Warum wir Kriege führen - Christopher Blattman - E-Book
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Warum wir Kriege führen E-Book

Christopher Blattman

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Beschreibung

Warum führen Menschen Krieg gegeneinander? Was lässt sich dafür tun, dass sie ihre Rivalitäten friedlich austragen? Und wenn es doch zu einem gewaltsamen Konflikt gekommen ist – welche Auswege gibt es? Mit diesen Fragen setzt sich Christopher Blattman auseinander. Er hat Kriege und Bürgerkriege untersucht, sich mit Drogenkartellen, Straßengangs, Fußballhooligans, Mafiaorganisationen und Fanatikern beschäftigt. 
Sein Buch ist die Summe jahrzehntelanger Forschungen sowie praktischer Erfahrungen in Krisengebieten. Er zeigt, dass Menschengruppen ihre Konflikte in aller Regel friedlich lösen – und Gesellschaften dies fördern können. Zu Kriegen kommt es aus fünf Gründen, und auch dann gibt es konkrete Schritte, um die Kontrahenten zu einem Kompromiss zu bewegen. Ein ebenso optimistisches wie realistisches Buch.

»Blattman bietet eine enorm wichtige neue Perspektive auf Konflikte.«

Roger Myerson, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften

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Seitenzahl: 758

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Über das Buch

Christopher Blattman hat Kriege und Bürgerkriege untersucht, sich mit Drogenkartellen, Straßengangs, Fußballhooligans, Mafiaorganisationen und Fanatikern beschäftigt. Dabei fand er heraus, dass Menschengruppen ihre Konflikte in aller Regel friedlich lösen – und Gesellschaften dies fördern können. Kommt es doch zu einem Krieg, sind die Ursachen nicht die, die es vordergründig zu sein scheinen.Blattman macht vielmehr fünf strategische, ideologische und institutionelle Mechanismen aus, die einer gewaltlosen Einigung im Wege stehen. Aber auch dann gibt es konkrete Möglichkeiten, um die Kontrahenten zu einem Kompromiss zu bewegen. Ein ebenso optimistisches wie realistisches Buch.

»Blattman bietet eine enorm wichtige neue Perspektive auf Konflikte.«Roger B. Myerson, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften

Über Christopher Blattman

Christopher Blattman ist Wirtschafts- und Politikwissenschaftler und beschäftigt sich mit Gewalt, Verbrechen und Armut. Er ist Ramalee E. Pearson Professor of Global Conflict Studies am Pearson Institute und der Harris School of Public Policy der Universität Chicago. Über ihn und seine Forschungen haben u.a. die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Zeit, The New York Times, The Washington Post, The Wall Street Journal und Financial Times berichtet.

Birthe Mühlhoff, geboren 1991, studierte Philosophie in Hamburg und Paris. Sie übersetzt aus dem Englischen und Französischen, zuletzt "Denken ohne Trost" von Deborah Nelson. Als freie Autorin schreibt sie unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, Zeit Online und diverse Zeitschriften.

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Christopher Blattman

Warum wir Kriege führen

Und wie wir sie beenden können

Aus dem Englischen von Birthe Mühlhoff

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

Einleitung

Warum wir über Gewalt sprechen müssen

Kriege sind die Ausnahme, nicht die Regel

Warum selbst die erbittertsten Rivalen im Zweifel für den Frieden sind

Fünf Ursachen von Krieg

I — Die Wurzeln des Krieges

1: Warum wir es nicht bis zum Krieg kommen lassen

Frieden besteht aus Strategie

Die fünf Ursachen von Krieg

2: Unkontrollierte Interessen

Das Problem mit Autokraten und Oligarchen

Die eher ruhmlosen Anfänge der Amerikanischen Revolution

Die Logik und Dynamik von unkontrollierten Privatinteressen

Kontrolle und Gewaltenteilung

3: Immaterielle Anreize

Gerechter Zorn

Wie immaterielle Anreize das Kriegsrisiko erhöhen

Ruhm und Status

Ideologie und Ablehnung von Kompromissen

Ergötzen sich Menschen an Gewalt?

Tückisches Terrain

4: Ungewissheit

Ungewissheit bezüglich der relativen Stärke

Ungewissheit und Täuschungsmanöver

Der eigene Ruf in einer Welt voller Kontrahenten

Die USA gegen Saddam Hussein

5: Selbstbindungsprobleme

Der große Krieg

Athen gegen Sparta

Das Selbstbindungsproblem

Massenmord und Genozid

Bürgerkriege

Zurück zum Irak

Die Realität widersetzt sich einfachen Narrativen

6: Wahrnehmungsfehler

Die Elemente schnellen Denkens

Wenn wir uns selbst falsch wahrnehmen: Selbstüberschätzung

Andere falsch einschätzen: Fehlprojektion und Fehldeutung

Gruppen beeinflussen, wie voreingenommen wir sind

Animositäten als Selbstläufer

Die fünf Wurzeln des Krieges – eine Zusammenfassung

II — Die Wege zum Frieden

7: Interdependenz

Interessenverflechtung

Wirtschaftliche Interdependenz

Vernetzung in der Gesellschaft

Verbunden durch Kultur und moralische Werte

8: Machtkontrolle und Machtteilung

Warum eine stabile Gesellschaft viele Zentren hat

Der polyzentrische Frieden

Der Weg zu einer stärker machtbeschränkten Gesellschaft

9: Regeln und ihre Durchsetzung

Der große Friedensbringer – der Staat

Anarchie und sich selbst durchsetzende Institutionen

Anarchie und Institutionen im internationalen Bereich

10: Interventionen

Krieg ist ein vertracktes Problem

Bestrafung

Durchsetzung von Regeln

Unterstützend eingreifen

Sozialisierung

Anreize setzen

11: Irrtümer über Krieg und Frieden

Frauen an die Macht?

Armut bekämpfen, um Konflikte zu unterbinden?

Weitere Irrtümer über Kriegsursachen

»Sollen sie es halt ausfechten«

Nachwort — Schritt für Schritt zu mehr Frieden

Die zehn Gebote der kleinschrittigen Friedenspolitik

1. Du sollst zwischen einfachen und vertrackten Problemen unterscheiden

2. Du sollst dein Herz nicht an große Pläne und vermeintliche Erfolgsmodelle hängen

3. Sei dir bewusst, dass jeder Eingriff in das öffentliche Leben eine politische Frage ist

4. Werte deine Erfolge aus

5. Finde deinen eigenen Weg, indem du viele ausprobierst

6. Lass die Möglichkeit zu scheitern zu

7. Du sollst dich in Geduld üben

8. Du sollst dir vernünftige Ziele setzen

9. Du sollst Rechenschaft ablegen

10. Finde deine Rolle

Anhang

Anmerkungen

Einleitung

1 Warum wir es nicht bis zum Krieg kommen lassen

2 Unkontrollierte Interessen

3 Immaterielle Anreize

4 Ungewissheit

5 Selbstbindungsprobleme

6 Wahrnehmungsfehler

7 Interdependenz

8 Machtkontrolle und Machtteilung

9 Regeln und ihre Durchsetzung

10 Interventionen

11 Irrtümer über Krieg und Frieden

Nachwort: Schritt für Schritt zu mehr Frieden

Literatur

Dank

Impressum

Dem Internetcafé an der Ecke Fifth Ngong Avenue/Bishops Road in Nairobi gewidmet (das es nicht mehr gibt).

Einleitung

Napoleon läutete ein drittes Mal an der Tür. »Ich weiß, dass wir hier richtig sind«, sagte er und drehte sich zu uns um. Ich stand auf dem Bürgersteig neben Charles, seinem Partner, und meiner Kollegin Megan. Megan und ich begleiteten das Duo an diesem Tag. Uns war anzusehen, dass wir nicht hierhergehörten.

Im Gegensatz zu uns waren Nap und Charles in der West Side von Chicago aufgewachsen. Beide waren in ihrer Jugend Anführer berüchtigter Gangs gewesen. Inzwischen kannten die meisten Leute in North Lawndale das grauhaarige Gespann jedoch wegen seiner unermüdlichen Streifzüge durch das Viertel, die es von einer dunklen Ecke zur nächsten und von der einen Veranda zu anderen führten. Man wusste, sie bemühten sich darum, junge Typen von der schiefen Bahn, von Drogenhandel und Gewalt, abzubringen, auf die sie selbst damals geraten waren. Typen wie Johnny, der offensichtlich nicht aufmachen wollte.

Johnny war der Boss der hiesigen Bande. Bande, Mafia, Clique – alte Hasen wie Nap schienen über ein ganzes Arsenal an Begriffen zu verfügen, mit denen sie die jungen Männer belegten, die in den Straßen von Lawndale mit Drogen und Munition handelten. Das einzige Wort, das Nap nie verwendete, war »Gang«. »Das sind keine Gangs«, sagte er kopfschüttelnd. »Wir waren organisiert, wir hatten Disziplin, wir hatten Regeln. Aber diese Kids ... keine Spur davon.« Die heutigen Banden waren kleiner, zerstrittener als die großen, geschlossenen kriminellen Strukturen, die einst schwarze Viertel wie Lawndale beherrschten. Klar, auf gewisse Weise machte Nap als alt gewordener Ex-Bandenführer hier nichts anderes, als über »die Jugend von heute« zu jammern, aber in seiner Tirade steckte auch ein Stück Wahrheit.

Es war ein warmer Herbsttag. Die ruhige Straße war von Bäumen gesäumt, deren Laub sich verfärbte, aber noch nicht begonnen hatte zu fallen, und so lag Schatten auf den Vortreppen der dreistöckigen Wohnhäuser. Ein paar junge Männer saßen draußen, unterhielten sich mit ihren Kollegen und behielten den Block im Auge. Ich war damals noch neu in Chicago, und der friedliche, grüne Häuserblock entsprach so gar nicht dem Bild eines kriminellen Viertels, das ich aus dem Fernsehen kannte. Aber das hier, so erzählte uns Nap, war das Heilige Land. Diese paar Blocks waren die Geburtsstätte einer der größten und einflussreichsten Straßenbanden in der amerikanischen Geschichte, den Vice Lords.

Etwas weiter die Straße herunter musterten einige junge Männer von ihren Veranden aus den Anblick, der sich ihnen bot: eine kleine Truppe mit Warnwesten über der Alltagskleidung. Fremde waren ungewöhnlich im Heiligen Land. Und dann klopften wir auch noch an die Tür des Anführers.

Die meisten Leute hätten Johnny wohl inzwischen abgeschrieben, aber es hat seine Gründe, wenn ich Nap und Charles als unermüdlich bezeichne. »Hey! Weiß einer von euch, wo Johnny ist?«, raunzte Charles und ging geradewegs auf die nächste Rotte junger Männer zu.

Überall in der Stadt jagten Sozialarbeiter wie Nap und Charles vielen Johnnys hinterher – es waren jene eintausend Männer, bei denen wir es für am wahrscheinlichsten hielten, dass sie irgendwann in den kommenden Monaten den Abzug drücken würden. Im Jahr zuvor, 2016, war die Zahl der Morde in Chicago um erstaunliche 58 Prozent angestiegen. Nap und Charles standen für einen neuen Ansatz, um diese Zahlen zu senken.

Es hatte sich herumgesprochen, womit Nap und Charles dealten. »Seid ihr von diesem Programm?«, fragte einer der jungen Männer. Er entspannte sich augenblicklich, ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Das Programm versprach eine Brücke in ein neues Leben: achtzehn Monate lang einen richtigen Job mit Gehaltsscheck, plus etwa zehn Stunden Verhaltenstherapie pro Woche. Der Job war das, was ihn am meisten interessierte. »Was muss ich tun, um reinzukommen?«, fragte ein anderer.

Gerade als Nap seinen üblichen Sermon vom Stapel lassen wollte, schwang Johnnys Tür auf. Ein kleiner, selbstbewusster Typ mit strahlenden Augen kam heraus. Er trug ein Super-Man-T-Shirt und eine eng anliegende schwarze Jogginghose. Schlank und gut gebaut, wie er war, sah man ihm an, dass er einmal Leichtathlet gewesen war. Ein kleines Mädchen, etwa zwei Jahre alt, folgte ihm nach draußen. »Entschuldigung«, sagte er, »wir haben geschlafen.«

Früher hatte Johnnys Bruder die Gang im Viertel angeführt, aber einen Monat zuvor war er von einer rivalisierenden Bande getötet worden. Jetzt war Johnny »Lil’ Chief«. Er musterte uns von oben bis unten: »Was gibt es denn?« Während seine Tochter mit ihrem Dreirad auf dem Bürgersteig auf und ab fuhr, skizzierten ihm Nap und Charles, wie ein neues Leben für ihn aussehen könnte. Wenn es ihnen gelänge, Johnny mit seiner Glaubwürdigkeit und seinem Charisma zu gewinnen, würden andere Männer folgen. Und sie hofften, das Programm würde das Risiko verringern, dass Johnnys Bande sich an den Rivalen rächte. Später sollte Nap sagen: »Habt ihr gesehen, wie sich die Jungs um ihn geschart haben?« Megan und ich nickten. »So sieht ein Chief aus.«

Als Lil’ Chief drei Wochen später nach einem Arbeitstag im neuen Job nach Hause ging, hielt ein Auto neben ihm. Sechzehn Kugeln trafen ihn in den rechten Arm, die Brust und die Beine. Zu seinem Glück zahlte sich jetzt das Leichtathletiktraining aus: Johnny schaffte es, zu einem Laden an der Straßenecke zu sprinten und sich in Sicherheit zu bringen. Dort blutete er den ganzen Fliesenboden voll, kam aber erstaunlicherweise mit dem Leben davon. Seinem ganz persönlichen Krieg entkam er nicht.

Warum? Warum liefern sich Gruppen junger Männer bewaffnete Fehden und bringen einander immer und immer wieder um? Was konnten ein paar alte Männer wie Nap und Charles, geschweige denn ein Außenseiter wie ich, dagegen ausrichten?

Ich hatte nicht damit gerechnet, mir solche Fragen jemals stellen geschweige denn sie beantworten zu müssen. Aber wenn man Gewalt in ihrer grausamen Enthemmtheit einmal hautnah miterlebt hat, lässt einen das Thema nicht mehr los. Selbst wenn man aus sicherer Position und mit dem Privileg der Distanz darauf schaut, verblasst alles andere in seiner Bedeutung. Genau das ist mir vor fast zwei Jahrzehnten zugestoßen.

Warum wir über Gewalt sprechen müssen

In der Zeit vor dem Krieg fuhr man in Norduganda über staubige Schotterpisten kilometerweit durch Gras, das höher war als man selbst. Wenn es regnete, waren die Halme grün, wenn nicht, dann braun. Endlos wogten sie über flache, ausgedörrte Ebenen, die nur von gelegentlichen Handelsposten oder Weiden unterbrochen wurden.

Die meisten Acholifamilien, von Beruf Bauern und Hirten, lebten inmitten ihrer Mais- und Viehfelder in Siedlungen aus Rundhütten mit glatten Lehmwänden und spitz zulaufenden Strohdächern. In diesem Teil des Landes, Acholiland, hatte es einst mehr Rinder als Menschen gegeben. Es muss wunderschön gewesen sein.

Als ich im Norden landete, war das Gras noch da, aber die Rinder, das Getreide und die malerischen Hütten waren längst verschwunden. Bald zwei Jahrzehnte lang hatte ein Bürgerkrieg gewütet. Die Angst vor Rebellen und die ugandische Armee hatten die Familien, fast zwei Millionen Menschen, in dicht bevölkerte Lager getrieben, die nur wenige Kilometer von ihrem leer gefegten und überwucherten Land entfernt lagen.

In den Lagern standen dieselben runden braunen Hütten mit denselben Strohdächern. Doch es war kein idyllischer Anblick mehr, bei dem sich Gehöfte inmitten von Grün und Vieh zu einem harmonischen Bild fügten, sondern Tausende und Abertausende von Hütten bedeckten die braune, kahle Erde und brieten in der Sonne vor sich hin. Sie waren so eng zusammengepfercht, dass man sich bücken musste, um zwischen den Dachvorsprüngen hindurchzukommen. Es waren Orte der Hoffnungslosigkeit.

Die Regierung hatte das Land geräumt und die Menschen in diese Elendssiedlungen gesteckt. Das erleichterte den Soldaten die Jagd auf Rebellen und erschwerte diesen den Diebstahl von Lebensmitteln und sonstigem Nachschub – eine klassische Strategie der Aufstandsbekämpfung. Gleichzeitig war es ein Kriegsverbrechen, da es Millionen von Menschen ihrer Lebensgrundlage und ihrer Freiheit beraubte.

Da die Familien ihr Land nicht bestellen durften, lebten sie mehr schlecht als recht von Bohnen und Mehl, die jede Woche säckeweise von der UNO geliefert wurden. Die Hüttentüren waren aus glänzenden, flach gehämmerten Blechdosen gefertigt, die alle die gleiche Aufschrift trugen: »Pflanzenöl. Kein Verkauf oder Tausch. Ein Geschenk des amerikanischen Volkes«.

Niemals hätte ich erwartet, dass es mich hierhin verschlagen würde. Ich war dreißig Jahre alt und Doktorand der Wirtschaftswissenschaften in Berkeley. Ökonomen hielten sich für gewöhnlich nicht in Kriegsgebieten und Flüchtlingslagern auf. Mein Prüfungskomitee war einstimmig der Meinung gewesen: »Spar dir das.« Und doch war ich hier. Was hatte ich hier zu suchen?

Meine Ausbildung lief darauf hinaus, Mitglied eines Völkchens zu werden, das sich in erster Linie für Einkünfte interessiert und dafür, wie sie sich steigern lassen. Diese Besessenheit hatte mich überhaupt erst nach Ostafrika gebracht. In Nairobi, einer friedlichen Stadt ein paar Hundert Meilen von Norduganda entfernt, wollte ich Industrie und Wirtschaftswachstum untersuchen. Der Krieg war von Nairobi aus gesehen unbedeutsam. Er war örtlich begrenzt, weit weg und daher leicht zu vernachlässigen. So ging ich, wie Millionen anderer Menschen in dieser geschäftigen Hauptstadt, meiner Arbeit nach, ohne etwas von der Tragödie mitzubekommen.

Das sollte sich jedoch ändern, als mich eines Tages beim Mittagessen ein Trickbetrüger in ein Gespräch verwickelte. Während er mich ablenkte, schnappte sich sein Kompagnon meinen Rucksack samt Laptop. Also verbrachte ich den Rest meines Aufenthalts zu großen Teilen in Internetcafés und kämpfte mit dem Schneckentempo des kenianischen Einwahlinternets. Sollte ich diesen Betrüger jemals wieder treffen, schulde ich ihm aus Dankbarkeit eine Umarmung.

Die Einwahl über das Telefonnetz bedeutete, dass jede einzelne E-Mail zehn quälende Minuten brauchte, um zu laden. Während dieser langen elektronischen Zwangspausen gab es nicht viel zu tun, und so kam man leicht mit den Leuten ins Gespräch, die an den anderen Computern saßen. Eines Tages wandte ich mich der Frau neben mir zu, und wir begannen zu plaudern.

Jeannie Annan war gerade von einem Einsatz in dem wenig beachteten Krieg in Norduganda zurückgekehrt. Die Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation und Psychologie-Doktorandin beäugte mich misstrauisch. Ich trug einen Anzug. Westler, die in Afrika Anzüge tragen, bringen selten etwas Gutes zustande. Aber ich schien mich für den Krieg zu interessieren und über die Geschehnisse grob informiert zu sein, was mehr war, als sie von den meisten Menschen, die sie traf, behaupten konnte. Also gab sie mir eine Chance.

Ein paar Monate später fuhr ich mit ihr zusammen über die trockenen, staubigen Straßen Nordugandas, staunte über die kilometerweite Graslandschaft und hoffte inständig, dass nicht plötzlich ein Rebellentrupp daraus hervorspringen würde. Zugegeben, hauptsächlich fuhr ich mit, weil ich an Jeannie interessiert war. Aber uns war auch eine Idee gekommen. Nach jahrzehntelangen Konflikten hatte niemand mehr einen Überblick über die konkreten Auswirkungen, die die Gewalt auf die jungen Männer und Frauen hatte, die vertrieben, beschossen und zwangsrekrutiert worden waren. Jeannie kannte sich mit dem Krieg und den psychologischen Folgen der Gewalt aus, während ich auf Ökonomie, Umfragen und Statistiken spezialisiert war. Also taten wir uns zusammen. Wir heuerten ein Team von Einheimischen an und verbrachten die nächsten zwei Jahre damit, die von den Kämpfen betroffenen Menschen zu befragen. Mit unserer Studie versuchten wir, den grausamen Tribut in Zahlen zu fassen, Programme zu entwickeln, die hilfreich sein könnten, und auszutesten, welche davon funktionierten. Die brutalen Kosten des Konflikts waren allenthalben zu sehen. Wir waren seine traurigen Buchhalter.

Ich hatte mich noch nicht in Jeannie verliebt, aber nach einem Monat in Norduganda war ich auf dem besten Wege dahin. Wir brachten das Projekt gemeinsam auf den Weg, schrieben unsere Dissertationen gemeinsam, machten hintereinander unseren Abschluss und fingen zeitgleich an, in Yale zu arbeiten. Heute sind wir seit fünfzehn Jahren verheiratet und können auf eine ordentliche Liste an Forschungsarbeiten zurückblicken. Besonders stolz sind wir jedoch auf eine elfjährige Tochter und einen neunjährigen Sohn.

Diese Zufallsbegegnung im Internetcafé gab auch meiner Karriere eine neue Richtung. In Norduganda lernte ich Gewalt kennen, die grausamer und erschreckender war, als ich es mir je hätte vorstellen können. Die jungen Männer und Frauen, die ich traf, erzählten mir so erschütternde Geschichten, dass ich gar nicht erst versuchen will, sie wiederzugeben. Ich kann ihnen nicht gerecht werden. Es waren einige der emotional belastendsten Monate in meinem Leben. Am Ende haben sie mich dazu gebracht, mein ganzes Denken auf den Prüfstand zu stellen.

Mir wurde damals und in den folgenden Jahren klar, dass der Erfolg einer Gesellschaft nicht nur daran gemessen werden kann, inwiefern sie ihren Wohlstand steigert. Es geht vielmehr schlicht und ergreifend darum, dass keine Rebellengruppe deine elfjährige Tochter verschleppt und versklavt. Es geht darum, dass man vor seinem Haus sitzen kann, ohne Angst haben zu müssen, dass man aus einem vorbeifahrenden Auto heraus erschossen wird oder aus Versehen eine Kugel abbekommt. Es geht darum, dass man zur Polizei, vor Gericht oder zum Bürgermeister gehen kann und dort wenigstens einen Hauch von Gerechtigkeit erfährt. Es geht darum, dass die Regierung dich nicht einfach von deinem Land vertreiben und in ein Konzentrationslager stecken darf. Der Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen nennt ebendiese Entwicklung Freiheit. Es ist schwer vorstellbar, dass es etwas Wichtigeres gibt, als ein Leben führen zu können, das nicht von Gewalt bestimmt wird.

Gewalt macht uns übrigens auch arm. Nichts zerfrisst den Wohlstand so sehr wie ein Konflikt, der die Wirtschaft zerstört, die Infrastruktur vernichtet oder eine ganze Generation aus dem Leben reißt, verwundet, traumatisiert und um Jahre zurückwirft.1 Krieg untergräbt das Wirtschaftswachstum auch auf indirekte Weise. Die meisten Menschen und Unternehmen werden die grundlegenden Dinge, welche die Entwicklung einer Gesellschaft voranbringen, nicht anpacken, wenn sie jederzeit mit Bombenangriffen, ethnischen »Säuberungen« oder Willkürjustiz rechnen müssen. Sie spezialisieren sich nicht auf bestimmte Tätigkeiten, treiben keinen Handel, investieren ihr Vermögen nicht und entwickeln keine neuen Techniken und Ideen. Das gilt auch für Städte wie Chicago, wo die vielen Schießereien die Bevölkerung jedes Jahr wahrscheinlich ein paar Hundert Millionen Dollar kosten. Der Wirtschaftswissenschaftler und Moralphilosoph Adam Smith hat dies bereits vor über zweieinhalb Jahrhunderten auf den Punkt gebracht: »Um einen Staat von der niedrigsten Barbarei zum höchsten Grad des Reichtums zu führen«, schrieb er 1755, »bedarf es nur wenig, außer Frieden, erträgliche Besteuerung und angemessene Rechtsprechung.«2

Ich sagte mir: Wenn mir Wohlstand, Gleichheit vor dem Gesetz und Gerechtigkeit am Herzen liegen, muss ich mich auch mit Krieg beschäftigen.

Lassen Sie mich präzisieren, worum es mir geht, wenn ich von Krieg spreche. Ich meine damit nicht nur den Krieg zwischen Staaten, sondern jede Art von langwierigem, gewaltsamem Kampf zwischen Menschengruppen: zwischen Dörfern, Clans, Banden, ethnischen Gruppen und religiösen Konfessionen, politischen Lagern und letztlich auch Nationen. So unterschiedlich solche Auseinandersetzungen auch sein mögen, ihre Ursprünge ähneln sich. Konkret widmet sich dieses Buch den Konflikten zwischen nordirischen Fanatikern, kolumbianischen Kartellen, europäischen Tyrannen, liberianischen Rebellen, griechischen Stadtstaaten, Chicagoer Gangs, indischen Mobs, den Beteiligten am Völkermord in Ruanda, englischen Fußball-Hooligans und dem amerikanischen Einmarsch in den Irak.

Manche Menschen hören von den Kämpfen in North Lawndale oder Norduganda und denken: »Oh, da passiert wieder das Übliche«, oder: »Meine Gesellschaft hat das längst hinter sich«, oder einfach: »Bei uns läuft das anders«. Aber das ist falsch. Sicherlich gibt es große Unterschiede zwischen verschiedenen Stufen der Gewalt und auch zwischen verschiedenen Gesellschaften. Aber selbst wenn Sie zu den Menschen gehören, die dieses Buch gemütlich in einem wohlhabenden und friedlichen Land lesen können, wird sich zeigen, dass die Logik, die den Auseinandersetzungen am anderen Ende der Welt zugrunde liegt, auch die unruhigen Zeiten in der Vergangenheit Ihres eigenen Landes erklärt. Die Menschen, die heute in Kriege oder Fehden verwickelt sind, unterscheiden sich von Ihnen gar nicht so sehr. Die Logik, von der ich rede, erklärt auch, warum Ihre Regierung (oder deren Verbündete) immer noch andere Staaten angreift. Mein Ziel ist es, einen Interpretationsrahmen zu geben, mittels dessen die grundlegenden Kräfte verständlich werden, die in diese menschengemachten Katastrophen führen.3

Das klingt erst einmal nach einem recht umfangreichen Programm, aber ich werde nicht einfach jede Art von Wettbewerb unter die Lupe nehmen. Als ich sagte, Krieg sei ein langwieriger, gewaltsamer Kampf zwischen Menschengruppen, habe ich meine Worte mit Bedacht gewählt. Erster Punkt: langwierig. Langwierige Kämpfe sind etwas anderes als vorübergehende Scharmützel. Kurz aufflackernde und tödliche Auseinandersetzungen sind selbstverständlich nicht außer Acht zu lassen, doch sie lassen sich gut durch spezifische Eigenheiten oder kurzzeitige Fehleinschätzungen erklären. Die interessantere Fragestellung ist, warum verfeindete Menschen Jahre oder sogar Jahrzehnte damit verbringen, einander gegenseitig Schaden zuzufügen – und oft auch den Gegenständen, um die sie sich streiten.

Der zweite Schlüsselbegriff ist Menschengruppen. Auch Individuen kämpfen manchmal miteinander, aber ein Großteil dieser zwischenmenschlichen Gewalt besteht aus impulsiven Reaktionen und ist von kurzer Dauer. Ein Buch zu diesem Thema würde sich wohl mit den Eigenschaften befassen, die wir von unseren evolutionären Vorfahren geerbt haben, mit dem tief verwurzelten Kampf- und Fluchtinstinkt und der Fähigkeit, Mitglieder der eigenen Gruppe im Handumdrehen zu identifizieren. In Kriegen, also lang andauernden Kämpfen, kommt solchen Reaktionen nicht mehr so große Bedeutung zu. Unsere Reflexe spielen zwar, wie wir sehen werden, immer noch eine nicht zu unterschätzende Rolle. Aber große Gruppierungen verhalten sich eher abwägend und strategisch. Das bedeutet, dass ich nur dann über das Verhalten einzelner Menschen sprechen werde, die einander diskriminieren, verprügeln, lynchen oder töten, wenn uns das etwas über das Verhalten größerer Gruppen verrät.4

Das letzte entscheidende Wort ist gewalttätig. Es ist normal, dass Gruppierungen erbittert miteinander konkurrieren. Es ist jedoch ein weitverbreiteter Denkfehler, dass sich intensive, ja feindselige Konkurrenz aus denselben Ursachen speist, aus denen die Rivalität in Gewalt umschlägt. Solch eine Konkurrenz ist normal, aber anhaltende Gewalt zwischen Gruppen ist es nicht. Kriege dürfte es eigentlich nicht geben – und die meiste Zeit gibt es sie auch nicht.

Kriege sind die Ausnahme, nicht die Regel

Selbst die erbittertsten Feinde bevorzugen einen Umgang miteinander, bei dem sie zwar vielleicht mit ihrer Verachtung nicht hinter dem Berg halten, der aber dennoch friedlich bleibt. Das gerät nur allzu leicht in Vergessenheit. Denn die tatsächlich stattfindenden Kriege wie in Norduganda oder North Lawndale ziehen unsere gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Das spiegelt sich auch in den Nachrichten und den Geschichtsbüchern – sie interessieren sich vor allem für die wenigen gewalttätigen Kämpfe, die es gibt. Kaum jemand schreibt Bücher über die unzähligen Konflikte, die abgewendet wurden. Doch genau wie angehende Ärzte über ihre Untersuchung von unheilbar Kranken nicht die Tatsache vergessen sollten, dass die meisten Menschen bei bester Gesundheit sind, sollten wir uns nicht nur mit den Konflikten befassen, in denen es heiß hergeht.

Dieses Buch möchte ein Gegengewicht zu dieser verzerrten Wahrnehmung sein, denn sie entspricht einfach nicht der Realität. Nehmen wir zum Beispiel ethnische und religiöse Gewalt. In Gegenden, in denen Unruhen und »Säuberungen« angeblich endemisch sind – in Osteuropa, Zentralasien, Südasien und Afrika –, haben Politikwissenschaftler sämtliche ethnischen und konfessionellen Gruppen aufgelistet. Unter diesen machten sie diejenigen aus, die sich nahe genug stehen, um miteinander zu konkurrieren, und ermittelten dann die Anzahl derer, die sich tatsächlich bekämpften. In Afrika kamen sie auf etwa einen größeren Fall von ethnischer Gewalt pro Jahr unter zweitausend potenziellen Fällen. In Indien fanden sie weniger als eine Ausschreitung im Jahr pro zehn Millionen Menschen und eine Sterberate von höchstens sechzehn pro zehn Millionen. (Zum Vergleich: Sechzehn von hunderttausend ist eine moderate Mordrate in einer US-amerikanischen Großstadt – ein Wert, der also hundertmal höher ist als die Sterberate bei religiösen Unruhen in Indien.) Auch wenn zwischen diesen Zahlen kein direkter Zusammenhang besteht, so wird doch deutlich, dass die meisten Gruppierungen, selbst zutiefst verfeindete, Seite an Seite leben, ohne sich zu bekämpfen. Feinde ziehen es vor, einander in Frieden zu verabscheuen.5

Dasselbe können wir auch auf internationaler Ebene beobachten. Es gab die jahrzehntelange Konfrontation zwischen den Amerikanern und den Sowjets, die es schafften, Europa (bzw. die ganze Welt) in zwei Einflusssphären aufzuteilen, ohne sich gegenseitig dem Erdboden gleichzumachen. Zwischen Pakistan und Indien besteht eine scheinbar ewige Pattsituation, Nord- und Südkorea stecken in einer politischen Sackgasse fest, und die Lage im Südchinesischen Meer ist permanent angespannt. Es gab den überstürzten, aber friedlichen Rückzug Frankreichs und Englands aus ihren afrikanischen Kolonien, sobald klar war, dass ein Unabhängigkeitskampf vor der Tür stand, sowie den gewaltlosen Rückzug der Sowjetunion aus Osteuropa. Und dann sind da noch die tief in politische Lager gespaltenen Gesellschaften. Ideologisch oder durch Klassenunterschiede polarisiert und voller Wut aufeinander, messen sie sich dennoch eher auf dem Parkett von Parlamenten als auf Schlachtfeldern.

Irgendwie neigen wir dazu, diese Tatsachen aus den Augen zu verlieren. Wir schreiben regalmeterweise Bücher über große Kriege und übersehen den eher unscheinbaren Frieden überall. Die blutigen Spektakel, die schockierendsten Ereignisse fesseln unsere ganze Aufmerksamkeit. Die Momente der Ruhe, in denen Kompromisse ausgehandelt werden, geraten hingegen, wenn sie überhaupt registriert werden, schnell in Vergessenheit.6

Dass wir uns auf Misserfolge konzentrieren, ist eine Wirklichkeitsverzerrung durch selektive Wahrnehmung, ein logischer Fehler, für den wir alle anfällig sind. Er hat zwei entscheidende Konsequenzen. Zum einen halten wir Gewalt für verbreiteter, als sie ist. Man hört dann Dinge wie »Es gibt so viele Konflikte in der Welt« oder »Krieg liegt in der Natur des Menschen« oder »eine bewaffnete Konfrontation zwischen [hier zwei beliebige Großmächte einfügen] ist unvermeidlich«. Keine dieser Aussagen ist wahr.

Doch all die nicht ausgetragenen Konflikte zu ignorieren, hat noch eine andere Konsequenz, die weitaus verhängnisvoller ist: Wir verstehen nicht, warum Kriege ausbrechen und welche Wege zum Frieden führen. Konzentriert man sich allein auf die Zeiten, in denen der Frieden nicht gehalten hat, und schaut sich dann die Umstände und Ereignisse an, die vermeintlich zum Gewaltausbruch geführt haben, stößt man immer wieder auf ein vertrautes Bild: Man findet rücksichtslose Anführer, historisches Unrecht, bittere Armut, wütende junge Männer, billige Waffen und Katastrophen. Krieg scheint das unausweichliche Ergebnis dieser Gemengelage zu sein. Dabei wird übersehen, wie oft Konflikte selbst dann abgewendet werden, wenn alle diese Umstände gegeben sind. Würde man mit derselben Sorgfalt die Zeiten untersuchen, in denen zwischen den Rivalen keine Gewalt ausbricht, stieße man oftmals auf dieselben Ausgangsbedingungen. All diese sogenannten Kriegsursachen sind nichts anderes als alltägliche Realität. Lang anhaltende Gewalt jedoch ist nicht alltäglich. Umstände, die sowohl bei Ausbruch eines Krieges, das heißt bei Misserfolg von Verhandlungen, als auch im Frieden, das heißt bei Erfolg, gegeben sind, können wir wohl kaum als »Kriegsursachen« gelten lassen.

Ein berühmtes Beispiel für selektive Wahrnehmungsverzerrung stammt aus dem Zweiten Weltkrieg. Wenn amerikanische Kampfflugzeuge von ihren Einsätzen über deutschen Stellungen zurückkehrten, waren sie mit Einschusslöchern entlang des Rumpfes und der Tragflächen übersät. Also wies das US-Militär seine Ingenieure an, diese Teile des Flugzeugs stärker zu panzern. Ein Statistiker namens Abraham Wald erhob Einspruch. Er war der Ansicht, die Ingenieure sollten genau das Gegenteil tun: die Motoren und das Cockpit verstärken – also ausgerechnet die Teile, an denen die zurückkehrenden Flugzeuge keinerlei Schäden aufwiesen. Denn er hatte etwas Entscheidendes gefolgert: Wenn die Flugzeuge dort keine Einschusslöcher aufwiesen, dann mussten sich an den Flugzeugen, die nicht zurückgekehrt waren, welche befinden. Es waren die Treffer auf Cockpit und Triebwerke gewesen, die diese Flugzeuge zum Absturz brachten. Aus diesem Grund gab es unter den zurückgekehrten Bombern keine, die an diesen Flugzeugteilen beschädigt waren. Das Militär konzentrierte sich fälschlicherweise auf eine selektive Stichprobe und schätzte so die Ursachen des Versagens falsch ein. Solche Fehler mögen im Nachhinein offensichtlich erscheinen, und doch tappen wir alle immer wieder in diese Falle.

Das US-Militär sah sich nur die erfolgreichen Exemplare an – ein Selektionsproblem, das Survivorship Bias genannt wird, da nur »die Überlebenden« in Augenschein genommen werden. Wenn es um Krieg geht, neigen wir zu einer gegenteiligen Selektion: Wir schenken den Zeiten des Misserfolgs, in denen der Frieden nicht hält, zu viel Beachtung. Das ist, als würden sich die Ingenieure vom US-Militär nur die abgestürzten Bomber ansehen. Deren Wracks sind von vorn bis hinten mit Einschusslöchern übersät. Schauen wir uns nur sie an, ist es schwer auszumachen, welche Treffer überhaupt verhängnisvoll waren, weil wir sie nicht mit den Flugzeugen vergleichen, die trotz Beschuss zurückgekehrt sind. Das Gleiche passiert, wenn man einen Krieg bis zu seinen sogenannten Wurzeln zurückverfolgt. In der Geschichte jeder Rivalität wird man Einschusslöcher finden: Armut, Missstände, Waffen. Aber die Menschen, die darunter zu leiden haben, greifen selten zu Gewalt, die meisten armen, jungen Unzufriedenen rebellieren nicht, und selbst die am schwersten bewaffneten Gruppen ziehen einen kalten Krieg einem heißen vor.

Um die wahren Wurzeln kriegerischer Auseinandersetzungen zu finden, müssen wir uns die Konkurrenzsituationen ansehen, die friedlich bleiben. Mit friedlich meine ich nicht, dass sie glücklich und harmonisch sind. Rivalisierende Gruppen können einander feindselig und voller Kampfeslust gegenüberstehen. Das Verhältnis mag extrem polarisiert sein. Die Gruppenmitglieder sind oft schwer bewaffnet. Sie diffamieren und bedrohen sich gegenseitig und stellen ostentativ ihre Waffen zur Schau. Das alles ist normal. Blutvergießen und Zerstörung hingegen sind nicht normal.

Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch Ihre Sinne schärft. Wenn Sie das nächste Mal eine Zeitung oder ein Sachbuch in die Hand nehmen, werden Sie inmitten all der grellen Farben und der geschilderten Kriegstreiberei ein Auge haben für die Politiker und Politikerinnen, die unermüdlich Reden halten und auf Versöhnung drängen. Ihnen werden in den Nachrichten Kontrahenten auffallen, die sich eine oder zwei Wochen lang mit Raketen beschießen und dann die Feindseligkeiten einstellen. Sie werden in Märchen und Sagen von Beratern hören, die ihrem Herrscher ins Ohr flüstern: »Frieden, Majestät.« Sie werden sehen, wie altgediente Generäle die unerfahrenen und enthusiastischen Offiziere an das Elend erinnern, das auf sie wartet. Am leichtesten zu erkennen sind die Kämmerer und anderen Hüter des Geldbeutels, die nüchtern darauf hinweisen, dass man sich einen Krieg einfach nicht leisten kann. Das Leid und die Kosten bewegen die meisten Konkurrenten zu Kompromissen.

Warum selbst die erbittertsten Rivalen im Zweifel für den Frieden sind

Die Stimmen, die zum Frieden raten, setzen sich meist aus einem einfachen Grund durch: Krieg ist ruinös. Er massakriert Soldaten, tötet Zivilisten, hungert Städte aus, plündert Vorräte, zerrüttet Handelsbeziehungen, zerstört die Industrie und lässt Regierungen zerbrechen. In seinem Traktat Die Kunst des Krieges schrieb der chinesische General Sun Tzu bereits vor etwa zweitausendfünfhundert Jahren treffend: »Es hat noch nie einen langwierigen Krieg gegeben, aus dem ein Land Nutzen gezogen hat.« Selbst die erbittertsten Feinde wissen, was sie sich mit einer bewaffneten Auseinandersetzung einhandeln. Die Kosten sind horrend. Deshalb ist den Gegnern daran gelegen, sich zu arrangieren und Risiken und Zerstörung gering zu halten. Im Eifer des Augenblicks kommt es zu einmaligen Gewaltausbrüchen und tödlichen Scharmützeln. Doch dann setzen sich die kühleren Köpfe durch.

Diese kühleren Köpfe suchen nach einem möglichen Kompromiss. Winston Churchill soll gesagt haben: »Reden, reden, reden ist besser als Krieg.« Für jeden Krieg in der Geschichte der Menschheit wurden tausend andere durch Gespräche und Kompromisse abgewendet. Verhandeln und Kämpfen sind zwei alternative Wege, um zu bekommen, was man will. Das meinte der chinesische kommunistische Diktator Mao Zedong 1938, als er sagte: »Politik ist Krieg ohne Blutvergießen – Krieg ist Politik mit Blutvergießen.« Mao griff damit ein Diktum des preußischen Generals Carl von Clausewitz auf, der ein Jahrhundert zuvor statuiert hatte, dass »Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« ist.

Doch wir dürfen nicht unterschlagen, dass die eine der beiden Strategien verheerend ist, die andere nicht. Die Devise »Kompromiss oder Kampf« stellt die Rivalen vor die Wahl: Entweder sie teilen sich eine unbeschädigte Beute friedlich auf, oder sie nehmen enorme Kosten in Kauf, um sich die geschrumpften, ramponierten Überreste zu sichern. Aufgrund der schieren Zerstörungskraft des Krieges ist es für beide Seiten fast immer vorteilhafter, eine friedliche Lösung zu finden, als in den Krieg zu ziehen.

Deshalb haben sich im Laufe der Geschichte die meisten Feinde für den friedlichen Weg entschieden. Vor siebentausend Jahren zum Beispiel zahlten die sesshaften Gesellschaften regelmäßig eine Abgabe an die sogenannten Barbaren – nomadisch lebende Gesellschaften berittener, kampferprobter Hirten –, um ihre Städte vor der Plünderung zu bewahren. In ähnlicher Weise gaben die meisten Imperien, von denen wir Kenntnis haben, schwächeren Staaten und Völkern die Option, sich selbst zu unterwerfen und einen Tribut zu zahlen, anstatt unterworfen zu werden. In kleinen Städten und Dörfern zahlte der Clan eines Mörders eine Entschädigung an die Familie des Opfers, um den Kreislauf von Vergeltung und Fehden zu durchbrechen. Sie hatten erkannt, dass Kompensation besser ist als Krieg.

Oder denken Sie an die jahrhundertelangen Kämpfe zwischen dem europäischen Adel und den normalen Leuten. Wenn die Entwicklung von Waffentechnik, Landwirtschaft oder Demografie der Landbevölkerung in die Hände spielte und die Massen reicher wurden und mehr Rechte forderten, standen die Aristokraten vor der Wahl: kämpfen oder nachgeben. Die Historiker interessieren sich vor allem für die großen Bauernaufstände – das waren die wenigen Male, in denen die Aristokraten nicht bereit waren, klein beizugeben. Häufiger jedoch gaben die Eliten einige Privilegien auf, indem sie etwa den mächtig gewordenen Kaufleuten das Wahlrecht einräumten, die Pacht für die lästigsten Landarbeiter reduzierten oder Brot an die aufbegehrenden Stadtbewohner verteilten. Die langsame Demokratisierung Europas bestand aus einer langen Reihe von Revolutionen ohne Aufruhr.

Auch ganze Länder beschwichtigen lieber, als Krieg zu führen. Bevor sich die nationalen Grenzen vor fast anderthalb Jahrhunderten verfestigten, kauften aufstrebende Nationen regelmäßig Gebiete oder nahmen sie in Besitz, ohne dass ein Schuss fiel, während die schwächeren Mächte sich stillschweigend fügten. Die europäischen Mächte versuchten beispielsweise, Kriege um Kolonien zu vermeiden, und so hielt eine winzige Gruppe von Monarchen Kongresse ab, um Osteuropa, Afrika und andere Grenzgebiete in aller Ruhe aufzuteilen. Die aufstrebenden USA kauften Alaska von Russland und einen großen Teil des Mittleren Westens von Frankreich und versuchten sogar, Spanien Kuba abzukaufen, anstatt die Insel gewaltsam zu annektieren.

Heutige territoriale Zugeständnisse sind in der Regel subtiler: Es geht um Rechte an Erdölvorkommen, darum, wer ein Wasserkraftwerk am Nil bauen darf oder wer das Südchinesische Meer kontrolliert. Die meisten wichtigen Verhandlungspunkte betreffen nicht einmal Landfragen. Hegemonialmächte wie die USA, Russland oder China nehmen schwächere Staaten in den Schwitzkasten, damit diese ihre Waffenprogramme einschränken, einen gewissen politischen Kurs unterstützen oder ein Gesetz ändern. Bewaffneter Widerstand ist für deren Regierungen selten die beste Antwort, egal wie ungerecht das internationale System auch sein mag. Wenn es indes zu Machtverschiebungen innerhalb von Ländern kommt, finden die politischen Gruppierungen dort raffinierte Wege, um Einflussmöglichkeiten neu zu verteilen. Mächtige Minderheiten bekommen auf diese Weise eine überproportionale Anzahl von Parlamentssitzen oder besondere Vetorechte garantiert. Auf allen diesen Ebenen findet ein friedlicher Handel statt.

Leider bedeutet Frieden nicht automatisch Gleichheit oder Gerechtigkeit. Wie so viele dieser Beispiele zeigen, kann eine Seite, die die größere Verhandlungsmacht hat, in der Regel davon ausgehen, dass sie die Bedingungen des Deals diktiert. Der schwächere Rivale mag sich über seinen geringen Anteil an Einfluss und Beute ärgern, aber er wird sich fügen. Die Welt ist voll von solchen himmelschreienden, aber friedlichen Ungerechtigkeiten: Es gibt jede Menge ethnische Minderheiten, die das Militär und die Regierung kontrollieren und über die Mehrheit herrschen; in vielen aristokratischen Gesellschaften ist der gesamte Landbesitz und die ganze Wirtschaft in den Händen Weniger konzentriert, sodass den Bauern kaum etwas bleibt; und die militärischen Supermächte schreiben den anderen Ländern die Weltordnung vor. Für die meisten Underdogs sind die Kosten und Risiken einer Revolution zu hoch. So ungerecht es auch sein mag, es ist für sie nicht sinnvoll, sich gewaltsam aufzulehnen.

Der Kompromiss ist die Regel, denn meistens verhalten sich Gruppen strategisch. Ähnlich wie Poker- oder Schachspieler versuchen Menschengruppen, vorausschauend zu denken, die Stärken und die Pläne ihrer Gegner einzuschätzen und ihre Handlungen danach auszurichten. Natürlich sind sie dabei nicht unfehlbar. Ihnen unterlaufen Irrtümer, oder es mangelt ihnen an Informationen. Aber es zahlt sich für sie aus, wenn sie alles daransetzen, strategisch vorzugehen.

Die Wissenschaft, die sich mit Strategie befasst, nennt sich Spieltheorie. Sie berechnet, wie sich eine Seite verhalten wird, je nachdem, welche Annahmen sie darüber hat, was die gegnerische Seite im Schilde führt. Vom ersten Kapitel an werden wir in verschiedenen Konstellationen immer wieder die strategische Entscheidung »Kompromiss oder Kampf« durchspielen. Wir vertrauen jedoch nicht blindlings auf die Spieltheorie. Manche Leute entwickeln ausgehend von deren Modellen ein unrealistisches Bild des vernunftbegabten Menschen – des Homo oeconomicus. In diesem Buch interessieren wir uns hingegen für unsere Spezies, weil sie es entgegen jeder Vernunft immer noch schafft, schrecklich gewalttätig zu sein (was auch daran liegt, dass der Kampf unter bestimmten Umständen die beste Strategie sein kann). Aber Gruppen und ihre Anführer agieren bei Weitem nicht immer logisch oder allwissend, und Menschengruppen vertreten auch selten kohärente Überzeugungen, die von ihren politischen Vertretern getreu verkörpert werden. Dies ist also auch ein Buch über den Homo Unvernünftikus und den Homo Selbstgerechtikus und andere menschliche Typen, die von Historikern, Psychologen, Biologen und Soziologen alle naselang postuliert werden. Kapitel für Kapitel werden wir sie alle kennenlernen. Unser einfaches Strategiespiel bleibt dabei unser Bezugsrahmen, weil sich mit gewisser Sicherheit sagen lässt, dass die meisten Menschengruppen, ganz gleich, welche Typen man in ihnen erkennen mag, primär das tun, was in ihrem Interesse liegt.

Fünf Ursachen von Krieg

Warum also bekriegen wir uns? Jetzt, da wir über strategisches Begriffswerkzeug verfügen und nicht mehr den Verzerrungen durch selektive Wahrnehmung auf den Leim gehen, können wir noch einmal anders an diese Frage herangehen. Um es kurz zu machen: Bricht ein Krieg aus, muss irgendetwas die normalen Anreize für die Kompromissfindung gestört und die Kontrahenten dazu gebracht haben, von der üblichen, durchaus hitzigen politischen Auseinandersetzung zum Blutvergießen überzugehen. Glücklicherweise sind die logischen Mechanismen, die Politik zum Scheitern bringen können, zahlenmäßig begrenzt. Es gibt fünf davon, und der erste Teil des Buches widmet ihnen jeweils ein Kapitel. Jeder der fünf Mechanismen untergräbt auf eine bestimmte Art die Anreize zur Kompromissfindung.

Der erste Mechanismus ergibt sich aus unkontrollierten Interessen. Eigentlich bilden die hohen Kriegskosten den Hauptanreiz für den Frieden. Doch wenn die Personen, die über einen Krieg entscheiden, dem Rest ihrer Gruppe gegenüber keine Rechenschaft schuldig sind, können sie die Kosten von Kampfhandlungen und das damit verbundene Leid ungestraft ausblenden. Solche Anführer werden ihre Gruppe zu oft in den Krieg führen. Manchmal erhoffen sie sich persönliche Vorteile von einem Krieg und brechen ihn deshalb vom Zaun. In der Geschichte der Menschheit waren es vor allem Herrscher, die keiner Kontrolle unterlagen, die sich als die größten Kriegstreiber herausstellten.

Die zweite Ursache für den Ausbruch von Kriegen sind immaterielle Anreize. Es gibt Zeiten, in denen die Ausübung von Gewalt etwas Wertvolles verheißt, nämlich zum Beispiel Rache, Status oder Dominanz. In anderen Fällen ist Gewalt der einzige Weg zu einem gerechten Ziel – die Ehre Gottes, die Freiheit oder das Ende von Ungerechtigkeit. Für manche Gruppen können diese geistigen Werte das Leid und die Verluste, die Kriege mit sich bringen, wettmachen. Die immateriellen Anreize stehen dann einer nüchternen Abwägung der Kriegskosten und der Bereitschaft zum Kompromiss entgegen.

Die dritte Art, wie Verhandlungen scheitern, hat mit Ungewissheit zu tun. Wenn Sie beim Poker schon einmal geblufft haben, haben Sie sich diese Logik selbst schon einmal zunutze gemacht. Sie kennen die Karten Ihrer Gegner nicht, aber Sie wissen, dass diese ein Interesse haben, Sie zu täuschen. Es wäre natürlich blöd, wenn Sie deswegen jedes Mal gleich die Segel streichen würden. Im Krieg ist es genauso: Man weiß nicht, wie stark oder entschlossen der Gegner ist, und auch er kann bluffen. Manchmal muss man also mitgehen. Weil Sie nicht über dieselben Informationen verfügen wie Ihre Gegner, ist Angriff manchmal die beste Strategie, selbst wenn Kämpfen an sich Nachteile mit sich bringt.

Der vierte Punkt ist das sogenannte Selbstbindungsproblem. Wenn Ihr Rivale an Macht gewinnt, ist es normalerweise am sinnvollsten, gewisse Abstriche hinzunehmen. Was aber, wenn man noch vor dem Aufstieg des Gegners Wind davon bekommt, dass er an Stärke gewinnt? Dann könnte man zuschlagen, solange man noch stark genug ist, und so den eigenen Niedergang abwenden. Wenn die sich abzeichnende Machtverschiebung sehr groß ist, kann die Versuchung, zum Angriff überzugehen, geradezu unwiderstehlich sein. Was könnte Ihr Feind Ihnen denn anbieten, damit Sie es nicht tun? Dass er seinen neu gewonnenen Einfluss nicht ausnutzen wird, sobald er stark ist? Dazu kann er sich nicht verpflichten, und das wissen Sie beide. Es ist ein Selbstbindungsproblem – Sie würden beide eine politische Einigung vorziehen, welche die Verheerungen eines Krieges vermeidet, aber keine Abmachung erscheint glaubwürdig.

Fünftens und letztens behindern unsere Wahrnehmungsfehler die Kompromissfindung. Wir sind übermäßig selbstbewusste Wesen. Wir gehen davon aus, dass andere genauso denken wie wir, das gut finden, was wir gut finden, und die Welt auf dieselbe Weise sehen. Allerdings verteufeln wir unsere Feinde auch und schreiben ihnen die schlimmsten Motive zu. Selbst wenn wir uns zu großen Gemeinschaften zusammenfinden, halten wir – gemeinsam – an allen möglichen falschen Überzeugungen fest. All das beeinträchtigt unsere Fähigkeit, eine Übereinkunft zu finden, der wir und unsere Feinde zustimmen können. Konkurrenzverhalten und Konfliktsituationen verschärfen diese Wahrnehmungsfehler noch.

Selbst wenn diese fünf Mechanismen überzeugend klingen, sind Sie vielleicht immer noch skeptisch, ob sie allein ausreichen, um Kriege zu erklären. Es mag zwar so aussehen, als gäbe es für jeden Krieg einen ganz bestimmten Grund und für jeden Grund einen daraus resultierenden Krieg. Aber meistens stecken hinter den jeweiligen Erklärungen für den Ausbruch eines Krieges nichts anderes als diese fünf Mechanismen. Dieses Buch will vermitteln, wie man sie erkennt.

Begreifen Sie die fünf Punkte daher bitte nicht als eine neue Kriegstheorie, die auf einmal andere Theorien ersetzt. Ich sage nicht: »Diesen fünf Kriegsursachen sind die einzig wahren, alle anderen Autoren vor mir lagen falsch.« Betrachten Sie die fünf Dynamiken, die Kompromissbereitschaft untergraben, vielmehr als eine Typologie – als eine Möglichkeit, eine neue Ordnung in die Unmenge an Theorien und Denkschulen zu bringen, die es bereits gibt.

Ich möchte außerdem aufzeigen, dass wir uns nicht auf die eine oder andere Fachrichtung oder auf eine einzige Kriegstheorie festlegen müssen. In den fünf Ursachen stecken, auf eine Perspektive heruntergebrochen, die Forschungsergebnisse von Tausenden von Wirtschaftswissenschaftlern, Politologen, Soziologen, Psychologen und politischen Entscheidungsträgern.7

Schlussendlich werden wir sehen, dass die fünf Mechanismen nicht losgelöst voneinander vorkommen, sondern sich gegenseitig verstärken – was tragisch ist, weil sie in Summe den Frieden umso brüchiger machen. Denn abgesehen von äußerst wenigen Fällen, hat Krieg niemals nur eine Ursache. Die verschiedenen Gründe summieren sich und entfalten Wechselwirkungen. Unverantwortliche Führungsriegen, immaterielle Beweggründe, Ungewissheit, Selbstbindungsprobleme und Wahrnehmungsfehler bilden ein toxisches Gebräu, das den Frieden nach und nach vergiftet. Es ist schwierig, einen Konflikt auf einen einzigen Grund zurückzuführen.

Wer in einer instabilen Community, Stadt oder Nation lebt, weiß, was das bedeutet. Die fünf Faktoren haben den größten Teil des Spielraums für einen Kompromiss zwischen den beiden verfeindeten Akteuren zunichtegemacht. Für eine Weile hält der Frieden, aber er ist brüchig. Nie scheint der Krieg in weite Ferne gerückt. In diesem fragilen Zustand kann ein einziges Missverständnis oder ein einziges katastrophales Ereignis jeden Anreiz, den Frieden zu wahren, beseitigen. Abertausende dieser kleinen Anlässe gibt es, die die Akteure in einen erbitterten Kampf stürzen können – ein Attentat, ein Börsenkrach, ein unsägliches Gerücht, die Entdeckung eines Ölfeldes oder die Kurzschlusshandlungen eines unberechenbaren oder unfähigen Entscheidungsträgers.

Deshalb ist es so einfach, für jeden Grund einen Krieg zu finden und in der Frage, wie es dazu kommen konnte, eine Million kleiner Dinge am Werk zu sehen. Sind also diese situationsabhängigen Auslöser schuld am Krieg? Ganz bestimmt nicht, denn wir finden die gleichen Auslöser, Katastrophen, Überraschungen und Fehler auch bei verfeindeten Akteuren, die sich trotz allem nicht bekriegen, obwohl sie, um auf das Bild des Flugzeugs zurückzukommen, diverse Treffer abbekommen haben. Ihre Rivalität hat sich nicht in Gewalt entladen, weil die fünf Mechanismen den Spielraum für Politik und Kompromisse nicht gänzlich beseitigt haben. Dieses Buch möchte deshalb auch eine Übung darin sein, uns von zufälligen Umständen und Ereignissen, die ein Fass zum Überlaufen bringen, nicht zu sehr ablenken zu lassen.

Wir werden in diesem Buch auch Dingen begegnen, die fälschlicherweise für Kriegsursachen gehalten werden. Armut, Knappheit, natürliche Ressourcen, Klimawandel, ethnische Zersplitterung, Polarisierung, Ungerechtigkeiten und die Verfügbarkeit von Waffen überlagern nicht zwangsläufig die Anreize, sich um Frieden zu bemühen – zumindest tun sie das nicht von selbst. Schrecklich sind sie aus anderen Gründen. Und sie gießen Öl in ein Feuer, das bereits um sich greift. Aber sie selbst entfachen die Kämpfe meist nicht. Die Betrachtung von Erfolgen und Misserfolgen gleichermaßen und das strategische Denken werden uns helfen zu verstehen, welche Einschusslöcher die Flugzeuge aufweisen, die funktionstüchtig geblieben sind, und welche Schäden die Flugzeuge haben, die vom Himmel geholt wurden. Mein Vorschlag ist klar und deutlich: Konzentrieren Sie sich auf die fünf Grundprinzipien.

Die wohl beste Motivation, die Welt mit Blick auf diese fünf Mechanismen zu betrachten, ist folgende: Wenn wir verstehen, warum manche Gesellschaften stabil, friedlich und erfolgreich sind, können wir auch herausfinden, wie die schwächsten und am meisten von Gewalt geplagten Gesellschaften ihnen ähnlicher werden können. Das ist die Grundfrage im zweiten Teil dieses Buches. Im Grunde ist es einfach: In stabilen Gesellschaften gibt es viele Rivalitäten, doch die Rivalen konkurrieren gewaltlos miteinander. Dörfer, Banden, ethnische Gruppen, Städte, Staaten und die internationale Politik haben eine Vielzahl von Möglichkeiten gefunden, um ein Umschlagen ihrer Wettbewerbe zu verhindern und den Anreizen für Gewalt etwas entgegenzusetzen. Sie haben sich eine gewisse Abdämmung gegen alle fünf Arten des Scheiterns zugelegt – eine Panzerung an den richtigen Stellen des Flugzeugs. Die wichtigsten davon nenne ich Interdependenz, gegenseitige Kontrolle, Regeln und ihre Durchsetzung sowie Interventionen. Sie alle haben ein gemeinsames Geheimnis: Sie funktionieren einzig und alleine dann, wenn sie mindestens einer der fünf Arten des Scheiterns entgegenwirken.

Bevor wir jedoch zu diesen kommen, möchte ich zunächst einmal zeigen, welche Anziehungskraft der Frieden besitzt.

I

Die Wurzeln des Krieges

1

Warum wir es nicht bis zum Krieg kommen lassen

Vom sogenannten Billardkrieg hörte ich zum ersten Mal, als ich mit einem Insassen des Bellavista-Gefängnisses sprach. Sagen wir, er hieß Carlos. Er war Ende zwanzig, schlank, muskulös und hatte vor seiner Verhaftung eine Plaza de Vicio betrieben – einen Umschlagplatz für Drogen. Im Alter von vierzehn Jahren hatte Carlos angefangen, für die Gang in seinem Viertel zu arbeiten und Päckchen mit Marihuana zu verteilen. Da er gut im Rechnen war und keine Ware verschwinden ließ, machte ihn der Coordinador, der Anführer der Gang, zu einem fest angestellten Mitglied. Im Laufe der Jahre arbeitete sich Carlos in der Gruppe hoch, erst durch bewaffnete Raubüberfälle, dann durch Drogenhandel. Schließlich schaffte er es ins mittlere Management und wurde quasi Filialleiter einer Plaza. Leider entwickelte Carlos auch eine Vorliebe für sein eigenes Produkt. Als wir uns kennenlernten, lebte er im Drogenentzugstrakt von Bellavista, bekleidet mit einem braunen Anstaltskittel, den Kopf kahl geschoren.

Bellavista liegt unten im Tal, umringt von üppig grünen Gipfeln. Zu beiden Seiten des Gefängnisses ziehen sich die Häuser der Stadt Medellín die Berghänge hoch. Hier schlägt das wirtschaftliche Herz Kolumbiens. An den unteren Hängen und in der Talsohle liegen ruhige Mittelklasse-Viertel, Häuser mit weißem Stuck und ockerfarbenen Ziegeldächern. Wie am Fließband werden hier die Lebensmittel und Möbel des Landes hergestellt. Weiter oben jedoch, an Hängen, die für menschliche Behausungen eigentlich zu steil erscheinen, krallen sich die Slums in den Berg – dicht gedrängte, zwei- bis dreistöckige Gebäude aus rohen, nackten Lehmziegeln und Wellblech. Streckt man in einer der engen Gassen die Arme aus, berührt man mit beiden Händen die mit Graffiti übersäten Hauswände.

In jedem Viertel gibt es eine Combo. Wie Straßenbanden überall auf der Welt, kontrollieren auch sie den örtlichen Drogenhandel. Doch die Combos in Medellín tun noch viel mehr. Gehen Sie einmal die Hauptstraße in einem Viertel wie La Sierra entlang, vorbei an den Bäckereien und winzigen Krämerläden, die mit Süßigkeiten, Softdrinks und Bier vollgestopft sind. An der nächsten oder übernächsten Straßenecke werden Sie einen Jugendlichen stehen sehen, Mitglied einer Combo, der ein Auge auf die Gegend hat. Kleine Fische wie dieser, Fußsoldaten genannt, sorgen hier für Ordnung, indem sie Schutz gegen Geld verkaufen. Einmal in der Woche dreht er seine Runde durch die Bäckereien und Läden, um drei Dollar vacuna, also »Impfstoff«, zu kassieren.

Die Gangs von Medellín beschränken sich jedoch nicht auf Drogenhandel und Schutzgelderpressung. Selbst die einfachsten Grundnahrungsmittel – Eier, Milch, Gas zum Kochen oder Arepas, die dicken kolumbianischen Tortillas – verkauft in La Sierra niemand, wenn er nicht eine Erlaubnis der herrschenden Gang besitzt. Die Combo legt auch die Zinssätze für den Geldverleih im Viertel fest, kassiert einen Teil jedes Kredits und treibt später nur zu gern die Schulden ein, die nicht beglichen wurden.1

All diese Beteiligungen und Einnahmequellen machen die Viertel von Medellín zu einer wertvollen Beute, die es zu sichern gilt. So kommt es, dass fast jedes Viertel, in dem das durchschnittliche Einkommen im niedrigen bis mittleren Bereich liegt, von einer bewaffneten Gang besetzt gehalten wird. Insgesamt sind es Hunderte. Die Stadt ist ein Flickenteppich aus Fürstentümern, in denen jeweils ein dreißigjähriger Ganove die Fäden in der Hand hält. Das klingt nach besten Voraussetzungen für gewaltsame Auseinandersetzungen.

Medellín in Kolumbien

Gefängnisse wie Bellavista bilden die Schaltzentralen der stadtweiten Revierkämpfe, denn dort leben die meisten der Coordinadores. Die Kommune hat ihr Bestes getan, um so viele Combo-Mitglieder wie möglich hinter Gitter zu bringen, und so ist der gedrungene, weiß getünchte Hochsicherheitsbunker bis zum Vierfachen seiner Kapazität gefüllt. Doch über Telefon und Boten führen die Bandenchefs ihre kleinen Imperien von innen heraus weiter.

Als ich den Komplex das erste Mal betrat, erwartete ich strenge Regeln und eine bedrückende Atmosphäre. In Wirklichkeit geht es etwas freizügiger zu. Die Insassen tragen ihre eigenen T-Shirts, Trainingshosen oder Shorts. Der Umgang mit den Wärtern ist zwanglos, sogar leutselig. Eigentlich sind die Männer in große Zellenblöcke gesperrt, die sogenannten Patios, aber »eingesperrt« scheint das falsche Wort zu sein. Zwar kann niemand den Bau verlassen, doch durch das in hellem Türkisblau gestrichene Labyrinth aus Ziegelmauern bewegen sich die Männer mehr oder weniger frei.

In Carlos’ Patio lag der Handel mit illegalen Drogen und Telefonen in der Hand einer mächtigen kriminellen Clique, die sich den Namen Pachelly gegeben hatte. Sie verlangten im Übrigen auch Miete für Einzelzellen und Betten. Alle erdenklichen Geschäftszweige machten die einzelnen Patios zu einem profitablen und strategisch wichtigen Gebiet, genau wie die Straßen, die Pachelly draußen kontrollierte. Dieselben Banden, die die Stadtviertel von Medellín beherrschen, haben auch auf den Gefängnisfluren das Sagen.

Es gab, erzählte mir Carlos, im Pachelly-Patio eine rivalisierende Bande namens El Mesa, die an Einfluss gewann. Außerhalb von Bellavista wuchs das Territorium von El Mesa, ebenso wie die Anzahl der Fußsoldaten und die Gewinne, und so begannen die inhaftierten Mitglieder von El Mesa, unter dem Regiment der Pachellys mit den Hufen zu scharren. Eines Nachmittags im Jahr 2012 hielten sich Mitglieder beider Gruppen im Tagesraum des Zellenblocks auf und spielten Billard. Carlos erinnerte sich nicht mehr daran, weshalb es unter den Spielern zum Streit und in der Folge zu einem Handgemenge kam, oder warum sich immer mehr Leute einmischten. Wahrscheinlich war irgendeine kleine Beleidigung oder eine Mogelei der Stein des Anstoßes gewesen. Was er noch weiß, ist, dass der Streit überaus schnell außer Kontrolle geriet. Die Mitglieder von El Mesa zogen ihre Waffen und feuerten auf die Leute von Pachelly. Wie sie es geschafft hatten, Waffen ins Gefängnis zu schmuggeln, ist noch mal eine ganz andere Geschichte. Als die Schüsse verklungen waren, zählte man jedenfalls dreiundzwanzig verletzte Häftlinge und Wärter. Es war wohl eher Zufall, dass niemand zu Tode kam.

Die Wut entlud sich samt gegenseitiger Schuldzuweisungen dann außerhalb des Gefängnisses. Pachelly und El Mesa mobilisierten ihre jeweiligen Bündnispartner. Hunderte Gangs der Stadt schlugen sich auf die eine oder andere Seite und versetzten ihr Fußvolk in Alarmbereitschaft. El Mesa verbündete sich mit Los Chatas, einer anderen mächtigen Gang, die von einem der einflussreichsten Bandenchefs der Stadt angeführt wurde, bekannt unter dem Decknamen Tom. Die Stadt rüstete sich zum Krieg.

Wäre das hier ein gewöhnliches Buch über Krieg, würde ich an dieser Stelle ausführen, wie Medellín in den darauffolgenden Wochen in einem Blutbad versank. Vereinzelte Vergeltungsschläge gerieten zu einem unüberschaubaren Hin und Her von Racheakten. Inmitten des Chaos würden die Combos nach und nach benachbarte Gebiete erobern und alte Rechnungen begleichen. Der fragile Frieden zwischen Hunderten von Gangs in der Stadt bräche zusammen. Die angeblichen Ursachen für eine solche blutige Schlacht um Medellín ließen sich im Handumdrehen aufzählen: Es gab hier unzählige junge Männer ohne Perspektive, eine Stadt voller Waffen, korrupte Politiker und eine kollabierende Gesellschaftsordnung.

Doch der Billardkrieg fand nie statt. Was tatsächlich passierte: El Mesa gewann an Macht. El Mesa begehrte gegen Pachelly auf. Und El Mesa eröffnete das Feuer wegen eines Billardspiels. Schließlich schloss El Mesa auch ein Bündnis mit Tom und Los Chatas. Ganz Medellín machte sich zum Kampf bereit. Und trotzdem blieb die blutige Schießerei in Bellavista der erste und letzte Ausbruch von Gewalt. Anstatt einen langwierigen Konflikt in der ganzen Stadt loszutreten, einigten sich Pachelly und El Mesa auf einen Kompromiss. Nach intensiven Verhandlungen gab die Pachelly-Gang Teile ihres Territoriums ab – einen Gefängnisflur hier, ein Schmuggelgeschäft dort. Keine dieser Einkunftsquellen wäre es wert gewesen, sich dafür eine kostspielige Schlacht mit einem aufstrebenden Herausforderer zu liefern.

Und so geht das schon seit Jahrzehnten. Für jeden Bandenkrieg, den es jemals in Medellín gegeben hat, wurden tausend andere durch Verhandlungen und Deals abgewendet. Obwohl das Tal bis zu den grünen Gipfeln mit hitzköpfigen, bis unter die Zähne bewaffneten Mafiosi gefüllt ist, bekriegen sich die Combos von Medellín nur selten. Sie verachten einander. Sie feilschen um Drogen-Plazas und Gefängnisflure. Gelegentlich kommt es zu Scharmützeln. Doch die Mordrate in der Region ist niedriger als in vielen amerikanischen Großstädten.

Wie leicht vergisst man, dass es die allermeisten Kontrahenten so handhaben. Medellíns Schachbrettmuster aus verfeindeten Combos ist eine Art Sinnbild für unsere Welt im Allgemeinen. Der Globus ist überzogen mit einem Flickenteppich aus rivalisierenden Territorien. Über sie zu verfügen, bedeutet Reichtum, Macht und Status. Die Rivalen lecken sich die Finger nach dem Territorium und den Ressourcen ihrer Nachbarn, sie beuten diejenigen aus, die ihnen unterlegen sind, und verteidigen sich gegen die Stärkeren. Die meisten Menschengruppen sind den kolumbianischen Combos gar nicht so unähnlich, auch wenn man es ihnen nicht ansehen mag. Und wie die Combos setzen sie alles daran, es nicht zum Krieg kommen zu lassen.

Frieden besteht aus Strategie

Welches Kalkül steckt hinter einem Kompromiss? Bleiben wir beim Beispiel der Gangs von Medellín. Ich möchte Ihnen ein Werkzeug an die Hand geben – eine einfache logische Vorgehensweise –, das für die Frage hilfreich ist, warum Kontrahenten einem Krieg meistens aus dem Weg gehen. Ein bisschen Spieltheorie kann hier nicht schaden, denn wir werden in diesem Buch immer wieder darauf zurückgreifen, um zu erklären, wie Frieden ins Bröckeln gerät und wie man ihn wieder aufbaut.

Die mächtigen Gangster, die in Bellavista aufeinander losgingen, stammten alle aus einer Gegend am nördlichen Rand von Medellín, die Bello heißt. In den Augen der Combos hat Bello alles, was das Herz begehrt: Dort lassen sich Schutzgelderpressung, Drogenhandel und Geldwäsche betreiben, man findet Verstecke und kann an Prestige gewinnen. Stellen wir uns Bello als einen Kuchen vor, der irgendwie unter den Rivalen aufgeteilt werden muss. Nehmen wir der Einfachheit halber an, die Rivalen seien sich einig, dass der Wert des Kuchens bei etwa 100 Dollar liegt:

Nehmen wir außerdem an, dass Pachelly und El Mesa aus militärischer Sicht gleich stark sind. Das heißt, wenn eine Gang die andere angreift, hat jede der beiden die gleichen Chancen zu gewinnen – 50 Prozent, wie bei einem Münzwurf. Vereinfachen wir auch den Krieg und nehmen wir an, dass er eine Alles-oder-nichts-Angelegenheit ist: Der Gewinner bekommt das gesamte Gebiet von Bello für immer, der Verlierer geht leer aus.

Die beiden Rivalen wissen genau wie wir, dass ein Krieg verheerende Folgen nach sich zieht, egal wer gewinnt. Bandenkriege machen die Polizei auf die Bosse aufmerksam und erhöhen so die Wahrscheinlichkeit, dass diese ins Gefängnis kommen. Solche Kriege reißen Lücken in die Reihen der kleinen Brüder und Freunde. Auch die illegalen Geschäfte werden in Mitleidenschaft gezogen, denn niemand zahlt die vacuna oder kauft Drogen, wenn um ihn herum geschossen wird. Die Opfer unter der Zivilbevölkerung sind den Anführern der Combos zwar völlig egal. Doch der Krieg schadet ihnen selbst und ihrem Gewinn. All diese negativen Effekte setzen einen starken Anreiz dafür, mit dem Gegner in Verhandlung zu treten. Um das Beispiel durchzudeklinieren, muss ich den Schaden irgendwie beziffern. Ich könnte jede beliebige Zahl wählen, aber nehmen wir einmal an, beide Gangs gehen davon aus, dass durch den Kampf ein Fünftel des Kuchens zerstört wird – also ein Wert von 20 Dollar.

Die wichtigste strategische Erkenntnis lautet hier: Da eine gewaltsame Auseinandersetzung Schäden mit sich bringt, ist es für beide Seiten fast immer vorteilhafter, nach einer friedlichen Lösung zu suchen, als einen Krieg vom Zaun zu brechen. Die 20 Dollar sind wie ein Friedensbonus, den sie sich teilen können. Dadurch ergibt sich eine ganze Reihe von Möglichkeiten, Terrain aufzuteilen, die für beide Seiten allemal attraktiver sind als ein Kampf. Denn im Endeffekt werden sie bei einem Krieg immer schlechter dastehen als bei einer der möglichen Teilungen. Wir nennen diese Reihe von Aufteilungsmöglichkeiten den Verhandlungsspielraum.

Betrachten Sie die Entscheidung aus der Sicht des Coordinador von El Mesa. Er weiß, dass seine Gang die gleichen Gewinnchancen wie der Gegner hat. Er wird sich denken: »Sollen wir wirklich ein Fünftel der potenziellen Einnahmequellen in Bello verwüsten und dann eine Münze werfen, wer das bekommt, was noch übrig ist? Oder finden wir einen Weg, das Gebiet in seinem jetzigen Zustand unter uns aufzuteilen?« In diesem Fall zahlt sich der Kompromiss aus. Das ist einfache Arithmetik: Weil der Krieg eine gleichmäßige Chance auf einen angematschten 80-Dollar-Kuchen darstellt, beträgt der Erwartungswert des Kampfes 40 Dollar.2 Das bedeutet, dass sich der Coordinador ohne viel Aufhebens für den Frieden entscheiden wird, solange bei den Verhandlungen für El Mesa die Kontrolle über mindestens 40 Prozent von Bello herausspringt.

Für Pachelly stellt sich die Lage genauso dar. Das weiß auch der Coordinador von El Mesa. Daher fürchtet keine der beiden Seiten einen Angriff, weil beide wissen, vor welcher Wahl die jeweils andere Seite steht. Jede Seite kann auf friedliche Weise zu 40 bis 60 Dollar kommen. Wie hoch genau der eigene Anteil ausfällt, hängt vom Spielverlauf ab. Doch dass es zu einer Aufteilung kommen sollte, ist beiden klar.

Das zeigt uns etwas Wichtiges: Frieden entsteht nicht durch geschwisterliche Liebe und Zusammenarbeit, sondern durch die allgegenwärtige Gefahr, dass Gewalt ausbricht. Die Verhandlungsmacht jeder Seite ergibt sich aus ihrer Fähigkeit, dem Feind mit Schaden zu drohen. Diese Macht erwächst aus allem, was der Gruppe zum Sieg über ihren Rivalen verhelfen kann: aus Waffen, aus Verteidigungsanlagen, aus dem Geld für Soldaten, aus neuen Terrortaktiken oder aus der Fähigkeit, Menschenmassen zu mobilisieren, sei es, indem man sie auf die Straße bringt, in Munitionsfabriken beschäftigt oder zu Infanteristen macht. Aber Zugeständnisse erhält man nur dann, wenn man glaubhaft androhen kann, alles plattzumachen. In seiner Schrift Zum ewigen Frieden bezeichnete der Philosoph Immanuel Kant diese intensive, aber gewaltfreie Auseinandersetzung mit dem Kontrahenten – nicht aber den Krieg selbst – als den Naturzustand der Menschheit.

Aus dem spieltheoretischen Modell und diesen Annahmen, so simpel sie auch sind, lassen sich noch weitere strategische Erkenntnisse über Konkurrenzverhältnisse gewinnen. So sollten wir unabhängig davon, ob die negativen Konsequenzen eines Krieges zu verschmerzen oder katastrophal sind, vom Zustandekommen einer friedlichen Lösung ausgehen. Würden die Kämpfe nur halb so viele Opfer fordern – halb so viele Tote, weniger Einbrüche im Drogengeschäft, ein geringeres Verhaftungsrisiko –, dann wäre die Verhandlungsspanne nur halb so groß. Und dennoch wäre eine Aufteilung dieses nur halb so großen Bereichs für beide Seiten immer noch besser als ein Krieg. Solange Kriege kostspielig sind, gibt es immer einen politischen Deal, der für beide Seiten vorteilhafter ist.