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Gysi und Diestel. Zwei Rechtsanwälte, zwei gelernte Rinderzüchter. Zwei aus dem Osten, die in den Westen gingen. Zwei aus der Politik. Der eine links, der andere konservativ: Gysi war letzter SED-Vorsitzender und Protagonist der Linken, Diestel der letzte Innenminister der DDR, dann CDU-Abgeordneter in Brandenburg, später parteilos.
In Gesprächen mit dem Journalisten Hans-Dieter Schütt entfalten sie die jüngste deutsche Geschichte, die eng mit ihren eigenen verknüpft ist, und blicken auf das vereinte Deutschland – so kritisch wie zuversichtlich. Dabei entsteht noch einmal jene wilde Phase nach 1989, als das Unerwartete Wirklichkeit wurde: Vieles änderte sich, Widersprüche bleiben.
Das neue Buch von Bestsellerautor Gregor Gysi und e xklusive Erinnerungen einer Schlüsselfigur der Wendezeit: Peter-Michael Diestels Perspektiven als letzter DDR-Innenminister.
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Seitenzahl: 389
Veröffentlichungsjahr: 2025
GYSI: »Wir sprechen hier miteinander, weil wir uns auch an Momente erinnern wollen, die von Grundproblemen unseres politischen Lebens erzählen, auf den damaligen Wegen von Deutschland nach Deutschland.«
35 Jahre nach der großen Weltkorrektur in Deutschland ziehen Gregor Gysi und Peter-Michael Diestel eine sehr persönliche Bilanz. Ohne Zynismus oder Ostalgie reden sie über ostdeutsche Kränkungen und Entwertungserfahrungen. Rechnen ab mit einem Westen, dessen Arroganz noch immer wirkliche Annäherung verhindert. Sprechen über Spannungen zwischen Links und Rechts – und über jenes Rechtsextreme, das die Horizonte verdunkelt. Plaudern über Politik und Persönliches und werden zu lebendigen Erzählern. Zu erfahren ist, warum die Freiheit gerade in Anklam zu finden ist, wieso Heiner Müller ein Gedicht über Gysi schrieb und was es mit Diestels Handyklingelton auf sich hat.
GREGOR GYSI, geboren 1948 in Berlin, war jüngster Rechtsanwalt der DDR, vertrat Bürgerrechtler wie Rudolf Bahro. 1990–2002 und 2005–2015 war er Fraktionsvorsitzender der PDS bzw. der Linkspartei im Bundestag. Seine Bücher »Ein Leben ist zu wenig« und »Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi« sind Bestseller.
PETER-MICHAEL DIESTEL, geboren 1952 in Prora, war 1978–1989 Leiter der Rechtsabteilung der Agrar-Industrie-Vereinigung Delitzsch. Als Innenminister vertrat er die DDR bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag 1990. Heute leitet er eine Anwaltskanzlei in Zislow und ist Autor erfolgreicher autobiographischer Bücher.
HANS-DIETER SCHÜTT, geboren 1948 in Ohrdruf, ist Publizist und Autor zahlreicher Biographien und Gesprächsbücher.
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Gregor Gysi, Peter-Michael Diestel
Zwei Unbelehrbare reden über Deutschland und ein bisschen über sich selbst
Im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt
Herausgegeben von Hans-Dieter Schütt
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Zitat
»Und wie weiter? Wo bleiben?«
Politik soll lindern? Nein, verändern
Der Mantel, falsch geknöpft, wärmte trotzdem
Freiheitsrufe im geschützten Westbus
Hilfe von Schiller und Beethoven
Ohne Mörder, ohne Gott bräche alle Kunst zusammen
Ein bunter Vogel, keine graue Maus
Zu jeder Zeit kann immer alles kippen
Hinter Sachzwang steckt Herrschaft
Auch der Wald kann Kirche sein
Das Hütchen ist keine Krone
Impressum
Wer von diesem Buch begeistert ist, liest auch ...
Unmut sparet nicht, noch Mühe.
Raban Ruddigkeit
(Berliner Zeitung, 10./11. August 2024)
Wieviel Zeit wollte ich mir
eigentlich noch geben?
Christa Wolf
(»Was bleibt«)
Wussten sie am Ende noch,
dass sie einmal begonnen hatten mit einer Aufgabe?
Das Gedächtnis war zugeschüttet.
Schließlich gaben sie auf. Am Ende standen sie
zusammen mit den Siegern im Freien.
Vor der Aufgabe.
B. K. Tragelehn
(»Im Sturz. Sag Ja. geh weiter«)
Die Flinte im Korn,
im Beutel das Geld,
Der Hase im Pfeffer,
gefällt mir die Welt.
Lynkeus der Türmer, 1507–1587
Dieses Buch erscheint im 35. Jahr einer Weltkorrektur: Zwei Deutschländer passten (plötzlich, wieder) in eins. Alles lange her. Die Fakten sind bekannt, die Legendenverfasser und die Enthüller gingen beizeiten an ihr Werk, das Heulen der Reißwölfe haben wir gehört, die Tagebücher der wahren und falschen Helden sind längst veröffentlicht, Blöcke und Bollwerke und Barrikaden zwischen Ost und West barsten, einige Gräben von damals konnten zugeschüttet werden, andere Klüfte blieben und erzählen von nachwachsender Unversöhnlichkeit. Und Jüngere? Was sollten sie noch mit speziell ostdeutscher Geschichte? Man könnte sie auch nach nordsomalischer oder südbulgarischer Historie fragen. Honecker ein Hunne, grob geschätzt. Aus der Geschichte lernt, wer sie vergisst?
Noch immer kämpfen Utopien mit der Scham, im Herbst 1989 zu laut gewesen zu sein. Jener unerwartete Tanz der Verhältnisse und das revoltierende Aufstampfen damals gingen wieder ins menschenalltägliche Stolpern über. Erneut half das Leisetreten durch die Jahre, wie es immer hilft beim Leben, aber es war für den Osten das Neue: ein Leisetreten in Freiheit, und kürzertreten wollte niemand mehr. Und so haben wir, in Einheit hierzulande, so ziemlich alles bekommen, was man in böser schöner Zeit am Hals haben kann: den glänzenden Schmuck des Systems, aber auch das schmutzige stehende Wasser. Kopf hoch! Sagt das Selbstbewusstsein. Sagt aber auch die Not, denn das Wasser steigt – kein Abfluss der Trübnisse. Und Überfluss trocknet unser Sehnen aus, Ikea ist eine Ikone, wir liegen an der Kaufhauskette. Der Dichter Volker Braun schrieb in einem Essay über Peter Weiss: »Und wie weiter? Wo bleiben? Wie ist die Landschaft, in der wir kämpfen. […] Die zentrale Kategorie: die Handlungsfähigkeit, der Whirlpool, in dem Oben und Unten sitzt, die nackten Interessen.« Demokratie bedeutet: Wählness – Massage links, Massage rechts, Massage mittig, das Rückgrat biegt sich in jede Richtung.
Auf dem Weltriss, der unser Ort blieb, geschieht inzwischen eine größere Vereinigung, es ist ein Zusammenprall, und zwar der Satten mit denen, die es satthaben. Eine harte Frage kriecht über die Horizonte und besetzt uns: Wann endlich haben wir im Westen uns selbst satt und hungern jener ganz neuen Machtregel entgegen: Beherrsch dich und teile!
Worte in dieser Lage? Alles schon gesagt, von allen, und alles schon geschrieben, von allen. Auch von mir, gesteht Diestel, von Buch zu Buch. Auch von mir, nickt Gysi, von Buch zu Buch. Kein Grund, nicht weiter im Gespräch zu bleiben. In Zislow in der Nähe vom Plauer See, wo Diestel wohnt. Drinnen Gemälde in Goldrahmen. Draußen Birkenwäldchen, Wildschweinfelle, Hochstand – ein kleines Disneyland in Mecklenburg-Vorpommern. Was heißt das nun: Gespräch? Man führt es nicht, man ist es. Eine Anleihe bei Hölderlins Definition. Dies Hochgegriffene sei gestattet, obwohl wir hier im Tiefergelegenen streunen, im Politischen. Der Autoritätsverweis sei deshalb erlaubt, weil ich Angenehmes empfinde: Beide wischen nicht über alles hinweg, was dem eigenen Verstandeshorizont fremd bleibt, und man wiehert nicht hässlich, wenn das Wort Gott fällt. Keine Vernunft ohne Trauer, keine Idee ohne Hilflosigkeit.
Peter-Michael Diestel: In einer Koalitionsregierung war er der letzte Innenminister der DDR, er kam aus der ostdeutschen Nische, drehte sich im neuen Parteiengelände des Zeitenumbruchs nach rechts und verließ später die CDU. Und Gregor Gysi: Linkspolitiker, der ein kraftvoll keckes Charisma aufbot, das noch heftigste Antikommunisten zu einer Kultivierung ihres Hasses verführte. Zwei Rechtsanwälte. Zwei, die gern von sich reden machen. Zwei, die wissen, dass ein Jegliches seine Zeit hat. Zwei, die aber auch fest daran glauben, allen Uhren zum Trotz, ihre Stunde schlüge ohn’ Unterlass.
Gysi und Diestel leugnen nicht, dass derzeit aller Fortgang von Politik an Untergang denken lässt, aber sie möchten überzeugt davon bleiben, dass Untergang vor allem Übergang bedeutet. Aufenthalt in Problemräumen ist ihnen ein Zirkus, darin sich noch jeder Teufelskreis zur Manege umdekorieren lässt. Zirkusleute, sie finden keine Ruhe, müssen dem Erfolg, den Feuerreifen und dem Peitschenknallen nachreisen. Gysi und Diestel beherrschen eine besondere Kunst: sich die Bedingungen der eigenen Existenz mit List und Lässigkeit so herzunehmen, dass man mit Lust sein kann, wie man ist. Gysi zitiert dazu gern einen reichen französischen Kapitalisten, den er als Kind kennenlernte, im Haus der Eltern. Ein engster Sympathisant der Kommunistischen Partei. Was er wohl machte, wenn eines unerwarteten Tages die sozialistische Revolution in Frankreich siegte? Der Millionenschwere antwortete: »Dann gehe ich sofort in die Schweiz und kämpfe dort weiter!«
Gysi nenne ich den Bundespräsidenten seiner Partei. Und Diestel? Deutschlands brillantester Filmautor Wolfgang Kohlhaase bezeichnete ihn als »erfolgreichen und lebensfrohen Teilnehmer aller Geschäftslagen«. Gysi schillert, Diestel schillert zurück. Beide träumen trotzig Wirkung, und sie haben eine gut verwertbare Biographie, also genügend Saat und Sensorium für Blendung, Wendung, Sendung.
Lange, mäandernde Gespräche im Sommer 2024, am Gartentisch. Und unter Bäumen. Solch Aufenthaltsort stößt den Pollenflug der Themen an, ermuntert zu Sprüngen, zu Abschweifungen aller Art. Freie Natur reizt zu kalkuliertem Freimut. Wie Gysi und Diestel miteinander streiten und sticheln und sinnieren, wie sie voreinander und voneinander reden, chronisch reizbar durch jeden Denkstoff und alle verfügbaren Möglichkeiten des Vorkommens, wie sie also parlieren und einander parieren: Der Unterschied von jeweiligem Geist und jeweiligem Leben schimmert durch, manchmal schlägt er durch. Von jedem Hölzchen des politischen Großgeschehens kommen beide immer wieder zielsicher aufs Stöckchen eines ungezügelten Selbstgenusses.
Hans-Dieter Schütt
November 2024
GREGOR GYSI:
Wir wollen oft nicht glauben, was wir sehen.
PETER‑MICHAEL DIESTEL:
Schlimmer noch, wir glauben nicht, was wir wissen.
Die Luft wird dicker, und sie wird dünner. • Ein Tierfreund isst Steaks. • Ostdeutsche fahren in der Holzklasse. • Alles wandelt sich. Und was ändert sich? • Der Mensch kann böse zündeln, aber auch wunderbar Posaune blasen. • Der Zeitgeist und Asta Nielsens Strandbilder. • Na so was! Das Volk liebt Helene Fischer. • Dem Sammelbecken entkommen, den Fleischtöpfen auf der Spur.
PETER‑MICHAEL DIESTEL: Zwei Unbelehrbare. Wir? Klingt wie: zwei alte weiße Männer. Das ist gut! Es leben die Klischees!
GREGOR GYSI: Nee, ich finde ihn nicht gerade berauschend, diesen Stempel. Besonders witzig ist das Ganze schon gar nicht. Alte weiße Männer! Na gut, wir wollen es aufnehmen und allein dadurch widerlegen. Wie kommst du überhaupt auf so etwas Laues? Sieht man uns das wirklich schon an?
HANS‑DIETER SCHÜTT: Fragen Sie nicht mich. Fragen Sie den Spiegel.
DIESTEL: Den in Hamburg etwa?
SCHÜTT: Den im Badezimmer.
GYSI: Der Spiegel, also der im Badezimmer, der ist für mich jeden Morgen irgendwie wie eine Warnung. Er ist ein Beleg.
DIESTEL: Beleg wofür?
GYSI: Dafür, dass wir einen großen Fehler bei der Wahrheitssuche machen: Wir wollen oft nicht glauben, was wir sehen (lacht).
DIESTEL: Dein Lachen klingt sarkastisch.
GYSI: Sarkastisch lache ich eigentlich nie. Vielleicht ein bisschen schadenfroh, ja, das bin ich manchmal, zugegeben, aber eigentlich nur heimlich.
DIESTEL: Wir glauben nicht, was wir sehen? Es ist ja noch schlimmer: Wir glauben nicht, was wir wissen. Das ist weit weniger lustig.
SCHÜTT: Was wissen wir denn?
DIESTEL: Dass die Luft zum Leben einerseits dicker, andererseits dünner wird. Dass die Demokratie ein brüchiges Eis über neuen Faschismen ist. Wissen wir. Und dass die Demokratie also mehr Demokraten braucht. Weniger Nappsülzen am Ruder. Und an den Wahlurnen.
GYSI: Das ist billig von dir, also das Letztere: die vermeintlichen Nappsülzen an den Wahlurnen.
SCHÜTT: Am Theater heißt es mahnend: Das Publikum hat immer recht.
GYSI: Erstens muss das nicht immer richtig sein, und zweitens sind Wähler und Wählerinnen wahrlich nicht nur Publikum. Und Nappsülzen schon gar nicht. Obwohl: Immer mehr Leute bleiben tatsächlich draußen.
SCHÜTT: Vielleicht ist mancher Nichtwähler kein Verräter der Parteiendemokratie, sondern ihr letzter Getreuer. Er möchte nicht kompatibel sein. Sentimentalität hält ihn vom Wählen ab: Er macht die Rochaden beim politischen Schach(er) nicht mit. Er bleibt seiner Partei gewogen, indem er sich ihren Kurswechseln verweigert. Aber auch nicht überläuft. Wer die Wahl hat, hat die Qual? Vielleicht (vielleicht!) hat, wer nicht wählt, inzwischen die weit größeren Qualen.
GYSI: Bei der letzten Bundestagswahl haben fast vierzig Prozent aller stimmberechtigten Deutschen durch ihr Wahlverhalten zum Ausdruck gebracht, dass sie mit der etablierten Politik von der CDU bis einschließlich der Linken nichts mehr anfangen können. Und nicht mehr wollen. Sie haben gar nicht gewählt oder aber ungültig oder bewusst kleinere Parteien. Aus Frust, auch aus Daffke, um die Etablierten zu mahnen und zu ärgern.
SCHÜTT: Also weiter, was wissen wir?
GYSI: Zum Beispiel wissen wir das, was ich eben sagte, aber es findet sich kein parteiübergreifender Gesprächskreis, von der CDU bis zur Linken, der sich ernsthaft, fern von Medien, frei von Wahlkampf und Interesse-Egoismus, gewissermaßen im Stillen, mit den Vertrauenseinbußen, mit den Gefährdungen unserer Demokratie durch den Rechtsextremismus beschäftigt. Nichts! Auf die AfD wird gezeigt, aber nicht gefragt: Was machen wir selbst falsch?
DIESTEL: Was wissen wir? Wir wissen, dass ein Frühling nicht nur mit leichter Kleidung und hellblauen Tagen, sondern an immer mehr Orten – und immer näher! – auch mit schweren Waffen kommt.
SCHÜTT: Aber die leichte Kleidung ist nicht geringzuschätzen.
DIESTEL: Wissen wir, wissen wir. Aber wir wissen vor allem, dass die Welt aus den Fugen geraten ist, wir treten vors Haus und sehen, dass die Spitzen der Bäume trocken sind.
GYSI: Dass Wirtschaftswachstum eine tickende Zeitbombe ist, das wissen wir auch.
DIESTEL: Und dass die bislang blockfeste Parteienlandschaft langsam, aber sicher an ihr Ende gerät.
GYSI: In die Krise ja, aber ans Ende? Zu unseren Lebzeiten? Nein. Meine Partei berappelt sich gerade.
DIESTEL: Wir wollten jetzt nur aufzählen, was wir wissen … Wir wissen, dass wir uns mit mehr und mehr Autos an die Wand fahren.
GYSI: Aber du fährst sie gern, die schnellen schnittigen Autos.
DIESTEL: Du auch.
GYSI: Nein.
DIESTEL: Nein?
GYSI: Meist werde ich gefahren (lacht).
DIESTEL: Siehst du, auch das wissen wir: Wir sind widersprüchlich. Ich bin Tierfreund und liebe Steaks. Ich bin für Umweltschutz und muss manchmal trotzdem geblitzt werden. Wir wissen auch, dass die Erde einen Wettbewerb gegen uns gestartet hat: austrocknen oder überfluten? Dass in den sozialen Medien die Blödheit und die Aggressivität triumphieren. Wir wissen, dass wir weiter sind als Marx …
GYSI: Weiter, also klüger? Nein.
DIESTEL: Weiter heißt nicht automatisch klüger.
SCHÜTT: Der Dramatiker Heiner Müller meinte, wir seien noch lange nicht bei uns angekommen, solange Shakespeare unsere Stücke schreibe. Der Elisabethaner schreibt nach wie vor unsere Stücke. Stücke aus einer sehr alten, bitter beständigen Welt. Blutige Stücke. So viel zum Fortschritt.
DIESTEL: Ja, immer noch Krieg. Mehr und mehr.
GYSI: Ich wollte einwenden, dass wir insofern nicht weiter als Marx sind, als sein Kapital doch in vielen Belangen ein Buch unserer Gegenwart ist.
DIESTEL: Gregor, ich meine es anders: Ein ganz anderes Gespenst geht um, und das nicht nur in Europa: Es ist nicht mehr der Kommunismus, wie Marx schrieb, es sind wir, die Zivilisation, die sich selbst auffrisst. Wir wissen es. Dass der Islamismus nicht zu Deutschland gehört, das wissen wir auch. Und dass die Ostdeutschen die am aggressivsten ausgegrenzte Menschengruppe der Bundesrepublik sind.
SCHÜTT: Na ja. Seit Jahren Ihre Lieblingsprovokation.
DIESTEL: Wenn’s das nur wäre: eine wahre Provokation. Ein paar Medien schnappen danach, in Abständen. Aber nicht der Sache wegen schnappen sie nach dem Schlagwort, sondern wegen mir: Diestel, der Unbelehrbare, da habt ihr ihn! Ich frag mich, wieso das diese Typen nicht längst anödet. Aber übers mediale Aufschnappen hinaus? Null. Was ich sage, ist keine Provokation. Es ist die Wahrheit.
GYSI: Das Zitat vom Kommunismus ist von Marx und Engels. Tatsache ist: Viele Ostdeutsche sind noch immer benachteiligt. Die Eliten des Ostens durften nach Herstellung der deutschen Einheit am Westen andocken. Mehr durften sie großenteils nicht.
DIESTEL: Du bist raffiniert.
GYSI: Wieso?
DIESTEL: Während ich Einheit sage, sagst du »Herstellung der deutschen Einheit«.
GYSI: Das ist völlig exakt.
DIESTEL: Es ist exakt, man kann eigentlich nichts dagegen sagen. Und genau das ist der Punkt! Mit Bedacht nimmst du Emotion raus.
GYSI: »Herstellung«, das ist ein nüchterner Vorgang.
DIESTEL: Für mich ist das aber nur die halbe Wahrheit. Du gehst bei diesem Weltereignis zu vorsichtig, zu eisgekühlt mit Gefühl um.
GYSI: Eisgekühlt? Frost stimmt nicht, Frust schon. Du weißt, warum – und nickst.
SCHÜTT: Mit dem Mauerfall …
DIESTEL: Einspruch! Die Mauer ist nicht gefallen, die Ostdeutschen haben sie eingetreten. Westdeutsche Dummköpfe aus Winsen an der Luhe und aus Würselen haben sich draufgesetzt auf die Szene, und sie haben ostdeutsches Selbstbewusstsein ausgequetscht. Das war ein Akt gegen das Grundgesetz. Wie viele Ostdeutsche gibt es zum Beispiel unter Botschaftern und unter Generälen? Welche Universität, welche Hochschule in Deutschland wird von Ostdeutschen geleitet? Staatssekretäre, Abteilungsleiter, Hauptabteilungsleiter – alles noch immer eine Westdomäne. Mich kotzen CDU-Funktionäre im Osten an, die bairisch sprechen.
GYSI: Stört dich der Vorwurf, dieser letzte Satz sei kleinlich und grob?
DIESTEL: Nein. Ich hab’ ja dich als Verbündeten.
GYSI: Ich bin sogar dein Trauzeuge.
DIESTEL: Hier, Artikel 36 vom Grundgesetz, das weißt du doch selbst: »Bei den obersten Bundesbehörden sind Beamte aus allen Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden. Die bei den übrigen Bundesbehörden beschäftigten Personen sollen in der Regel aus dem Land genommen werden, in dem sie tätig sind.«
GYSI: Ja, so ging es über Jahre: Ein Wessi im Osten zog zwei Wessis nach.
DIESTEL: Die Ostdeutschen sind vielfach noch immer Deutsche zweiter Klasse. Viele fahren in der Holzklasse.
GYSI: Der Arzt in Dresden, der nach dem Ende der DDR auf mehr Freiheit hoffte, bekam seine Freiheit. Allerdings durfte er nicht zusätzlich hoffen, auch noch Oberarzt zu werden. Denn der neue Chefarzt kam aus München und brachte seinen Oberarzt gleich mit. Ich habe, nachdem er nicht mehr Bundeskanzler war, mit Helmut Kohl gesprochen. Er hat zu mir gesagt, er hätte vor einem Problem gestanden: Seine Eliten, also die des Westens, hätten die Vereinigung mit den wissenschaftlichen, künstlerischen, wirtschaftlichen Ost-Eliten nicht gewollt. Darauf habe er Rücksicht nehmen müssen. Ich antwortete: »Aber die ostdeutschen Eliten wurden mit der Herstellung der deutschen Einheit doch auch ›Ihre‹ Eliten.« Er schwieg.
SCHÜTT: Der Schriftsteller Ingo Schulze hält im Herbst 1989 Reden über den ersehnten demokratischen Sozialismus im aufatmenden Osten. Ein Jahr später sitzt er, Mitbegründer einer Wende-Zeitung in Altenburg, bittend in einem Möbelhaus, denn das reformerische Blatt braucht Werbeeinnahmen. So ging das los: mit Bücklingen vor Geldgebern, und bald fläzte sich dieses Geld auf die Inhalte, und schon war Sense mit den Reformträumen.
GYSI: Den linken sowieso.
DIESTEL: Die Freiheit präsentierte schnell ihren unangenehm klebrigen, aber sehr selbstsicheren Begleiter: die finanzielle Abhängigkeit. Man hatte kein Interesse an aufstörendem Geist aus dem Osten.
GYSI: Man? Die damalige CDU-Losung »Keine Experimente!« hätte auch von dir sein können.
DIESTEL: Die Leute …
GYSI: Die Leute?
DIESTEL: Sehr, sehr viele Leute hatten die Nase voll von roten Experimenten. Das gehört auch zur Wahrheit.
SCHÜTT: Verallgemeinerung ist gefährlich. Immer. Das also wissen wir. Weiter! Was noch?
DIESTEL: Wir wissen auch, dass Kriege kein einziges Problem lösen. Dass Populisten gefährlich sind. Dass autoritäre Systeme auf dieser Erde in der Überzahl sind. Dass aber westlicher Ideen- und Werteexport eine Anmaßung ist und erfolglos bleiben wird.
GYSI: Dass der Kapitalismus nicht gesiegt hat, sondern nur übrig geblieben ist, das wissen wir auch. Aber auch, dass es wahrer Internationalismus inzwischen sehr schwer hat. Und dass Flüchtlinge von Mauern und Drittstaatenregelungen nicht aufzuhalten sind. Dass auch die sogenannte Identitätspolitik Ideologen hervorbringt, also Eiferer. Dass Diplomatie nicht automatisch bedeuten sollte, andere belehren zu dürfen. Dass auch tonangebende Meinungsmacher endlich ihre Stahlhelme aus den Köpfen nehmen müssen. Wissen wir, wissen wir alles. Und dass eine »Flexibilisierung des Arbeitsmarktes« in Wahrheit verschärfte Ausbeutung und Aussortierung bedeutet. Dass eine starke Linke gebraucht wird.
DIESTEL: Letzteres weißt du, Gregor. Aber wer noch?
GYSI: Du zum Beispiel, sonst würdest du kein Buch mit mir machen.
SCHÜTT: Wir wissen, dass …
GYSI: Es reicht. Es gäbe noch so viel mehr. Wir können uns eh nur auf eine Auswahl beschränken. Und wir wissen vor allem, dass wir das meiste nicht wissen.
SCHÜTT: Wir!
GYSI: Ja, und?
SCHÜTT: Herr Gysi, Sie sagen »wir«. Das klingt ziemlich distanzlos.
DIESTEL: Was finden Sie seltsam daran?
SCHÜTT: Gregor Gysi ist Linker. Da ist es nicht selbstverständlich, dass man von einem kapitalistischen, zudem deutschen Staatswesen spricht und dabei dauernd »wir« sagt.
GYSI: Mein »Wir« bedeutet doch nicht anbiedernde Bündelei. Aber einem trockenen Gesinnungseifer kann und will ich nichts abgewinnen. Wenn ich gegen das System argumentiere, kann ich nicht davon absehen, dass ich selbst in den Strukturen und Mechanismen dieses Systems lebe. Ich lebe nicht außerhalb des Kapitalismus, nicht außerhalb von Deutschland, überhaupt nicht außerhalb von Zeit und Raum.
DIESTEL: Ja, ob nun dafür oder dagegen, wir sind mittendrin in den Verwertungsprozessen des Kapitals. Wir sind Kritiker und Nutznießer.
GYSI: Das ist manchmal bitter.
SCHÜTT: Was ist bitter?
GYSI: Dass einem im Vergleich mit anderen bewusst wird, wie gut es einem im Leben geht. Und dass vieles so ungerecht ist. Aber mit reiner Lehre und Sektendenken ist nichts zu ändern. Klar kann ich mich allein auf eine Wiese stellen, wild die rote Fahne schwenken und die Gänseblümchen agitieren, die auf ihre Art ja auch am Gleichgewicht der Welt beteiligt sind. Kann ich machen, hat aber null Bedeutung und Wirkung.
DIESTEL: Gregor, wir beide sind keine Menschen, die ständig das Gesicht zur Faust ballen.
GYSI: Ein »Wir« ist nicht Kumpanei mit dem System. Aber Eingeständnis und Einverständnis ist es durchaus.
SCHÜTT: Eingeständnis, Einverständnis? Herr Gysi, nicht zu weich werden, Sie sind Opposition!
GYSI: Und deshalb in bestimmten Dingen unbelehrbar, wie es sich gehört. Aber: Ich gehöre dazu, nämlich zur Gesellschaft und zu ihren Um- und Zuständen und zu ihren Strukturen, und eben weil ich dazugehöre, opponiere ich leidenschaftlich gegen das, was geändert werden muss oder abgeschafft gehört. Wenn und wo möglich, durch eigene politische Anstrengung. Und mit den Mitteln und Möglichkeiten der Demokratie! Unser Grundgesetz hat Makel, vor allem, was das Soziale betrifft, aber es ist ein hoher Wert, ich würde sogar sagen, es ist trotz seiner Defizite fast perfekt.
DIESTEL: Das ist doch mal eine Ansage. Ich sehe das genauso, Gregor, ich nenne das Grundgesetz ewig modern.
GYSI: Ewig?
DIESTEL: Die Väter des Gesetzes hatten die Verhängnisse der Weimarer Republik genau im Blick, sie wussten, was nie wieder geschehen darf.
SCHÜTT: Herr Diestel, Sie erzählen gern, dass Ihr Schwiegervater als schwerbehinderter Rentner zu DDR-Zeiten in den Westen reisen durfte und, auf Ihren Wunsch, die kommentierte Ausgabe des Grundgesetzes mitbringen sollte.
DIESTEL: Ja, meine Zuneigung zum Grundgesetz hat eine lange Vorgeschichte (lacht). Aber jedes Mal wurde mein Schwiegervater bei der Wiedereinreise gefilzt, und jedes Mal beschlagnahmten die Grenzer das Mitbringsel. Mich hat immer gewundert, dass die Stasi mir daraus keinen Strick gedreht hat.
SCHÜTT: Sie haben, als Sie aus der CDU ausgetreten sind, Bilanz gezogen und geschrieben: »Wertkonservatives Denken, mittelstandsorientierte Wirtschaftspolitik – verbunden mit einem strammen und konsequenten Blick auf das Grundgesetz – geben mir Wärme und Geborgenheit.«
DIESTEL: Gezeichnet Peter-Michael Diestel. Gilt weiterhin.
GYSI: Wärme und Geborgenheit. Ich gebe zu, ich selbst kann beides nicht so pathetisch an Politik und Patriotismus binden. Auch wenn ich »wir« sage.
SCHÜTT: Wir – das ist Deutschland.
GYSI: Wir – das ist die Demokratie. Wir – das ist der Ausgangspunkt, und das ist zugleich ein Ziel. Volker Brauns berühmte Zeile seines Gedichts Eigentum lautet: »Wann sag ich wieder mein und meine alle.«
DIESTEL: Nicht ablenken, Leute! Zurück! Wir hatten festgestellt: Wir glauben nicht, was wir wissen. Und das sei schlimm.
SCHÜTT: Was folgt daraus?
DIESTEL: Wir wissen – und doch bleiben wir gelähmt. Wir wissen – und machen politisch weiter so.
GYSI: Zu oft schließen wir freiwillig die Augen, ja, immer wieder.
DIESTEL: Zu milde formuliert: Wir schließen nicht einfach die Augen, wir schlagen uns mit Blindheit. Wir. Viele. Zeiten wandeln sich geradezu rasend, aber wie wenig ändert sich dabei. Am wenigsten, am langsamsten ändern wir uns selbst. Oder?
SCHÜTT: Allerdings schrieb der Satiriker und Berliner-Ensemble-Schauspieler Johannes Conrad, der Mensch sei zwar dazu fähig, die Welt in Brand zu setzen, aber er könne auch wunderbar Posaune blasen und habe das herrliche Pilsner Bier erfunden. Nicht überraschend dieses Plädoyer, denn Conrad selbst stammte aus Radeberg.
***
DIESTEL: Unbelehrbar.
GYSI: Hört sich nach unverbesserlich an.
DIESTEL: Sind wir das tatsächlich? Na, du auf jeden Fall.
GYSI: Ich?
DIESTEL: Ich! Das ist das passende Stichwort. Bei einer Lesung in Schwerin, ich war unter den Zuhörern im Saal, hast du den Prolog deiner Autobiographie zitiert.
GYSI: Zitiert? Ich habe ihn bestimmt in Gänze vorgelesen.
DIESTEL: Richtig. Keine große Mühe. Denn dieser Prolog besteht aus einem einzigen Satz: »Ich habe schon als Kind gelernt, dass man Sätze nicht mit Ich beginnen soll.« Gelernt hast du? Nichts hast du gelernt! Denn der erste Satz des ersten Kapitels lautet: »Ich kann von meinem Leben nicht behaupten, es verlaufe ruhig.« Geht’s unbelehrbarer? Wie passt das zusammen?
GYSI: Es passt zu mir. Punkt. Ein Augenzwinkern. Ein Spiel. Wie das jetzt hier.
DIESTEL: Habe verstanden. Spiel. Aber bitte sehr: auch ein bisschen Trotz. Wir fallen unter die Rubrik der Unbelehrbaren und stehen doch drüber.
SCHÜTT: Wahre Lebenskunst.
DIESTEL: Heiterkeit gegen ein Feindbild. Da sind wir auch wieder bei den alten weißen Männern.
GYSI: Feindbilder mag ich nicht. Die brauche ich nicht. Die hatte ich auch nie.
DIESTEL: Die SED war eine Partei der Feindbilder.
GYSI: Als ich 1989 auf dem Sonderparteitag der SED zum Vorsitzenden gewählt wurde, stellte ich mich zum Schluss den Fragen der Delegierten. Einer wollte wissen, ob ich noch immer der Anwalt der Malerin und DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley und vom Neuen Forum sei.
DIESTEL: Ich sag doch: das Feindbild! Der Klassenstandpunkt!
GYSI: Ich machte damals in meiner Antwort klar, dass nur ein schlechter Anwalt mögliche Mandanten wegen ihrer Gesinnung ablehnt. Ich vermute, ich habe den Fragesteller nur bestärkt – in seinen Vorbehalten mir gegenüber.
DIESTEL: Vorbehalte sind manchmal die leise, die schleichende Vorstufe zum Hass. Ich habe immer gestaunt, wie du mit dem Hass gegen dich fertiggeworden bist.
GYSI: Die infamste Form von Hass sind Verleumdung und Rufmord.
DIESTEL: Ja, versteckt hinter der Biedermaske der investigativen Berichterstattung. Ich kenne das. Mann, was ich angeblich alles war: KGB-Mitarbeiter, Kampfschwimmer bei der NVA, Offizier sogar beim Mossad. Ich habe bei einem DSU-Treffen die Dienstwaffe von Erich Mielke getragen, so hieß es in den Medien, und ich hätte alles laut durch die Gegend gebrüllt, was ich vorher im Polizeifunk gehört hatte.
SCHÜTT: DSU – Deutsche Soziale Union.
GYSI: Bei mir »enthüllte« die Bild-Zeitung nach Herstellung der deutschen Einheit, und zwar auf der Titelseite, ich hätte in einer Geheimrede dazu aufgerufen, Banken, die Zentrale Beweismittel- und Dokumentationsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter, die ja die Aufgabe hatte, in der DDR begangenes Unrecht zu sammeln und zu dokumentieren, und andere Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland zu sprengen.
DIESTEL: Du hast dich von Beginn an gewehrt?
GYSI: Juristisch? Nein.
DIESTEL: Aha, du fühltest dich ertappt, du wolltest wirklich sprengen (lacht).
GYSI: Ja, eine ganz geheime Aktion, und da halte ich vorher vor vielen Leuten ’ne Rede? So was Blödes!
DIESTEL: Also gut für eine Zeitungsseite eins.
GYSI: Aber wie gesagt, ich hatte schon viele Anwürfe erlebt und mich bisher juristisch nicht gewehrt. Nach dem Vorwurf der Geheimrede zu terroristischen Anschlägen rief mich der Rechtsanwalt Heinrich Senfft aus Hamburg an und fragte mich, ob ich mir das alles wirklich bieten lassen wolle. Also beauftragte ich ihn, und wir führten einen Prozess gegen die Bild-Zeitung. Wir gewannen.
DIESTEL: Die Waffe des Rufmords ist wie Klebstoff: Von jeder Lüge bleibt etwas hängen.
GYSI: Aber von da an wehrte ich mich gegen die hässlichen Spielregeln und das Jagdfieber dieser aufgeheizten Mediengesellschaft. Im Lauf der Jahre musste ich eine Vielzahl von Prozessen gegen die Praxis der Beschädigung und Beleidigung führen, auch gegen die Wiederholungsschleife der stupiden Stasi-Vorwürfe. In der Regel gewann ich diese Prozesse.
DIESTEL: Ein persönlicher Erfolg.
GYSI: Ja, aber nicht nur. Das war mehr wert. Mitglieder und Anhänger meiner Partei lernten durch meine Fälle, die Rechtsstaatlichkeit zu schätzen. Denn der Mainstream öffentlicher Meinungen war oft genug und ganz offen gegen mich, dennoch entschieden die Gerichte zu meinen Gunsten. Das überzeugte viele linke Skeptiker, die den Rechtsstaat vorher aus Prinzip geleugnet hatten.
DIESTEL: Auch im Bundestag wurdest du vom ersten Auftritt an gehasst.
GYSI: Von den Konservativen, logisch, vor allem aber von der SPD. Aber ich habe nie zurückgehasst und bin stur geblieben. Dass ich so preußisch stur sein kann – das ist eine Eigenart, die mir bis dahin gar nicht so bewusst war. Ich bin stur geblieben, weil ich mich selbst netter fand (lacht). Mein Selbstbild wehrte sich.
SCHÜTT: Sie sind generell nicht nachtragend?
GYSI: Fragen mit »generell« muss man generell ablehnen. Da kann auch die Antwort nur in Bausch und Bogen sein.
SCHÜTT: Aha. Ich korrigiere mich: Sie sind nicht nachtragend?
GYSI: Ich bin schnell im Vergessen, das ist ein Segen. Ich bin schnell im Vergessen, das ist ein Fluch.
SCHÜTT: Der Theaterregisseur Frank Castorf sagt, ein Künstler benötige nichts dringlicher als ein Feindbild.
GYSI: Künstler, ja. Aber nicht Politiker. Die Kunst will das Drama. Politik hat die erste Pflicht, Dramen zu verhindern, sie ist nämlich kein Spiel.
DIESTEL: Kunst darf Gewalt denken, Politik muss Gewalt verhindern. Kunst träumt Erlösung, Politik darf niemals (wieder) an Erlösung gebunden sein.
SCHÜTT: Erlösung ist ein zentrales Wort des Christentums. Sie sind Christ, Herr Diestel.
DIESTEL: Aber von Kommunisten möchte ich mich nicht noch mal »erlösen« lassen. Überhaupt verspreche ich mir von Politik keine Erlösung. Höchstens Linderung. Ja, von Politik verspreche ich mir Linderung.
GYSI: Das ist mir zu wenig. Veränderung gefiele mir in dem Zusammenhang weit besser. Dass es nur darauf ankommt, die Verhältnisse auszuhalten, statt sie zu verändern – ich gebe zu, das fällt mir schwer. Das will ich nicht einsehen, damit kann ich mich nicht begnügen. Noch immer nicht. Niemals!
SCHÜTT: »Wir brauchen die abenteuerlichen Wahrheiten der Kultur und die nüchternen Wahrheiten einer abgemagerten Politik«, sagt der Schriftsteller Rüdiger Safranski.
GYSI: Man kann es auch anders sagen: Es geht darum, den Zeitgeist zu verändern. Das ist der Sinn von Opposition.
DIESTEL: Zeitgeist? Das ist ja nun das Dehnbarste, was man sich vorstellen kann.
GYSI: Na und? Es war die PDS, die – man kann schon sagen: vor Urzeiten, der Bundestag saß noch in Bonn – einen staatlich geregelten Mindestlohn vorschlug. Selbst viele Gewerkschaften waren dagegen. Hätte ich damals prophezeit, dass eines Tages sogar die Unionsparteien solch einen Mindestlohn auf ihre Agenda setzen und ihm zustimmen – man hätte mir wahrscheinlich geraten, mich in psychiatrische Behandlung zu begeben.
DIESTEL: Wahrscheinlich wärest du damit einverstanden gewesen.
GYSI: Ja, ich wäre freiwillig zur Behandlung gegangen, weil der Plan unter den gegebenen Verhältnissen so unmöglich schien. Asta Nielsen, die berühmte Schauspielerin, war oft auf der Insel Hiddensee, wo sie ein Sommerhaus namens »Karusel« hatte. Sie verglich Erfolg und Ruhm mit einem Bild, das man mit einem Stock in den Sand am Ufer der Ostsee malt. Und zwar während am Horizont Wolken aufziehen und ein Sturm droht. Es würde also nicht lange dauern, bis das Bild vom Winde verweht, von Wellen überspült würde. Asta Nielsen, die sich nach dem Krieg der Malerei zugewandt hatte, schrieb, diese Aussicht bringe sie aber nicht vom Malen ab. Man müsse eben schneller malen. Und am nächsten Tag dann ein neues Bild. Stürme kommen und gehen. Wellen auch. Heute gibt es den Mindestlohn, er ist Gesetz geworden.
DIESTEL: Ostseewasser auf die linke Mühle!
GYSI: Und ob! In meinem Leben bin ich Zeuge gravierender kultureller Veränderung gewesen – nehmen wir zum Beispiel die Akzeptanz von Schwulen und Lesben. Als ich Kind war, wurden Homosexuelle noch eingesperrt. Dann wurde die Strafbarkeit – zunächst in der DDR, später in der BRD – aufgehoben. Und später kam endlich, offiziell, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft, und nun gibt es die Ehe. Das ist doch eine enorme Entwicklung! In Deutschland ist also, zumindest vom Gesetzgeber her, eine volle Akzeptanz als Maß gegeben. Überhaupt kommen in einer Gesellschaft und ebenso im einzelnen Leben immer wieder verschiedene Dinge zueinander, die Fortschritt bringen: gemeinsame Anstrengung, harte Arbeit, Glück, und – die Veränderung des Zeitgeistes.
SCHÜTT: Der Zeitgeist spricht mitunter eine sehr getrimmte Sprache: Weltvergenderung statt Weltveränderung – auch das hat sich entwickelt.
GYSI: Ich verwende meist beide Formen, die weibliche und die männliche. Aber ich schreibe nichts, was ich nicht sprechen kann. Das große I oder Binnen‑I, den Doppelpunkt und das Sternchen, das alles schreibe ich nicht, und ich mache auch keine Sprechpause. Ich setze mich für Personen ein, die sich als »divers« bezeichnen, ihre Rechte müssen im Grundgesetz verankert sein. Allerdings bin ich gegen »betreutes Sprechen«, wie Dieter Hallervorden sagt.
DIESTEL: Aktivistische Übertreibung tut weh.
GYSI: Andererseits: Ohne Zuspitzung ändert sich nichts. Impulse müssen anecken.
DIESTEL: Ja, obwohl ich kein Linker bin, halte ich es für eine Pflicht der Linken, klar und deutlich anzuecken. Denn Machtfragen zu stellen und dabei auch noch höflich zu bleiben, das geht nun mal nicht immer zusammen. Gregor, leider nerven Linke inzwischen in einem ganz anderen Sinne. Indem sie den Mächtigen eben nicht gehörig und eben nicht sehr gekonnt auf die Nerven gehen. Sie tun noch immer auf ganz altbackene Art allwissend, obwohl sie längst nichts mehr zu sagen haben. Immer diese Pose: »Wir und nur wir haben den Durchblick!« Das missfällt vielen, denn wer geht schon gern in die Volkshochschule.
GYSI: Viele Linke sind felsenfest überzeugt, einzig und allein die gültige Wahrheit zu kennen. Sie gehen davon aus, den Weltengang im Innersten verstanden zu haben, und deshalb negieren sie gern Umstände, die dazu nicht passen und die das eigene Weltbild in Unordnung bringen. Das führt auch zu Rechthaberei, ja, leider.
DIESTEL: Wenn man eben wieder und wieder glaubt, man sei des Volkes Lehrer, dann wird es fast unmöglich, überhaupt noch Lehren aus der Realität anzunehmen.
GYSI: Na ja, ich lass dich reden. Du sprichst noch immer, so scheint es, über die SED, aber wir sind inzwischen ein paar Jahre weiter.
DIESTEL: Ach, das ist ja nun ganz neu.
GYSI: Wie ist das mit der politischen Psyche der Linken? Da denkst du nun dank Marx und Engels und Lenin, du hast den Gang der Geschichte begriffen, und dann? Macht die Geschichte unerwartete Sprünge. Wie geht man damit um? Wo es doch die vorgedachte Linie gibt und diese Linie ein klarer Wegweiser zu sein schien. Da kann es zu den absurdesten, bittersten Irrtümern kommen.
DIESTEL: Das trotzige Beharren von Menschen kann Heldentum sein und Verhängnis.
SCHÜTT: Linke agieren gern frei nach dem Spruch: Unsere Karte ist richtig, nur die Gegend ist falsch.
GYSI: Ich denke an den sowjetischen Kosmonauten Andrijan Nikolajew. Es war in den sechziger Jahren. Bei seinem Flug durchs All übermittelte er jeden Morgen, wenn er die UdSSR überquerte, per Funk sozialistische Aufmunterungen für den Tag. Das wurde im sowjetischen Rundfunk übertragen. Eine Art Parteilehrjahr aus dem Kosmos. Eines Morgens wurde er von der Stadt Baikonur im südlichen Kasachstan aus kritisiert, weil er zehn Minuten zu lange schlief und also nicht, wie vorgesehen, über der Sowjetunion erwachte, sondern über Nordamerika. Er sprach das ideologische Morgengebet trotzdem, nun aber hoch über den USA. Die gewohnte politische Bezugswelt war im Nu vorübergezogen, niemand hörte ihn dort, er sprach in eine gänzlich andere Welt hinein. Das ideologische Koordinatensystem war verrutscht, es war weg, ohne Umsturz (lacht), sondern ganz natürlich, einfach nur, weil ein Mensch zehn Minuten länger geschlafen hatte. Und schon war alles, was er sagte, unverständlich, der politische Auftrag hatte plötzlich seinen Adressaten verloren. So schnell kann das gehen, und sofort wird Linientreue komisch.
DIESTEL: Du bist ein Weltbürger, Gregor. Fühlst du dich in geschlossenen ideologischen Denkgebäuden wohl?
GYSI: Rhetorische Frage! Ich meide solche geschlossenen Gebäude, solche Bunker, ich war nie drin.
DIESTEL: Nie? Glaub ich nicht. In einer Partei kommst du nicht um sie herum. Angeklagter, gestehen Sie! In einer Partei glaubst du, du wirst gebraucht, und wer gebraucht wird, der ist nie ganz frei.
GYSI: Als wir uns vor Jahren zur Linken vereinigt haben, die PDS mit der WASG, da wollten wir unbedingt Fuß fassen in den alten Bundesländern, da dachten viele, jetzt schlüge unsere große Stunde in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Pustekuchen. Es ist nicht wirklich gelungen.
DIESTEL: Umschreibungskünstler!
GYSI: Wir haben den Osten dadurch etwas vernachlässigt.
DIESTEL: Etwas?
GYSI: Ich habe das immer wieder kritisiert.
DIESTEL: Aber offenbar zu moderat.
GYSI: Ja. Längst werfe ich mir vor, es nicht scharf und entschieden genug getan zu haben. Dadurch ist in der Partei eine Lage entstanden, deren Folgen wir nun zu tragen haben. Aber es ist, wie es ist.
DIESTEL: Völlig frei ist man in einer Partei nie. So vielen Parteileuten sehe ich an, wie sich in ihren Köpfen die Nervosität breitmacht: Darf ich das öffentlich sagen oder nicht, wem nützt das und wem nicht? Bin ich noch auf Linie oder nicht?
GYSI: Manchmal wünschte ich mir etwas mehr Linientreue, dazu muss allerdings erst mal eine Linie da sein … Aber Nervosität bei dem, was man sagt? Ich sage regelmäßig, was ich denke. Wenn man nur sagt, was man vermeintlich sagen darf, denkt man eines Tages total zensiert – und merkt es irgendwann nicht mehr.
***
SCHÜTT: Fühlen Sie sich in Ihrer Partei einsamer als früher?
GYSI: Eine Partei ist nicht geeignet, solche Empfindungen zu diskutieren. Einsamkeit ist privat.
DIESTEL: Stimmt nicht. Einsamkeit kann sehr öffentlich sein. Mitten in einer Menge.
GYSI: Du hast recht. Aber eigentlich …
DIESTEL: … möchtest du nicht darüber reden?
GYSI: Fakt ist: Die Generationen um einen herum wechseln, die Welt wird jünger, die eigenen Kampfgefährten werden älter und weniger, die Interessen verschieben sich, die Nachfolgenden sehen vieles anders.
DIESTEL: Kühler.
GYSI: Manches auch hitziger als man selbst, und das ist gut so.
SCHÜTT: Besuchen Sie noch Parteiversammlungen?
GYSI: Wo es nach Parteilehrjahr riecht, wird man mich nicht finden.
DIESTEL: Ist das nicht komisch, dass man bei Partei immer auch an Parteiverfahren denkt?
SCHÜTT: Zumindest dann, wenn man aus der DDR kommt.
DIESTEL: Hattest du als SED-Mitglied je ein Parteiverfahren?
GYSI: Ja, 1968, während meines Studiums. Der Prager Frühling hatte dazu geführt, dass auch an der Humboldt-Universität zu Berlin die sogenannte ideologische Wachsamkeit erhöht wurde. Disziplinarische Vergehen, begangen aus unterschiedlichsten Gründen, wurden plötzlich zu konterrevolutionären Aktionen hochgestuft.
DIESTEL: Beweiskräftig?
GYSI: Nein, willkürlich. Einer dieser Vorfälle an der Juristischen Fakultät wirbelte viel Staub auf, man machte aus Leuten, die einfach nur undiszipliniert waren, politische Täter gegen den Staat. Ich argumentierte in Vollversammlungen dagegen, diese profanen Studiendinge so unbotmäßig zu ideologisieren. Das Ergebnis war ein Parteiverfahren gegen mich. Und daraufhin war ich etwa ein Jahr lang isoliert. An der Uni die übliche Mischung: Angst, Opportunismus, Dogmatik.
SCHÜTT: Was meinen Sie mit isoliert?
GYSI: Von Dozenten wurde ich geschnitten, Kommilitonen machten einen Bogen um mich. Ich lief irgendwie neben der Spur. Ich musste eine Hausarbeit schreiben, der Professor für Arbeitsrecht sagte zu mir: Schreib die Arbeit, schreib, was du willst, ich kümmere mich darum. Er sah meine innere Verfassung, er wusste, ich würde nichts wirklich Gutes zustande bringen, er übernahm die Bewertung, er schützte mich. Solche Leute gab es eben auch.
DIESTEL: Es gibt sie immer.
GYSI: Und es gab sie in der SED, im ganzen Land. Ich lebte damals in so einer typischen Berliner Hinterhofwohnung, klamm und feucht und auch am Tage immer etwas dunkel. Ich kann mich an einen Besuch meines Vaters erinnern, es war ein Besuch, bei dem er sehr drängend wirkte. Er sah, wie ich vereinsamte, eben auch trotzig vereinsamte, und er warnte mich: »Bitte, Gregor, übertreibe es nicht.« Er hatte meine Kritik an der Uni verstanden und geteilt, aber er ahnte auch die Gefahr: dass sich da eine böse Dynamik gegen mich entwickeln könnte.
SCHÜTT: Welchen Moment, Herr Gysi, würden Sie benennen, wenn nach politischer Beglückung gefragt wird?
GYSI: Politische Beglückung … heute … Das ist mir schon wieder zu hoch gegriffen.
DIESTEL: Ich empfand sie durchaus, so eine Beglückung.
GYSI: Wann?
DIESTEL: Die deutsche Einheit. Sie war und ist das Einzige, wofür ich politisch gekämpft habe und kämpfe.
GYSI: Beglückung … Was mich sehr freute und sehr berührte, war die Wahl Bodo Ramelows zum Ministerpräsidenten von Thüringen im Dezember 2014. Er war der erste linke Ministerpräsident der Bundesrepublik Deutschland.
DIESTEL: Auch er war ein Westimport, aber eben von ganz anderer Güte, das muss man zugeben.
GYSI: Genau. Andere schickten und schicken die zweite, dritte Reihe in den Osten, die Linke bevorzugte im Falle Bodo Ramelows erste Qualität. Ich war damals, als Bodo gewählt wurde, im Erfurter Landtag und hatte damit einen Aberglauben besiegt.
SCHÜTT: Welchen Aberglauben?
GYSI: Der Wahlsieg Bodo Ramelows war hauchdünn, und das war vorauszusehen. Deshalb wollte ich zunächst gar nicht nach Erfurt fahren. Denn manchmal, so denke ich, kann man Niederlagen allein schon dadurch provozieren, dass man anwesend ist.
***
DIESTEL: Gregor, du kämpfst noch immer an verschiedenen Fronten.
GYSI: Na ja, kämpfen? Das ist übertrieben … Fronten? Auch übertrieben … Sagen wir so: Aufgrund meines Alters habe ich nur noch fünf Berufe.
DIESTEL: Nur noch.
GYSI: Politiker, Anwalt, Podcaster, Moderator, Autor.
DIESTEL: Du achtest darauf, dass dein Leben nicht einseitig wird.
GYSI: Funktionär zu sein, wirklich nur Funktionär, das wäre mir ein Graus. Das hätte ich nicht gekonnt. Ich möchte möglichst abwechslungsreich leben.
DIESTEL: Schreibst du deshalb Bücher?
GYSI: Bücher schreibe ich wegen der berühmt-berüchtigten anderthalb Minuten. Es ist doch so: Politiker und Politikerinnen sollen vor Kamera und Mikrophon genau, sachkundig und tiefschürfend über die Weltlage Auskunft geben. Aber dafür haben sie gewöhnlich nur die standardisierte eine Minute und dreißig Sekunden Zeit. Daran gewöhnt man sich wohl oder übel. Und so gibt es immer mehr Abgeordnete und Funktionäre, die nur noch in Eins-dreißig-Formaten denken können. Ich schreibe Bücher, um mich zu testen, ob es noch für ein paar Gedanken mehr reicht.
DIESTEL: Aber noch mal zum Problem, dass die Linken besserwisserisch wirken.
GYSI: Na ja, wie lief denn Geschichte lange, lange Zeit? Wer sich für den Adel einsetzte, setzte sich für Mächtige ein. Wer sich dann für die Kapitalisten einsetzte, setzte sich ebenfalls für Mächtige ein. Wer aber für die niederen Stände kämpfte, der hatte doch wirklich die wertvollere Mission! Und so kam zum Kampf für die Gerechtigkeit auch der belastende Kampf gegen die Selbstgerechtigkeit hinzu.
DIESTEL: Und das Humorlose.
GYSI: Na klar, von Scholz oder Dobrindt oder Hofreiter geht dagegen ein enormer Humor aus. Was soll das? Aber ich sage den Linken oft: Weil ihr für Frieden und für soziale Gerechtigkeit streitet, seid ihr davon überzeugt, die besseren Menschen zu sein. Ein bisschen stimmt es ja. Aber, sage ich, wenn ich mir anschaue, wie ihr euch untereinander behandelt, dann kann ich nur sagen: Von besseren Menschen kann überhaupt nicht die Rede sein.
DIESTEL: Ich gebe zu, dass ich diese alten politischen Einteilungen inzwischen für höchst fragwürdig halte.
GYSI: Ob fragwürdig oder nicht, die Begriffe Links und Rechts und Mitte halten sich nun mal noch immer. Sie sind eine Orientierung.
DIESTEL: Der Klimakatastrophe ist das scheißegal. Aber gut, die Linken müssen das System attackieren. Ist bekannt, ist akzeptiert. Nur, Gregor, wie macht man das erfolgreich, ohne mit viel Besserwisserei und einer öden Ideologie jene zu verprellen, die das System tragen? Und wer trägt es? Diejenigen, deren sozialer Anwalt ihr sein möchtet. Die Mehrheit nämlich. Die aber wird von euch fortwährend kritisiert. Denn die Mehrheit hört nicht auf eure Stimme der Vernunft, sie begreift nicht, sie lässt sich manipulieren und einlullen.
SCHÜTT: Heiner Müller hat gesagt, der Panzerbau für Hitlers Blitzkriege war nicht nur ein NSDAP-Projekt, es war eine industrielle Meisterleistung der deutschen Arbeiterklasse. Die werktätige Mehrheit ist ein zwiespältiges Wesen.
DIESTEL: Auch heute ist diese Mehrheit vor allem eins: arbeitende Mitte. Diese vielen Menschen halten den Kapitalismus am Leben, sind aber genau die soziale und politische Zielgruppe der Linken. Die ja den Kapitalismus bekämpft! Die Linken bekommen ihr Verhältnis zu denen nicht in den Griff. Das gilt insbesondere für den linken Intellektuellen. Er hält das Volk für blöd, denn es liest die Bild-Zeitung und wählt die CDU, es jubelt Fußballmillionären zu und liebt Helene Fischer, und es wirft im Grünen gern den rauchenden Fleischgrill an. Das Volk war angeblich mal revolutionäres Subjekt, das war auch so eine Illusion, die ist geplatzt, aber man möchte es immer noch für einen Klassenkampf rekrutieren, den es doch gar nicht mehr gibt.
GYSI: Ich rekrutiere niemanden. Die Linke muss Verständnis für die kleinen Träume der Menschen haben und gleichzeitig Lust auf die großen Träume machen. Wir dürfen den großen Frieden, der gerade jetzt so unerreichbar scheint, nicht gegen die vielen Arten eines kleinen, alltäglichen Friedens setzen.
DIESTEL: Was heißt das überhaupt: kleiner Frieden?!
GYSI: Du hast recht – bloß keine Geringschätzung. Es geht um einen Frieden, den jeder und jede mit der Welt finden und machen und durchhalten muss. Und noch etwas: Wenn jemand den ganzen Tag an der Kasse im Supermarkt sitzt, dann die Kinder versorgt und sich abends erschöpft in den Sessel fallen lässt, verstehe ich, dass dieser Mensch vielleicht eher zu einer Zeitschrift greift als zu einem dicken Buch, und ich hätte meine politische Pflicht verletzt, wenn ich mich dem Gespräch und vor allem dem Verständnis verweigerte.
DIESTEL: Es war schon in der gesamten Arbeiterbewegung so: Keine politische Kraft hat so viel programmatisches Papier vollgeschrieben wie die Marxisten, Leninisten, Sozialisten, Trotzkisten, Utopisten. Thesen über Thesen, das ist heute noch der Fall, es wird auf unerträgliche Weise ständig theoretisiert und manifestiert. Man muss nur mal die ohnehin marginalen linken Zeitungen aufschlagen, schon posaunen da andauernd irgendwelche Vorturner aus den Schießscharten des Parteivorstandes und der Bewegungsunterstände der Linkspartei ihre neuesten trockenen, vor allem realitätsfremden Kampfstrategien in die Welt hinaus. Das gilt bei Linken als links: Phrasen zur Theorie hochschreiben und pausenlos salbadern.
GYSI: Na, das kann ja heiter werden mit uns beiden.
DIESTEL: Hab ich nicht recht?
GYSI: Ein bisschen schon.
***
SCHÜTT: Steigen wir doch noch mal ein paar Treppenstufen runter und kommen von der hohen Politik zum Irdischen, die Supermarktkasse eben war schon ein guter Ansatz.
DIESTEL: Manchmal sag ich noch Kaufhalle.
GYSI: Ich auch.
DIESTEL: Und du gehst selbst einkaufen?
GYSI: Nein, natürlich nicht, und damit gehe ich auf deinen etwas verwunderten Frageton ein: Ich werde selbstredend unentgeltlich versorgt vom Servicedienst der Partei, eingerichtet für verdienstvollste Mitarbeiter der Linken, also nur für mich allein (lacht).
DIESTEL: Genau so habe ich mir das vorgestellt. Also, wir beide gehen allein einkaufen, du, weil du Single bist, und ich, weil ich in Mecklenburg lebe und meine Frau unter der Woche in Potsdam arbeitet.
SCHÜTT: Zweimal waren Sie verheiratet, Herr Gysi. Wie war das Gefühl, danach wieder Single zu sein?
GYSI: So viel zu den gedanklichen Höhenflügen unseres Gesprächs! (lacht) Es war tatsächlich eine harte Landung.
DIESTEL: Landung? Scheidung ist Absturz.
GYSI: Na ja, meist aber in der Hoffnung, dass es wieder aufwärts geht.
SCHÜTT: Es gibt ein seltsames Gysi-Zitat: »Am besten für mein aktives politisches Leben wäre gewesen, ich hätte in der Bundesrepublik Deutschland erst einmal 200 Ehescheidungen und 200 Strafverteidigungen durchgeführt.«
GYSI: Ich bin überzeugt, dass man eine Gesellschaft am besten über ihre Ehescheidungen und über ihre Kriminalität kennenlernt, zumindest als Anwalt. So begegnest du allen Widersprüchen des Alltags. Diese Widersprüche werden ja von straffälligen Menschen und überhaupt von Leuten, die aus welchen Gründen auch immer vor ein Gericht geraten, nur auf andere Weise gelöst als von den anderen.
DIESTEL: Du meinst, insofern war dein Startplatz beim Weg in die neue, die westdeutsche Gesellschaft eher unglücklich? Weil du umgehend in den Bundestag gekommen bist? Du hast sozusagen das wahre Leben umgangen.
GYSI: Genau das ist – etwas überspitzt gesagt – das Unglück. Seien wir ganz ehrlich: Wie will man von Parlamentssitzen heraus die Gesellschaft kennenlernen?
DIESTEL: Das alles hat mit der Frage zu tun, ob Politikerinnen und Politiker überhaupt noch offen sind für Milieus, die ihnen fremd sind.
GYSI: Ja, besitzen sie denn noch eine natürliche Sprache, die sich vor keiner Begegnung scheut? Oder fällt es ihnen schon schwer umzuschalten, wenn sie mal kurz an einem Fließband stehen oder eine Suppenküche besuchen? Wie sehr verkrampfen sie, wenn sie ihr gewohntes politisch-soziales Biotop verlassen?
DIESTEL: Interessant, das Bürgerliche und das Plebejische. Ein Spannungsfeld ist das im Osten immer geblieben, bei den Linken sowieso. Die Intellektuellenfeindlichkeit ist aus der Arbeiterbewegung und der SED-Parteigeschichte nicht wegzudenken.
GYSI: Es gibt eine Anekdote um Karl Marx. Er arbeitete an den letzten Korrekturen des ersten Bandes von Das Kapital