Was Politiker nicht sagen - Gregor Gysi - E-Book

Was Politiker nicht sagen E-Book

Gregor Gysi

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Beschreibung

Ein Blick hinter die Kulissen des Politikbetriebs Politiker müssen etwas zu sagen haben, aber Reden ist auch gefährlich. Jeder Satz kann aus dem Zusammenhang gerissen, auf die Goldwaage gelegt und vom politischen Gegner bewusst fehlinterpretiert werden. Nichts ist so einfach wie man es gerne hätte, aber komplizierte Sachverhalte zu erklären ist in Zeiten von kurzen Aufmerksamkeitsspannen eine besondere Herausforderung. Oft müssen Themen wie die Veräußerungserlösgewinnsteuer erst einmal "übersetzt" werden, um auf ihre Relevanz für Bürgerinnen und Bürger hinzuweisen und damit ihr Interesse zu wecken. Wer in der Politik erfolgreich sein will, lernt früh das zu sagen, was die Wählerinnen und Wähler vermeintlich hören wollen. Und das können auch Halbwahrheiten sein. Gregor Gysi erklärt, wie Kommunikation im politischen Betrieb funktioniert, warum die Abgeordneten nicht nach Professionalität aufgestellt werden, welche Redezeitbegrenzungen im Bundestag gelten, warum er sich in Talkshows vor allem an die Zuschauer wendet und weniger an die Mitdiskutanten, wie unterschiedlich Printmedien und Talkshows funktionieren und wie wichtig, aber auch wie schwierig es ist, Sachverhalte vereinfacht und zugleich korrekt darzustellen. Ein anekdotenreicher Blick hinter die Kulissen des Politikbetriebs.

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Was Politiker nicht sagen

Der Autor

DR. GREGOR GYSI, geboren 1948, ist Anwalt, Bundestagsabgeordneter und linke Polit-Ikone. Zugleich ist er einer der beliebtesten und gefürchtetsten Redner des politischen Betriebs, und zwar parteiübergreifend. Bis 1990 gehörte er der Volkskammer der DDR an und war nach der Wende Vorsitzender der PDS-Fraktion. Bis 2015 führte er die Fraktion Die Linke im Bundestag an. Von Dezember 2016 bis 2019 war er Vorsitzender der Europäischen Linken.

Das Buch

Politik lebt vom Reden, aber Reden ist auch gefährlich. Jeder Satz kann aus dem Zusammenhang gerissen, auf die Goldwaage gelegt und vom politischen Gegner bewusst fehlinterpretiert werden. Doch ohne markante Botschaften ist auch keine Wahl zu gewinnen. Dieses rhetorische Dilemma der Politik ist zugleich auch ihr modus operandi: Wer erfolgreich sein will, lernt zu sagen, was die Menschen vermeintlich hören wollen.Dass dabei auch Halbwahrheiten herauskommen, ist vor allem eine Frage der Komplexität. Nichts ist heute so einfach, wie man es gern sagte. Komplizierte Sachverhalte zu erklären ist in Zeiten kurzer Aufmerksamkeitsspannen eine besondere Herausforderung. Vieles müsste erst einmal »übersetzt« werden, damit die Menschen sich eine Meinung bilden können. Doch dafür ist in Twitter-Botschaften genauso wenig Raum wie in anderthalbminütigen Statements vor der Kamera.Gewohnt scharfsinnig nimmt Gregor Gysi die Rhetorik seiner Zunft unter die Lupe – ein anekdotenreicher Blick hinter die Kulissen der Macht.

Gregor Gysi

Was Politiker nicht sagen

... weil es um Mehrheiten und nicht um Wahrheiten geht

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Alle Rechte vorbehaltenRedaktion: Gerd König, BerlinUmschlaggestaltung: FHCM® Designagentur, BerlinUmschlagfoto: © Uwe TölleAutorenfoto: © Deutscher Bundestag/ Inga HaarE-Book Konvertierung powered by pepyrus.com

ISBN: 978-3-8437-2743-3

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Zuvor

1. Wahrheit – ein Gegensatz zur Mehrheit?

2. Die Einen sind Sender, andere nur Empfänger?

3. Eine Reinigungskraft ohne Privatvorsorge?

4. Opposition und ein Bild im Sand

5. Über den Müggelsee laufen?

6. Schlagfertigkeit schlägt nicht

7. Anwalt an Politiker – Impulse aus der Nische

8. Aufklärung heißt: übersetzen

9. Blick auf eine lange Geschichte

10. Anregungen aus der Literatur

11. Schönfärberei und Kampfbegriffe

12. Glanz und Elend der Talkshows

13. Aufmerksamkeit um jeden Preis?

14. Stil und Sonntagsreden

15. Digitalisierung und Drucksachen

16. Karnevalsorden und der Osten

17. Ein Parlament, das laut denkt

18. Wer die Wahl hat, hat die – Plakate

19. Soziale Fragen sind Weltfragen

20. Demokratie und Radikalität

Zum Schluss: »Das Wort hat …«

Anhang: Reden

I. Deutsches Europa? Europäisches Deutschland?

II. Wie viele Bomben sichern Menschenrechte?

III. Wo ist Ihr Mut, Frau Kanzlerin?

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Zuvor

»Bevor Politiker Fragen beantworten, quatschen sie erst mal lange, damit sie nicht so viele Fragen beantworten müssen.«

Zuvor

Ein Ostdeutscher ist Bundespräsident.Eine Ostdeutsche ist Bundeskanzlerin.Und was aus mir wird, wissen Sie alle nicht.

(Bei einer Diskussionsveranstaltungzur Bundestagswahl im September 2013)

Viele Redensarten ranken sich ums Reden. Sprache bestimmt unser Leben, von der Schrift- über die Körper- und Mienen- bis zur Zeichensprache. Reden sei Silber, Schweigen Gold? Klingt gut, wird oft zitiert. Wer kein Wort verliert, weil rundum alle rufen, plaudern, plärren, schreien, raunen, wirkt als der gewinnend Klügere. Wer vielsagend nichts sagt, schützt sich und andere vor dem Nichtssagenden. Nichts zu sagen, ist verfehlte Politik. Nichtssagend zu sein bei dem, was man sagt, ist leider gängige Politik.

»Der Rest ist Schweigen.« Das sind die letzten Worte Hamlets. Vergessen wir nicht: Die Ruhe, die da von Shakespeare beschworen wird, ist eine Friedhofsruhe. Sie offenbart: Das Schweigen steht in widersprüchlichem Ruf. Gerade in der Politik. Wir sind Berufsrednerinnen und Berufsredner! Und oft wird geschwiegen, wo geredet werden müsste. Sich ein Wort zur rechten Zeit am rechten Ort zu versagen, kann ein Ver-Sagen sein. Aber ebenso oft erweist sich auch das Gesagte als Methode, um etwas zu verbergen. Oder eine Verkündigung entpuppt sich als Lüge. Sagen wir denn, was wir denken? Denken wir, was wir sagen? Denken wir, bevor wir etwas sagen? Folgen wir dem, was wir sagen? Redetexte von Politikerinnen oder Politikern, die den Medien vorab zur Verfügung gestellt werden, enthalten den vorsorglichen Hinweis: Es gilt das gesprochene Wort. Daraus entstand der Kalauer, der besonders nach Wahlen die Runde macht: Es gilt das gebrochene Wort. Schon in Friedrich Schillers Wallenstein heißt es: »Vor Tische las man’s anders.«

In der Politik gehört das Mundwerk zum Handwerk, daher ist etwas dran am Aphorismus: Das Einzige, was Politikerinnen und Politiker sich gern vorhalten lassen, ist das Mikrofon. Die Rede, das Statement, die Presseerklärung, das Interview – das sind nur wenige Gelegenheiten für das Repertoire täglicher Entäußerungen, bei denen wir unsere Haupttätigkeit ausfüllen: öffentlich zu sein.

Der Verlag bat mich, etwas über Rhetorik zu schreiben. Wohl in der Annahme, dass ich rhetorisch irgendwie begabt sei. Das Lob nehme ich frech an. Man muss nicht allen und allem widersprechen.

Rhetorik ist übersetzbar als Redekunst. Das Wort als politisches Instrument: Es steht, bei Parteien, in Parlamenten im Einsatz für eine möglichst wirksame Vertretung jeweiliger Interessen. Die Sprache als Transportmittel für Ansichten und Anliegen. Der Mensch betritt ein Podium und sendet aus. Heftig oder besänftigend, befeuert oder besinnlich, zornig oder euphorisch, bedrängt oder befreit, witzig oder tiefernst.

Wer redet, will glänzen. Das sei eitel? Ja. Wer so in die Öffentlichkeit tritt, dass es anderen auffallen möge, ist eitel. Die Frage ist nur: Beherrscht meine Eitelkeit mich, oder beherrsche ich sie? Auch hier gilt: Vorsicht vor allzu selbstgewissen Antworten!

Rhetorisch etwas bewandert zu sein, bedeutet nicht, dass es einem leichtfiele, über diese Thematik zu schreiben. Das zu denken, wäre ein Irrtum, ein falscher Schluss. Eine gute Fußballerin oder ein guter Fußballer kann, aber muss keine gute Fußballtrainerin oder kein guter Fußballtrainer sein; eine mittelmäßige Sportlerin oder ein mittelmäßiger Sportler kann diesbezüglich viel wirkungsvoller in Erscheinung treten. Schon manches Restaurant verlor an Renommee, weil die Chefköchin oder der Chefkoch in die Geschäftsführung aufstieg. Mit Talenten muss man differenziert umgehen. Sie sind nicht automatisch übertragbar auf andere Bereiche.

Zudem: Schreiben und Reden sind zwei sehr verschiedene Dinge. Zu DDR-Zeiten war der Schriftsteller Heiner Müller mein Mandant. Er erläuterte mir eine Viertelstunde lang sein Mietproblem. Ich hörte zu und verstand nichts. Mir fiel sein Theaterstück Weiberkomödie ein, in dem ein einziger Satz die Widernatürlichkeit von Grenzen offenbart. Ein DDR-Bauer steht an der deutsch-deutschen Grenze und sagt: »Ja, ja, das Gras wächst von hüben nach drüben, nur der Mensch braucht Papiere.« Lakonisch und treffend.

In jenem Gespräch mit Heiner Müller zitierte ich den Satz und fragte den Dichter und Dramatiker, wieso er das Mietproblem nicht so formuliere, dass es mir als seinem Anwalt sofort einleuchte. Er sah mich kopfschüttelnd an und sagte: »Wenn ich reden könnte, würde ich doch nicht schreiben.« Klingt gut, aber es stimmt nicht; er konnte sehr wohl gut reden. Diese Anekdote öffentlich zu erzählen, hat er mir übrigens schon lange vor seinem Tod 1995 erlaubt.

In jenem Moment war ich einmal mehr überzeugt: Ein wirkliches Genie geht niemals in die Politik. Müller wurde mal gefragt, warum er so leise rede. »Damit die Leute nicht mitkriegen, wenn ich morgen was ganz anderes sage.«

Die große Schauspielerin Inge Keller, Grande Dame des DDR-Theaters, hat in meiner Gesprächsreihe »Gregor Gysi trifft Zeitgenossen« am Deutschen Theater Berlin von einem Gespräch mit dem berühmten Opernregisseur Walter Felsenstein erzählt. Eines Tages sei er auf sie zugekommen und habe gefragt, wie sie das nur mache. »Was denn?«, fragte Inge Keller zurück. Felsenstein: »Na, diese Naivität bei gleichzeitigem Kunstcharakter des Spiels.« Die Keller blickte verwirrt, ja verstört, auf und fragte noch einmal: »Was bitte?« Da entschuldigte sich Felsenstein und wechselte sofort das Thema. Er hatte begriffen: Mit seiner Frage hatte er an etwas Geheimnisvolles gerührt, das man lieber unangetastet lassen sollte.

Das Beispiel der Inge Keller, also das Beispiel der Kunst, ist nicht unmittelbar auf die Sparte der Politik übertragbar. Das wäre nun wahrlich zu eitel. Und doch … Über meine Rhetorik wurde eine Magisterarbeit geschrieben. Ich bekam sie zu lesen, aber nach den ersten sieben Seiten klappte ich sie wieder zu. Nicht, dass ich bis dahin etwas auszusetzen gehabt hätte am Text. Dass ich ihn beiseitelegte, war kein Werturteil. Im Gegenteil: Ich hätte Gutes über mich erfahren. Aber ich wusste: Hätte ich weitergelesen, wäre es mir wie einem Tausendfüßler ergangen. Wenn der darüber nachdächte, wie er läuft, verknotete er sich sämtliche Beine.

Gleichwohl war ich eitel genug, der Beobachtung des Autors auf den ersten sieben Seiten gern zu folgen. Die Analyse beschäftigte sich nämlich zunächst mit der Frage, warum Leute Kundgebungen, auf denen ich spreche, kaum verlassen – selbst dann nicht, wenn ich länger als eine Stunde ins Mikrofon rede. Beobachtet hatte der angehende Magister eine Rede von mir auf einer Kundgebung in Frankfurt am Main. Sie fand in der Nähe der Deutschen Bank statt. Während ich sprach, endete wohl gerade die Arbeitszeit in vielen Büros, Beschäftigte verließen das Gebäude und sahen mich. Fast alle blieben stehen, um kurze Zeit zuzuhören, was ich so von mir gab. Warum ging kaum einer nach wenigen Minuten weg?

Der mich beschreibende Beobachter führte das darauf zurück, dass ich scheinbar keine Rede hielt, sondern ein Gespräch versuchte. Befindet man sich mit jemandem im Gespräch, ist man gewissermaßen verwickelt. Aus einer Unterhaltung steigt man nicht so leicht aus, das ist ein geläufiger psychologischer Reflex. Ich las das und konnte nur nicken. Zugleich wurde mir bewusst, dass ich darüber noch nie nachgedacht hatte. Beim Reden stellte ich Fragen an die Kundgebungsbeteiligten. Aber logischerweise – da es sich ja um eine Rede handelte und nicht wirklich um ein Gespräch – beantwortete ich sie dann selbst. Was natürlich, letzten Endes, eine höchst bequeme Variante von Fragestellung ist, das will ich einräumen.

Für Politikerinnen und Politiker, überhaupt für öffentliche Rednerinnen und Redner, ist dies ein ernst zu nehmender Konflikt: sich selbst zu vertrauen, seinem eigenen Naturell treu zu bleiben – und zugleich zielgerichtet, also auch kontrolliert zu agieren. Man erscheint ja nicht, wenn man auftritt. Man tritt höchstens, im besten Falle, in Erscheinung. Deshalb darf man aber nicht eine Sekunde lang glauben, man sei allein deshalb schon eine Erscheinung.

Kurzum: Eine Fähigkeit zu besitzen, hat nur wenig bis gar nichts mit der Gabe zu tun, darüber auch zu reflektieren. Das gilt auch für alle Bewegungsformen in der Politik. Ich habe dennoch versucht, ein paar Gedanken zur politischen Rhetorik und zu meinem Verhältnis zur Sprache aufzuschreiben. Kein Angriffspapier. Kein Ratgeberprogramm. Eine Rezeptur schon gar nicht. Ein biografisch beeinflusster Erklärungsversuch. Systematik? Eher eine Plauderei. Ich habe keinen Vorbehalt gegen dieses Wort. Es hat etwas Freundliches, Zugewandtes. Sehr viele Bücher aus der Spitzenpolitik stellen säuberlich geordnete Thesen auf. Ja, geht man die Buchhandlungen durch, scheint sehr viel gedacht und klar analysiert zu werden in diesem Land … alles so präzis zwischen den Buchdeckeln, vieles so grundsätzlich. Sagen wir so: Ich staune.

Die Sprache ist das wesentliche Instrument des Menschen in der Politik. Auch in den Medien. Denn wir wissen aus Erfahrung: Dem Begriff der Schlag-Zeile wohnt mitunter ein semantischer Beigeschmack von Wahrheit inne. Sprache kann leise oder laut sein, helfend oder verwirrend, kriegerisch oder friedenstiftend. Redend finden wir zueinander, geraten aneinander oder driften auseinander. Bei Durchsicht meiner bisher geschriebenen Bücher für diesen Rhetorik-Text, besonders meiner Erinnerungen Ein Leben ist zu wenig, habe ich festgestellt: Abläufe meiner Biografie – ob als Rechtsanwalt, Parteivorsitzender oder Fraktionsvorsitzender – kann ich tatsächlich oft an Ereignisse oder Episoden binden, die viel mit dem Wort zu tun haben, mit Sprache. Nicht zufällig wurde ich Autor und Moderator.

Ich rede gern. Wer spricht, möchte gehört werden. Wer gehört werden möchte, darf nicht nur stammeln. Politikerinnen und Politiker sollten also, wenn sie etwas sagen, auch etwas zu sagen haben. Schon gar diejenigen, die in der Gesellschaft – wie man so kennzeichnend sagt – etwas zu sagen haben.

Gleich zu Beginn möchte ich für meinen Sprachgebrauch etwas klarstellen.

Wie sehr unsere Welt in Bewegung ist, zeigt der überall spürbare Versuch, mit Sprache Geschlechtergleichheit herzustellen. Undeutlich treten neue Sterne ins Haus, schrieb Bertolt Brecht. Er meinte damit: Umbrüche, Neuordnungen vollziehen sich oft tastend und testend, nicht schlagartig definitiv, sondern mit experimentellen Schritten in verschiedene Richtungen.

Gendersternchen zum Beispiel, den Doppelpunkt im Wort oder das große Binnen-I mag ich nicht. Was ich nicht sprechen kann, will ich auch nicht schreiben. Aber ich spreche und schreibe gewissermaßen doppelt, zum Beispiel: Politikerinnen und Politiker.

Warum? In der Tageszeitung Neues Deutschland stand vor Jahren der Brief einer Leserin, der mir in Erinnerung geblieben ist. Sie antwortete auf einen Artikel, in dem es um die Verwendung weiblicher Bezeichnungen etwa bei Berufsangaben gegangen war. Dies, so der Artikel, sei überflüssig, da die Frauen immer mitgemeint seien. Die Leserin machte einen eigenen Vorschlag: Da über Jahrhunderte die Sprache männlich dominiert war, solle für die nächsten Jahrhunderte die weibliche Variante gelten, und die Männer seien damit auch gemeint. Der letzte Satz ihres Briefes lautete: »Ab heute heißt es dann: Herr Rechtsanwältin Gysi.« Ich las und erschrak. Nein, Rechtsanwältin wollte ich nicht werden. Seitdem leiste ich bereitwillig und konsequent meinen Beitrag für die Gleichberechtigung von männlichen und weiblichen Bezeichnungen und für die Gleichstellung der Geschlechter.

Die Gleichberechtigung war übrigens in der Verfassung der DDR genauso verankert, wie sie es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 ist. Trotzdem konnte in den Fünfzigerjahren ein Mann in der Bundesrepublik noch das Arbeitsverhältnis seiner Ehefrau kündigen. Ohne seine Genehmigung kam dieses Arbeitsverhältnis auch gar nicht zustande. Das Gleiche galt, wenn die Ehefrau ein Geldkonto eröffnen wollte. Es dauerte sehr lange von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bis zum ersten Gleichstellungsgesetz, das der Bundestag verabschiedete. Erst nach einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kam es zum zweiten Gleichstellungsgesetz. Endlich wurde dann auch der Hausstand in Gestalt des Ehemannes im BGB überwunden. Das war in der DDR undenkbar. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich in einer Rede im Bundestag das alles aufzählte und die damalige Bundesministerin Ursula von der Leyen staunend dastand, mit leicht geöffnetem Mund.

Und: Gleichberechtigung ist noch nicht Gleichstellung. Letztere verlangt, dass Frauen die gleichen Chancen in Bildung und Ausbildung, bei beruflicher Tätigkeit und bei der Karriere haben müssen – und Männer gleiche Pflichten im Haushalt und gegenüber Kindern haben.

Sprache kann verletzen, ausgrenzen. Im schlimmsten Fall kann sie – wie in Nazi-Deutschland – zum Werkzeug einer Mordmaschinerie, eines Menschheitsverbrechens werden. Deshalb sollten wir nicht geringschätzig darüber hinwegsehen, wenn Menschen und Menschengruppen sich durch landläufig und gewohnheitsmäßig verwendete Begriffe verletzt fühlen. Es wurde Zeit, dass ihnen endlich Mut zuwächst, sich laut und öffentlich gegen imperiales, koloniales Erbe und Männerdominanz zu wehren. Das ist eine dieser Veränderungen des Zeitgeistes, die Politik bejahen und unterstützen muss.

Der Sprachgebrauch ist nichts Statisches. Symbolik gehört zur Veränderung. Daher ist es gut, wenn Straßen umbenannt werden, die einen Kolonialherren würdigen. Kulturelle Identität darf sich nicht auf die potenzielle Verletzung anderer Menschen gründen. Nun ändert sich der Sprachgebrauch nicht über Nacht, wir müssen uns alle miteinander Zeit nehmen und mit Beharrlichkeit daran arbeiten, dass Veränderungen zum Allgemeingut werden. Geduld ist vielleicht die unauffälligste Revolution, möglicherweise deshalb auch die unbequemste, aber auf ihre Wirkung lässt sich bauen.

Strikt bin ich dagegen, Bücher aus früheren Zeiten ahistorisch umzuschreiben. Man kann nicht gewaltsam auf den heutigen Stand bringen, was unter gänzlich anderen Verhältnissen entstand. Bilderstürmerei setzt radikale Zeichen. Es ist eine Sofortreaktion, sie will Explosion sein. Aber Gemüt und Gewohnheiten der Menschen folgen einem anderen Tempo. Sie lassen sich nicht so ohne Weiteres etwas überstülpen. Statt in Bücher etwas hineinzuredigieren, Denkmäler zu stürzen oder Architekturen zu sprengen, sollte eine sorgsame Kultur der Anmerkungen und Kommentare entwickelt werden, die das jeweilige Erlebnis erweitert – durch Einordnung nicht mehr zumutbarer Begriffe oder Huldigungen. Nur so wird doch ersichtlich und einleuchtend, welche Kämpfe geführt werden mussten, um heutige und künftige Standards zu erreichen.

Dies betrifft auch das Gendern. Es ist gut, dass die Problematik der Diversität im gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen ist. Dieses Bewusstsein wird wachsen, denn es ist unaufhaltsam. Wir werden lernen, sprachliche Entsprechungen unserer sich ändernden Einstellungen und Urteile als Prozess, als Bewegung und Sprachregelungen nicht mehr nur als eingeschliffenen Zustand zu betrachten. Behörden können und sollen dabei in ihren Dokumenten vorangehen. Eingedenk der Erfahrung, dass es einigen Behörden naturgemäß sehr schwer fällt, Bewegung vor den Status quo zu setzen.

Um sprachlich ein wenig zu spielen: Dass es in Behörden schleppend vorangeht, offenbart sich bereits darin, dass im Begriff Zuständigkeit das Wort Zustand steckt. Zustände wollen sich nicht bewegen, sondern behaupten. Kurzum: Eine Übersetzung bestimmter kultureller Wandlungen in die Umgangssprache funktioniert nicht von heute auf morgen, schon gar nicht auf Beschluss. Doch diese Übersetzung wird allmählich, gleitend kommen, je mehr Menschen von sich aus gendern.

Mir ist bewusst, dass meine eigentliche Domäne das Reden ist, nicht das Vorlesen. Noch nie habe ich aus Büchern, die ich geschrieben habe, öffentlich vorgetragen. Das kam mir zu steif vor, zu festgelegt, zu angezurrt. Wirklich, das Gespräch liegt mir eher. Dem schriftlichen Ausdruck fehlt der Ton, die Stimme, der Rhythmus des Mündlichen, die Betonung. Das ist ein Manko jedes niedergeschriebenen Textes. Aber ebenso fehlgeleitet empfinde ich den Versuch, einen sogenannten O-Ton in ein Buch zu übertragen. Das Schriftliche besitzt und fordert seine eigene Kultur.

Und übrigens, da wir bei Büchern sind: An einem Tisch zu sitzen und zu schreiben, hat gegenüber dem politischen Alltag und seinen unvermeidlichen Reden zweifelsfrei einen Vorteil: Ich darf und muss dabei (endlich mal?) meinen Mund halten.

1. Wahrheit – ein Gegensatz zur Mehrheit?

Ich bin Zentrist. Das bedeutet,mit allen Ärger zu haben.

(In einem Interview 2011)

Politische Rhetorik ist das Bekenntnis zur zentralen Funktion von Sprache in der politischen Praxis. In der Sprache, in der wir reden, muss zur Sprache kommen, was unsere Wählerinnen und Wähler für wichtig halten. Wir in der Politik betreiben keine Handelsvertretung, wir sind Volksvertreterinnen und Volksvertreter. Wo es um Antworten geht, bleibt Rhetorik zuallererst die Kunst des Fragens. Nur sie führt weiter ins Offene. Der Dichter Karl Kraus sagte vom Feuilleton, es drehe, wenn es gelinge, Locken auf einer Glatze. Politik ist nicht Feuilleton, aber in vielen politischen Reden herrscht Leere.

Es ist ein schmaler Grat zwischen gedanklicher Oberflächlichkeit und bewusst gelegter falscher Fährte, um von tatsächlichen Zuständen und der möglichen Kritik daran abzulenken. Es geht in der öffentlichen Rede darum, komplizierte Zusammenhänge des Gesellschaftlichen, Sozialen, Strukturellen in eine Sprache zu übertragen, die zu verstehen und zu begreifen hilft. Fachgebiete sind sehr eigene, für den Außenstehenden oft undurchdringliche Welten. Politik steuert, und sie sollte es so tun, dass Wählerschaften das berechtigte Empfinden haben, mit im Boot zu sitzen. Aber nicht wie blinde Passagiere oder wie Dösende in Liegestühlen eines Kreuzfahrtschiffes. Demokratie ist Beteiligung am Kurs, ist Mitarbeit am Logbuch, ist Arbeit, frei nach einem Gedicht von Reiner Kunze:

»Rudern zwei / ein boot, / der eine / kundig der sterne, / der andre / kundig der stürme, / wird der eine / führn durch die sterne, / wird der andre / führn durch die stürme, / und am ende ganz am ende / wird das meer in der erinnerung / blau sein.«1

Gern reden Politikerinnen und Politiker von den Stürmen der Zeit, als seien sie Kapitäninnen und Kapitäne, denen alles klar und denen bitte schön nicht hineinzureden ist. Sie vergessen, dass sie keine Galeere befehligen, auf der die Menschen folgsam die Ruder bedienen. Man sagt oft, die oder der sei staatslenkend am Ruder. Das Bild trifft’s in vielen Fällen – man spürt es am Schlingern und der bitteren Tatsache, dass das Vertrauen in die Politik über Bord geht.

Politik entsteht mit Sprache, vollzieht sich durch Sprache, sie lebt oder stirbt in der Sprache. Und sie lebt durch Texte: Verfassungen, Gesetze und viele weitere Dokumente. Nun leben wir in einer Zeit, da immer mehr parteipolitische Farben ins Spektrum drängen. Durchdringend ist das Warnrot: Politik redet und redet, aber immer mehr Menschen hören nicht hin. Politik beschwört, aber immer mehr Menschen wenden sich ab. Politik schlägt vor, aber immer mehr Menschen schlagen ihre Angebote aus und schlagen sich auf andere, auch dunklere politische Seiten. Politik betont ihre Ehrlichkeit, aber immer mehr Menschen sind ungläubig und misstrauisch.

Sprache, so habe ich den Eindruck, wird immer kleinteiliger. Sie weitet nicht, sie häckselt; wo sie klar sein sollte, weicht sie aus; wo sie Form wahren müsste, gebärdet sie sich oft kulturlos; wo sie aufzuklären hättte, bemäntelt und verschleiert sie zunehmend. Die Sprache des politischen Betriebes ist zunehmend hohl und unattraktiv geworden. Sie ist oft grau und kalt wie Asche, in der nichts mehr glimmt und glüht. Sie zündet nicht mehr, aber es offenbaren sich neuralgische Punkte am rechten Rand der Gesellschaft, da zündelt sie mehr und mehr.

Beizeiten in der Menschheitsgeschichte stieß die Beschäftigung mit der Rhetorik an die Fragestellung, was dieses eine große Wort wohl beinhalte: Wahrheit! Wahrheit? Gotthold Ephraim Lessing schrieb: »Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: Wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!«

Wahrheit. Ein gewichtiges Predigtwort. Aber natürlich bin ich kein Prediger – obwohl ich staune, dass ich seit einiger Zeit zunehmend in Kirchen eingeladen werde. Dann steige ich die Kanzeltreppen hoch, stehe oben und stelle erschrocken fest, dass meine Stimme eine pastorale Färbung bekommt. Warum so relativ viele Einladungen in Kirchen? Erst dachte ich, aha, auch dort herrscht Personalmangel. Aber es hat wohl eher mit Orientierungssuche zu tun, die vor Partei- und Konfessionsgrenzen keinen Halt mehr macht.

Die praktizierenden Politikerinnen und Politiker haben weniger mit Gott als mit den Gegebenheiten eines Alltags zu tun, der leider niemals reibungslos zu organisieren ist. Sie sollten eines beherzigen und verinnerlichen: Wir sind allesamt Suchende – nicht größer, aber auch nicht geringer ist unser Stand.

Dass es im politischen Kampf der Parteien um besagte Mehrheiten gehe und nicht um Wahrheiten, ist auf den ersten Blick ein zynischer Satz. Vielleicht sogar noch auf den zweiten Blick. Denn der Satz verweist vordergründig und zugespitzt auf eine üble Tatsache: Zu den Waffen des gewieften Rhetorikers zählt leider die gespaltene Zunge. Fangnetze verschiedenster Art werden in politischen Reden eingesetzt. Worte können zum Kokon werden, der verstrickt, einwickelt und fesselt. Das, was der Öffentlichkeit möglichst einleuchtend vermittelt werden soll, gerät schnell zu einer täuschenden, sich anbiedernden Vereinfachung, die jeden Denkweg fahrlässig bis gefährlich abkürzt, statt ihn zu öffnen.

Wahrheiten sind oft unbequem. Sozialstaat, Klimaschutz, Weltfrieden, Integrationspolitik, Digitalisierung – was an dringlichen Themen man auch heranzieht: Alles kostet Geld, bei vielem werden neue Gebote oder gar Verzicht auf Gewohntes befürchtet. Die allgemeine Stimmung ist gereizt. Wer möchte da beim Wahlvolk Groll auslösen? Erst mal ausreichend Stimmen sammeln, dann werden wir weitersehen.

So? Niemand, aus welcher Partei auch immer, wird sich zu einer derartig groben, im Grunde unverantwortlichen Denk- und Verfahrensweise bekennen wollen. Aber der Drang nach Mehrheiten führt zu gewollten oder unfreiwilligen, bewussten oder unbewussten Vorkehrungen von Politikerinnen und Politikern, Menschen – speziell im Vorfeld von Wahlen – beim Ringen um deren Stimme bloß nicht zu verprellen.