"Was mir geholfen hat ..." – Halt finden in schwierigen Zeiten - Anselm Grün - E-Book

"Was mir geholfen hat ..." – Halt finden in schwierigen Zeiten E-Book

Anselm Grün

0,0

Beschreibung

Was in kleinen und großen Krisen hilft Als Anselm Grüns Nichte Helena Schröder im Frühjahr 2020 ein Instagram-Account für Anselm Grün einrichtete, kam sie auf die wunderbare Idee, jeden Monat eine »Themenwoche« zu veranstalten. Dazu lud sie prominente Persönlichkeiten ein, um aus ihrer eigenen Erfahrung heraus Beiträge zu Themen zu verfassen, die uns als Menschen heute bewegen. Helena Schröder und Anselm Grün spürten in der besonderen Resonanz auf die »Themenwochen«, dass die Sehnsucht der Menschen nach Antworten groß ist, die aus christlicher Glaubenserfahrung kommen. So entstand die Idee, sie gesammelt und durch weitere Beiträge ergänzt in diesem Buch herauszugeben. Wie bei den »Themenwochen« behandelt auch jetzt im Buch jedes Kapitel eine bestimmte Herausforderung, die das Leben uns stellt. Ergänzend sind jeweils Expertenbeiträge und Erfahrungsberichte versammelt. Außerdem beantwortet Anselm Grün Fragen von Followern seines Instagram-Accounts. Halt finden und Halt geben Gefühle wie Einsamkeit, Traurigkeit oder Angst und Schicksalsschläge wie Krankheit oder Verlust erfahren wir alle im Leben immer wieder.  Was sind Lichtblicke, die uns in diesen Momenten stärken und aufrichten? Was gibt uns Hoffnung, neue Kraft und Halt, wenn wir es im Leben schwer haben? Diese Fragen beantworten Anselm Grün und zahlreiche Prominente wie Michaela May, Walter Kohl, Martin Rütter, Samuel Rösch, Katrin Göring-Eckardt, Bodo Janssen, Michael von Brück, Babak Rafati u.v.m. Leicht verständlich ergänzen impulsgebende Beiträge von PsychologInnen und TherapeutInnen diese einzigartige Sammlung authentischer und persönlicher Geschichten. Ein ebenso bewegendes wie hilfreiches Buch.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 187

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anselm Grün | Helena Schröder

»Was mir geholfen hat …«

Halt finden in schwierigen Zeiten

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © Maltiase/GettyImages

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print: 978-3-451-60888-9

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82676-4

Inhalt

Vorwort

Einsamkeit

Anselm Grün: Alleinsein und Einsamkeit

Dr. Ahmad Bransi: Einsamkeit – Ein stilles Leid

Linda Jarosch: Verbunden sein mit anderen – und uns selbst

Michaela May: Gemeinsam geht es besser

Katrin Göring-Eckardt: Hoffen und vertrauen

Clemens Bittlinger: Allein auf unserem Weg

Dr. Donata Müller: Einsamkeit bei Kindern

Anselm Grüns Antworten zur Einsamkeit

Anselm Grüns Wunsch: Endlich wieder unbeschwert Freunde treffen

Trauer

Anselm Grün: Trauern und Trösten

Silke Neumaier: Trost ist möglich

Walter Kohl: Neues Glück

Tanja Friedrich: Einem verstorbenen Menschen vergeben

Nikolaus Schneider: Trauer verwandeln

Mechthild Schroeter-Rupieper: Gefühle teilen, in guten und schlechten Zeiten

Jan-Uwe Rogge: Wenn Kinder trauern

Michael von Brück: Trauer und Sehnsucht

Linda Jarosch: Lebendige Trauer

Anke Keil: Trauer bleibt

Clemens Bittlinger: Zeit der Trauer

Pierre Stutz: Die heilenden Kräfte der Tränen

Anselm Grüns Antworten zur Trauer

Anselm Grüns Wunsch: Frieden im Innen und Außen

Über sich selbst ärgern

Anselm Grün: Nimm dich selbst liebevoll an

Samuel Koch: Der Ärger mit dem Ärger

Nikolaus Schneider: Schlechter Ärger, hilfreicher Ärger

Anselm Grüns Antworten zum Ärger

Anselm Grüns Wunsch: Geduld

Angst

Anselm Grün: In deinem innersten Raum bist du geschützt

Dr. Tobias Freyer: Wenn Angst zur Krankheit wird

Walter Kohl: Der Umgang mit der Angst

Clemens Bittlinger: Trostvolle Wege aus der Angst

Dr. Donata Müller: Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen

Tim Niedernolte: Engel ohne Flügel und die Sache mit der Angst

Pierre Stutz: Im Dialog mit der Angst

Nikolaus Schneider: Fürchte dich nicht

Eva Imhof: Mein Angstdrache und ich

Heinrich Bedford-Strohm: Warum wir Angstdistanz brauchen

Bodo Janssen: Durch die Enge der Angst gehen

Elke Hohmann: Die Angst vor dem eigenen Tod

Michael von Brück: Angst und Achtsamkeit

Anselm Grüns Antworten zur Angst

Anselm Grüns Wunsch: Vertrauen wiederfinden

Krankheit

Anselm Grün: Lebe dankbar und voller Vertrauen

Cornelia Schenk: Gesund mit Krankheitsängsten umgehen

Marco Schulz: Die Liebe bleibt

Martin Rütter: Im Jetzt sein

Malu Dreyer: Der Wert der Gesundheit

Samuel Rösch: Weiterleben

Nikolaus Schneider: Leben in Fülle

Clemens Bittlinger: Positive Nebenwirkungen

Anselm Grüns Antworten zu Krankheit

Anselm Grüns Wunsch: Im Vertrauen bleiben und mehr Hingabe im Akzeptieren von Krankheit

Narzissmus

Anselm Grün: Bleibe in deiner Mitte

Dr. Pablo Hagemeyer: Narzissmus! Moral oder Diagnose in der aktuellen Narzissmus-Debatte

Christian Hemschemeier: Warum wir den Narzissmus-Begriff nicht (mehr) brauchen

Anselm Grüns Antworten zu Narzissmus

Anselm Grüns Wunsch: Sich nicht mehr erniedrigen lassen

Depression

Anselm Grün: Verurteile dich nicht

Dr. Ahmad Bransi: Depressionen sind ernsthafte seelische Erkrankungen

Silke Neumaier: Depressionen können jeden treffen

Evamaria Bohle: Durch die Wüste

Prof. Dr. Daniel Hell :Was Depressionen uns zu sagen haben

Dr. Donata Müller: Hilfe für Kinder depressiver Eltern

Ruedi Josuran: Das große Ja zu mir

Jens Sembdner: Annehmen und ausharren

Babak Rafati: Das eigene Drehbuch leben

Pierre Stutz: Depression und Aggression

Anselm Grüns Antworten zu Depression

Anselm Grüns Wunsch: Körperliche und seelische Gesundheit

Entwertung

Anselm Grün: Schenke dir Trostworte

Monika Gruhl: Ein positives Selbstbild

Bodo Janssen: »Du bist mir wichtig«

Walter Kohl: Entwertungserfahrungen

Nikolaus Schneider: Wertschätzung statt Bewertung

Pierre Stutz: Sei auch gut mit dir

Tim Niedernolte: Mehr Respekt, bitte! – Die Goldene Regel

Anselm Grüns Antworten zu Entwertung

Anselm Grüns Wunsch: Mehr Akzeptanz und Toleranz

Übersehen werden

Anselm Grün: Gib, ohne erschöpft zu werden

Monika Gruhl: Beziehungen gestalten

Michael Grün: Aufmerksamkeit und Achtung schenken

Nikolaus Schneider: Gesehen und gewürdigt

Anselm Grüns Antworten zum Übersehen werden

Anselm Grüns Wunsch: Mitmenschen, die es gut meinen

Die Autorinnen und Autoren

Quellenverzeichnis

Vorwort

Als meine Nichte Helena Schröder im Frühjahr 2020 ein Instagram-Account für mich einrichtete, kam sie auf die wunderbare Idee, jeden Monat eine »Themenwoche« zu veranstalten. Dazu lud sie prominente Persönlichkeiten ein, die aus christlichem Geist denken, um aus ihrer eigenen Erfahrung heraus Beiträge zu Themen zu verfassen, die uns als Menschen heute bewegen – wie den Umgang mit Ängsten, mit Depression, mit Einsamkeit. Das positive Echo der Beitragenden, unter ihnen Schauspieler, Musiker und Politiker ebenso wie Ärzte und Therapeuten, war überwältigend. So viele waren sofort bereit, etwas zu schreiben und dabei auch zutiefst Persönliches von sich preiszugeben. Und das Echo der Follower war sogar noch größer. Unzählige Kommentare wurden gepostet und Fragen gestellt, die ich dann wiederum versucht habe, zu beantworten.

Helena und ich spürten in dieser besonderen Resonanz auf die »Themenwochen«, dass die Sehnsucht der Menschen nach Antworten groß ist, die aus christlicher Glaubenserfahrung kommen. Auch wenn immer weniger Leute heute in die Kirche kommen, wollen doch viele am Reichtum christlicher Spiritualität und christlicher Heilkunst teilhaben. Als dann Dr. Rudolf Walter vom Herder Verlag die Texte las, kam er auf die Idee, sie gesammelt und durch weitere Beiträge ergänzt als Buch herauszugeben. Wie bei den »Themenwochen« behandelt jedes Kapitel eine bestimmte Herausforderung, die das Leben uns stellt. Dazu haben wir jeweils Expertenbeiträge und Erfahrungsberichte versammelt. Außerdem beantworte ich Fragen von Followern meines Instagram-Accounts.

Gerade in unserer schwierigen Zeit, in der viele Menschen verunsichert sind durch die Pandemie und die Folgen des Klimawandels, sehnen sie sich nach einem Halt. Schon in der Bibel heißt es: »Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht.« (Jes 7,9) Man könnte dieses Wort auch frei so übersetzen: »Glaubst du nicht, so hast du keinen Stand, keinen Halt.« Der Glaube gibt uns mitten in der Verunsicherung unserer Zeit einen festen Halt, auf dem wir stehen können, auch wenn um uns herum viele ständig hin- und herschwanken. Gott selbst wird in der Bibel oft als Fels beschrieben, der uns festen Halt gibt. Die Menschen sind heute offen für solche Botschaften, wenn sie nicht aus einer moralisierenden oder besserwisserischen Haltung heraus formuliert werden, sondern im Blick auf den Menschen, der sich heute danach sehnt, festen Boden unter seinen Füßen zu finden.

So wünschen wir den Lesern und Leserinnen, dass sie bei den Antworten, die aus der je persönlichen Lebenserfahrung der Autoren kommen, sich selbst verstanden fühlen. Wer sich verstanden fühlt, findet auch einen guten Stand im Leben. Was ich verstehe, das ermöglicht es mir, zu mir zu stehen. Mögen viele beim Lesen dieser Texte den Halt finden, nach dem sie sich in diesen unsicheren Zeiten sehnen, und für sich selbst einen Glauben entdecken, der sie trägt, auch wenn alles um sie herum zu schwimmen beginnt.

P. Anselm Grün und Helena Schröder

Einsamkeit

Anselm Grün Alleinsein und Einsamkeit

Viele Menschen fühlen sich heute einsam. Sie sind nicht getragen von einer Familie oder einem engen Freundeskreis. Bei vielen der Älteren sind ihre Liebsten bereits verstorben oder aber sie leben jeder für sich, vielleicht sogar weit entfernt voneinander. Der sich immer weiter ausbreitende Individualismus führt dazu, dass auch immer mehr jüngere Menschen einsam sind. Die Kontaktbeschränkungen während der Pandemie haben diesen Zustand nur verschlimmert. Viele leiden an dieser Vereinsamung durch soziale Isolierung. Niemand kümmert sich um sie. Sie fühlen sich nicht zugehörig zur menschlichen Gesellschaft, sondern ausgeschlossen.

Die Einsamkeit gehört aber wesentlich zum Menschen. Daher ist es die Aufgabe des Menschen, seine Einsamkeit anzunehmen. Der evangelische Theologe Paul Tillich (1886–1965) meinte: »Religion ist das, was jeder mit seiner Einsamkeit anfängt.« Die Einsamkeit verweist mich auf Gott. Und zugleich verwandelt Gott meine Einsamkeit in einen Ort spiritueller Erfahrung. Der katholische Philosoph Peter Wust (1884–1940) meinte, Einsamkeit sei das Heimweh nach Gott. Sie kann nur überwunden werden, wenn ich mich in ihr nach Gott als meiner wahren Heimat sehne. Dag Hammarskjöld, der 1961 verstorbene UN-Generalsekretär und Friedensnobelpreisträger, hat das ähnlich gesehen. Er meinte: »Bete, dass deine Einsamkeit zum Stachel werde, etwas zu finden, wofür du leben kannst, und groß genug, um dafür zu sterben.« Die Einsamkeit will uns öffnen für das Geheimnis Gottes. Sie zeigt uns das Geheimnis allen Seins. Das hat auch der Philosoph Friedrich Nietzsche erkannt, auch wenn er nicht Gott als das eigentliche Ziel der Einsamkeit nannte: »Wer die letzte Einsamkeit kennt, kennt die letzten Dinge.« Es geht also darum, sich mit seiner Einsamkeit auszusöhnen. Dann kann sie zu einem Ort spiritueller Erfahrung werden. Daher meinte der Philosoph Odo Marquard (1928–2015), dass nicht die Einsamkeit das eigentliche Problem des heutigen Menschen sei, sondern der Verlust an Einsamkeitsfähigkeit.

Wer fähig ist, seine eigene Einsamkeit anzunehmen, der findet in ihr inneren Frieden. Das erleben wir gerade bei alten Menschen: Sie fühlen sich oft einsam. Viele Verwandte und Freunde ihrer Generation sind gestorben. Wenn sie sich aussöhnen mit ihrer Einsamkeit, geht von ihnen Frieden aus. Doch viele benutzen ihre Kinder oder jüngere Verwandten, um der eigenen Einsamkeit zu entfliehen. Dann zwingen sie diese, sie ständig zu besuchen. Doch damit fliehen sie vor einer wichtigen Aufgabe: die Einsamkeit zu verwandeln in das Heimweh nach Gott.

Im Deutschen sprechen wir nicht nur von Einsamkeit, sondern auch von Alleinsein. Peter Schellenbaum, ein Psychologe der Schule von C.G. Jung, meint, die Kunst der Menschwerdung bestünde darin, das Alleinsein in ein »All-Eins-Sein« zu verwandeln.

Wie geht das? Ich kenne die Erfahrung, dass ich mich am Sonntagnachmittag allein fühle. Das erzeugt ein Gefühl von Traurigkeit. Doch wenn ich durch die Traurigkeit hindurchgehe, in den Grund meiner Seele, dann spüre ich, dass ich dort eins bin mit allen Menschen – gerade mit denen, die sich jetzt auch einsam fühlen. Und ich bin eins mit Gott, eins mit der Schöpfung, eins mit mir selbst. Dann spüre ich mitten in der Traurigkeit einen tiefen inneren Frieden. Ich bin dann nicht allein, sondern eins mit allen. Das ist für mich eine wunderbare spirituelle Erfahrung.

Die Not, die viele in ihrem Alleinsein spüren, ist, dass sie sich alleingelassen fühlen, dass sie sich nirgendwo zugehörig fühlen. Wenn ich das Alleinsein in ein All-Eins-Sein verwandle, dann fühle ich mich zugehörig. Dann gehöre ich zu allen Menschen, ich gehöre zu Gott. Wer sich zugehörig fühlt, fühlt sich geborgen und getragen. Er findet in seinem Alleinsein in den Grund allen Seins hinein, in dem er eins ist mit allem, was ist, eins vor allem mit Gott. Dann ist er nicht allein. Gott ist bei ihm.

Dr. Ahmad Bransi Einsamkeit – Ein stilles Leid

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Stille Sonn- und Feiertage, schlaflose Nächte und traurige Urlaubstage – Einsamkeit, innere Leere und das Gefühl nicht geliebt zu werden. Viele unter uns leiden darunter, schämen sich aber, darüber zu sprechen. Eine stille Wut macht sich breit, ein Groll gegen alle, die Partner und Familie haben und nicht einsam sind. Dabei sind nicht nur ältere oder kranke Menschen betroffen, auch Singles im besten Alter oder erfolgreiche Frauen und Männer sind einsam. 

Was sind die Ursachen von Einsamkeit?

Warum ein Mensch sich einsam fühlt, kann mehrere Gründe haben: seelische oder körperliche Erkrankungen oder plötzliche Schicksalsschläge. Menschen, die sich einsam fühlen, wurden oft schon im Kindesalter mit dem Gefühl konfrontiert. Eltern, die nicht da oder nicht einfühlsam sind, nicht ausreichend Liebe von Geschwistern oder Großeltern – das verunsichert und führt dazu, dass diese Kinder Schwierigkeiten haben, Kontakte zu knüpfen und Beziehungen aufrechtzuerhalten. Die Einsamkeit kann für viele irgendwann so schmerzhaft werden wie eine körperliche Erkrankung. Dabei ist einsam sein nicht dasselbe wie alleine sein. Denn Einsamkeitsgefühle können auch auftreten, wenn der Mensch scheinbar gut in seinem Umfeld vernetzt ist und beliebt, verheiratet und erfolgreich ist. So führt allein sein nicht zwangsläufig zu Einsamkeit und verheiratet und beliebt sein nicht immer zu glücklicher Zweisamkeit. Viele Menschen fürchten sich vor der Einsamkeit, während andere bewusst danach streben. Dabei könnte man doch meinen, dass in unserem vernetzten Zeitalter Einsamkeit am Aussterben ist.

Alleinsein ist heute kein Zustand, der von der Gesellschaft als positiv wahrgenommen wird. Wer allein ist, gilt als Langweiler. Viele Menschen suchen ständig die Gesellschaft anderer. Wenn es sich nicht vermeiden lässt und sie doch mal allein sein müssen, schalten sie den Fernseher, das Radio oder den Computer an, nur um sich nicht mit sich selbst beschäftigen zu müssen. So haben sie nie gelernt, das Alleinsein als angenehm zu empfinden. Im Gegenteil, hinter dem Gefühl der Einsamkeit stecken oft hohe Erwartungen an sich selbst und eine große Unzufriedenheit. Viele fühlen sich einsam, weil sie sich ständig mit anderen vergleichen: andere Menschen erscheinen klüger, schöner, erfolgreicher, beliebter. Das ist oft der erste Schritt zur Abschottung. Die Betroffenen lehnen sich selbst ab und fühlen sich nicht liebenswert. Sie glauben, unbedingt einen Partner haben zu müssen, um glücklich zu sein, und sind stark auf das Lob, die Anerkennung und den Zuspruch anderer angewiesen. Dagegen können sich Menschen, die gerne mal allein sind, aber auch im Kontakt zu anderen stehen, besser selbst annehmen und daran glauben, anderen Menschen etwas geben zu können. Sie können damit umgehen, dass jemand sie ablehnt und ihre Schwächen erkennt. Einsamkeit hängt also nicht davon ab, ob jemand allein ist, sondern von der Einstellung, die er zum Leben hat.

Welche Symptome haben einsame Menschen?

Betroffene, die sich einsam fühlen, legen verschiedene bezeichnende Verhaltensweisen an den Tag. Neben der seelischen Auseinandersetzung in Gedanken und Gefühlen entstehen auch körperliche Auswirkungen. Symptome und Anzeichen von Einsamkeit können sein:

MüdigkeitNervosität und ReizbarkeitRückzugdas Gefühl, leer zu seinDepressionProbleme, einzuschlafen oder durchzuschlafenGedanken an den Tod

Einsame Menschen fühlen sich auch im größten Trubel allein. Ihre Gedanken kreisen um Fragen wie »Warum sind andere glücklich und ich nicht?«, »Wer will schon meine Gesellschaft?«. Ihre Gefühle werden von Negativem bestimmt.

Menschen sind nicht für das Alleinsein gemacht: Früher, in prähistorischen Zeiten, waren wir darauf angewiesen, in Gemeinschaft zu leben – um Gefahren abzuwehren und unser Überleben zu sichern. Daher hat sich vermutlich ein Mechanismus herausgebildet: Wenn wir auf uns allein gestellt sind und den Schutz der Gruppe verlieren, gerät der Körper in Alarmbereitschaft und schüttet zum Beispiel das Stresshormon Cortisol aus. Bei einsamen Menschen, so zeigen zahlreiche Untersuchungen, ist der Spiegel dieses Hormons im Blut dauerhaft erhöht. Auch der Blutdruck und Blutzuckerspiegel erhöhen sich, das Immunsystem ist geschwächt. Wie genau die Zusammenhänge im Körper wirken, ist noch nicht erforscht. Doch es gibt einige Hinweise.

In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass Einsamkeit die Wahrscheinlichkeit für zahlreiche Krankheiten erhöht: Neben Depressionen und Angsterkrankungen sind das Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs, Demenz. In einer umfangreichen Meta-Studie konnte die amerikanische Wissenschaftlerin Julianne Holt-Lunstad zeigen, dass Menschen mit funktionierenden sozialen Interaktionen seltener an vielen Krankheiten leiden. Denn: Soziale Interaktion schützt das Herz und stärkt das Immunsystem. Cortisol ist eine Art Marker für das Immunsystem. Bei sozialen Interaktionen steigt die Anzahl sogenannter Killerzellen, die unter anderem verhindern können, dass Krebs entsteht. Cortisol aber schwächt die Bildung von Killerzellen. Die generelle Sterblichkeit bei einsamen Menschen steigt.

Lange Zeit haben vor allem die körperlichen Folgen von Einsamkeit wenig Beachtung gefunden. Einsamkeit ist allerdings ein großer Risikofaktor. Die Ausmaße vergleicht man mit denen von Alkoholsucht und Fettleibigkeit – ähnlich viele Menschen sind betroffen.

Was hilft gegen Einsamkeit?

Wer sich einsam fühlt, sollte lernen, sich und das Alleinsein anzunehmen. Singles zum Beispiel können sich vergegenwärtigen, dass eine Partnerschaft nicht alles ist. Einsame Menschen können aktiv etwas gegen ihre Einsamkeit tun, zum Beispiel:

Selbstfürsorge üben, Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen, dem Leben einen Sinn geben.

Menschen, die sich einsam fühlen, werden immer wieder Momente erleben, in denen sie sich auf sich selbst zurückgeworfen und allein fühlen – auch wenn sie es schaffen, gegen die Einsamkeit anzukämpfen. Jeder Mensch durchlebt Zeiten, in denen er sich ungeliebt, hilflos und isoliert fühlt. Ehrlich darüber zu sprechen, auch einmal zuzugeben, dass man sich momentan nicht wohlfühlt, kann helfen. Sich anderen Menschen zu öffnen kann befreiend und lindernd für die Einsamkeit sein. Wichtig ist, dem Gefühl nicht weiter nachzugeben, sondern dagegen anzugehen.

Linda Jarosch Verbunden sein mit anderen – und uns selbst

Autorin und Bildungsreferentin

Wir fühlen uns einsam, nicht nur wenn wir die Verbindung zu anderen Menschen verloren haben, sondern vor allem zu uns selbst. Oft können wir uns nicht eingestehen, wie bedürftig wir sind nach Zuwendung, nach Austausch und Trost, weil wir in dieser Bedürftigkeit verletzlich sind. Jemand könnte uns zurückweisen oder uns nicht verstehen. Und so verdrängen wir das tiefe Bedürfnis nach Kontakt, das in uns leben will. Wir wundern uns nur, dass wir uns einsam fühlen. Vielleicht fühlen wir uns auch in einer Gemeinschaft nicht mehr wohl oder spüren als älterer Mensch, nicht mehr geborgen zu sein in dieser Welt. Dann zeigt die Einsamkeit an, wo ein Loslösen vor uns liegt oder wo wir ein Öffnen brauchen. Dann können wir mitten in der Einsamkeit auch einem anderen etwas von uns geben, was diesem Menschen hilft: ein gutes Wort, eine Geste, ein Lächeln.

Michaela May Gemeinsam geht es besser

Schauspielerin

Das Internet ist voll von Tipps gegen die Einsamkeit: Man soll sich nicht selbst die Schuld geben, man soll freundlich und offen auf seine Mitmenschen zugehen, man soll aktiv werden und bei einem Kurs oder einem Verein mitmachen, um andere Menschen kennenzulernen.

Das ist sicher alles richtig, aber mir fehlt da ein ganz entscheidender Punkt: Nicht nur die Einsamen sind gefragt, sondern wir alle! Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrer verwitweten Großtante telefoniert? Wechseln Sie manchmal im Hausflur ein paar Worte mit Ihrem alleinlebenden Nachbarn?

Gerade bei älteren Menschen kann man nicht erwarten, dass sie sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Deshalb engagiere ich mich als Schirmherrin für den Verein Retla e.V. und seine »Telefonengel-Aktion«, bei der freiwillige Helfer mit einsamen Seniorinnen und Senioren telefonieren. Wir hören dabei tieftraurige Geschichten von Menschen, um die sich einfach niemand mehr kümmert. Aus Seniorenheimen hören wir, dass nur etwa ein Viertel der Bewohnerinnen und Bewohner regelmäßig Besuch bekommt.

Da läuft etwas grundfalsch. Wir dürfen ältere Menschen nicht einfach an den Rand drängen. Sie haben uns so viel gegeben, und sie können das immer noch tun. Eine soziale Gesellschaft entsteht durch das Miteinander aller Generationen. So erleben unsere Telefon-Paten, dass ihr Einsatz nicht nur einsamen älteren Menschen hilft – sie selbst haben Spaß dabei und lernen ganz neue Perspektiven auf das Leben kennen. Gemeinsam geht es einfach allen besser.

Katrin Göring-Eckardt Hoffen und vertrauen

Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Bündnis 90/Die Grünen

Einsamkeit macht das Herz schwer. Es fehlen der Blick, der dich wirklich sieht, der Händedruck, der Verbindung schafft, die Umarmung, die dich hält. Einsamkeit macht krank, die Seele und den Körper. Wie schön war der Erfindungsreichtum der Menschen, im Lockdown ihre und die Einsamkeit ihrer Lieben zu überwinden! Die Oma lernte zu skypen, Kirchenglocken riefen zum gemeinsamen Gebet, im Mehrfamilienhaus traf man sich von den Balkonen aus.

Aber die Einsamkeit kam nicht mit dem Lockdown. Unsere Städte bestehen fast zur Hälfte aus Single-Haushalten, und es gibt immer weniger Orte, an denen man sich begegnen kann, ohne gleich wieder Geld auszugeben. Oder das Dorfcafé ist weg und der Bus fährt selten. So viele Senioren und Seniorinnen warten lange auf einen Besuch. Kinder haben keinen Ort, an dem sie einfach abhängen können, einfach da sein, sich treffen. Und es gibt Einsame mitten unter Menschen, wie das ausgegrenzte Schulkind oder die gemobbte Kollegin.

Wer einsam ist, fühlt sich, als wäre sie oder er allein auf der Welt. Da kann es helfen, sich zu erinnern, wie vielen Menschen es so geht! Heute und zu allen Zeiten. Ich finde es immer tröstlich, wenn ich in den uralten Worten der Bibel Erfahrungen wiederfinde, die ich selbst allzu gut kenne. In den Psalmen spielt Einsamkeit immer wieder eine Rolle, ja sogar das Sichverlassenfühlen von Gott: »Ich sage zu Gott: […] warum hast du mich vergessen?« (Ps 42,10, LUT). Wir werden wohl alle in unserem Leben von Zeiten der Einsamkeit nicht völlig verschont bleiben. Ich wünsche uns, dass wir dann mit Mund und Herz auch immer wieder einstimmen können in das Vertrauen, in das der Psalmbeter zurückfindet: »Harre auf Gott, meine Seele! Denn ich werde ihm noch danken.« (Ps 42,12, LUT) Harren, also warten. Und hoffen. Hoffentlich nicht allein.

Clemens Bittlinger Allein auf unserem Weg

Evangelischer Pfarrer und Seelsorger

»Allein, wir sind allein, wir kommen und wir gehen ganz allein, wir mögen noch so sehr geliebt, von Zuneigung umgeben sein, die Kreuzwege des Lebens gehen wir immer ganz allein«, hat Reinhard Mey vor vielen Jahren einmal getextet. In diesem Lied hat er das biblische Bild vom Kreuzweg aufgegriffen, den Jesus allein gehen musste, niemand konnte diesen Weg für ihn gehen. Jesus durchlitt die Tiefen dieser Einsamkeit, um all jenen nah zu sein, die sich auch heute einsam fühlen. Die plötzliche Diagnose einer schlimmen Krankheit, der Tod eines geliebten Menschen, der Verlust des Arbeitsplatzes – es gibt viele Situationen, in denen wir auf einmal einsam sind, weil wir spüren und wissen, dass uns niemand diesen Weg abnehmen kann. Dann kann es helfen, zu wissen: Wer glaubt, ist nicht allein: Gott ist da, still und trostvoll, und mitunter, während wir ratlos vor einer verschlossenen Tür stehen, öffnen sich ganz unmerklich neue Türen.

Dr. Donata Müller Einsamkeit bei Kindern

Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Es mag paradox klingen: Noch nie lebten auf unserem Planeten so viele Menschen wie heute, noch nie war es so einfach, sich mit einem Klick mit einem Menschen auf der anderen Seite der Erde zu verbinden – und doch, fragt man die Menschen nach ihrem subjektiv am schlimmsten empfundenen Übel, so werden sofort sehr viele Einsamkeit nennen. Dieses Phänomen findet man auch in der jüngsten Generation häufig an.

Ich erlebe es immer wieder, dass Eltern zu uns in die Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie kommen und berichten, dass ihre Kinder sich einsam fühlen. Manche sehen das als Folge eines ausufernden Medienkonsums, andere beschuldigen die Schule, die bei vielen den ganzen Tag in Anspruch nimmt, sodass wenig Zeit bleibt, Freizeitaktivitäten nachzugehen und Freunde zu treffen.

Aber ab wann ist ein Kind eigentlich einsam? Ein Kind muss sich nicht zwingend einsam fühlen, wenn es nur ein oder zwei Freunde hat. Es gibt Kinder, die von Geburt an eher introvertiert sind, die nicht so viele Reize von außen benötigen, um sich gut zu fühlen, die durch zu viele Kontakte eher überfordert werden. Das wird in unserer nach außen orientierten Gesellschaft, in der vor allem die lauten, extrovertierten Menschen Beachtung finden, erstmal als ungewöhnlich wahrgenommen, ja sogar krankhaft. Dabei sollte es eine Balance geben zwischen den lauten, offenen, extrovertierten und den ruhigeren, introvertierteren Menschen, die für eine Stabilität in der Gesellschaft extrem wichtig sind.

Fühlt sich ein Kind aber subjektiv über einen längeren Zeitraum einsam, dann sollte man genauer hinschauen. Bereits im Kindergarten bilden sich Gruppen und werden vermeintlich schwächere Kinder schnell in eine Außenseiterposition gedrängt. Auch in der Schulzeit setzt sich das oft fort. Da gibt es Gruppendynamiken, manche Kinder können im sozialen Gefüge zu wenig mithalten, können sich keine Markenkleidung leisten oder schreiben gute Noten und werden dadurch als Streber abgewertet und von den anderen gemieden. Oft braucht es nur zwei oder drei Kinder, um eine Klasse zu spalten. Über soziale Medien wird Mobbing dann schnell auf die Spitze getrieben, da es deutlich einfacher ist, den anderen aus der Distanz, die das Smartphone bietet, auszuschließen.