu gehen, und wandte mich der modernen Welt zu.

Obwohl ich in einem christlichen Umfeld aufgewachsen war – und zumindest teilweise deshalb eine erfolgreiche und glückliche Kindheit gehabt hatte –, ließ ich die Struktur, in der ich aufgewachsen war, bereitwillig hinter mir. Es stellte sich auch niemand meinen rebellischen Bestrebungen wirklich entgegen, weder in der Kirche noch zu Hause – teilweise auch deshalb, weil die, die zutiefst religiös waren (oder es vielleicht sein wollten), keine intellektuell akzeptablen Gegenargumente hatten. Schließlich waren viele der Grundprinzipien des christlichen Glaubens unverständlich, wenn nicht gar offensichtlich absurd. Die Jungfrauengeburt ist ein Ding der Unmöglichkeit, genauso wie die Vorstellung, dass jemand von den Toten auferstehen könnte.

Hat meine Rebellion zu einer familiären oder sozialen Krise geführt? Nein. Mein Verhalten war in gewisser Weise so vorhersehbar, dass es niemanden aufregte, mit Ausnahme meiner Mutter (und selbst sie beugte sich bald dem Unvermeidlichen). Die anderen Mitglieder meiner Gemeinde hatten sich schon an meine zunehmend häufigeren Treuebrüche gewöhnt und bemerkten es nicht einmal.

Hat diese Rebellion mich persönlich verunsichert? Nur auf eine Art und Weise, die ich erst viele Jahre später wahrnehmen konnte. Etwa zu der Zeit, als ich aufhörte, in die Kirche zu gehen, entwickelte ich ein frühreifes Interesse an großen politischen und sozialen Themen. Warum waren manche Länder, manche Menschen reich, glücklich und erfolgreich, während andere zum Elend verdammt waren? Warum gingen sich die Truppen der NATO und der Sowjetunion dauernd an die Gurgel? Wie war es möglich, dass Menschen sich so benahmen wie die Nazis während des Zweiten Weltkrieges? Hinter diesen spezifischen Überlegungen stand eine allgemeinere, aber zu jener Zeit noch schlecht konzeptualisierte Frage: Wie kam das Böse – besonders das Böse, das durch Gruppen begangen wird – zu seiner Rolle in der Welt?

Ich kehrte den Traditionen, die mich getragen hatten, etwa zu der Zeit den Rücken, als ich den Kinderschuhen entwuchs. Daher besaß ich keine umfassendere sozial konstruierte »Philosophie«, die mein Verstehen unterstützt hätte, als mir die existenziellen Probleme, die mit dem Erwachsenwerden einhergehen, bewusst wurden. Die Folgen dieses Fehlens wurden erst nach Jahren vollständig sichtbar. In der Zwischenzeit bildete meine wachsende Beschäftigung mit Fragen der moralischen Gerechtigkeit allerdings unmittelbar einen Ankerpunkt. Ich begann, ehrenamtlich für eine gemäßigt sozialistische Partei zu arbeiten, und übernahm die Parteilinie.

Wirtschaftliche Ungerechtigkeit war meiner Meinung nach die Wurzel allen Übels. Diese Ungerechtigkeit konnte durch eine Neuordnung der sozialen Ordnung beseitigt werden. Ich konnte in dieser bewundernswerten Revolution eine Rolle spielen, indem ich nach meinen ideologischen Überzeugungen lebte. Die Zweifel verschwanden, meine Rolle war klar. Im Rückblick überrascht es mich, wie stereotyp meine Aktionen – Reaktionen – eigentlich waren. Ich konnte die Grundannahmen von Religion, wie ich sie verstand, auf einer rationalen Ebene nicht akzeptieren. Daher wandte ich mich den Träumen von politischen Utopien und persönlicher Macht zu. In dieselbe ideologische Falle sind in den letzten Jahrhunderten Millionen andere getappt.

Als ich 17 war, verließ ich die Stadt, in der ich aufgewachsen war. Ich zog in die Nähe und besuchte ein kleines College, das ein zweijähriges Vorstudium anbot. Dort engagierte ich mich in der Hochschulpolitik – die zu dieser Zeit mehr oder weniger links war – und wurde in den Hochschulrat gewählt. Dieser bestand aus politisch und ideologisch konservativen Menschen: Rechtsanwälten, Ärzten und Geschäftsleuten. Sie waren alle gut (oder zumindest praktisch) (aus-)gebildet, pragmatisch, selbstbewusst und direkt. Sie hatten alle etwas Bedeutendes und Schwieriges geleistet. Ich konnte nicht anders, als sie zu bewundern, obwohl ich ihre politische Haltung nicht teilte. Dass ich sie bewunderte, beunruhigte mich.

Ich hatte als studentischer Vertreter und aktiver Parteimitarbeiter an mehreren linken Parteikongressen teilgenommen. Ich eiferte den sozialistischen Führern nach. Die Linke hatte in Kanada eine lange und ehrenvolle Geschichte und hatte einige wirklich fähige und engagierte Leute gewonnen. Allerdings konnte ich für die zahlreichen niederen Parteiaktivisten, die ich bei diesen Treffen traf, nicht viel Respekt aufbringen. Es schien ihr Lebensinhalt zu sein, sich zu beschweren. Sie hatten oft keine Karriere und keine Familie, keine abgeschlossene Berufsausbildung – nichts als die Ideologie. Sie waren miesepetrig, reizbar und beschränkt, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich wurde folglich mit dem spiegelbildlichen Problem dessen konfrontiert, auf das ich im Hochschulrat gestoßen war: Für viele derjenigen, die an dasselbe glaubten wie ich, hatte ich nichts übrig. Diese weitere Komplikation trug zusätzlich zu meiner existenziellen Verwirrung bei.

Mein Mitbewohner am College, ein scharfsinniger Zyniker, äußerte Zweifel an meinen ideologischen Überzeugungen. Er sagte zu mir, dass man die Welt nicht vollständig in die sozialistische Philosophie einkapseln könne. Ich war schon selbst mehr oder weniger zu diesem Schluss gekommen, hatte es mir aber nicht eingestanden. Kurz darauf las ich jedoch George Orwells Der Weg nach Wigan Pier. Dieses Buch untergrub nicht nur meine sozialistischen Überzeugungen, sondern meinen Glauben an ideologische Positionen überhaupt. In dem berühmten Essay, der dieses Buch beschließt (das für den British Left Book Club, den Buchklub der Linken – und zu dessen großem Entsetzen –, geschrieben worden war) beschreibt Orwell den großen Makel des Sozialismus und den Grund für dessen Unfähigkeit, die demokratische Macht zu übernehmen und zu halten (zumindest in Großbritannien). Orwell sagt im Wesentlichen, dass die Sozialisten nicht wirklich die Armen lieben. Sie hassen einfach nur die Reichen.2 Seine Idee fiel sofort auf fruchtbaren Boden. Die sozialistische Ideologie diente dazu, Ressentiments und Hass zu verschleiern, die durch das eigene Versagen verursacht wurden. Viele der Parteiaktivisten, die ich getroffen hatte, benutzten das Ideal der sozialen Gerechtigkeit, um damit ihren persönlichen Rachefeldzug rational zu begründen.

Wer war schuld daran, dass ich arm war oder ungebildet und nicht bewundert wurde? Ganz offensichtlich die Reichen, Gebildeten und Angesehenen. Wie überaus praktisch, dass die Forderungen nach Rache und abstrakter Gerechtigkeit übereinstimmten! Es war nur recht und billig, von denen, die mehr Glück hatten als ich, eine Entschädigung zu verlangen.

Natürlich wollten meine sozialistischen Kollegen und ich niemanden verletzen. Ganz im Gegenteil. Wir wollten etwas verbessern – aber wir wollten bei den anderen Menschen anfangen. Ich erkannte schließlich die Verlockungen dieser Logik, den offensichtlichen Fehler, die Gefahr – aber ich erkannte auch, dass das nicht nur für den Sozialismus charakteristisch ist. Jeden, der die Welt verändern will, indem er andere verändert, musste man mit Misstrauen betrachten. Die Verlockungen einer solchen Position waren zu groß, als dass man ihnen hätte widerstehen können.

Nicht die sozialistische Ideologie war also das Problem, sondern die Ideologie als solche. Ideologie teilte die Welt stark vereinfachend in diejenigen, die richtig dachten und handelten, und diejenigen, die es nicht taten. Ideologie erlaubte dem Gläubigen, sich vor seinen eigenen unangenehmen und unzulässigen Fantasien und Wünschen zu verstecken. Derartige Einsichten erschütterten meinen Glauben (sogar meinen Glauben an einen Glauben im Allgemeinen), und die Pläne, die ich auf Basis dieser Überzeugungen formuliert hatte. Ich konnte sozusagen nicht mehr sagen, wer gut war und wer schlecht – also wusste ich nicht mehr, wen ich unterstützen und wen bekämpfen sollte. Dieser Zustand erwies sich als sehr problematisch, sowohl in pragmatischer als auch philosophischer Hinsicht. Ich wollte Firmenanwalt werden – hatte die Aufnahmeprüfung für das Jurastudium abgelegt und zwei Jahre lang entsprechende Vorkurse besucht. Ich wollte meine Feinde kennenlernen und eine politische Karriere einschlagen. Dieser Plan löste sich in Luft auf. Die Welt brauchte offensichtlich keinen weiteren Anwalt und ich glaubte nicht mehr, dass ich genug konnte, um in einer leitenden Funktion zu überzeugen.

Gleichzeitig desillusionierte mich mein Studium der Politikwissenschaft, meinem früheren Hauptfach. Ich hatte dieses Fach gewählt, um mehr über die Struktur der menschlichen Überzeugungen und des Glaubens zu erfahren (und aus den früher beschriebenen praktischen, karriereorientierten Gründen). Ich fand es noch sehr interessant, als ich am Junior College in die Geschichte der politischen Philosophie eingeführt wurde. Sobald ich jedoch auf den Hauptcampus der Universität von Alberta umzog, verschwand mein Interesse. Man lehrte mich, dass die Menschen von rationalen Kräften angetrieben werden, dass der Glaube und das Handeln der Menschen von ökonomischen Zwängen determiniert werden. Das erschien mir keine zufriedenstellende Erklärung. Ich konnte nicht glauben (und tue es noch immer nicht), dass Waren – »natürliche Ressourcen« zum Beispiel – einen intrinsischen und selbstevidenten Wert besitzen. Wenn es einen solchen Wert aber nicht gab, musste er sozial oder kulturell (oder sogar individuell) bedingt sein. Dieser Akt der Wertzuweisung schien mir ein moralischer zu sein – er schien mir eine Folge der moralischen Ansichten zu sein, welche die jeweilige Gesellschaft, Kultur oder Person angenommen hat. Was die Menschen wirtschaftlich wertschätzen, zeigt bloß, was sie für wichtig halten. Das heißt, dass die wirkliche Motivation im Bereich der Werte, der Moral, liegen musste. Die Politikwissenschaftler, mit denen ich studierte, erkannten das nicht oder hielten es nicht für wichtig.

Meine religiösen Überzeugungen, die von Anfang an nicht sehr ausgeprägt gewesen waren, schwanden, als ich noch sehr jung war. Mein Vertrauen in den Sozialismus (also in die politische Utopie) schwand, als mir klar wurde, dass es auf der Welt nicht nur um Wirtschaft ging. Mein Glaube an die Ideologie schwand, als ich zu verstehen begann, dass die Identifikation mit einer Ideologie selbst ein schwerwiegendes und mysteriöses Problem darstellt. Ich konnte die theoretischen Erklärungen, die mein Studienfach anzubieten hatte, nicht akzeptieren und hatte keinen praktischen Grund mehr, in meine ursprüngliche Richtung weiterzumachen. Ich schloss meinen Bachelor ab und verließ die Universität. All meine Überzeugungen – die dem Chaos meiner Existenz, zumindest zeitweise, eine Ordnung verliehen hatten – hatten sich als Illusion erwiesen. Ich konnte in den Dingen keinen Sinn mehr erkennen. Ich hing völlig in der Luft und wusste nicht mehr, was ich tun oder denken sollte.

Aber was war mit den anderen? Gab es irgendwo irgendeinen Beweis, dass die Probleme, denen ich jetzt gegenüberstand, von irgendjemandem zufriedenstellend gelöst worden waren? Die gewöhnlichen Verhaltensweisen und Einstellungen meiner Freunde und meiner Familie boten keine Lösung. Die Menschen, die ich gut kannte, waren genauso wenig zielorientiert oder zufrieden wie ich. Ihre Überzeugungen und Seinsweisen schienen ihre Zweifel und eine tiefe Unruhe lediglich zu verdecken. Noch beunruhigender war, dass sich auf einer allgemeineren Ebene etwas wahrhaft Irrsinniges abspielte. Die großen Gesellschaften der Welt arbeiteten fieberhaft daran, eine nukleare Maschine mit einer unvorstellbaren Zerstörungskraft zu konstruieren. Jemand oder etwas schmiedete furchtbare Pläne. Warum? Theoretisch normale und gut angepasste Menschen gingen nüchtern ihren Geschäften nach, als ob nichts wäre. Warum waren sie nicht beunruhigt? Hatten sie nicht aufgepasst? War mir etwas entgangen?

Meine Beschäftigung mit dem sozialen und politischen Wahnsinn und Übel der Welt – sublimiert von der temporären Schwärmerei für den utopischen Sozialismus und für politische Machenschaften – kehrte mit Gewalt zurück. Der Kalte Krieg drängte sich immer öfter in mein Bewusstsein. Wie hatte es so weit kommen können?

Die Geschichte ist ein Tollhaus,

Jeder Stein wurd’ umgedreht

Und sie sorgsam zu studieren

Lässt dir wenig unbekannt.

Ich konnte das atomare Wettrüsten nicht verstehen: Was könnte es wert sein, seine Vernichtung zu riskieren – nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit und Zukunft? Was könnte die Androhung der totalen Zerstörung rechtfertigen?

Ich hatte zwar keine Lösungen, aber dieses Problem war für mich ein Geschenk.

Ich kehrte an die Universität von Alberta zurück und begann, Psychologie zu studieren. Ich besuchte unter der Aufsicht eines exzentrischen Professors ein Hochsicherheitsgefängnis am Stadtrand von Edmonton. Seine Hauptaufgabe war die psycholo­gische Betreuung der Insassen. Das Gefängnis war voll von Mördern, Vergewaltigern und Räubern. Bei meinem ersten Besuch landete ich am Ende in der Sporthalle, in der Nähe des Kraftraumes. Ich trug einen langen Wollmantel (ungefähr aus dem Jahr 1890), den ich in Portugal gekauft hatte, und hohe Lederstiefel. Der Psychologe, der mich begleitete, verschwand unerwartet und ließ mich allein. Bald wurde ich von unbekannten Männern umringt, von denen manche extrem groß waren und Furcht einflößend aussahen. Einer ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Er war außerordentlich muskulös und stark tätowiert. Er hatte eine hässliche Narbe, die von seinem Schlüsselbein bis zum Bauch lief. Vielleicht hatte er eine Operation am offenen Herzen überlebt. Oder es war eine Axtverletzung. Einen schmächtigeren Mann hätte sie auf jeden Fall getötet – jemanden wie mich.

Ein paar der Gefangenen, die nicht besonders gut angezogen waren, boten mir ihre Kleidung zum Tausch an. Das erschien mir kein besonders guter Tausch, aber ich war mir nicht sicher, wie ich es ablehnen sollte. Das Schicksal rettete mich in Form eines kleinen, mageren, bärtigen Mannes. Er sagte, dass der Psychologe ihn geschickt habe, und bat mich, ihm zu folgen. Er war nur einer und im Moment umringten viele andere (und viel größere) Männer mich und meinen Mantel. Also nahm ich ihn beim Wort. Er führte mich aus der Sporthalle in den Gefängnishof und sprach dabei die ganze Zeit leise, aber vernünftig über etwas Harmloses (ich weiß nicht mehr, was). Ich schielte währenddessen hoffnungsvoll auf die offene Tür hinter uns, während wir uns immer weiter entfernten. Schließlich erschien mein Betreuer und führte mich zurück. Wir verließen den bärtigen Insassen und gingen in ein Privatbüro. Der Psychologe erzählte mir, dass der harmlos aussehende kleine Mann, der mich aus der Sporthalle geleitet hatte, zwei Polizisten ermordet hatte, nachdem er sie gezwungen hatte, ihr eigenes Grab zu schaufeln. Einer der Polizisten hatte kleine Kinder und hatte während des Grabens um ihretwillen um sein Leben gebettelt – zumindest laut Aussage des Mörders.

Das schockierte mich wirklich sehr.

Ich hatte natürlich schon von solchen Ereignissen gelesen – aber es war nie in mein Lebensumfeld gedrungen. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der auch nur am Rande von so etwas betroffen gewesen wäre, und hatte sicher noch niemanden getroffen, der tatsächlich etwas so Schreckliches getan hatte. Wie hatte der Mann, mit dem ich gesprochen hatte – der so normal wirkte (und so unbedeutend erschien) –, so etwas Schreckliches tun können?

Ein paar der Kurse, die ich zu dieser Zeit besuchte, fanden in großen Hörsälen statt, in denen die Studenten in ansteigenden Reihen saßen, Reihe für Reihe. In einem dieser Kurse – passenderweise Einführung in die klinische Psychologie – befiel mich ein wiederkehrender Zwang. Ich setzte mich hinter irgendeine unwissende Person und hörte dem Professor zu. Irgendwann während der Vorlesung verspürte ich immer den Drang, meinen Vordermann mit meinem Stift in den Nacken zu stechen. Dieser Impuls war – glücklicherweise – kontrollierbar, aber stark genug, um mich zu beunruhigen. Was für eine schreckliche Person musste das sein, die so einen Impuls hatte? Ich nicht. Ich war nie aggressiv gewesen. Ich war die meiste Zeit meines Lebens kleiner und jünger als meine Klassenkameraden gewesen.

Ungefähr einen Monat nach meinem ersten Besuch ging ich erneut ins Gefängnis. Während meiner Abwesenheit hatten zwei Insassen einen Dritten angegriffen, den sie als Spitzel verdächtigten. Sie hielten ihn fest oder fesselten ihn und zertrümmerten eines seiner Beine mit einem Bleirohr. Ich war auch dieses Mal bestürzt, aber jetzt versuchte ich etwas anderes. Ich versuchte, mir vorzustellen, mir wirklich vorzustellen, wie ich sein müsste, um so etwas zu tun. Ich verfolgte diese Aufgabe tagelang konzentriert – und erlebte eine beängstigende Offenbarung. Was an dieser Gräueltat das wirklich Erschreckende war, war nicht ihre Unmöglichkeit oder Ferne, wie ich naiv angenommen hatte, sondern wie leicht sie fiel. Ich unterschied mich gar nicht so sehr von den gewalttätigen Gefangenen – nicht qualitativ. Ich hätte tun können, was sie getan hatten (auch wenn ich es nicht getan hatte).

Diese Entdeckung verstörte mich sehr. Ich war nicht der, der ich zu sein glaubte. Allerdings verschwand dann überraschenderweise mein Drang, jemanden mit dem Stift zu stechen. Im Rückblick würde ich sagen, dass der Verhaltensdrang sich im expliziten Wissen offenbart hatte – von Emotion und Bild in eine konkrete Realisation übersetzt worden war – und damit seine »Daseinsberechtigung« verloren hatte. Der »Impuls« war nur wegen der Frage aufgetreten, die ich versuchte zu beantworten: »Wie können Menschen sich schreckliche Dinge antun?« Ich meinte natürlich andere Menschen – schlechte Menschen – aber ich hatte trotzdem diese Frage aufgeworfen. Es gab keinen Grund für mich anzunehmen, dass ich eine vorhersehbare oder persönlich bedeutungslose Antwort bekommen würde.

Gleichzeitig passierte etwas Merkwürdiges mit meiner Fähigkeit, mich zu unterhalten und zu debattieren. Debatten hatten mir immer Spaß gemacht, egal über welches Thema. Sie waren für mich eine Art Spiel (nicht, dass das etwas Besonderes wäre). Aber plötzlich konnte ich nicht mehr sprechen – oder genauer gesagt: Ich ertrug es nicht mehr, mich sprechen zu hören. Ich begann, in meinem Kopf eine »Stimme« zu hören, die meine Meinungen kommentierte. Immer, wenn ich etwas sagte, sagte sie etwas – etwas Kritisches. Die Stimme stimmte einen Standardrefrain an, in einem irgendwie gelangweilten und nüchternen Ton:

Das glaubst du nicht.

Das ist nicht wahr.

Das glaubst du nicht.

Das ist nicht wahr.

Die »Stimme« gab solche Kommentare zu fast jedem meiner Sätze ab.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich wusste, dass die Kommentare von einem Teil meiner selbst kamen, aber dieses Wissen verstärkte meine Verwirrung nur noch. Welcher Teil genau war ich – der sprechende oder der kritisierende? Wenn es der sprechende Teil war, was war dann der kritisierende? Wenn es der kritisierende Teil war – nun, wie konnte dann wirklich alles, was ich sagte, falsch sein? In meiner Unwissenheit und Verwirrung entschied ich mich für ein Experiment. Ich versuchte, nur Dinge zu sagen, die mein innerer Kritiker durchgehen lassen würde. Das hieß, dass ich wirklich darauf achten musste, was ich sagte, dass ich viel seltener sprach und dass ich regelmäßig mitten im Satz beschämt abbrach und meine Gedanken neu formulierte. Ich stellte bald fest, dass ich mich viel weniger aufgewühlt und selbstbewusster fühlte, wenn ich nur Sachen sagte, die die »Stimme« nicht beanstandete. Das war eine echte Erleichterung. Mein Experiment war erfolgreich gewesen: Ich war der kritisierende Teil. Nichtsdestotrotz dauerte es lange, bis ich mich mit dem Gedanken abfinden konnte, dass fast all meine Gedanken nicht real, nicht wahr – oder zumindest nicht meine eigenen waren.

All die Dinge, die ich »glaubte«, klangen für mich gut, bewundernswert, ehrenwert und mutig. Aber es waren nicht meine eigenen – ich hatte sie gestohlen. Die meisten hatte ich aus Büchern. Nachdem ich sie abstrakt »verstanden« hatte, nahm ich an, dass ich ein Recht an ihnen hatte – ich nahm an, dass ich sie übernehmen könnte, als wären sie meine eigenen, nahm an, dass sie ich wären. Mein Kopf war vollgestopft mit den Ideen von anderen, vollgestopft mit Argumenten, die ich nicht logisch widerlegen konnte. Ich wusste damals noch nicht, dass ein unwiderlegbares Argument nicht zwangsläufig wahr sein muss und dass man sich das Recht, sich mit bestimmten Ideen zu identifizieren, erarbeiten muss.

Ungefähr zu jener Zeit las ich etwas von Carl Gustav Jung, das mir half, zu verstehen, was ich erlebte. Jung hatte das Konzept der Persona entwickelt, der Maske, der »vorgetäuschten Individualität«.3 Die Übernahme dieser Maske erlaubt laut Jung jedem von uns, sich für authentisch zu halten. Jung sagt:

Wenn wir die Persona analysieren, so lösen wir die Maske auf und entdecken, dass das, was individuell zu sein schien, im Grunde kollektiv ist, dass m. a. W. die Persona nur die Maske der Kollektivpsyche war. Im Grunde genommen ist die Persona nichts ›Wirkliches‹. Sie ist ein Kompromiss zwischen Individuum und Sozietät über das, › was als Einer erscheint‹. Er nimmt einen Namen an, erwirbt einen Titel, stellt ein Amt dar und ist dieses und jenes. Dies ist natürlich in einem gewissen Sinne wirklich, jedoch im Verhältnis zur Individualität des Betreffenden wie eine sekundäre Wirklichkeit, eine bloße Kompromißbildung, an der manchmal andere noch vielmehr beteiligt sind als er. Die Persona ist ein Schein, eine zweidimensionale Wirklichkeit, wie man sie scherzweise bezeichnen könnte.4

Trotz meiner Wortgewandtheit war ich nicht echt. Es fiel mir schwer, mir das einzugestehen.

Ich bekam unerträgliche Albträume. Meine Träume waren bis dahin, soweit ich mich erinnere, relativ ereignislos gewesen. Darüber hinaus hatte ich nie ein besonders gutes visuelles Vorstellungsvermögen gehabt. Dennoch wurden meine Träume so schrecklich und emotional so ergreifend, dass ich mich oft vor dem Einschlafen fürchtete. Meine Träume waren so lebendig wie die Realität. Ich konnte ihnen nicht entkommen und sie nicht ignorieren. Sie drehten sich im Allgemeinen um ein einziges Thema: den Atomkrieg und die totale Zerstörung – die schlimmsten Dinge, die ich mir oder etwas in mir sich vorstellen konnte:

Meine Eltern lebten in einem durchschnittlichen ranchähnlichen Haus in einem bürgerlichen Viertel in einer Kleinstadt im Norden von Alberta. Ich saß im abgedunkelten Keller dieses Hauses, im Wohnzimmer, und schaute mit meiner Cousine Diane fern, die in Wirklichkeit – wenn ich wach war – die schönste Frau war, die ich je gesehen hatte. Plötzlich unterbrach ein Nachrichtensprecher die Sendung. Bild und Ton wurden verzerrt und Bildrauschen füllte den Bildschirm. Meine Cousine stand auf und ging um den Fernseher, um das Stromkabel zu prüfen. Sie fasste es an und begann zu zucken und bekam Schaum vor dem Mund, von der starken Spannung aufrecht erstarrt.

Ein gleißender Blitz durchflutete den Keller. Ich eilte nach oben. Vom Erdgeschoss des Hauses war nichts übrig. Es war vollständig und sauber weggeschert worden, sodass nur noch der Boden übrig blieb, der nun als Dach diente. Rote und orangene Flammen füllten den Himmel, von Horizont zu Horizont.

Wo ich auch hinschaute, war nichts übrig, außer schwarzer, skelettartiger Ruinen, die hie und dort aufragten: keine Häuser, keine Bäume, kein Zeichen anderer Menschen oder irgendeines anderen Lebens. Die gesamte Stadt und alles, was sie auf der flachen Prärie umgeben hatte, waren vollständig ausradiert.

Es begann Schlamm zu regnen, heftig. Der Schlamm vernichtete alles und ließ eine braune, nasse und öde Erde und einen grauen, ja bleiernen Himmel zurück. Ein paar wenige verzweifelte und traumatisierte Menschen sammelten sich langsam. Sie hatten unbeschriftete und verbeulte Konservendosen, die nur Brei und Gemüse enthielten. Sie standen erschöpft und zerzaust im Schlamm. Ein paar Hunde kamen unter der Kellertreppe hervor, wo sie sich unerklärlicherweise niedergelassen hatten. Sie standen aufrecht auf ihren Hinterbeinen. Sie waren dünn, wie Windhunde, und hatten spitze Schnauzen. Sie sahen aus wie mythologische Geschöpfe, wie Anubis, der altägyptische Totengott. Sie trugen Teller vor sich her, auf denen Stücke versengten Fleisches lagen. Sie wollten das Fleisch gegen die Konservendosen eintauschen. Ich nahm einen Teller. In seiner Mitte lag eine dicke runde Scheibe Fleisch, zehn Zentimeter im Durchmesser und zwei Zentimeter dick, schlecht gegart, fettig, mit einem Markknochen in der Mitte. Woher kam es?

Mir kam ein schrecklicher Gedanke. Ich eilte nach unten zu meiner Cousine. Die Hunde hatten sie geschlachtet und boten ihr Fleisch den Überlebenden der Katastrophe an.

Ich hatte mindestens ein Jahr lang zwei- bis dreimal pro Woche apokalyptische Träume dieser Intensität. Währenddessen ging ich zur Universität und arbeitete, als ginge nichts Außergewöhnliches in mir vor. Doch Ereignisse auf zwei »Ebenen« wirkten gleichzeitig auf mich ein. Auf der ersten Ebene lagen die normalen, vorhersagbaren alltäglichen Ereignisse, die ich mit allen anderen teilte. Auf der zweiten Ebene aber (die nur ich hatte, dachte ich zumindest) waren schreckliche Bilder und herrschten unerträglich intensive emotionale Zustände. Diese idiosynkratische, subjektive Welt – die jeder normalerweise als illusorisch behandelt – schien mir zu jener Zeit irgendwie hinter der Welt zu liegen, die jeder kennt und als real wahrnimmt. Aber was heißt real eigentlich? Je näher ich mich damit beschäftigte, desto unverständlicher wurden die Dinge. Wo war das Reale? Was lag am Grund von allem? Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht leben könnte, ohne es zu wissen.

Mein Interesse am Kalten Krieg wurde zu einer wahren Obsession. Ich dachte jede Minute an die selbstmörderische und mörderische Vorbereitung dieses Krieges, von morgens bis abends. Wie hatte es dazu kommen können? Wer war verantwortlich?

Ich träumte, dass ich über den Parkplatz eines Einkaufszentrums rannte, um irgendetwas zu entkommen. Ich rannte zwischen den parkenden Autos hindurch, öffnete eine Tür, krabbelte über den Vordersitz, öffnete die andere, eilte zum nächsten.

Plötzlich wurden die Türen eines Autos zugeschlagen. Ich war auf dem Beifahrersitz. Das Auto begann, sich von selbst zu bewegen. Eine Stimme sagte barsch: »Es gibt keinen Weg hier heraus.« Ich war auf der Reise zu einem Ziel, zu dem ich nicht wollte. Ich war nicht der Fahrer.

Ich wurde depressiv und ängstlich. Ich hatte leicht suizidale Gedanken, aber hauptsächlich wünschte ich mir, dass alles einfach aufhören würde. Ich wollte mich auf meine Couch legen und buchstäblich in ihr versinken, bis man nur noch meine Nase sehen konnte – wie den Schnorchel eines Tauchers über der Wasseroberfläche. Mein Bewusstsein der Dinge war unerträglich für mich.

Eines Nachts kam ich von einem Trinkgelage am College spät nach Hause, voll von Ekel vor mir selbst und Wut. Ich nahm eine Leinwand und ein paar Farben. Ich malte das grobe, rohe Bild eines gekreuzigten Christus – grell und dämonisch – mit einer Kobra um die nackte Hüfte, wie ein Gürtel. Das Bild verstörte mich – es kam mir, trotz meines Agnostizismus, als Frevel vor. Aber ich wusste nicht, was es bedeutete oder warum ich es gemalt hatte. Wo um alles in der Welt war es hergekommen?5 Ich hatte schon seit Jahren nicht mehr an religiöse Vorstellungen gedacht. Ich versteckte das Bild hinter ein paar alten Kleidern in meinem Schrank und setzte mich im Schneidersitz auf den Boden. Ich senkte den Kopf. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich weder mich selbst noch andere je wirklich verstanden hatte.

Alles, was ich je über die Natur der Gesellschaft und mich selbst geglaubt hatte, hatte sich als falsch erwiesen, die Welt war offensichtlich verrückt geworden und in meinem Kopf ging etwas Seltsames und Beängstigendes vor. James Joyce sagte: »Die Geschichte ist ein Albtraum, aus dem ich versuche zu erwachen.«6 Für mich war die Geschichte buchstäblich ein Albtraum. Ich wollte in diesem Moment vor allem anderen aufwachen und dass meine schrecklichen Träume aufhören würden.

Seiter versuche ich, die menschliche Fähigkeit, meine Fähigkeit, Böses zu tun, zu verstehen – insbesondere die Bösartigkeiten, die mit dem Glauben zusammenhängen. Ich habe mit dem Versuch angefangen, in meinen Träumen einen Sinn zu finden. Ich konnte sie schließlich nicht ignorieren. Vielleicht versuchten sie ja, mir etwas mitzuteilen? Ich hatte nichts zu verlieren, wenn ich diese Möglichkeit zuließ. Ich las Freuds Traumdeutung und fand sie hilfreich. Freud nahm das Thema zumindest ernst – aber ich konnte meine Albträume nicht als Wunscherfüllung betrachten. Darüber hinaus schienen sie mir mehr religiöser denn sexueller Natur zu sein. Ich wusste in etwa, dass Jung ein tieferes Wissen über Mythos und Religion entwickelt hatte, also begann ich, seine Schriften zu lesen. Die Akademiker, die ich kannte, hielten seine Ansichten für wenig glaubwürdig, aber diese beschäftigten sich auch nicht wirklich mit Träumen. Meine Träume ließen mich hingegen nicht los. Sie waren so intensiv, dass ich befürchtete, den Verstand zu verlieren. (Was war die Alternative? Zu glauben, dass die Schrecken und Schmerzen, die sie mir zufügten, nicht real waren?) Die meiste Zeit konnte ich nicht verstehen, worauf Jung hinauswollte. Er wollte auf etwas hinaus, das ich nicht verstehen konnte, sprach eine Sprache, die ich nicht verstand. Hin und wieder allerdings trafen seine Aussagen einen Nerv. Er beobachtet zum Beispiel das Folgende:

Es ist allerdings zuzugeben, dass die archetypischen Inhalte des kollektiven Unbewussten in Träumen und Fantasien oft eine grotesk-grauenhafte Gestalt annehmen. Und gegen zutiefst empfundene Angstträume oder gegen obsedierende Angstvorstellungen ist auch das rationalste Bewusstsein nicht gefeit.7

Den zweiten Teil dieser Aussage konnte man sicherlich auf mich anwenden, auch wenn der erste (»die archetypischen Inhalte des kollektiven Unbewussten«) für mich rätselhaft und unklar blieb. Dennoch war es vielversprechend. Jung hatte zumindest erkannt, dass das, was mir passierte, passieren konnte. Darüber hinaus bot er ein paar Hinweise zu ihrer Ursache. Also las ich weiter. Bald stieß ich auf die folgende Hypothese. Hier war eine mögliche Lösung für meine Probleme – oder zumindest wurde ein Ort beschrieben, an dem ich eine Lösung finden könnte:

Die psychologische Erläuterung [von Traum- und Fantasiegebilden], die sich nicht mit Nichtwissen und Schweigen übergehen lassen, führt logischerweise in die Tiefen religionsgeschichtlicher Phänomenologie. Denn die Religionsgeschichte im weitesten Sinne dieses Begriffes (also inklusive Mythologie, Folklore und primitiver Psychologie) stellt das Schatzhaus archetypischer Gestaltungen dar, daraus der Arzt hilfreiche Parallelen und erläuternde Vergleiche ziehen kann, bestimmt zur Beruhigung und Aufklärung des in seiner Orientierung schwer gestörten Bewusstseins. Es ist eben unbedingt nötig, den auftauchenden Fantasiebildern, die dem Bewusstsein fremdartig, ja sogar bedrohlich gegenüberstehen, sozusagen einen Kontext zu geben, um sie dem Begreifen näherzubringen. Dies geschieht, wie die Erfahrung zeigt, am besten durch das mythologische Vergleichsmaterial.8

Durch das vergleichende Studium »mythologischen Materials« verschwanden tatsächlich meine schrecklichen Träume. Der Preis für die Heilung durch diese Studien war allerdings eine vollständige und schmerzvolle Verwandlung: Was ich jetzt über die Welt glaube – und wie ich als Folge daraus handle –, steht so sehr im Widerspruch zu dem, was ich in jungen Jahre glaubte, dass ich eine völlig andere Person sein könnte.

Ich entdeckte, dass die Welt auf eine sehr reale Weise durch Glauben gemacht wird –, dass die Welt Glaube ist, nicht nur in einem metaphysischen Sinne. Diese Entdeckung machte mich aber nicht zu einem moralischen Relativisten, ganz im Gegenteil. Ich wurde überzeugt, dass die »Welt, die Glaube ist« geordnet ist, dass es universelle moralische Absoluta gibt (auch wenn diese so strukturiert sind, dass ein vielfältiges Spektrum menschlicher Meinungen sowohl möglich als auch vorteilhaft bleibt). Ich glaube, dass Individuen und Gesellschaften, die diese Absoluta missachten – ob aus Unwissenheit oder absichtlich – zu Elend und schließlich zur Auflösung verurteilt sind.

Ich habe gelernt, dass die Bedeutung der tiefgründigsten Substrate von Glaubenssystemen selbst dem skeptischen, rationalen Denker explizit verständlich gemacht werden können – und dass sie so als faszinierend, tiefgründig und notwendig erfahren werden können. Ich habe gelernt, warum Menschen Krieg führen – warum das Bedürfnis, den Bereich seines Glaubens zu bewahren, zu schützen und zu vergrößern, sogar die unverständlichsten gruppengeführten Akte der Unterdrückung und Grausamkeit hervorbringt – und wie man diese Tendenz vielleicht und trotz ihrer Universalität abschwächen könnte. Und ich habe schließlich gelernt, dass der schreckliche Aspekt des Lebens tatsächlich eine notwendige Voraussetzung für die Existenz des Lebens sein könnte – und dass es möglich ist, diese Voraussetzung als verständlich und annehmbar zu betrachten. Ich hoffe, dass ich die Leser dieses Buches zu denselben Schlussfolgerungen führen kann, ohne irgendeine unsinnige »Aussetzung der kritischen Urteilskraft« zu fordern – mit Ausnahme dessen, was nötig ist, um meine Argumente zunächst einmal kennenzulernen und über sie nachzudenken. Diese lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

Die Welt lässt sich mit Recht als Handlungsraum und als Ort der Dinge verstehen. Wir beschreiben die Welt mithilfe der formalen Methoden der Wissenschaft als einen Ort der Dinge. Die narrativen Techniken allerdings – Mythos, Literatur und Drama – zeigen die Welt als einen Handlungsraum. Die beiden Darstellungsarten wurden unnötigerweise als gegensätzlich aufgefasst, weil wir noch kein klares Bild ihrer jeweiligen Bereiche geformt haben. Der erste Bereich ist die objektive Welt – was ist, aus der Perspektive intersubjektiver Wahrnehmung. Der zweite Bereich ist die Welt der Werte – was ist und was sein sollte, aus der Perspektive von Emotion und Handeln.

Die Welt als Handlungsraum besteht im Wesentlichen aus drei konstituierenden Elementen, die dazu tendieren, sich in typischen Mustern der metaphorischen Darstellung zu manifestieren. Das erste ist unerforschtes Gebiet – die Große Mutter, die Natur, kreativ und destruktiv, Ursprung und letzte Ruhestätte aller endlichen Dinge. Das zweite ist erforschtes Gebiet – der Große Vater, die Kultur, schützend und tyrannisch, die gesammelten Weisheiten der Ahnen. Das dritte ist der Prozess, der zwischen dem unerforschten und erforschten Gebiet vermittelt – der Göttliche Sohn, das archetypische Individuum, das kreativ erforschende Wort und der rächende Gegenspieler. Wir sind an diese Welt der göttlichen Figuren angepasst, genauso wie an die objektive Welt. Die Tatsache dieser Anpassung impliziert, dass die Umwelt in »Wirklichkeit« ein Handlungsraum und ein Ort der Dinge ist.

Ungeschützt dem unerforschten Gebiet ausgesetzt zu werden, ruft Angst hervor. Das Individuum wird vor dieser Angst durch die rituelle Imitation des Großen Vaters geschützt – also durch die Übernahme einer Gruppenidentität, welche die Bedeutung der Dinge beschränkt und soziale Interaktionen vorhersehbar macht. Wenn die Identifikation mit der Gruppe aber absolut wird – wenn alles kontrolliert werden muss, wenn das Unbekannte nicht mehr existieren darf –, kann der kreative Erforschungsprozess, der die Gruppe weiterbringt, sich nicht mehr verwirklichen. Diese Einschränkung der Anpassungsfähigkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit sozialer Aggression dramatisch.

Die Ablehnung des Unbekannten ist gleichbedeutend mit der »Identifikation mit dem Teufel«, dem mythologischen Gegenstück und ewigen Widersacher des weltschaffenden, erforschenden Helden. Eine solche Ablehnung und Identifikation ist eine Folge des luziferischen Stolzes, der besagt: Was ich weiß, ist alles, was man wissen muss. Dieser Stolz ist die totalitäre Annahme der Allwissenheit – ist die Einnahme von Gottes Platz durch die »Vernunft« – führt unweigerlich zu einem Zustand des persönlichen und sozialen Seins, der von der Hölle nicht zu unterscheiden ist. Diese Hölle entsteht, weil das kreative Erforschen – unmöglich ohne die (demütige) Anerkennung des Unbekannten – der Prozess ist, der die schützende adaptive Struktur aufbaut und bewahrt, welche dem Leben viel von seiner akzeptablen Bedeutung gibt. »Identifikation mit dem Teufel« vergrößert die Gefahren der Gruppenidentifikation, die von sich aus zu einer pathologischen Verdummung neigt. Seinen persönlichen Interessen – subjektiver Bedeutung – gegenüber treu zu sein, kann ein Gegenmittel gegen die überwältigende Versuchung sein, der man durch die Möglichkeit, das Unnormale zurückzuweisen, fortwährend ausgesetzt ist. Persönliche Interessen – subjektive Bedeutung – offenbaren sich an der Verbindungsstelle von erforschtem und unerforschtem Gebiet und weisen auf die Teilnahme an dem Prozess hin, der eine kontinuierliche gesunde individuelle und gesellschaftliche Adaptation sicherstellt.

Treue gegenüber seinen persönlichen Interessen entspricht der Identifikation mit dem archetypischen Helden – dem »Retter« –, der seine Verbindung mit dem kreativen Wort im Angesicht des Todes und trotz des Konformitätsdrucks in der Gruppe aufrechterhält. Identifikation mit dem Helden dient dazu, die unerträgliche motivationale Valenz des Unbekannten zu mindern. Darüber hinaus liefert sie dem Individuum eine Position, die die Gruppe zugleich transzendiert und erhält.

Ähnliche Zusammenfassungen sind jedem Kapitel (und Unterkapitel) vorangestellt. Gemeinsam gelesen, vermitteln sie ein vollständiges, aber komprimiertes Bild. Diese Zusammenfassungen sollten nach diesem Vorwort zuerst gelesen werden.

Auf diese Weise lässt sich meine Argumentation im Ganzen schnell erfassen, was das Verstehen der Einzelteile unterstützt.

1 Jung, C. G. (1974), S. 95, und auch Laotse (2007), Nr. 78:Also auch hat ein Berufener gesagt: »Wer den Schmutz des Reiches auf sich nimmt, der ist der Herr bei Erdopfern. Wer das Unglück des Reiches auf sich nimmt, der ist der König der Welt.«Wahre Worte sind wie umgekehrt.

2 »Manchmal schaue ich einen Sozialisten an – den intellektuellen, Traktate verfassenden Typ, mit seinem Pullover, dem wirren Haar und den Marx-Zitaten – und frage mich, was zum Teufel wirklich sein Motiv ist. Oft fällt es schwer, an seine Liebe zu irgend jemand zu glauben, besonders zu den Arbeitern, von denen er am allerweitesten entfernt ist«. [Orwell, G. (1982), S. 174]

3 Jung, C. G. (1971a), S. 173.

4 Jung, C. G. (1971a), S. 173.

5 Als ich zehn Jahre später mein Manuskript zu Ende schrieb, hielt Heidi Treml, eine meiner Studentinnen, fest:

Während der Reise von Ägypten nach Kanaan beschuldigten die ungeduldigen Israeliten Gott und Moses, sie zum Sterben in die Wüste zu führen. Als Reaktion auf diese Klagen schickte Jahwe den Israeliten Giftschlangen. Die Israeliten, die nicht von den Schlangen gebissen wurden, bereuten und baten Moses, bei Gott Fürsprache zu halten. Jahwe wies Moses an, eine Bronze- [oder Feuer-]Schlange zu machen und an eine Stabspitze zu setzen, sodass die, die gebissen worden waren, sie sehen und weiterleben konnten. Moses tat wie geheißen und immer, wenn jemand gebissen wurde, sah er die Bronzestatue an und lebte weiter (Numeri 21:5–10) … Im Evangelium des Johannes erklärt Jesus Nikodemus: »Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der (an ihn) glaubt, in ihm das ewige Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.« (Johannes, 3:14–16)«

Treml wies darauf hin, dass die Schlange vielerorts sowohl als Symbol des Todes (wegen ihres Gifts), als auch als Symbol der Transformation und Wiedergeburt (weil sie ihre Haut abstreifen kann) angesehen wurde. Die starke Ambivalenz dieser Merkmale macht sie zu einem geeigneten Repräsentanten des »Numinosen« (nach Rudolf Otto, dessen Vorstellungen später in diesem Manuskript beschrieben werden). Das Numinose ist in der Lage, Furcht und Zittern (ein mysterium tremendum) hervorzurufen und besitzt eine starke Anziehungskraft und Faszination (mysterium fascinans). Treml kommentiert weiter: »Wer dem Blick der Schlange – die seine größte Angst symbolisiert – widerstehen konnte, wurde er geheilt.«

Warum wurde Christus in meinem Bild und im Neuen Testament mit der Schlange gleichgesetzt? (Denken Sie daran, dass ich von dieser Beziehung überhaupt nichts wusste, als ich die Skizze ursprünglich anfertigte.) Es hat etwas mit seiner Darstellung als Richter in der Offenbarung des Johannes zu tun:

»Ich kenne deine Werke. Du bist weder kalt noch heiß, Wärest du doch kalt oder heiß! Wie du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien. Du behauptest: Ich bin reich und wohlhabend und nichts fehlt mir. Du weißt aber nicht, dass gerade du elend und erbärmlich bist, arm, blind und nackt. Darum rate ich dir: Kaufe von mir Gold, das im Feuer geläutert ist, damit du reich wirst; und kaufe von mir weiße Kleider und zieh sie an; damit du nicht nackt dastehst und dich schämen musst; und kaufe Salbe für deine Augen, damit du sehen kannst.« (Die Offenbarung des Johannes 3:14–18)

Die Vorstellung vom Erlöser beinhaltet notwendigerweise den Richter – und einen besonders unnachgiebigen Richter –, weil der Erlöser eine mythologische Darstellung des Idealen ist, und das Ideale richtet immer über das Wirkliche. Das archetypische Bild des Erlösers, der Perfektion oder Vollendung symbolisiert, ist daher proportional zum persönlichen Abstand zum Ideal erschreckend.

6 Joyce, J. (1975).

7 Jung, C. G. (1972), S. 48.

8 Jung, C. G. (1972), S. 48f.

1ErfahrungslandkartenObjekt und Bedeutung

Man kann die Welt mit Recht als Handlungsraum oder als Ort der Dinge verstehen.

Die erste Interpretationsart – die ursprünglicher und weniger klar verständlich ist – kommt in den Künsten oder Geisteswissenschaften, in Ritual, Drama, Literatur und Mythologie zum Ausdruck. Die Welt als Handlungsraum ist ein Ort der Werte, ein Ort, an dem alle Dinge eine Bedeutung haben. Diese Bedeutung, die sich im sozialen Austausch formt, ist eine Implikation für das Handeln oder – auf einer höheren Analyseebene – eine Implikation für die Konfiguration des Interpretationsschemas, das Handlungen erzeugt oder leitet.

Die zweite Interpretationsart – die Welt als Ort der Dinge – findet ihren formalen Ausdruck in den Methoden und Theorien der Wissenschaft. Die Wissenschaft erlaubt eine immer genauere Bestimmung der intersubjektiv validierbaren Eigenschaften von Dingen und eine effiziente Nutzung genau bestimmter Dinge als Werkzeuge (sobald die Richtung, in die diese Verwendung gehen soll, mithilfe grundlegenderer Erzählprozesse bestimmt wurde).

Ohne beide Interpretationsmodi anzuwenden, lässt sich kein vollständiges Weltbild generieren. Die Tatsache, dass die Modi gewöhnlich als in gegenseitigem Widerspruch stehend gesehen werden, zeigt nur, dass ihre jeweiligen Bereiche dem Wesen nach noch nicht hinreichend unterschieden werden. Anhänger der mythologischen Weltsicht tendieren dazu, die Aussagen ihrer Glaubensbekenntnisse nicht von empirischen »Fakten« zu unterscheiden, obwohl diese Aussagen meist lange bevor die Idee einer objektiven Realität entstand formuliert wurden. Diejenigen, die die wissenschaftliche Perspektive übernehmen – die annehmen, dass diese vollkommen ist oder werden könnte –, vergessen hingegen, dass eine unüberwindliche Kluft momentan das, was ist, von dem, was sein sollte, trennt.

Wir müssen vier Dinge wissen:

was da ist,

was mit dem, was da ist, zu tun ist,

dass es einen Unterschied zwischen dem Wissen, was da ist, und dem Wissen, was damit zu tun ist, gibt

und was dieser Unterschied ist.

Etwas zu erkunden, zu »entdecken, was es ist« – das bedeutet vor allem, seine Bedeutung für eine motorische Reaktion innerhalb eines bestimmten sozialen Kontexts zu entdecken, und erst im Besonderen, seine exakte, objektive sensorische oder materielle Natur zu bestimmen. Das ist Wissen im einfachsten Sinne – und dieses Wissen ist meist ausreichend.

Stellen Sie sich ein Baby vor, das im Rahmen seiner ersten zaghaften Erkundungen herumtapst und auf eine Arbeitsplatte greift, um eine zerbrechliche und teure Glasskulptur zu berühren. Es betrachtet ihre Farbe, sieht ihren Glanz, fühlt, dass sie sich glatt und kühl und schwer anfühlt. Plötzlich greift die Mutter ein, packt seine Hand und sagt ihm, dass es dieses Objekt nie wieder anfassen soll. Das Kind hat soeben eine Reihe von konkreten Folgerungen über die Skulptur gelernt – es hat sicherlich seine sensorischen Eigenschaften ermittelt. Noch wichtiger aber ist die Einsicht, dass die Skulptur gefährlich ist, wenn man sich ihr auf die falsche Weise nähert (zumindest in Anwesenheit der Mutter). Es hat zudem herausgefunden, dass die Skulptur in ihrer gegenwärtigen, unveränderten Gestalt wichtiger ist als sein Forscherdrang – zumindest (wiederum) für die Mutter. Das Baby hat gleichzeitig ein Objekt (aus der empirischen Perspektive) und dessen soziokulturell bestimmten Status kennengelernt. Das empirische Objekt ist sozusagen die Summe seiner sensorischen Eigenschaften. Mit dem Status des Objekts ist hingegen seine Bedeutung gemeint – seine Implikation für das Verhalten. Alles, was dem Kind begegnet, hat diese Doppelnatur, die von dem Kind als Teil einer vereinigenden Totalität erfahren wird. Alles ist etwas und bedeutet etwas – und zwischen Wesen und Bedeutung wird nicht notwendigerweise klar unterschieden.

Die Bedeutung von etwas – die in Wirklichkeit durch explorative Tätigkeiten in seiner Umgebung bestimmt wird – tendiert dazu, »natürlich« mit dem Objekt selbst zu verschmelzen. Das Objekt ist schließlich die proximale Ursache oder der Stimulus, der die Handlungen, die in seiner Gegenwart ausgeführt werden, »hervorruft«. Für Menschen, die sich natürlich verhalten, wie das Kind, ist die Bedeutung von etwas mehr oder weniger ein untrennbarer Teil des Dinges, Teil seiner Magie. Die Magie beruht natürlich auf der Erfassung der spezifischen kulturellen und intrapsychischen Bedeutung des Dinges und nicht auf seinen objektiv bestimmbaren sensorischen Eigenschaften. Jeder versteht, wenn ein Kind zum Beispiel sagt: »Ich habe einen unheimlichen Mann gesehen.« Die Beschreibung des Kindes ist unmittelbar und konkret, obwohl es dem Wahrnehmungsobjekt eine Eigenschaft zugeschrieben hat, die eigentlich kontextuell ist – abhängig und subjektiv. Es ist schließlich schwierig, die subjektive Natur von Angst zu erkennen und Bedrohung nicht als Teil der »realen« Welt wahrzunehmen.

Dingen automatisch Bedeutung zuzuweisen – oder das anfängliche Unvermögen, sie zu unterscheiden –, ist charakteristisch für das narrative, das mythische im Gegensatz zum wissenschaftlichen Denken. Das Narrative erfasst genau das Wesen der rohen Erfahrung. Dinge sind unheimlich, Menschen sind nervig, Ereignisse sind vielversprechend, Essen ist lecker – zumindest in den Begriffen unserer einfachen Erfahrungen. Der moderne Geist, der glaubt, den Bereich des Magischen hinter sich gelassen zu haben, ist nichtsdestotrotz noch immer unendlich »irrationaler« (das ist motivierter) Reaktionen fähig. Wir verfallen dem Bann der Erfahrung, wann immer wir unsere Frustration, Aggression, Zuneigung oder Begierde der Person oder Situation zuschreiben, die als proximale »Ursache« dieser Erregung vorhanden ist. Wir sind (Gott sei Dank!) noch nicht »objektiv«, nicht einmal in unseren klarsten Momenten. Wir lassen uns sofort in einen Film oder einen Roman hineinziehen und setzen willentlich unsere Ungläubigkeit aus. Wir lassen uns unwillkürlich von einer ausreichend einflussreichen kulturellen Persönlichkeit imponieren oder einschüchtern (einem intellektuellen Idol, einem Spitzensportler, einem Filmschauspieler, einem führenden Politiker, dem Papst, einer berühmten Schönheit, sogar unserem Vorgesetzten in der Arbeit) – also von jedem, der die oft impliziten Werte und Ideale, die uns vor dem Chaos schützen und uns Orientierung bieten, verkörpert. Wie das mittelalterliche Individuum brauchen wir nicht einmal die Person selbst, damit so ein Affekt ausgelöst wird. Es reicht bereits ein ikonisches Zeichen. Wir geben große Summen für Kleidungsstücke aus, die von den Berühmten und Berüchtigten unserer Zeit getragen wurden, oder für persönliche Gegenstände, die von ihnen benutzt oder kreiert wurden.1

Der »natürliche«, vorexperimentelle oder mythische Geist beschäftigt sich primär mit Bedeutung – die im Wesentlichen Handlungsimplikation ist – und nicht mit der »objektiven« Natur. Das formale Objekt, wie es vom modernen, wissenschaftlich orientierten Bewusstsein konzeptualisiert ist, erscheint wohl denjenigen, die noch von der mythischen Imagination bestimmt werden – wenn sie es überhaupt »sehen« –, als irrelevante Hülle, als das, das übrig bleibt, nachdem man alles Faszinierende entfernt hat. Für den Vorexperimentalisten ist das Ding vor allem die Bedeutung seiner sensorischen Eigenschaften, wie er sie subjektiv erlebt – im Affekt oder in der Emotion. Und in Wahrheit – im realen Leben – bedeutet zu wissen, was etwas ist, noch immer, zwei Dinge von ihm zu kennen: seine motivationale Relevanz und die spezifische Art seiner sensorischen Eigenschaften. Diese beiden Formen des Kennens beziehungsweise Wissens sind nicht identisch. Darüber hinaus geht das Erfahren und Wahrnehmen des Ersten notwendigerweise der Entwicklung des Zweiten voraus. Etwas muss eine emotionale Wirkung haben, bevor es genug Aufmerksamkeit auf sich zieht, um in Bezug auf seine sensorischen Eigenschaften erkundet und kartiert zu werden. Diese sensorischen Eigenschaften – von primärer Bedeutung für den Experimentalisten oder Empiristen – haben nur insofern Bedeutung, als sie als Hinweise für die Bestimmung der spezifischen affektiven Relevanz oder Bedeutung für das Verhalten dienen. Wir müssen wissen, was ein Ding ist, nicht um zu wissen, was das Ding ist, sondern um herauszufinden, was es bedeutet – um zu verstehen, was es für unser Verhalten bedeutet.

Es brauchte Jahrhunderte strenger Disziplin und intellektuellen Trainings, sowohl religiös als auch protowissenschaftlich und wissenschaftlich, um einen Geist zu schaffen, der in der Lage ist, sich auf Phänomene zu konzentrieren, die noch nicht oder nicht mehr unmittelbar an sich packend sind – um einen Geist zu schaffen, der real und relevant als zwei unterschiedliche Dinge auffasst. Alternativ könnte man behaupten, dass all das Mythische noch gar nicht aus der Wissenschaft verschwunden ist, die sich so sehr mit dem menschlichen Fortschritt befasst, und dass es dieser nicht triviale Rest ist, der dem Wissenschaftler ermöglicht, seine Fruchtfliegen endlos mit ungebrochenem Enthusiasmus zu studieren.

Wie genau haben die Menschen gedacht, bevor sie, vor nicht allzu langer Zeit, Experimentalisten wurden? Was waren die Dinge, bevor sie objektive Dinge wurden? Das sind sehr schwierige Fragen. Die »Dinge«, die vor der Entstehung der experimentellen Wissenschaft existierten, erscheinen dem modernen Geist weder als Dinge noch als die Bedeutung des Dings. Die Frage nach dem Wesen der Substanz von Sol – der Sonne – (um ein einfaches Beispiel zu nennen) beschäftigte diejenigen, welche die vorexperimentelle »Wissenschaft« der Alchemie praktizierten, viele Jahrhunderte lang. Wir würden heute nicht einmal mehr annehmen, dass die Sonne überhaupt eine einheitliche, einzigartige Substanz besitzt, und wir würden uns sicher an den Eigenschaften stoßen, die mittelalterlichen Alchemisten diesem hypothetischen Element zuschrieben, wenn wir deren Existenz akzeptieren würden. Carl Gustav Jung, der einen Großteil seines späteren Lebens dem Studium mittelalterlicher Denkmuster widmete, charakterisierte Sol folgendermaßen:

Die Sonne bedeutet in der Alchemie zunächst das Gold, mit dem sie ihr Zeichen gemeinsam hat. Aber wie das »philosophische« Gold nicht das Gewöhnliche ist, so ist auch die Sonne weder das metallische Gold noch der Himmelskörper. Das eine Mal heißt »Sonne« eine im Gold versteckte, aktive Substanz, die als tinctura rubea daraus extrahiert wird. Das andere Mal ist die Sonne als Himmelskörper der Besitzer einer magisch wirkenden und wandelnden Lichtstrahlung. Die Sonne als Gold und als Himmelskörper enthält dann einen aktiven Sulphur von roter Farbe, der heiß und trocken ist. Um dieses roten Sulphurs willen ist die alchemistische Sonne, wie auch das entsprechende Gold, rot. Wie jeder Alchemist wusste, verdankt das Gold seine Röte der Beimengung von Cu (Kupfer), d. h. von Kypris (Venus), welche in der griechischen Alchemie einmal die Wandlungssubstanz dargestellt hat. Die Röte, das Heiße und das Trockene sind die klassischen Eigenschaften des ägyptischen Typhon, der als böses Prinzip, wie der alchemistische Sulphur, mit dem Teufel nahe Beziehung hat. Und wie Typhon sein Reich im verpönten Meer hat, so besitzt auch die Sonne einmal als »sol centralis« ihr »Meer« und ihr »rohes, konkretes Wasser« (aquam crudam perceptibilem), das andere Mal als »sol coelistis« ebenfalls ihr »Meer« und ihr »subtiles, imperceptibles Wasser«. Dieses »Meerwasser« wird aus Sonne und Mond extrahiert. […] Wie gesagt ist die aktive Sonnensubstanz etwas Günstiges. Als sogenannter Balsam tropft sie aus der Sonne und erzeugt Zitronen, Orangen, Wein und im Mineralreich das Gold.2

Wir können so eine Beschreibung kaum mehr verstehen, so kontaminiert mit imaginativen und mythologischen Assoziationen, wie sie für das mittelalterliche Denken typisch sind. Es ist jedoch gerade diese fantastische Kontamination, die die alchemistische Beschreibung untersuchenswert macht – nicht aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive, die sich mit der Untersuchung veralteter objektiver Ideen befasst, sondern aus einer psychologischen Perspektive, die auf die Interpretation subjektiver Bezugssysteme fokussiert ist.

In ihm (scl. dem Meere der Inder) sind des Himmels und der Erde, des Sommers, Herbstes, Winters und des Frühlings Bilder (figurae), die Männlichkeit und die Weiblichkeit. Wenn du dies geistig (spirituale) nennst, so ist es wahrscheinlich, was du tust; wenn körperlich, so sagst du die Wahrheit; wenn himmlisch, so lügst du nicht; wenn die Erde, so hast du recht berichtet.3

Der Alchemist konnte seine subjektiven Vorstellungen vom Wesen der Dinge – also seine Hypothesen – von den Dingen selbst nicht trennen. Seine Hypothesen wiederum – Produkte seiner Imagination – leiten sich aus den unhinterfragten und unbewussten »erklärenden« Vorannahmen ab, die seine Kultur bildeten. Der mittelalterliche Mensch lebte beispielsweise in einem moralischen Universum, in dem alles, selbst Erze und Metalle, vor allem nach Perfektion streben.4 Die Dinge sind, im alchemistischen Denken, daher zum großen Teil durch ihre moralische Natur charakterisiert – durch ihre Wirkung auf das, was wir als Affekt, Emotion oder Motivation beschreiben würden. Sie wurden also durch ihre Relevanz oder ihren Wert charakterisiert (also ihre affektive Wirkung). Die Beschreibung dieser Relevanz nahm eine narrative, mythische Form an – wie in Jungs Beispiel, wo dem sulpurischen Aspekt der Sonnensubstanz negative, dämonische Eigenschaften zugeschrieben werden. Es war sozusagen die große Leistung der Wissenschaft, den Affekt von der Wahrnehmung zu trennen und die Beschreibung von Erfahrungen nur in Begriffen ihrer ­intersubjektiv wahrnehmbaren Eigenschaften zu ermöglichen. Es ist allerdings nicht so, dass die durch Erfahrungen hervorgerufenen Affekte nicht real wären.

Die Alchemisten, deren Konzeptualisierungen den Affekt mit der sinnlichen Wahrnehmung vermischten, behandelten selbstverständlich den Affekt (auch wenn sie es nicht »wussten« – nicht explizit). Wir haben den Affekt vom Ding getrennt und können das Ding daher wunderbar manipulieren. Doch wir sind noch immer Opfer der unverstandenen Emotionen, die das Ding – wir würden sagen, seine Gegenwart – hervorruft. Wir haben das mythische Universum des vorexperimentellen Geistes verloren oder zumindest aufgehört, seine Entwicklung weiter voranzubringen. Dieser Verlust hat unsere fortschreitende technologische Macht sogar auf noch gefährlichere Weise der Gnade unserer noch immer unbewussten Bewertungssysteme überlassen.

Vor Descartes, Bacon und Newton lebte der Mensch in einer belebten, spirituellen Welt, die von Bedeutung durchsetzt, von moralischem Zweck erfüllt war. Das Wesen dieses Zweckes offenbarte sich in den Geschichten, die die Menschen sich erzählten – Geschichten über die Struktur des Kosmos und die Stellung des Menschen. Aber jetzt denken wir empirisch (zumindest denken wir, dass wir empirisch denken) und die Geister, die das Universum einst bewohnten, sind verschwunden. Die Kräfte, die durch das Aufkommen des Experiments freigesetzt wurden, hatten eine verheerende Wirkung auf die mythische Welt. Jung sagt:

Wie ganz anders sah die Welt des mittelalterlichen Menschen aus: Hier lag die Erde im Mittelpunkt der Welt, ewig fest und geruhsam, umkreist von einer sorglichen wärmespendenden Sonne, die weißen Menschen, alle Kinder Gottes, vom Höchsten liebevoll betreut und für die ewige Seligkeit erzogen, und alle wußten sie genau, was man tun und wie man sich benehmen müsse, um aus der irdischen Vergänglichkeit ein ewiges, freudvolles Dasein zu erlangen. Wir können von einer solchen Wirklichkeit nicht einmal mehr träumen. Die Naturwissenschaft hat diesen holden Schleier längst zerrissen.5

Auch wenn das mittelalterliche Individuum nicht in allen Fällen von seinen religiösen Glaubenssätzen verzückt war (es glaubte beispielsweise fest an die Hölle), so wurde es doch sicher nicht von der Fülle an rationalen Zweifeln und moralischen Unsicherheiten geplagt, die sein modernes Pendant heimsuchen. Religion war für den vorexperimentellen Geist weniger Glaubenssache, sondern vielmehr Tatsache – was heißt, dass die vorherrschende religiöse Sichtweise nicht bloß eine überzeugende Theorie unter vielen war.

Die Fähigkeit, weiterhin explizit an religiöse »Tatsachen« zu glauben, ist in den letzten Jahrhunderten allerdings massiv geschwächt worden – zuerst im Westen und dann überall. Eine Reihe großer Wissenschaftler und Ikonoklasten hat Beweise erbracht, dass das Universum sich nicht um den Menschen dreht, dass unsere Vorstellung, einen anderen Status als die Tiere zu haben und ihnen »überlegen« zu sein, keine empirische Basis hat und dass es im Himmel keinen Gott gibt (noch nicht einmal einen Himmel, soweit wir sehen können). Als Folge davon glauben wir unsere eigenen Erzählungen nicht mehr – glauben nicht einmal mehr, dass uns diese Erzählungen in der Vergangenheit gute Dienste geleistet haben. Die Objekte der revolutionären wissenschaftlichen Entdeckungen – Galileos Berge auf der Mondkugel und Keplers elliptische Planetenbahnen – standen im offensichtlichen Widerspruch zur mythischen Ordnung, die auf der Annahme der himmlischen Perfektion basiert. Die neuen Phänomene, die durch die Methoden der Experimentalisten hervorgerufen wurden, konnten aus der traditionellen Perspektive nicht wahr sein, nicht existieren. Darüber hinaus – und das ist noch wichtiger – stellten die neuen Theorien, die entstanden, um die empirische Realität zu erklären, eine ernst zu nehmende Bedrohung für die Integrität traditioneller Wirklichkeitsmodelle dar, die der Welt eine genau festgelegte Bedeutung gegeben hatten. Im mythologischen Kosmos stand der Mensch im Mittelpunkt. Das objektive Universum war zunächst heliozentrisch und später nicht einmal mehr das. Der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt. Die Welt ist damit ein völlig anderer Ort geworden.

Die mythologische Perspektive wurde durch die empirische gestürzt – so scheint es zumindest. Damit müsste die Moral, die auf einem solchen Mythos beruht, ebenfalls verschwunden sein, da der Glaube an eine bequeme Illusion verschwunden ist. Friedrich Nietzsche hat das vor über 100 Jahren deutlich gemacht:

Wenn man den christlichen Glauben aufgibt, zieht man sich das Recht zur christlichen Moral unter den Füßen weg. Diese versteht sich schlechterdings nicht von selbst. […] Das Christentum ist ein System, eine zusammengedachte und ganze Ansicht der Dinge. Bricht man aus ihm einen Hauptbegriff, den Glauben an Gott, heraus, so zerbricht man damit auch das Ganze: man hat nichts Notwendiges mehr zwischen den Fingern. Das Christentum setzt voraus, dass der Mensch nicht wisse, nicht wissen könne, was für ihn gut, was böse ist: er glaubt an Gott, der allein es weiß. Die christliche Moral ist ein Befehl; ihr Ursprung ist transzendent; sie ist jenseits aller Kritik, alles Rechts auf Kritik; sie hat nur Wahrheit, falls Gott die Wahrheit ist, – sie steht und fällt mit dem Glauben an Gott. – Wenn tatsächlich die Engländer glauben, sie wüssten von sich aus, »intuitiv«, was gut und böse ist, wenn sie folglich vermeinen, das Christentum als Garantie der Moral nicht mehr nötig zu haben, so ist dies selbst bloß die Folge der Herrschaft des christlichen Werthurteils und ein Ausdruck von der Stärke und Tiefe dieser Herrschaft; sodass der Ursprung der [modernen] Moral vergessen worden ist, sodass das Sehr-Bedingte ihres Rechts auf Dasein nicht mehr empfunden wird.6

Wenn die Voraussetzungen einer Theorie widerlegt wurden, argumentiert Nietzsche, dann wurde die Theorie wiederlegt. Aber in diesem Fall »überlebt« die Theorie. Die grundlegenden Prinzipien der tradierten jüdisch-christlichen Morallehre bestimmen weiterhin jeden Aspekt des tatsächlichen Verhaltens des Individuums und die Grundwerte des typischen Westlers – selbst wenn er ein gebildeter Atheist ist, selbst wenn seine abstrakten Vorstellungen und Äußerungen ikonoklastisch erscheinen. Er tötet nicht und er stiehlt nicht (oder wenn er es doch tut, dann verbirgt er seine Taten sogar vor sich selbst) und er behandelt seinen Nächsten – theoretisch – wie sich selbst. Die Prinzipien, die in seiner Gesellschaft (und zunehmend auch in allen anderen7) herrschen, beruhen nach wie vor auf mythologischen Vorstellungen individueller Werte – dem Recht an sich und der Verantwortung – trotz wissenschaftlicher Beweise für Kausalität und Determinismus im menschlichen Verhalten. Und schließlich ruft ein Opfer eines Verbrechens – auch wenn es sich gelegentlich selbst etwas zuschulden kommen lässt – noch immer still den Himmel nach »Gerechtigkeit« an, und wer bewusst Gesetze bricht, verdient noch immer eine Strafe für seine Taten.

Unsere Systeme des postexperimentellen Denkens und unsere Motivations- und Handlungssysteme koexistieren daher in paradoxer Einheit. Das eine ist »zeitgemäß«, das andere archaisch. Das eine ist wissenschaftlich, das andere traditionell, ja sogar abergläubisch. Wir nennen uns Atheisten, aber unsere Einstellung ist nachweislich noch immer religiös – das heißt: moralisch. Was wir als wahr annehmen und wie wir handeln, entspricht sich nicht mehr. Wir machen weiter, als hätten unsere Erfahrungen eine Bedeutung – als hätten unsere Handlungen einen transzendenten Wert –, aber wir können dieses Denken intellektuell nicht rechtfertigen. Wir sind unserer Abstraktionsfähigkeit in die Falle gegangen: Sie liefert uns akkurate deskriptive Beschreibungen, aber sie unterwandert auch unseren Glauben an den Nutzen und die Bedeutung unserer Existenz. Dieses Problem wurde als tragisch bezeichnet (ich finde es zumindest lächerlich) – und wurde in der Existenzphilosophie und Literatur gründlich untersucht. Nietzsche beschreibt diesen modernen Zustand als die (unvermeidliche und notwendige) Folge des »Todes Gottes«: