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Ein Boxer, den das Leben austrickst, ein Fischer ohne Fische, ein großherziger Hirte: Es sind Helden des Alltags, die diese Geschichten bevölkern. Der schüchterne Octave, die geflüchtete Samira und ein unverhoffter Schutzengel – sie alle eint die Suche nach einem erfüllten Leben in Liebe und Verbundenheit. Fatou Diome entführt uns auf eine Reise zwischen den Kulturen und Zeiten: von Paris über die französischen Alpen bis in den Senegal.
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2023
Fatou Diome
Aus dem Französischen von Brigitte Große und Ina Pfitzner
Diogenes
Djungdjung!
Meinem alten Fischer und seiner eleganten Dame
Was Waisen am meisten fehlt, habt ihr zu mir gesagt,
gibt es in keiner Bank und in keiner Scheune.
Eure Arme füllten die Canyons.
Für euch schlage ich weiter die Trommel.
Danke für alles, was es braucht, das Leben zu lieben.
Djungdjung!
Anwesenheit
Morgens wie abends im selben Stockwerk immer derselbe Schatten. Immer stand der Mann am Fenster. Wenn er nicht die vorbeifahrenden Autos zählte, wonach hielt er Ausschau? Den Blick zum Himmel gerichtet, was erhoffte er sich von Gott?
Auf der Straße humpelte er allein vor sich hin. Dem Aussehen nach ein Weißer; mehr war über ihn nicht bekannt. Seine Sprache zeugte von guter Bildung. Im Restaurant ließ er sich verwöhnen, ohne Angst vor der Rechnung. Wenn er sich das vom Ersten bis zum Letzten im Monat leisten konnte, wovon lebte er? Wer war er?
In Ermangelung einer Kristallkugel raunten die Klatschmäuler, er entstamme einer betuchten Familie aus der Region. Ein Nachkomme von Weinbauern womöglich. Die Götter haben den Boden im Elsass gesegnet. Ob gris oder noir, der Pinot fließt hier reichlich und lässt den Wohlstand wachsen. Spätabends an den Rheinufern sehen die Touristen die Schleppkähne auf Gewürztraminer vorbeiziehen, und die Feinschmecker unter ihnen versichern, dass selbst die Forellen in Riesling schwimmen! Beim Spaziergang durch die kleinen, feinen Gassen von Straßburg könnte der Besucher denken, die heilige Odilia habe hier nie einen Schützling in Lumpen und mit leerem Magen gesehen, kündete nicht das Münster vom jahrtausendealten Flehen der Kinder Evas. Da sich unser Mann ordentlich kleidete und reichlich zu essen bestellte, glaubten die Tratschenden, seine Wiege sei mit Seide ausgekleidet gewesen. Doch all das war reine Spekulation. Sie wussten, dass er nicht arbeitete, und so schlossen unsere Lokal-Sherlocks aus seiner Wohnanschrift und dem äußeren Anschein auf seinen Status. Es war ein Leben ohne Extravaganzen; sein einziger Luxus bestand darin, täglich im Restaurant an der Ecke zu speisen. Er bestätigte die Gerüchte nicht, noch widerlegte er sie. Obwohl er zwischen all den manierlichen Gästen seine Pizza oder sein Ossobuco sehr ungeschickt verzehrte, behandelte man ihn ob seiner ihm angedichteten Herkunft mit Respekt. Verschätzt heißt manchmal eben auch geschätzt. Und da das Leben noch ungerechter sein kann als der Mensch, wozu den Irrtum richtigstellen, wenn das Schicksal ausnahmsweise mal auf seiner Seite war? Ob Mittag- oder Abendessen, man traf ihn im Restaurant. Nach dem Essen hatte er keine Eile, blieb meist noch ein wenig sitzen. Jede kleine Unterhaltung zog er in die Länge und trödelte und bummelte bis zum Restaurantschluss. Alle nannten ihn Andy; vielleicht, weil sein Gemüt so schlicht schien wie sein Vorname? Selbst die Kinder sprachen ihn nicht mit »Monsieur« an. Er aber antwortete allen mit einem Lächeln.
Andy packte die Leute in Watte wie Schwerverbrannte. Er dehnte seine Sätze, hielt sie in der Schwebe und ließ sie weich landen. Seine Redeweise und sein Blick wirkten immer irgendwie besänftigend. Großzügig verteilte er Küsschen und freundliche Worte, sobald man sein Lächeln erwiderte. Und Andy lächelte, wie man auf unbekanntem Terrain die weiße Fahne schwenkt. Sein Gesicht leuchtete einladend und strahlte zugleich eine beunruhigende Gelassenheit aus, die verzweifelte Gelassenheit derer, die ihr Los akzeptiert und sich mit der Last auf ihren Schultern abgefunden haben. Vom Herrn des Gleichgewichts erbarmungslos gefordert, humpelte Andy stark. Eines seiner Beine war steif und verkümmert und machte ihm zu schaffen. Schon von Weitem war er zu erkennen: Andy taumelte nicht nur wie eine Kokospalme im Sturm, er wand sich, schlug regelmäßig nach links aus und konnte den Kopf kaum gerade halten. Wenn es stimmt, dass der Herr ihn nach seinem Bilde geformt hatte, dann muss er an dem Tag betrunken gewesen sein. Sich nicht zu bewegen machte es auch nicht leichter, denn seine Nerven spielten verrückt, egal, in welcher Position. Unwillkürliche Zuckungen schüttelten seinen Körper, vereitelten die einfachsten Bewegungen und bereiteten ihm Unbehagen. Sicher, Andy brauchte niemandem etwas zu beweisen, aber wie jeder zivilisierte Mensch wusste er, dass gutes Benehmen bei der Haltung beginnt. Doch je mehr er versuchte, sich zusammenzureißen, desto mehr rebellierten seine Nerven. Wie gelang es ihm, trotz dieser Qualen am Leben teilzuhaben? Obwohl ihn jeder einzelne Anfall sichtlich mitnahm, akzeptierte Andy sein Schicksal und sicherte sich seinen Platz unter den Anwesenden. In gewisser Weise kam er auf der Tatamimatte des Lebens besser zurecht als so viele andere, die Laufen als Leistungssport betrieben und wie wild herumrannten, um dem Alltag zu entfliehen. Andy stellte sich dem seinen, trug das Kreuz der Kinderlähmung tapfer und ohne zu lamentieren. Zwar hatte er weder die Statur eines Ringers noch die Balance eines Tänzers, trotzdem kam er Schritt für Schritt voran, immer in seinem Tempo. Die Jahreszeiten wechselten wie die Farbe seiner Jeans, aber nicht seine Stimmung. Woher nahm er seinen Gleichmut? Andy bezeichnete sich als Christ – doch lächelte etwa Christus mit dem Kreuz auf den Schultern? Andys Lächeln besagte: Ich bin hier. Einen Maulesel würde seine Bürde erdrücken: Wie schaffte dann Andy den Tanz des Alltags, ohne zu straucheln? Wenn man ihn so sah, wie er dahinhinkte, hin und her schwankte, das widerspenstige Bein nachzog und weiterhumpelte, kam es einem unanständig vor, sich über einen Schnupfen zu beklagen.
Andy begrüßte alle warmherzig und aufmerksam, tauchte jedoch nie in das Leben der anderen wie in ein Schwimmbecken. Denn Diskretion gehört sich nun mal, auch wenn die Nachbarn noch so nett scheinen. Lief Andy einem über den Weg, schaute er einen zunächst nur flüchtig an, bevor sein Blick lachend und voller Neugier verweilte. Mit einer Miene von fast kindlicher Unschuld lotete er die Laune des Gegenübers aus. Wer suchte keine Ermutigung, bevor er die unsichtbare Hürde überwindet, die uns voneinander trennt? Stellen Sie sich vor, Sie könnten weder laufen noch springen und schon gar nicht aus sicherem Stand boxen! Vorsicht ist keine Frage der Einstellung, wenn einem der Körper seine Wahrheit aufzwingt. Andys Körper verbot ihm jeglichen Übermut. Außerdem war er überaus höflich – die natürliche Zurückhaltung derer, die immer fürchten, sich anderen aufzudrängen, vor allem jenen, die sie nicht mögen. Scharfsinnig nutzte Andy seine Freundlichkeit wie einen Fallschirm. Allein hinkte er kreuz und quer durch das Viertel, besuchte seine Stammcafés. Wachsam schob er seinen Schatten durch die Welt und näherte sich anderen nur, wenn diese stillschweigend ihre Erlaubnis gaben. Wie viele einsame Fliegen müssen draußen bleiben, weil sich die Leute räumlich und geistig abschotten! Andy tat alles, um seinen widerspenstigen Körper zu zähmen, der dem Kopf die Gefolgschaft verweigerte und sein Feingefühl verletzte. »Huch, tut mir leid, ich bestelle Ihnen noch eins!«, sagte er entschuldigend, wenn er aus Versehen ein Glas umgestoßen hatte. »Nein, nein, ist nicht so schlimm, mach dir nichts draus«, antwortete man ihm prompt. Denn auch wenn ihm manchmal jemand einen spendierte, sträubten sich die meisten, von ihm etwas anzunehmen. So betont großzügig sie ihm gegenüber auch waren, offenbar war ihnen nicht klar, dass es mehr als nur Freundlichkeit, nämlich echter Respekt gewesen wäre, Andy auch mal eine Runde ausgeben zu lassen. Doch immer wiesen sie sein Angebot zurück in der Überzeugung, das Richtige zu tun, obwohl sie ihn damit verletzten. Ist ein Mann weniger stolz, wenn ihn die Natur vernachlässigt hat? Andy wusste die Antwort, schwieg aber aus Taktgefühl.
Manchmal, wenn er gekränkt war und diskret das Gesicht wahren wollte, tat er so, als hätte er einen Bekannten gesehen, und erhob sich, um sich woanders hinzusetzen. Ohne einen aus den Augen zu lassen, bewegte er sich mühsam vorwärts und verteilte Komplimente. Komplimente, die verschmitzt und anzüglich sein sollten, wo doch seine maßlose Schüchternheit verriet, dass er sich mit Spitzenwäsche wenig auskannte. Lag es an dem allzu zarten Flaum auf seinem Gesicht oder mimte er so den Verführer, der er gern gewesen wäre? Ach, was kümmern den Himmel die Wünsche der Sterblichen? Andy wusste das nur zu gut, also parodierte er die seinen. Scheu wie ein verletzter Vogel spielte er den Eroberer, der die Bräute der ganzen Stadt flachlegen konnte. Ob komplizenhaft oder kulant, seine Zuschauer lachten herzlich und nannten ihn einen unverbesserlichen Frauenhelden. Doch wenn er die Vorstellung mit beißender Selbstironie beendete, lachten alle plötzlich nicht mehr so laut. Denn auch an einer mit Heiterkeit präsentierten Wahrheit beißt man sich die Zähne aus, das Lächeln wird zur Grimasse oder erstirbt ganz. Andy war sanftmütig, aber nicht senil. Selbst durch den Schaum in seinem Bierglas betrachtet, blieb das Straßburger Münster am angestammten Platz. Und obwohl ihn viele der umschmeichelten Frauen mochten, kam er als potenzieller Partner für keine von ihnen infrage. Er hatte bemerkt, dass manche seinen zu feuchten Wangenküsschen auswichen, während andere sie mit einem Wohlwollen hinnahmen oder vielmehr ertrugen, das sie keinem anderen Mann entgegenbrachten. Außergewöhnlich sein ist gut fürs Ego, die Ausnahme sein nicht immer angenehm. Am Rande steht es sich selten bequem, vor allem, wenn man mit scharfem Blick den Abgrund unter den eigenen Füßen erkennt. Aber Andy ließ sich nicht unterkriegen. Die salbungsvolle Freundlichkeit jener Damen hatte etwas Verletzendes. Andy ließ das nicht kalt, doch anstatt sich dagegen zu verwehren, zog er stur seinen Stiefel durch. Mit treuherziger Miene ging er auf die zu, die ihn herablassend behandelten. Er umarmte sie und drückte ihnen seine nassen Küsschen auf, nutzte ihre Langmut aus und amüsierte sich darüber. Welches Herz aus Stein hätte ihm einen Vorwurf gemacht? Im Gesellschaftspoker macht jeder das Beste aus seinem Blatt. Indem er die Damen abschmatzte, nahm sich Andy vom lieben Gott das bisschen Zuwendung, das dieser ihm zugestand. Mit seinen Ende dreißig war ihm inzwischen eines klar: Die Frauen täuschen nicht nur im Bett etwas vor. Also küsste er die ihm widerwillig hingehaltenen Wangen, weil dort keine Stacheln wuchsen, doch Heuchelei sticht mindestens ebenso. So blieben zwar Andys Lippen unversehrt, aber in ihm nagte es. Keiner hört, wenn der Mast der guten Laune bricht. Doch selbst bei schlechtem Wetter ist ein Lächeln ein gesetztes Segel. Andy hielt Kurs.
»Guten Tag, Madame! Wie geht es Ihnen? Hallo, meine Süße, wie schön du heute bist, komm, gib mir einen Kuss! Hm, wie du duftest! Und so ein hübsches Dekolleté, meine Süße, da würde ich gern mal den Kopf draufbetten! Was meinst du, ich könnte dir ein Nachthemdchen schenken, aber ich möchte auch sehen, ob es dir steht. Alles Gute, Madame, auf Wiedersehen, gute Reise. Ach, meine Süße, du musst schon los? Aber nicht, bevor du mich geküsst hast, warte. Ja, noch mal! Da werde ich gut träumen und du vielleicht auch! Wer weiß? Na dann, bis bald!«
Er wusste nur zu gut, dass seine Küsse nur ihn zum Fantasieren brachten, das machte seine Scherze so herzzerreißend. Seine unbeschwerte Ironie bedeutete: Das Leben macht, was ihm gefällt, und ich nehme mir, was ich kann! Gierig genoss er die Weichheit der glatten und gepuderten Wangen, die sie ihm darboten, wohl wissend, dass er nie die Gelegenheit haben würde, seine Hände über die Kurven gleiten zu lassen, die er unter den Kleidern erahnte. Wenn man ihn freundlich zurechtwies, ihm vorwarf, eine Klette zu sein oder ungezogene Hände zu haben, lächelte er triumphierend und schob sein Nervenproblem vor: »Ich kann nichts dafür, tut mir leid! Meine Hände wandern einfach überallhin, ohne dass ich es will. Pardon!«
Wenn alle lachten, strahlte er wie ein Kind, das seine Eltern zu einem zweiten Bonbon überredet hat. Niemand störte sich an Andys Witzeleien oder daran, dass er jeden Körperkontakt in eine alberne Bemerkung verwandelte. Anders als es seine schlüpfrigen Sprüche und Andeutungen vermuten ließen, blieben seine Umarmungen, wenn auch sehr eng, eher züchtig. Klar, er irritierte, er provozierte, aber er war alles andere als ein perverser Lüstling, der jede flüchtige Berührung ausnutzte. Als Gentleman genoss er das Geplänkel und die ihm geschenkte Aufmerksamkeit, doch sein Blick blieb diskret. Andy nahm sich nie etwas gegen den Willen der anderen. Stoisch begnügte er sich mit den auf der Wange der einen oder anderen Frau aufgesammelten Brosamen der Zärtlichkeit. Jeglicher Überschwang in seiner Gegenwart war seiner ansteckenden Freude zu verdanken. Niemand weiß genau, wie, aber tatsächlich tröstete er diejenigen, die ihn bedauerten, nicht umgekehrt. Er, der Witzbold, der Frechdachs, beschwichtigte und brachte mit seinen theatralischen Verbeugungen die Leute zum Lachen.
Wenn auch keine Getränke, so gab Andy letztlich immer einen aus, denn er hatte die seltene Gabe, seine Anwesenheit für andere zum Fest zu machen. Die weniger Aufmerksamen sahen in ihm einen Einfaltspinsel, einen Luftikus, einen Spaßvogel. Doch die Hingabe, mit der er seine Rolle einnahm, machte nachdenklich. Um den Narren zu spielen, braucht es Intelligenz, man muss geistig beweglich sein und einen Teil der Wahrheit unterdrücken, oft den schmerzlichsten. Aber ach, verbergen heißt nicht vergessen. Andys vermeintliche Fröhlichkeit linderte nicht die Schwere in seinem Herzen. Manchmal versagte ihm die Stimme, hieß seine lachenden Augen lügen. Wie dunkel mochten die Tiefen sein, dass er so angestrengt um Leichtigkeit rang?
Gespielte Euphorie eignet sich nicht als Galauniform, denn irgendwann wird sie fadenscheinig und zeigt die Risse, die man unbedingt kaschieren will. Andys Verzückung war zu überzogen für die Monotonie des Alltags. Sein Lächeln blendete wie eine Fackel im Dunkeln und zog die Blicke auf sich. Welche Düsternis wollte er um jeden Preis vertreiben? Wovon wollte er mit seinem strahlenden Gesicht ablenken? Hinter jedem Witz versteckt sich im allerletzten Winkel des Seins der Blues, außer Reichweite für Neugierige. Andy war da keine Ausnahme. Selbst wenn er Witze riss und sich amüsierte, hatte sein Lächeln etwas Verkrampftes. Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus und fragte ihn in einem ruhigen Augenblick, ob alles in Ordnung sei. Sofort sprang sein innerer Wächter hervor, um mir den Einlass zu verwehren.
»Ja, könnte nicht besser gehen! Du siehst ja, ich bin fit wie ein Turnschuh. Und du, meine Liebe, wie geht es dir? Ich habe mich schon gewundert, wo du warst. In letzter Zeit habe ich dich nirgends gesehen. Bist wieder mal ohne mich verreist, das ist nicht nett! War es denn wenigstens schön? Erzähl mal!«
Und ippon! Gegen Andy wäre selbst Sigmund Freud bei »Wahrheit oder Pflicht« waza-ari awasete ippon auf der Matte gelandet. Im Wettlauf gegen eine Weinbergschnecke an Kräuterbutter hätte Andy zwar verloren, doch sein Geist war so wendig, dass er einem zwischen zwei Wimpernschlägen davondribbeln konnte. Mit Andy im Vertrauen reden? Er wand sich wie ein Aal und schnitt sofort ein anderes Thema an.
»Also, meine Liebe«, hakte er nach, »wo warst du denn diesmal?«
»Ich war ein paar Tage im …«
»Im Urlaub, ja, aber wo? Erzähl mal!«
Den Geschmack von Hibiskusblütensaft noch auf den Lippen, war ich gerade aus dem Senegal zurückgekehrt, und so konnte ich die Leerstellen zwischen seinen Fragen in leuchtenden Farben ausmalen. Allerdings verbarg ich aus Scham genau wie er das Wesentliche, und so musste er sich mit den allseits bekannten Baobabs und den Kokospalmen begnügen, die so treu über die Saloum-Inseln wachten, und dem goldenen Glitzern der Sandstrände im Sonnenuntergang, das noch in meinen Pupillen flimmerte.
»Dort, in deinem Land, wie war es da? Los, erzähl doch mal, bitte!«, drang Andy in mich wie ein weltlicher Beichtvater.
Ich gab nach. In der Fremde, wo die Erinnerung hin und her brandet, muss man da den Ozean groß bitten, einen seiner Meeresarme mit Wasser zu füllen? Andy, der glaubte, die Flut sei ihm zu verdanken, lächelte. Und zu seiner Bestätigung plapperte ich drauflos, dass die Wellen von Sangomar bis ins Bett des Rheins hinüberschwappten.
Da er offenbar immer noch nicht genug hatte, quasselte ich ihm die Ohren voll von Couscous aus Hirse in Niodor und vom unvergleichlichen Grillfisch an den Ufern des Saloum. Ich habe nicht die einmalige Stimme von Yandé Codou Sène, und doch sang ich ihm die Polyfonien der Serer vor und sogar die prahlerischen Bakus, die kampflustigen Gesänge der waghalsigen Athleten, die am Abend des Ringkampfs durch die Arena stolzieren.
»Und wie sind bei euch die Kampfregeln?«, unterbrach mich Andy. »Wie beim griechisch-römischen Stil?«
»Mehr oder weniger schon. Besiegt ist, wer die Knie auf der Erde hat oder die Beine in der Luft! Und auch wenn die Stolzen Gerissenheit für unehrenhaft halten, so rettet sie gerade den Außenseitern in der Arena die Ehre. Egal, welche Technik der Sieger anwendet, ein K.o. erkennt man am Gesicht des Verlierers. Aber es braucht schon das Zeug zum Champion, um an einem Tag der Niederlage wieder aufzustehen …«
Nach jeder seiner Fragen richtete sich Andy auf und ermunterte mich mit einem Nicken – falls das keiner seiner Ticks war – fortzufahren. Meine Zunge peitschte die Minuten wie die Paddel der Niominka den Rücken des ungeheuerlichen Atlantiks. Blabla und bla, dann drei Pünktchen, denn niemand kann seine Terra Mater zu Ende erzählen. Weil ich es trotzdem versuchte, habe ich vielleicht übertrieben. Aber konnte es mir mein Gegenüber verübeln, dass ich meine Heimat mangels Djungdjung mit den Lippen herbeitrommeln wollte? Wer nicht weiß, woher man kommt, weiß nicht, wer man ist. Als Fremder ist man sich dieser Tatsache bewusst und beantwortet beflissen die Fragen der Einheimischen, aller Wehmut zum Trotz. Das Heimweh ist das Salz der Erinnerungen. Indem ich meinen Bericht damit würzte, hoffte ich, Andy würde mein fernes Heimatland so lieben lernen, wie ich das seinige schätze. Auch wenn er keine Miene verzog, hatte ihm mein Souvenir aus der Heimat nicht missfallen. Wie sein gieriger Blick verriet, erwartete er von meiner banalen Reiseerzählung zwar keine Bibelexegese à la Paul Claudel, aber doch so etwas wie eine göttliche Offenbarung.
Nachdem ich seine Neugier lange genug gestillt hatte, schwieg ich nachdenklich. Und er? Was war denn mit seinem Urlaub? Dass der Zahnarzt einem eingehend die Kauleisten untersucht, ohne die eigenen zu zeigen, ist verständlich. Aber dieser Andy ohne weißen Kittel, bei dem sich nicht das Stethoskop verselbstständigen oder wie eine Wünschelrute ausschlagen würde, warum zoomte er mir auf die Stimmbänder und schonte seine eigenen? Von seiner Fragerei war mir vor lauter Höflichkeit der Kiefer lahm geworden. Warum packte er nicht selbst mal aus und verausgabte sich, bis ihm die Luft ausging? Von wegen behindert, er ließ einen ordentlich schmoren! Wortkarg ergötzte er sich am Singsang der anderen wie ein Junkie am Stoff. Andererseits – wenn er nicht betrunken war oder Fieber hatte – warum zappelte er so hektisch herum? Sein Hintern war zwar asymmetrisch, aber nicht auf Rädern, und auch der Stuhl im Restaurant hatte keine, trotzdem wackelte er, trampelte, drehte sich, dass dem Eiffelturm schwindlig würde. Nachdem wir mit seinen Pirouetten eine ganze Stunde herumgebracht hatten, sollte ich ihm da nicht endlich sagen, was die Uhr geschlagen hatte? »Also, weißt du, Andy, statt vor mir hin und her zu hüpfen wie ein Teller Porridge in einer Erdbebennacht, sag doch mal: Wo und wie hast du den Sommer verbracht?«
»Hier! Und es war sehr schön!«, sagte er schnell. »Sag mal, Schatz, weißt du eigentlich, dass ich einen hervorragenden Porridge mache? Ich gebe dir mal das Rezept, das allerbeste; ich tue Mandeln, Erdbeeren, Himbeeren und Heidelbeeren hinein, je nach Saison, und ein paar Nüsse …«
Bei einer harten Nuss wie ihm musste man extra viel Rohrzucker nehmen, um den Nachgeschmack des letzten Kaffees am Abend zu versüßen. In Sachen Urlaub hatte Andy die Katze nicht aus dem Sack gelassen, so wie der Kater der Kellnerin, die sonst kein Männchen zum Anhimmeln hatte, auf dem Display ihres Handys gefangen blieb. Als Gruß aus der Küche brachte sie ein paar Cannelés. Wir schlangen sie hinunter, während Andy weiter sein Rezept erklärte, das nur ihn selbst interessierte. Mit Lachen und Jauchzen versuchte er vergeblich, seinen Frust zu überspielen. Egal, wie freundlich der Ton, bei manchen Themen erschlaffen die Segel, und selbst Tanker werden ausgebremst. Der Marquis de Vauban ruhe in Frieden, Andy hatte ihn in der Kunst des Festungsbaus überflügelt. Seine Festung hatte ich nicht bezwungen, und doch bereute ich nicht, seinen Fragen nachgegeben zu haben.
Zwar hatte ich seinen Durst nach Afrika gelöscht, aber meinen nur überlistet. Ich hatte mich bemüht, ihn die jodhaltige, im Laub der Kokospalmen von Niodior singende Brise spüren zu lassen und die zarte Liebkosung der Sonne, wenn sie untergeht und die zahllosen Meeresarme des Saloum zum Schillern bringt. Dort, in den Windungen der Bolongs mögen die Krabben darben, doch in der wohltuenden Stille wahren sie ihr Geheimnis. Andy hätte gern eine solche Ruhe genossen. Wenn er auch nur eine Brotkruste brechen wollte, riskierte er einen epileptischen Anfall, verlor aber kein Wort darüber. Gott oder Teufel, wem vertraute er sich an? Auf seinen verkümmerten, schmerzenden Knien heulten sich olympiareife Kraftprotze über ihren Schnupfen aus. Er hörte ihnen zu und tröstete sie freundlich. Womit betäubte sich Andy, um sein Leid lachend zu ertragen? Ich, die bis Mitternacht seine Sahel-Scheherazade gespielt hatte, ließ Heimweh nicht zu; nach seinem Vorbild versuchte ich, das scharfzahnige Monster zu bezwingen, das ewig auf den Sohlen des Windes folgt. Andy hatte so viele Pirouetten gedreht, dass er sich einbilden mochte, im Tanz geführt zu haben, aber dem war nicht so. Wie von selbst waren wir zu den Ufern des Saloum gelangt, zu dem mich das Lasso der Erinnerung immer zieht. Aber ein Zwiegespräch ist wie ein Tango; dem Behänderen nutzt es nichts, schneller zu tanzen, wenn der andere auf der Stelle tritt. Doch egal, welcher Abgrund sich unter Andys Füßen auftat, er hielt sich auf seine Weise aufrecht. Insofern stand durchaus alles zum Besten, wie er behauptete, zumindest brauchte man sich keine allzu großen Sorgen um ihn zu machen.
Zwischen zwei Schluck Kaffee schien er aus einem Traum zu erwachen und meinte: »Hm, mein Schatz, du meinst also, du warst ein paar Tage in deinem Land? Das stimmt nicht. Ganze drei Wochen warst du weg. Ich weiß noch genau das Datum.«
»So ein Unsinn!«, kicherte ich. »Seit meiner Rückkehr haben wir uns noch gar nicht gesehen, woher willst du da das Datum wissen?«
»Du bist vor genau zehn Tagen zurückgekommen! Zwischendurch warst du dann noch mal weg, mindestens zweimal …«
»Nanu, woher weißt du das? Was bist du denn für ein Spion?«
Während ich verwundert die Stirn runzelte, lachte er aus vollem Halse. Woher wusste er so genau über mich Bescheid? Meines Wissens arbeitete Andy weder für den Auslands- noch für den Inlandsgeheimdienst. Kontakte zum KGB oder zum FBI hatte er auch keine. Was waren wohl seine Quellen, fragte ich mich, ohne ihn ins Verhör zu nehmen. Hörensagen konnte es nicht sein, denn niemand, der über mein Kommen und Gehen auf dem Laufenden war, kannte Andy oder verkehrte in dem Restaurant, in dem er tagtäglich saß. Blieb also nur das Fenster! Sein Ausguck, der Wachturm, von dem aus er den pulsierenden Verkehr beobachtete. Bevor sein forschender Blick im Sturzflug auf die Blinker niederging, blieb er offenbar an den Fassaden der Wohnhäuser hängen – weit weniger langweilig als die Autokolonnen, die selbst den Asphalt deprimierten. Da seine Bewegungsfreiheit so eingeschränkt war, warf Andy seinen Blick aus wie ein Fischer die Angelschnur. Vom Bug seines Mietshauses aus, was für Karpfen bekam er da an die Leine?
Die Architekten haben mehr Licht in die Wohnungen gelassen – und damit auch mehr neugierige Blicke. Der große blaue Pfirsich, der unter den Neonlichtern einer Amsterdamer Straße auf hungrige Esser wartet, ist im Jahrhundert der Transparenz der Hintern einer Dirne. Müssen wir Bioobst so vergeuden? Für den Verkauf von Waren ist eine Auslage natürlich praktisch. Aber für diejenigen, die ihre schönsten Früchte nicht allen zeigen wollen, ist unser Jahrhundert der Transparenz eine Zumutung. Was man auch tut, die Privatsphäre schwindet, zerfasert, verflüchtigt sich, und nicht nur über die Touchscreens. Wenn auch nicht durch den Schornstein, so entweicht sie doch so schnell wie der Geruch des Abendessens und die Rauchschwaden der brennenden Holzscheite im Kamin. Fliesen oder Parkett, Holzbalken oder Eisenpfeiler, man betoniert und vernagelt, wo man kann, doch es ändert nichts am spärlichen Schutz des Privatlebens. Egal, wie leichtfüßig der Rhythmus des Lebens auch ist, man lebt – oft ungewollt – auf einer Bühne. Ob jugendfrei oder nicht, durch Fenster und Erker kommen die Nachbarn in den Genuss eines kostenlosen Schauspiels. Wer Transparenz mit Voyeurismus verwechselt, dem kommt Scham verdächtig vor, und das Nebeneinanderwohnen wird obszön. Schnell, Gardinen vor die Fenster, das Fleisch lockt die Schakale an!
Seit meinem Einzug hatte ich, wenn ich im Wohnzimmer oder in der Küche war, das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden, doch sobald ich mich vergewissern wollte, war der Schatten im Fenster gegenüber verschwunden. Ich war neu im Viertel, und weil ich noch kaum jemanden kannte und nicht wusste, wer der Spanner war, behielt ich meinen Verdacht lange Zeit für mich, zumal mir die Vorstellung unangenehm war. Schließlich konnte es auch ein indiskreter Besucher gewesen sein. Beschuldigt man jemanden zu Unrecht, macht man sich nur lächerlich, also übte ich mich lieber in Geduld als vor Scham im Boden zu versinken. Aber ach, die Zeit verging, und mein Eindruck verstärkte sich: Ein Besucher hätte sich nicht mit solcher Regelmäßigkeit in die Manege begeben. Der Uhu, der bei Einbruch der Dunkelheit die Augen durch meine Fensterscheiben bohrte, war dort zu Hause. Der stille Mond war mein Zeuge: Das Ausspionieren meines Tuns und Lassens war zur Lieblingsbeschäftigung meines Nachbarn von gegenüber geworden. Aber wer von all den Herren in dem schmucken Mietshaus war der Perversling? Wartete Gott in seinem Gleichmut bis zum Jüngsten Gericht, um mit dem Finger auf den Übeltäter zu zeigen? Astaghfirullah, um Vergebung bitten, ich? Nein, keine Reue, ich habe nicht gelästert! Und wenn mich der Meister der Vergeltung in der Hölle rösten wollte, sollte er doch wohl erst einmal das Feuer mit dem Kadaver des verdammten Voyeurs anfachen.
Die Tage vergingen wie im Flug, klebten Augen in die Fenster und Spinnweben an die Decke. Da mir der Anstand einen Maulkorb anlegte, verhielt ich mich den Nachbarn gegenüber korrekt. Andy traf ich manchmal auf der Straße und fast jedes Mal, wenn ich im Restaurant um die Ecke einkehrte. Anfangs tauschten wir nur ein paar Höflichkeiten aus. Dann wurden unsere Begrüßungen länger und persönlicher. Wir hatten uns schon ein wenig angefreundet, als er etwas über mein Fortsein sagte, das meinen Verdacht bestätigte und meiner Suche ein Ende setzte. Er war es also! Von seinem Adlerhorst aus hatte er mich direkt im Visier. Mit alarmierender Sorglosigkeit hatte sich Andy zu erkennen gegeben: »Aber ja doch, mein Schatz! Warum soll ich lügen? Ja, ich schaue dir abends zu, weil es lustig ist! Letztens habe ich dich tanzen gesehen, bei dir im Wohnzimmer, das hat mir sehr gefallen.
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