Warum wir Tiere essen - Thomas Macho - E-Book

Warum wir Tiere essen E-Book

Thomas Macho

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Beschreibung

Wir lieben Fleisch: In Europa isst fast jeder Mensch 60 Kilo Fleisch pro Jahr. Wenn wir in einen saftigen Burger beißen, denken wir nicht mehr an das einmal lebendige Tier, das fühlt. Das Tier wird von uns unsichtbar gemacht, dabei ist es so viel mehr als ein Produktionsgut, das es auszubeuten gilt. Der Philosoph Thomas Macho beschäftigt sich seit Jahren mit der Beziehung des Menschen zum Nutztier. Er erforscht, warum wir häufig so tun, als würden wir Tiere respektieren, sie dann aber doch massenhaft und grausam töten, um sie zu essen. Wenn wir uns unsere gemeinsame Geschichte mit dem Tier wieder vergegenwärtigen, finden wir auch zurück zu einem respektvollen Umgang – denn trennt sich der Mensch vom Tier, verliert er einen Teil seiner Geschichte.

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THOMAS MACHO

WARUMWIRTIEREESSEN

Einleitung: Tiere essen

Tierfrieden: Vor der Jagd

Verwandlungen 1

Wir sind Tiere

Tiere denken, Tiere reden – Tiere werden?

Manifeste animaliste: Krieg gegen die Tiere

Sichtbare und unsichtbare Tiere

Fleisch und Macht

Verwandlungen 2

Hungerkunst und Askese

Kultivierung des Fleischverzichts

Kurze Nachbemerkung und Danksagung

Anmerkungen und Bildnachweis

Thomas Macho

Impressum

Einleitung Tiere essen

Das Thema dieses Buchs ist komplex, und es verlangt nach vielen Gesprächen. Daher habe ich den Text mehrstimmig angelegt; er sucht das Gespräch mit Autorinnen und Autoren aus den Feldern der Literatur, des Films und der Wissenschaften – von der Philosophie bis zur Kognitionsbiologie. Der Titel muss auch als Frage gelesen werden: Warum essen wir Tiere? Antworten fallen schwer; denn das Fragewort »warum« entfaltet rasch den Fächer verwandter Fragewörter: was, wann, wo, wie. Schon das schlichte Was wirft neue Fragen auf. Denn viele Menschen würden zugestehen, dass sie beispielsweise Wurst, Pasteten oder Fleisch essen, Schnitzel, Steaks oder Burger. Immer wieder essen sie – mehr oder weniger bewusst – kleine Teile von Tieren, aber essen sie Tiere? Weder haben sie Tiere gejagt, geopfert oder getötet, noch besuchen sie gewöhnlich Tiergeschäfte, in denen lebendige Tiere verkauft werden, um sich mit Nahrung zu versorgen. Sie gehen vielmehr zu Metzgern, auf Märkte und in Restaurants. Sie stehen etwa vor Regalen und Glasvitrinen, um Konserven mit Leberwurst oder in Plastikfolie verschweißte Fleischstücke zu kaufen, deren Form nicht einmal entfernt an die Gestalt eines Tiers erinnert. Eine Ausnahme bilden Fische, die in manchen Läden oder Restaurants in Aquarien schwimmen, bevor sie mit einem Kescher herausgeholt, erschlagen und verkauft oder gebraten und serviert werden. Wir essen Fische zwar »from nose to tail«, aber wir sind dankbar, wenn sie zuvor entschuppt, ausgenommen und womöglich am Tisch, nach sorgfältiger Entfernung von Köpfen, Schwänzen und Gräten, filetiert werden. Kinder bevorzugen ohnehin Fischstäbchen, die eher an Legosteine erinnern als an Wassertiere.

Nein, wir essen keine Tiere; die Rede von Tieren wirkt viel zu allgemein. In manchen Ländern essen Menschen keine Hunde und Katzen, keine Pferde, keine Schweine, keine Kühe, keine Insekten. Die Beobachtung führt uns zum Wo und zum Wann. In seinem Buch Eating Animals bemerkt Jonathan Safran Foer, es sei in mehr als vierzig Staaten völlig legal, Hunde zu essen; dennoch sei diese Ernährungspraxis in nordamerikanischen oder europäischen »Köpfen ebenso tabu wie die Vorstellung, dass ein Mensch seinen besten Freund isst. Kein noch so leidenschaftlicher Fleischesser verspeist Hunde. Der TV-Unterhalter und Manchmal-Koch Gordon Ramsay kann ziemlich gnadenlos mit jungen Tieren umgehen, wenn er für eines seiner Produkte Werbung macht, aber man wird nie einen Welpen aus einem seiner Kochtöpfe lugen sehen«.1 In ihrem Essay Eating Meat and Eating People (1978) bemerkt Cora Diamond: »Ein Schoßtier ist nicht zum Verzehr bestimmt. Es bekommt einen Namen, wird ins Haus gelassen und wird vielleicht in einer Form angeredet, in der wir mit Kühen oder Eichhörnchen normalerweise nicht sprechen. Das heißt, es wird zum Teil wie eine Person behandelt.«2 Jared Diamond erinnert in seinen vergleichenden Untersuchungen zum Kollaps von Kulturen und Gesellschaften an das Aussterben der Grönland-Wikinger, die offenbar lieber verhungerten als – wie die indigene Bevölkerung – Karibus, Robben, Wale oder Fische zu verzehren.3 Nicht aussichtsreicher wäre es heute wohl, die mediterranen Bevölkerungen aus ökologischen Gründen zum Essen von Quallen statt Fischen zu überreden. Die Quallen dominieren gegenwärtig nicht allein das Mittelmeer, sondern auch die Weltozeane; zweifelhaft bleibt allerdings, ob etwa in Japan die Sushis von Quallensalaten verdrängt werden könnten.

Bleiben wir beim Wo. Der Fleischatlas 2021, herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland und Le Monde diplomatique, nennt konkrete Statistiken. Einleitend wird beklagt, dass zwar die Energie- und Verkehrswende, der Klimaschutz und der Kampf gegen Armut und Hunger politisch diskutiert werden, nicht aber eine Fleischwende, allen Reportagen und Skandalen der letzten Jahrzehnte zum Trotz. Die ökologischen, sozialen und gesundheitlichen Effekte der industriellen Fleischproduktion werden ignoriert. Dabei sei allgemein bekannt, dass der globale Fleischverzehr bis zum Jahr 2029 noch einmal um 40 Millionen Tonnen auf dann mehr als 360 Millionen Tonnen Fleisch pro Jahr anwachsen wird.4 Zu den Folgen dieses Konsums zählt auch die Klimakrise; Jonathan Safran Foer betont, dass die landwirtschaftliche Nutztierhaltung um 40 Prozent mehr zur globalen Erwärmung beiträgt als der gesamte weltweite Transportverkehr; sie sei die »Ursache Nummer eins für den Klimawandel«.5 Obwohl diese Einschätzung seit Jahrzehnten verbreitet wird, steigt der Fleischkonsum weiter an. Der jährliche Pro-Kopf-Verzehr in den Industrieländern, also in Kanada, den USA, Europa, Russland, Japan, Israel, Südafrika, Australien und Neuseeland, beträgt 68,6 kg, in allen anderen Ländern 26,6 kg. Kurzum, trotz einer »mehr als fünfmal größeren Bevölkerung verbrauchen die ärmeren Länder nicht einmal doppelt so viel Fleisch wie die reicheren«.6 Zwar nimmt der Anteil von Rindern und Schafen ab; doch dafür essen die Menschen immer mehr Schweine und Geflügel. Allein das Geflügel »wird rund die Hälfte des globalen Zuwachses in den kommenden zehn Jahren ausmachen. In den USA zum Beispiel ist der Pro-Kopf-Konsum von Rindfleisch in den vergangenen 30 Jahren um etwa ein Drittel zurückgegangen, während sich der von Geflügel mehr als verdoppelte«;7 prognostiziert wird ein deutlich steigender Verzehr von Schweinefleisch, nicht nur in Europa, sondern beispielsweise auch in Ländern wie China und Indien.

Die Statistiken des Fleischkonsums sind vergleichsweise jung. Sie erlauben zwar Vergleiche zwischen reichen und armen Ländern, zwischen den Geschlechtern (Männer essen viel mehr Fleisch als Frauen) oder Generationen (junge Menschen sind etwa in Deutschland signifikant skeptischer gegenüber der Fleischindustrie als ihre Eltern), aber sie reichen kaum in eine zeitliche Tiefe von mehr als einem Jahrhundert, ganz abgesehen davon, dass die Ergebnisse stets mit steigenden Bevölkerungszahlen korreliert werden müssen. Die longue durée der Ernährungsgeschichte kann mit statistischen Quellen allein kaum erfasst werden. Die Frage nach dem Wann wird darum häufig in die Frage nach dem Wie übersetzt. Erinnern wir uns: Es gibt vielleicht nur drei Arten, ein Tier in gesellschaftlich regulierter und anerkannter Form zu töten, um es zu verzehren: auf der Jagd, im Zusammenhang mit Opfern und kultischen Ritualen, oder bei Schlachtungen. Gewiss haben sich diese drei Formen gelegentlich überlagert; dennoch sind sie charakteristisch für drei unterschiedliche Lebensformen der Menschen. Während vieler Jahrtausende wurden Tiere gejagt, doch nicht geopfert. In den Agrargesellschaften – nach den sogenannten »neolithischen Revolutionen« – blieb dagegen die Jagd meist einer kleinen aristokratischen Elite vorbehalten, während der Fleischappetit der jeweiligen Gesellschaften auf kultisch regulierten Opferfesten befriedigt wurde. Die technisch optimierte und mechanisierte Massenschlachtung von Tieren kann schließlich als Praxis der industriellen Moderne betrachtet werden.

Industrieländer sind kein Vorbild

Fleischkonsum entwickelter und sich entwickelnder Länder, nach Fleischarten, Jahresdurchschnitt 2017–2019, in 1.000 Tonnen

Abb. 1 Fleischatlas 2021. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel. Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland und Le Monde diplomatique. Berlin 2021. S. 10.

Geflügel dominiert

Zunahme des Weltverbrauchs nach Fleischarten, mit Knochen, in Millionen Tonnen

Abb. 2 Fleischatlas 2021. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel. Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland und Le Monde diplomatique. Berlin 2021. S. 11.

Diesen drei Grundformen der Tötung von Tieren entsprechen drei Arten von Zielen: Gejagt wurden zumeist wildlebende Tiere; geopfert wurden gewöhnlich Haustiere. Geschlachtet werden dagegen in den industriellen Gesellschaften alle möglichen Tiere. Im Blick auf die Fleischverarbeitung spielt die Differenz zwischen wilden und domestizierten Tieren kaum eine Rolle mehr, wie wir zu Beginn der Covid-Pandemie, ausgebrochen vermutlich auf einem Wildtiermarkt in der chinesischen Stadt Wuhan, erneut gelernt haben. Überspitzt gesagt: Die Haustiere der agrarischen Lebensformen sind seit mehr als hundert Jahren verschwunden. Sie haben sich diversifiziert: in Nutztiere, zu denen die Menschen keine Beziehungen unterhalten, und in Schoßtiere oder pets, die wiederum keinen Anforderungen geteilter Nützlichkeit genügen müssen. Unsere Schoßtiere sind keine Haustiere. Denn der Begriff des Haustiers muss wörtlich genommen werden: Er bezeichnet ein Lebewesen, das mit den Menschen ein Haus teilt, und zwar nicht nur ein Territorium, eine Vielzahl von Arbeiten und Techniken, sondern auch die Sprache, gleichsam als »Haus des Seins«.8 Menschen gehorchen denselben Befehlen wie ihre Haustiere; sie sind denselben Zwängen und Arbeitsbedingungen unterworfen, in Ackerbau, Krieg, Kult oder Liebe. Fleisch war darum in allen Agrarkulturen ein knappes und seltenes Gut. Denn in einer Agrargesellschaft waren die Haustiere niemals bloß Produkte, sondern stets auch aktive Protagonisten, unverzichtbare Arbeitswesen wie die Menschen selbst. Tier- und Menschenopfer bildeten darum häufig konvertible Praktiken; nicht umsonst erzählen viele Mythen von der wechselseitigen Ersetzbarkeit der Menschen und Tiere. »Das Tier stirbt an Stelle eines Menschen, Isaak oder Iphigenie«, betont der Altphilologe Walter Burkert. Die Gleichwertigkeit von Mensch und Tier lasse sich etwa an der Kultlegende der Artemis von Munichia studieren: »Um für die Tötung eines Bären zu büßen, der der Göttin gehörte, soll ein Mädchen geopfert werden, doch eine Ziege tritt an seine Stelle – Mensch für Tier und Tier für Mensch.«9

Jagd und Opfer ähneln einander, auch durch ihren Bedarf an Ritualen, die eine manifeste Tötungsschuld beschwichtigen sollten. Manche jagenden Ethnien in Sibirien haben sogar regelrechte »Unschuldskomödien«10 aufgeführt, in deren Verlauf sie dem getöteten Tier versicherten, wie sehr sie seinen Tod bedauern und überdies gar nicht wissen, wer ihn herbeigeführt habe. Spuren solcher Entschuldungspraktiken lassen sich auch in älteren Texten zur Ausführung von Opferritualen entdecken. So referiert Walter Burkert etwa einen altbabylonischen Text, der die nötigen Regeln für ein Stieropfer genau vorschreibt: »Der Stier steht gefesselt auf einer Schilfmatte, das Maul wird ihm gewaschen, Beschwörungen ins rechte und linke Ohr geblasen, er wird mit Wasser besprengt, mit der Fackel gereinigt, mit einem Kreis von Mehl umgeben. Nach Gebet und Gesang wird der Stier getötet, das Herz sogleich verbrannt, die Haut und die linke Schultersehne zur Bespannung des Tympanon gewonnen.« Zuletzt verneigt sich der Opferpriester vor dem abgetrennten Schädel »und spricht: ›Diese Tat – alle Götter haben sie vollbracht; nicht ich habe sie vollbracht.‹ Eine Textfassung besagt, der Kadaver werde begraben; eine andere Fassung verbietet zumindest dem Hauptpriester, vom Fleisch zu essen.«11 Ein weiteres Beispiel: Im Rahmen der altgriechischen Buphonien wurde ein Ochse am Altar des Stadtbeschützers Zeus Polieus in Athen getötet, nachdem er vom dort ausgestreuten Opfergetreide gefressen hatte. Der jeweilige Ochsentöter floh nach seiner Tat, während sein Beil angeklagt und im Anschluss an einen regelrechten Gerichtsprozess ins Meer geworfen wurde. Mitunter wurde die Tötungsschuld auch durch eine symbolische Vorwegnahme des eigenen Todes beglichen. In einem altindischen Opfertraktat, dem Shatapatha-Brāhmana, wird das Jenseits als Vexierbild der diesseitigen Welt vorgestellt: »Denn welche Speise der Mensch in dieser Welt ißt, die ißt ihn in jener Welt wieder«.12 Das Sanskrit-Wort für Fleisch (māmsa) werde etymologisch aus zwei Silben gebildet: »mam bedeutet ›mich‹, sa ›er‹, mich wird er dort (im Jenseits) essen, dessen Fleisch ich gegessen habe«.13 Knapp und bündig charakterisiert Elias Canetti diesen metabolischen Tausch: »Das Gegessene ißt zurück.«14

Tierfrieden: Vor der Jagd

In mythischen und religiösen Texten wird die Schuld der Tiertötung relativiert durch die Erzählung von einem fernen, paradiesischen Zeitalter, in dem Menschen und Tiere friedlich zusammenlebten, ohne einander zu bekämpfen und zu verzehren. Kein Lebewesen wurde gejagt oder bloß als Beute wahrgenommen. Als ein goldenes Zeitalter, regiert von Kronos (und bei den Römern von Saturn), schildert Hesiod diese Epoche: »Wie aus gleicher Geburt geworden sind Götter und Menschen. Golden war ja zuerst das Geschlecht der sprechenden Menschen, das die Unsterblichen schufen, die hohen Olympos-Bewohner. Jene waren zur Zeit des Kronos, der herrschte im Himmel. Und sie lebten wie Götter und hatten das Herz ohne Kummer, ohne Plagen und Jammer. Sogar das klägliche Alter nahte nicht, sondern immer an Füßen und Händen sich gleichend, freuten sie sich am üppigen Mahl und kannten kein Unheil. Wie vom Schlaf überwältigt, starben sie; alles Erwünschte war ihnen eigen. Und Frucht trug der nahrungsspendende Acker unbestellt in neidloser Fülle, sie aber willig walteten still ihrer Arbeit, versehen mit Gütern in Fülle«.15 Zwar räumt Hesiod ein, Fische, »wildes Getier und gefiederte Vögel fressen einer den andern, weil unter ihnen kein Recht ist«16; aber die Menschen begnügten sich – ohne Ackerbau und Viehzucht – mit pflanzlicher Nahrung. Noch Ovid berichtet im ersten Buch seiner Metamorphosen: Das »goldene Geschlecht« habe keine Rache gekannt, sondern war treu und redlich, »freiwillig, ohne Gesetz«. Ohne Krieg, Gewalt und Soldaten »lebten die Völker sorglos in sanfter Ruhe dahin. Auch gab die Erde, frei von Pflichten und Lasten, von keiner Hacke berührt, von keiner Pflugschar verletzt, alles von selbst. Und zufrieden mit den Speisen, die gewachsen waren, ohne dass jemand Zwang ausübte, sammelten sie Früchte vom Hagapfelbaum, Erdbeeren vom Berge, Kornelkirschen, Brombeeren, die an stachligen Sträuchern hingen, und Eicheln, die von Iuppiters weit ausladendem Baum gefallen waren. Ewiger Frühling herrschte, und sanfte Westwinde streichelten mit lauen Lüften Blumen, die ungesät entsprossen waren. Bald trug ungepflügte Erde auch Getreide, und ohne nach einer Brache neu bearbeitet zu sein, war der Acker weiß, voll schwerer Ähren.«17 Ein Sammeln ohne Jagen und Ackerbau, womöglich im Geiste der magischen Klänge, mit deren Hilfe Orpheus die wilden Tiere beruhigte!

Die Darstellungen des goldenen Zeitalters lassen sich auch in die Zukunft projizieren. In diesem Sinne prophezeit Vergils berühmte vierte Ekloge der Bucolica eine nahende Ära des Friedens und der Fülle, die sogar die Tiere erfassen wird. Rinder werden sich dann nicht mehr vor Löwen fürchten, Schlangen und Giftpflanzen werden verschwinden.18 Bereits acht Jahrhunderte zuvor hatte der Prophet Jesaja ähnliche Visionen formuliert: »Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange.« [Jes 11, 6–8] Eine Schöpfung, die nicht »auf Fraß gestellt ist«19, wie Canetti einmal bemerkt, zielt auf den Fleisch-, Tötungs- und Opferverzicht. Von solcher Utopie einer friedlich-paradiesischen Gemeinschaft zwischen Menschen und Tieren handelt Pier Paolo Pasolinis Film über die großen und kleinen Vögel: Uccellacci e Uccellini (1966). Der Film spielt in zwei Zeiten, einerseits in der Gegenwart, in der Vater und Sohn – gespielt von Totò und Ninetto Davoli – durch die Vorstädte wandern und dabei von einem sprechenden Raben begleitet werden, andererseits in der Zeit des Franziskus von Assisi, der zwei Mönchen den Auftrag erteilt, seine »Vogelpredigt zu Ende zu führen« und »mit zwei sehr unterschiedlichen Vogelarten zu beginnen: den anmaßenden Falken und den bescheidenen Spatzen«.20 Bruder Ciccillo (wiederum gespielt von Totò) erlernt das Kreischen