Was sie will - Julia Strassburg - E-Book

Was sie will E-Book

Julia Strassburg

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Beschreibung

Unter den Frauen, so sagt man, leide der Mann. In Tessas Fall ist das wörtlich zu nehmen, sie ist Sadistin. Unkonventionell, aber mit einem Plan vom Glück, lebt und liebt sie in Berlin. In der SM-Szene lernt sie Marc kennen. Nach einem gründlich missglückten Date mit viel Wein und wenig Hemmungen fällt die Entscheidung, ihn nicht wiederzusehen. Kurz darauf trifft Jan ein, um den vereinbarten Dienst als Teilzeitsklave anzutreten. Doch die erhoffte Zerstreuung bleibt aus, Tessas Gedanken kreisen nur um Marc. Schließlich gibt sie ihrer Sehnsucht nach. Es beginnt eine leidenschaftliche Zeit voller erotischer Wagnisse und eigenwilliger Romantik. "Oh süßer Wankelmut." Hin- und hergerissen zwischen Jan und Marc kämpft Tessas Herz gegen ihren Verstand. Auf der Suche nach sexueller Identität und Liebe stolpert sie über die vielen Möglichkeiten. Gibt es Freiheit ohne den anderen? Ist Jans stille Hingabe genug, oder ist doch Marcs Widerspenstigkeit das Salz in der Suppe? Grenzenlose Lust und das Wagnis der Hingabe: intensiv, eigenwillig und mitreißend

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Julia Strassburg

Was sie will

Roman

1. Kapitel

Die Sache mit den Schmetterlingen

Seltener Besuch aus Kreuzberg. Grund genug für Tessa, die Kamera aus der staubigen Ecke zu holen. Es ist schon ein paar Monate her, seit dem letzten Treffen mit ihrer Freundin Lexi.

»Wieso wohnst du auch im Prenzlberg?!«

»Prenzlberg« ist Mitte-Jargon, das kann Tessa nicht leiden. Außerdem passt diese Art zu reden nicht zu der überzeugten Kreuzbergerin. Die, wie Tessa nicht ganz neidlos feststellt, abgenommen hat. Und wie. Grandios sieht sie aus. So grandios, dass man dies festhalten sollte. Tessa ist etwas zwiegespalten, was ihre Freude betrifft. Sie selbst kann nicht gerade behaupten, ihr Körpervolumen geschmälert zu haben. Der einzige Weg, sich nicht über den eigenen Speck zu ärgern, ist, sich die Schönheit ihrer Freundin zunutze zu machen. So freut sie sich mit Lexi über ihre tolle Taille, die Jeans, die jetzt wieder sitzt, und auch darüber, dass die Orangenhaut »nur noch im Neonlicht der Kabine bei H&M« zu sehen ist. Ja, sie freut sich für Lexi, trotzdem. Und hofft bei dieser Gelegenheit auf ein paar gute Fotos.

Leider sind Stino-Frauen nicht so zeigefreudig. Es gehört etwas Überredungskunst dazu. Lexi ist Tessas einzig verbliebener Draht zur Vanilla-Welt, zumindest privat. In ihrem Job als Grafikdesignerin kann sie sich den Luxus, ausschließlich mit Gleichgesinnten zu arbeiten, nicht leisten. Deshalb ist die Fotografie in erster Linie eine Leidenschaft, bei der sie selten nach Auftrag arbeitet. Beim Fotografieren ist sie von Anfang bis Ende in einem Schaffensfluss. Das ist besser als jede Therapie. Nicht, dass sie eine nötig hätte. Hin und wieder hat sie diese Phasen, aber die hat sie im Griff. Tessa hat ohnehin vieles im Griff. Die Damen, die normalerweise für sie posieren, sind zuweilen so ungehemmt, dass sie gezwungen ist, sie zurechtzuweisen. Banale, affektierte Bilder vermeidet sie unbedingt. Pornografisch darf es ruhig mal werden. Aber gefälligst geschmackvoll.

Tessa ist der festen Überzeugung, dass Exhibitionismus eine natürliche Eigenschaft der Frau ist. Jeder Frau. Deshalb ist es Frauen so ungemein wichtig, dass sie eine gute Figur behalten. Es gibt nur wenige Männer da draußen, die tagtäglich vor dem Spiegel stehen (während der Partner mit im Raum ist, wohlgemerkt) und ihre Pölsterchen so genau untersuchen. »Bin ich dir zu dick?«, »Gefällt dir mein Busen?«, »Findest du nicht auch, dass Jennifer Lopez einen ähnlichen Hintern hat wie ich?« All diese scheinbar unbedeutenden Fragen (wie Mann glaubt) sind nichts anderes als bedürfnisorientierte Hilferufe, seinen Körper zeigen zu dürfen und natürlich die entsprechende Anerkennung vom Gegenüber zu ernten.

Lexi, die bereits vor der Diät einen tollen Körper hatte, geniert sich in Grund und Boden. Ihr Grundbedürfnis scheint vergraben unter einer dicken Schicht Selbstschutz. Versteckte Eitelkeit. Schade drum. Da sitzt sie nun, fast nackt, mit einem Glas Wein in der Hand auf dem Dielenboden von Tessas Wohnung. Perfekter Körper, grauenvolle Haltung. Bildschönes Gesicht, entsetzlicher Ausdruck. Ihre Unterwäsche möchte sie anbehalten. Was soll man da noch sagen?

Doch Lexi ist trotz allem nur eine Frau. Frauen brauchen Komplimente, damit sie blühen. Es scheint, als bräuchte Lexi ein paar mehr davon. Und Tessa hat Geduld. Sie ist es gewohnt, dass Menschen sich sträuben, obwohl sie doch eigentlich wollen. Beim Sprung über den eigenen Schatten hilft sie gern, indem sie da ist, fordert, aber nicht drängt. Ganz ungezwungen, bis Lexi merkt, dass sie es selbst auch will.

Nach einem Glas Wein, sparsamen, aber gezielten Komplimenten scheint die Strategie aufzugehen. Lexi schaut mit leicht wüstem Blick in die Linse. Immerhin. Ihr langes braunes Haar fällt wellig über ihren Oberkörper. Reden tut sie nun auch. Natürlich über Männer. Über einen bestimmten: über den Richtigen. Da ist sie sich ganz sicher.

»Dieses Mal wirklich!«

Tessa lächelt müde, lotst ihre schöne Freundin auf die Couch.

»Bitte mit dem Rücken zu mir. Die Haare auf die andere Seite … jaaa, sehr schön … sehr sinnlich.« Lexis prallen Hintern betrachtend, folgt Tessa der Geschichte über die berüchtigten Schmetterlinge, welche die Freundin »seit Jahren nicht mehr« hatte.

Tessa fragt sich, was diese Schmetterlingsmetapher immer wieder soll. Sie würde die Sache mit den aufsteigenden Gefühlen ganz anders beschreiben. Bei Tessa sind es niemals Schmetterlinge, die sie sanft schweben lassen. Es sind mindestens Falter, aggressive Nachtfalter, die ihr in den Eingeweiden kreisen, sich vermehren, immer angriffslustiger und ungemütlicher werden. Selbst in der Zeit der ersten großen Liebe war es so, erinnert sie sich. Während ihre Freundinnen sich sachte von den Schmetterlingen in ihrem Bauch zum Leichtsinn haben verführen lassen, wurde Tessa von ihren Faltern brutal in den Wahnsinn getrieben. Zum Glück gibt es Männer, die Tessas Falter mögen. Sie dienen dann als Netz, als Puffer. Aus so manch emotional überschäumender Lage haben sie Tessa schon erlöst. Tapfer haben sie ihren Mann gestanden, haben ausgehalten, Tessas Schläge eingesteckt, bis auch der letzte Falter seinen finalen Flügelschlag getan hatte. Nein, dafür reicht nicht bloß normaler Sex. Das wäre schön, der Einfachheit wegen. Aber so ist es nun mal nicht. Ihre geflügelten Begleiter sind anspruchsvoll und nur schwer zu drosseln. Die Männer, die wacker das Gefecht mit ihnen aufnehmen, werden für einen Moment zu Tessas ganz persönlichen Helden. Und auch für sie ist weitaus mehr drin als das undankbare Rein-raus-Spielchen. Es ist ein Geben und Nehmen, ein Spiel im Einklang.

Das war nicht immer so. Aber vor ein paar Jahren hat Tessa festgestellt, dass sie nicht die Einzige mit diesem Problem ist. Seitdem ist es eigentlich gar kein Problem mehr. Nur manchmal, wenn sie darüber nachdenkt, weshalb sie keine richtige Partnerschaft hat. Dann wird sie grüblerisch. Fragt sich, ob sie ihrer Leidenschaft denn wirklich immer nachgehen muss. Sie muss! Tessa hat sich für ihren Trieb entschieden. Seither entscheidet dieser Trieb für Tessa.

Lexi weiß, dass ihre Freundin SMlerin ist. Tessa geht sehr offen mit ihrer Neigung um, macht keinen Hehl daraus. Nachgefragt hat sie nie, wie Tessas Sexleben im Konkreten aussieht. Wenn sie an SM denkt, hat sie Bilder von brachialer Gewalt in ihrem Kopf. Zischende Peitschen, welche die Luft zerschneiden. Böse Blicke schwarzhaariger Frauen mit streng gebundener Mähne. Nackte maskierte Sklaven, die um Gnade winseln. Gewalt, Schmerzen, Kälte, Distanz. All die Dinge, die sie mit Tessa niemals in Verbindung brächte. Seit sie Tessa kennt, ahnt sie, dass mehr hinter dieser Sache stecken muss. Aber nachzufragen würde möglicherweise Lexis Bild von Tessa beeinträchtigen. In welcher Dimension auch immer. Deshalb hält sie sich dezent zurück, erkundigt sich lieber nach der Liebe selbst als nach den Dingen, die sie tatsächlich interessieren.

Der Wein hat Lexis blaugrauen Augen etwas Gläsernes verliehen. Schön sieht das aus, so wirr. Und dann kommt sie. Diese Frage. Die Frage, die nur Mütter und natürlich Vanilla-Freunde stellen. »Und? Was macht die Liebe?«

Die Antwort: »Schmerzen, unnötige Gedankenwichserei …« verkneift Tessa sich lieber, ersetzt sie durch ein nachsichtiges Achselzucken. Die Sanftmut ihrer nackten Freundin sollte nicht durch ihren Alltagssarkasmus zerstört werden. Dafür genießen beide diesen Moment schon zu sehr. So langsam brandet der Wein auch bei Tessa. Roter Wein hat eine andere Wirkung als weißer, findet sie. Das ist merkwürdig, ja, aber wahr. Tatsächlich macht der rote philosophisch, bewirkt eine innere Ruhe, lässt einen gedanklich abgleiten. Der weiße hingegen macht flatterig. Was Tessas Faltern stets entgegenkommt. Zuweilen trinkt sie ihn bewusst, eben aus diesem Grund. Mutig macht Wein ja ohnehin. Das macht sich auch bei Lexi mehr und mehr bemerkbar. Breitbeinig, mit einer Hand im Schritt sitzt sie auf dem Boden.

»Wie ist das? Gefällt dir diese Pose?«, fragt sie mit kühler Überheblichkeit. Das steht ihr. Tessa spricht das aber lieber nicht aus. Zu zerbrechlich ist Lexis Wagemut. Noch immer hat sie ein Ziel: Lexis Selbstüberwindung. Der Wein füllt weiterhin die Gläser, Lexi trinkt, wird mutiger. Ihre Hand verlässt den Schoß, um nach ihrem Glas zu greifen. Tessa sieht den Abdruck ihrer Schamlippen. Sie stellt scharf, drückt ab.

»Das beste Foto bisher!«

Begeistertes Quieken hinter der Kamera wird mit Schamesröte auf der anderen Seite quittiert. Das Bild ist echt. Auch die Körperhaltung stimmt. Lexi an ihrem Wein nippend, die Beine gleichgültig gespreizt, das Gesicht entspannt. Der linke Ellenbogen verdeckt die linke Brust, während sie trinkt. Der rechte Arm lässig auf den Sitz des Sessels gelegt. Ein gutes Bild, glaubwürdig. Lexi protestiert gekünstelt, obgleich Tessas Verzückung ihr schmeichelt. In einem solchen Moment ist es das Beste, unbeteiligt zu wirken. Je mehr Aufmerksamkeit sie Lexis Unsicherheit bietet, desto schneller wächst diese. Raffiniert gleichgültig schaut Tessa schnell die anderen Bilder durch, bemerkt immer wieder, wie unecht ihre Freundin doch zu Beginn wirkte. Sie will Lexi einen Impuls geben, sich authentisch zu verhalten. Die Zeit der Komplimente endet hier. Nach Zuckerbrot ist nun zwar nicht die Peitsche, aber zumindest ein wenig Anstoß nötig.

»Hey, das kannst du doch besser, oder nicht?!«

Dass Tessas Stimme jetzt strenger ist, bemerkt Lexi nur am Rande. Schon während ihres gemeinsamen Studiums war Lexi wahnsinnig zielstrebig. Nach vorne wollte sie, an die Spitze. Sie wollte nicht irgendein Zeugnis, sondern das beste. Tessa nutzt dieses Wissen um die kleine Schwäche ihrer Freundin mit Freuden für sich. Ja, vielleicht ist es Manipulation. Aber wer sagt, dass eine Manipulation, aus der etwas so Schönes resultiert, schlecht sein muss? Letztendlich ist es lediglich eine Art Führung, eine Verführung zum Ursprung.

Nun ist Lexi bei der Sache. Sie lässt sich gern verführen, posiert gekonnt sexy, den stolzen Blick auf Tessa gerichtet. Endlich befreit sie jene Seite, die sie sonst nur gedanklich und in besonderen Momenten zulässt. Sie weiß, dass sie darf. Die Vermutung, Lexi zeige sich mädchenhafter, sobald das Eis gebrochen ist, findet keine Bestätigung. Das ist nicht etwa schlimm für Tessa. Überraschungen bringen neue Kreativitätsschübe mit sich.

Lexi räkelt sich bewusst nachlässig, liederlich. Wie schön, denkt Tessa, sie ist jetzt ganz bei sich. Beim Trinken lässt sie den Wein absichtlich überlaufen. Die Mundwinkel geben ihn weiter an ihr Dekolleté. Ein blutroter Fleck erblüht auf dem weißen BH. Ihre Pose ist nicht gefällig. Genau das ist es, was ihren Ausdruck nun umso ehrlicher macht. Ihr Blick – ordinär. Tessa sieht durchaus Potenzial, heute ein weiteres gutes Bild zu schießen.

Insgeheim jedoch weiß Lexi, dass es hier nicht ausschließlich um das Foto geht. Sie will gefallen, will Tessa gefallen, genießt es, nackt zu sein, entblößt. Vor ihrer Freundin darf sie das. Keine Fragen, keine Urteile. Dies auszusprechen würde jedoch wiederum eine Reihe von Fragen in Lexi aufwirbeln. Fragen, die sie in ihrem aufgeräumten Leben nicht gebrauchen kann. Sie ist zufrieden, so wie es ist. Zufrieden mit ihrer Sexualität. Jede Konfrontation mit einer abweichenden Form überforderte sie, würde sie augenblicklich zu ihrer Jeans greifen lassen. Was für Lexi eine vorübergehende Offenheit, ein kurzer Zustand, ist für Tessa ein Lebensgefühl. Sie lebt diese Offenheit, ist eins mit ihr und kann letztlich auch nicht mehr aus ihrer Haut. Zuweilen stößt sie damit auf Unverständnis. Vielen ist diese Einstellung nicht distanziert genug. Für Tessa fühlt es sich richtig an. Seit sie andere wie sich kennt, erst recht.

Lexis Bereitschaft ist vergänglich, darüber ist sich Tessa im Klaren. Es ist lediglich eine Laune, beeinflusst durch ihre Suggestion. Nun ist es an der Zeit, einen weiteren Schritt zu gehen.

»Zieh das olle Ding doch aus.« Wieder richtet sie den Blick auf den kleinen Screen ihrer Kamera. Jetzt bloß kein Augenkontakt. Lexi muss weiterhin nach ihrer Aufmerksamkeit lechzen. Heimlich triumphierend sieht Tessa aus dem Augenwinkel, wie der BH endlich fällt. Schau her, rufen Lexis Blicke, schau dir meine Brüste an. Lexi greift nach ihrem kleinen Busen.

»Die sind leider auch geschrumpft durch die Diät.«

Tessa tut ihr den Gefallen, wirft einen fachmännischen Blick darauf, gefolgt von aufbauenden Worten.

»Die sind wunderschön! Und das weißt du auch!«

Lexi lächelt. »Ja, die sind ganz okay. Hätte mich schlimmer treffen können.«

»Kann’s weitergehen?«

»Ja!«

Die letzten Schichten sind gefallen. Ein nackter Körper steht im Raum, zwischen ihm und Tessa bloß eine Linse. Sie drückt ab, schießt ein Bild, ein weiteres und noch eins. Ihre Freundin überrascht mit Posen, auch sich selbst. So liebt Tessa ihre Arbeit, so ist es dieser Fluss aus Nähe und Ferne. Lediglich die Kamera sorgt für den letzten wichtigen Abstand. Vergleichbar in etwa mit einem guten Film. Auf einmal fühlt man sich tief verbunden mit den Darstellern. Beim Fotografieren wird diese Verbundenheit nicht bloß von einer Seite empfunden. Es ist ein Duett, dessen Melodie noch lange in Lexi nachklingen wird. In Tessa sowieso.

*

Am nächsten Morgen schmeckt Lexi der Kaffee besonders gut. Der kleine Kater ist nach der ersten Tasse bereits verschwunden. Die anderen Spuren der Nacht noch nicht. Reden tut sie allerdings nur über ihren neuen Freund, Ralph. Tessa lauscht und staunt über Lexis ungetrübtes Vertrauen in die Liebe. Das ist eine Offenheit, die sie selbst verloren hat. Sie nennt sie gern »Naivität«. Diese Bezeichnung hilft, die selbst errichteten Mauern aufrechtzuerhalten. Tessas Vorstellung von Beziehung erfordert Nähe auf einer Ebene, die nichts mit Alltäglichkeit zu tun hat. Was für Lexi das Normalste von der Welt zu sein scheint, fällt Tessa schwer. Die Konfrontation mit Lexis Weltbild zeigt ihr, dass sie ab und zu auch mal ihre eigene Sichtweise in Frage stellen sollte. Tummelt man sich ausschließlich unter Gleichgesinnten, stößt man nur selten auf Hindernisse. Trotz allem ist man kein Freigeist, wenn man Wege meidet, bloß weil sie schon beschritten sind. Das Schöne am Leben ist doch, dass man sein eigenes Puzzle daraus basteln kann.

Es klingelt. Ralph ist da, um Lexi abzuholen. Aufgeregt stürmt sie zur Tür, drückt auf die Freisprechanlage.

»Hallo, mein Schatz!«, ruft sie.

Kurzzeitig schnürt es Tessa die Kehle zu. Mein Schatz … das ist so … fremd.

Als sie die Tür öffnet, kommt ein blonder Mann mit Ziegenbärtchen im Eiltempo die Treppen herauf. Er grinst. Lexi setzt Prioritäten, fällt Ralph um den Hals. Bei ihrem langen Kuss blenden sie Tessa völlig aus.

»Das ist Ralph!«, sagt Lexi nach endlosen Sekunden. Ihr feuchter Mund ist durchblutet.

»Wäre ich nie drauf gekommen. Ich bin Tessa, hi.«

Ralph lächelt selbstsicher, schüttelt mit großer Pranke Tessas Hand, widmet sich dann wieder Lexis Umarmung. Wieder diese Beklemmung in der Brust. Sie möchte verschwinden, für sich sein, die Tür einfach schließen. Diese Augenhöhe bei Vanillas ist verstörend. Liebe hin oder her, Beziehungen gehören organisiert, müssen Regeln unterliegen. Sonst sind sie zum Scheitern verurteilt. Sie hustet – Stressbewältigung. Lexi schaut sie an. Ihre Augen sind klar und strahlend.

»Danke für das tolle Shooting!«, sagt sie.

Die Entspannung kehrt zurück.

»Bitte, gern!«

Eine knappe Umarmung zum Abschied, dann dreht Lexi sich zu Ralph. Tessa schaut den beiden nach, wie sie Hand in Hand das Treppenhaus hinunterschweben, in ihrem Eintagsfliegenglück. Aber immerhin Glück, würde ihre beste Freundin Gela sagen. Denn was zählt, ist doch der Moment. Tessa schließt die Tür zum Hausflur, hier hinter ihren Mauern ist es sicher.

2. Kapitel

Eine Insel für Helden

Das Telefon klingelt. Wie spät es wohl ist? Dafür, dass sie so viel Arbeit mit Lexi hatte, ist die Auslese an guten Bildern beachtlich. Etwas Seltsames passiert mit der Zeit, sobald sie am Rechner sitzt: Sie vergeht. Oft schneller als ihr lieb ist. Besonders Bildbearbeitung schluckt Minuten, ja sogar Stunden in sensationellem Tempo. So auch heute. Gute Laune kichert in den Hörer. Sofortiges Erwachen aus dem Bildschirmkoma.

»Hallo Gela.«

»Süße, wie geht’s dir? Ich bin ja so energiegeladen momentan«, sprudelt es auf der anderen Seite. Und: »Warte mal kurz …« Eine Hand schiebt sich auf den Hörer. Gemurmel im Hintergrund. Gelas Stimme, dann die eines Mannes. Gela ist Tessas beste Freundin und engste Vertraute. Zu Tessas Bedauern ist sie vor einem Jahr nach Hannover gezogen, diese Entscheidung stößt bei ihr auf großes Unverständnis. Fünf Jahre ist Tessa jetzt schon in Berlin, ohne es auch nur einen Tag bereut zu haben. Dass jemand freiwillig Tessas neue große Liebe – das wunderbare Berlin – verlässt, ist für sie unbegreiflich. Grund für Gelas Umzug war ein Mann. Ein dominanter Mann.

»Subs tun so was für die Liebe«, erklärte Gela stolz auf Tessas Frage, weshalb sie eine pulsierende Metropole gegen eine freudlose Beamtenstadt tausche.

»Aber davon verstehst du nichts«, fügte sie herausfordernd hinzu.

Tessa ignorierte die kleine Provokation.

»Ja klar. Subs ziehen um, Tops lassen umziehen, oder wie? Seit wann kannst du denn mit solchen Begrifflichkeiten etwas anfangen? Die waren dir doch sonst immer zu kategorisch, zu schubladig«, erwiderte Tessa amüsiert.

Gela lächelte. »Okay, okay. Vielleicht wollte ich auch tatsächlich mal weg aus der großen, bösen Stadt. Ich bin schließlich in Berlin geboren. Gabriel ist eben ein guter Grund für eine Veränderung.«

Das klang schon eher nach der dickköpfigen Gela, die sie kannte. Gela brauchte ständig Veränderungen. Das hatte sie in gewisser Weise mit Tessa gemeinsam. Gabriel war die erste Konstante im Leben ihrer Freundin. Auch überraschte es Tessa nicht, dass Gela zwar mit ihrer neuen Liebe die Stadt, nicht aber die Wohnung teilen wollte. Diese letzte Freiheit ließ sie sich nicht nehmen. Gabriel machte das nicht lange mit. Mit dem Umzug kamen die Regeln – Gabriels Regeln. Gela war froh um ihre weise Entscheidung, nicht gleich mit ihm zusammengezogen zu sein. Nicht einmal ein halbes Jahr später beendete sie die Beziehung wieder. Regeln waren nichts für Gela. Nach ein paar Wochen Tränenmeer stellte sie endlich wieder trocken fest: »Ich bin halt keine richtige Sub und SM ist was für Entscheidungsvermeider!«

Allen war klar, dass lediglich Gabriel nicht der Richtige war. Gelas Sehnsucht nach einem dominanten Mann war keineswegs versiegt, jedoch für Einsichten dieser Art war es zu früh. So befreite sich Gela zwar von Gabriel, nicht aber von dieser Stadt. Auch nachdem weitere fünfeinhalb Monaten vergangen sind, wohnt sie noch immer dort. Die Hoffnung auf Gelas Rückkehr in die Hauptstadt gibt Tessa trotzdem nicht auf. Sich für ein Leben in Hannover zu entscheiden ist doch irgendwie ziemlich maso, selbst für Gela.

Gela nimmt die Hand vom Hörer. »Du hörst dich müde an«, sagt sie plötzlich.

»Äh, woher willst du das wissen? Ich komm hier ja gar nicht zu Wort«, mosert Tessa.

»Hör dir doch mal deine Stimme an! Was ist denn bloß los?«

Gelas Laune steckt an, tut gut.

»Nichts weiter, ich arbeite halt noch. Du hast mich vom Rechner weggeholt.«

»Na, dann ist ja gut. Wird höchste Zeit, dass du Feierabend machst.«

Ein Blick auf die Uhr bestätigt diese Aussage: Es ist halb sieben.

»Sag mal, musste am Wochenende och arbeiten?« Da ist dieses Ungeduldige in Gelas Stimme. Ihre Frage ist an dieser Stelle nicht beendet. Außerdem passiert es nicht oft, dass der Berliner Dialekt durchrutscht. Normalerweise gibt sie sich viel Mühe, hochdeutsch zu sprechen. Da muss mehr dahinterstecken.

»Wieso?«, fragt Tessa wissend.

»Na sag doch mal.«

»Nein, bisher nicht.«

»Dann sorg unbedingt dafür, dass das auch so bleibt!«

»Weil?«

»Weil wir auf eine Party gehen, und du kommst mit!«

Schön, wenn man Freunde hat, die einem Entscheidungen abnehmen.

*

Die Deutsche Bahn wäre sicher erstaunt, wüsste sie um den Inhalt mancher Gepäckstücke. Ein Schaffner ist Tessa behilflich, den Koffer ins Abteil zu tragen. Große Augen sind sagenhaft praktisch. Ein Blick, kombiniert mit einem mädchenhaften Lächeln, und schwups ist der Koffer nicht bloß im Zug, sondern auch in der Ablage über ihrem Platz.

»Vielen Dank, das wäre doch nicht nötig gewesen.« Klimper, klimper. Männer sind so einfach gestrickt.

Im Gepäck hat Tessa neben herkömmlicher Kleidung eine Gerte und ein Latexoutfit. Die Party ist ja auch keine herkömmliche Veranstaltung, sondern eine Playparty. Gelas Mitbewohner Jan wird auch dabei sein. Denn Gela, die mal wieder nach Veränderung dürstete, ist vor Kurzem in eine WG gezogen. In Hannover-Linden – dem einzigen Viertel Hannovers, das Tessas Meinung nach annähernd reizvoll ist. Ganz in der Nähe findet auch die Playparty statt. Tessa fährt oft auf Veranstaltungen außerhalb Berlins. Dorthin, wo sie kaum jemanden kennt. Zu viele vertraute Gesichter nehmen ihr die Partylaune. Anonym ist es spannender. Auf dem Plan steht nicht etwa, zu tanzen oder Leute kennenzulernen. Tessa verfolgt ein viel direkteres Ziel. Sie will sich Jan vorknöpfen. Auf der Zuschauerbank wird Gela sitzen, vielleicht auch behilflich sein. Das ist schon länger geplant.

In Hannover angekommen, nimmt sie sich ein Taxi. Es ist nicht weit bis zu Gela. Eigentlich ist kein Ort in Hannover wirklich weit vom nächsten entfernt. Das haben Kleinstädte so an sich. Jede Stadt hat ihre ganz persönliche SM-Szene. Hannover hat nicht viel zu bieten. Das Publikum repräsentiert sich bescheiden. Gothic-lastig zwar, dennoch ohne pompöse Selbstdarstellungen. Hannover besticht durch Diskretion. Tessa weiß das zu schätzen. Eine unspektakuläre Tangoschule reicht den perversen Hannoveranern als Räumlichkeit. Dem verwöhnten Berlin würde dies nicht genügen. Dort fehlt es den Partygästen meist an Besonnenheit, die hier fast jeder zu haben scheint. Die Berliner Szene verschwendet ihre Nächte damit zu erörtern, wer mit wem in welchem Outfit anwesend ist. So scheint es zumindest Tessa. Was wahrscheinlich daran liegt, dass sie inzwischen zu viele Leute kennt. Zu viele, um sich auf einer Party gehen zu lassen, ohne urteilende Blicke im Nacken. Obwohl »Kennen« in diesem Zusammenhang eine absolut großzügige Formulierung ist. Die meisten Leute »kennen« sich dort lediglich über die Profiltexte und Bilder, mit denen sie sich im Netz darstellen. Den Profileignern ist es wichtig, sich möglichst aufsehenerregend und apart darzustellen.

Auch Tessa musste feststellen, dass sie nicht davor gefeit ist, vorschnell zu richten. Oft hat sie jemanden von vornherein abgelehnt, bloß weil der Text im Profil nicht hinlänglich intellektuell oder, trivialer noch, lässig war. Die persönliche Inszenierung spielt in der Szene eine exorbitante Rolle. Der ursprüngliche Antrieb, eine Party des Spielens oder des erotischen Aspektes wegen zu besuchen, gerät leider sehr schnell in den Hintergrund. Tessa weiß um die Fehler der eitlen Szene. Sie weiß auch um ihre eigene Tendenz, Teil davon zu sein.

»It’s Showtime!«, flüstert Gela, als die drei ihre Mäntel an der Garderobe abgeben.

»Schauen wir mal«, schmunzelt Tessa, zieht die Nase kraus.

Latex hat Tessa erst vor Kurzem für sich entdeckt. Natürlich nicht diese engen Ganzkörperkondome, die an Taucheranzüge erinnern. Es muss elegant sein, auch fantasievoll. Tessa verehrt unter anderem die Mode der Roaring Twenties. In diesem Stil gibt es massenhaft überteuerte Latexfummel. Der Perversenzuschlag macht auch vor schöner Kleidung nicht Halt. Am heutigen Abend fiel ihre Wahl auf eine Latexkorsage mit Nadelstreifen. Dazu ein langer schwarzer Rock, der sich eng an ihre Hüften schmiegt. Kleine weiße Gummischleifen zieren die Kniekehlen. Getreu dem Motto »Die Mischung macht’s« wirkt dieses Outfit ebenso niedlich wie böse.

Es ist früh, gerade erst 21 Uhr. Was vermutlich auch typisch Hannover ist. Noch wartet sie in der Garderobe, Tessas Gerte, im Ärmel ihres Mantel. Jan reicht ihr die Leine – speziell für diesen Anlass gekauft. Auf Tessas Wunsch hin ist er nackt, bis auf ein Halsband. Tessa befestigt die Leine daran, gibt sie jedoch weiter an Gela. Es ist Jans Fantasie, an einer Leine durch die Menge geführt zu werden, nicht ihre. Außerdem würde es weder zu Tessas Outfit noch zu ihrem Image passen. Ein Sub an der Leine? Zu gewöhnlich.

Die drei betreten die Bar im Vorraum. Gela schreitet mit ihren Zwölf-Zentimeter-Absätzen voran. Auch sie liebt diesen Augenblick, braucht ihn. Dieser Moment, in dem alle Augen auf sie gerichtet sind. Auf ihr rotes Abendkleid, den Schlitz an der Seite, bis hoch zur Hüfte. Tuschelnde Paare, lauernde Blicke. Hier ist das zulässig, ja sogar erwünscht – zumindest von Gela. Ihr dunkles Haar trägt sie brav gebunden. Was schade ist, denn sie hat eine herrlich volle Mähne. Tessa ist heute nicht in der Stimmung, ein Mittelpunkt zu sein. Sie möchte zurück zum Ursprung, möchte diese Party erleben. Ungezügelt, unanständig und natürlich zweckdienlich. Zudem hatte sie eine stressige Woche. Beratungsresistente Kunden haben ihre Geduld auf die Probe gestellt – mehrfach. Freiberufler in Berlin, ein hartes Brot, an dem sie täglich zu knabbern hat. Aber sie will es so. Wollte es immer. Jan kniet zu den Füßen seiner Begleiterinnen. Gela krault fürsorglich seinen Hinterkopf.

»Gela, lass das. Es ist schon demütigend genug, dass ich hier auf dem Boden sitzen muss. Das ist echt peinlich. Ich fühle mich wie ein Hund«, grummelt Jan.

»Wuff«, macht Tessa – und spitzt die Ohren. Er muss? Wer sagt das? Sie weiß, sie sollte sich mehr um ihn kümmern, ihm seinen Platz am Boden reizvoller gestalten. Doch es schmeckt so fade, immer wieder diese Klischees zu bedienen. Wie unecht er kniet – erwartungsschwanger, und doch unzufrieden. Es ist nicht einmal wichtig, dass er kniet. Nicht notwendig, zumindest nicht auf diese bemüht devote Weise.

Jan braucht hin und wieder eine harte Behandlung, obwohl er nicht so wirkt. Er ist introvertiert, redet selten und wenn, dann ist er zumeist sarkastisch. Seit er Medizin studiert, ist er buchstäblich zum Eremiten geworden. Tagelang hängt er über seinen Büchern, wie besessen wälzt er Lexika, während draußen das Leben vorbeizieht. Gela hat Schwierigkeiten, ihn davon zu überzeugen rauszugehen. Zugegeben, er gehört zu den Besten seines Jahrgangs. Mit den sozialen Kontakten hapert es jedoch. Als er aber hörte, dass Tessa mitkäme, blieben seine Bücher im Schrank. Vorläufig.

Tessa und Jan begegneten sich zum ersten Mal vor einem Monat auf einer Party im »Acanto«. Es war eher ein Antesten, ein Beschnuppern, als tatsächlich ein Spiel. Gela hatte ihn im Schlepptau. Es dauerte nicht lange, und Jan bot seine Massagedienste an. Sie schlug ihm seinen Wunsch nicht ab, ließ sich die High Heels abstreifen, streckte ihre Zehen genüsslich zwischen seine Finger. Tessa, die sich bis zu diesem Zeitpunkt ziemlich langweilte, war hocherfreut über den Eifer, den Jan an den Tag legte, als er ihre Füße massierte. Gänzlich versunken, hielt er ihren Fuß andächtig an seiner Fessel.

»Du hast die schönsten Füße von allen anwesenden Damen hier«, sagte er.

Tessa musste lachen, denn er merkte nicht einmal, wie unbeholfen das klang.

Doch dieser kleine emsige Medizinstudent verstand sein Handwerk uneingeschränkt. Sie befahl ihm, sein Oberteil auszuziehen.

»Zeig mal, ob der Rest ebenso vielversprechend ist!«

Jan machte einen verkopften Eindruck, lachte nervös, aber gehorchte. Viel zu sagen hatte er nicht. Seine Schmerzempfindlichkeit wurde an den Brustwarzen getestet. Diese lag höher als bei den meisten, stellte Tessa genussvoll fest. Während sie seine winzigen Nippel bearbeitete, fragte sie seine Eckdaten ab. Auf diese Weise brachte sie ihn zum Reden.

»Name?«

Tessa lächelte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Jan sah sie perplex an.

»Äh … den weißt du doch schon.«

»Beantworte meine Frage! Oder möchtest du, dass ich dir einen Namen verpasse? Es ist keine schöne Sache, in der Öffentlichkeit ›Drecksau‹ oder womöglich ›Schweinenase‹ genannt zu werden. Verstehen wir uns?«

Jan verstand. Die nächsten Antworten kamen wie aus der Pistole geschossen. Mit jeder Frage verstärkte Tessa den Druck zwischen Daumen und Zeigefinger. Jans Gesicht verzerrt, Tessas immer gelöster. Familienname, Geburtsdatum, Größe und so weiter. Sie musterte ihn wie ein Stück Vieh. Die Erregung war ihm deutlich anzumerken. Sie legte ihre Hand auf die gewölbte Stelle seiner Latexhose.

»Na, du hast doch sicher auch hier schon mal Maß genommen! Und wie viel?«

Jan fühlte sich ertappt, konnte sich selbst nicht erklären, woher dieses Gefühl kam. War er doch sonst nicht derart leicht zu erschüttern. Schamesröte, weiche Knie, lästige Magenschmerzen und dazu dieser unerklärliche Ständer. Verfallen war er, wollte mehr von diesem Spiel. »15 Zentimeter«, murmelte er, obwohl er nicht überzeugt klang.

»Ich überprüfe das bei Gelegenheit«, sagte Tessa.

Mit fiebrigem Kopf küsste er die Spitzen ihrer Zehen, bat um ein weiteres Treffen. Tessa knüpfte Bedingungen daran. Ihm war in diesem Moment so ziemlich alles recht. Und so stand fest, dass es ein Wiedersehen geben würde. Wann dies stattfinden sollte, ließ Tessa bewusst in den Sternen stehen. Zum Abschied wollte sie seinen Personalausweis sehen, um nachzuprüfen, ob er auch in allen Punkten die Wahrheit gesagt hatte. Dabei stolperte sie erneut über seinen Familiennamen, der sie amüsierte. Seither nennt sie ihn nur noch Dr. Schmidt.

Jetzt, da Jan vor ihr kniet, schweigsam, cholerisch, hat Tessa die Lust beinahe verloren. Gela reagiert mit gespielter Empörung:

»Hast du das gehört?! Er weiß seinen Platz nicht zu würdigen.« Sie schaut erwartungsvoll zu Tessa. Die hat aber nicht vor, sofort auf Jans vorlaute Äußerung zu reagieren. Es verstimmt sie zudem, dass ihre Begleiter sie in dieses uninspirierte Spiel hineinziehen wollen. Gela und Jan kennen sich schon eine Weile aus dem Internet. Schon bevor sie ihre WG gründeten, trafen sie sich regelmäßig. Erst auf Stammtischen, später privat. Bisher immer freundschaftlich. Doch heute will Gela dabei sein, wenn Tessa mit Jan spielt. Sie möchte herausfinden, ob sie ausschließlich masochistisch ist, Ausschau halten nach neuen Möglichkeiten. Manchmal hat sie sadistische Fantasien, träumt davon, jemanden zu beherrschen. Sie weiß, dass der Realität oft Grenzen gesetzt sind, ist deshalb froh, dass sie Freunde hat wie Tessa und Jan. Die sadistische Freundin, mit der sie an ihrem masochistischen Freund üben kann. Eine wunderbare Konstellation, wie Gela findet.

Ruhe bewahren. Vielleicht braucht Tessa noch eine Weile, um tatsächlich anzukommen. Womöglich kommt die Inspiration mit der Entspannung. Sie drückt Jan zehn Euro in die Hand, das Ende der Leine in den Mund.

»Hol uns was zu trinken, Dr. Schmidt! Ich möchte einen Chardonnay. Gela, was nimmst du?«

»Für mich auch!«

Jan trottet davon. Er ist mager, etwas schlaksig dabei. Seine Haut ist weiß, seine Haltung nicht gerade spektakulär. »Wirklich keinerlei Körpergefühl!«, stellt Tessa fest. Als Jan die Gläser an der Bar entgegennimmt, steht sie plötzlich neben ihm. Er zuckt zusammen. Ein wenig Weißwein schwappt auf seinen Unterarm.

»Du willst doch, dass ich Lust habe, mit dir zu spielen, oder?«

Ihre nachdrückliche Stimme verursacht Unruhe. Immerhin ein Anfang. Jan nickt. Sie weiß, er ist unsicher. Auf Fremde wirkt er im ersten Moment oft etwas arrogant. Diese Wirkung hat er auf Tessa nicht.

»Dann solltest du ganz schnell an deiner Körperspannung arbeiten!« Grob biegt sie seine Schultern zurück, schiebt ihn vor sich. Die Leine, eben noch in seinem Mund, schleift nachlässig hinter ihm. Sie ist viel zu lang, wahrscheinlich bei »Futternapf« erstanden. Bemühte Körperhaltung, von Perfektion weit entfernt.

Die Weingläser fest umklammert, überlegt er, ob der Platz zu Gelas Füßen nicht die bessere Option ist, und macht sich auf den Weg. Tessa weiß ihn daran zu hindern. Ein Fuß auf der Leine reicht aus, hält ihn zurück. Wieder verliert er Wein. Er dreht sich um, grinst verlegen.

»Heb die Leine auf!«, ordnet sie an. Noch ist sie ruhig. Mit der Spitze ihres High Heels schiebt sie die Schlaufe ein Stück über den Boden. Das gefällt Jan. Sein Gesicht hat eine gesunde Farbe bekommen. Die Augen sind auf Tessa gerichtet. Er verkriecht sich in ihrem Blick, versteckt sich vor den Zuschauern. Nun spürt er, dass er nackt ist, nackter als je zuvor. Tessa meint es ernst, auch das kann er spüren. Respektloses Verhalten verdient eine Lektion.

»Würdest du bitte kurz den Wein halten?«, flüstert er Tessa ins Ohr.

Sie lacht grell. »Das ist hoffentlich nicht dein Ernst!«

Ihre Hand greift nach seinem dunklen Schopf. Tessa weiß, wie sie zupacken muss, damit es schmerzt. Nicht zu flächig, einfach greifen. Geschickt ungeschickt. Jan stöhnt auf.

»Au … aua … okay, okay… ich mach ja schon.«

Der frühe Abend bietet eher selten spannende Szenen. Erst viel später widmen sich die Gäste dem eigentlichen Grund ihres Erscheinens. Obwohl Tessa und ihr ungeschickter Untergebener nicht außergewöhnlich sind, bieten sie gegenwärtig den einzig aufregenden Anblick. Dieser Umstand sorgt für Publikum. Erniedrigungsbeihilfe.

Jan sinkt zu Boden. Gerade will er die Gläser dort abstellen, als Tessa ihn anfaucht.

»Untersteh dich! Die Gläser bleiben in der Hand! Und dass du mir ja nichts verschüttest.«

Die Gläser auf Schulterhöhe, nähert sich sein Gesicht vorsichtig der Leine. Zähne greifen nach dem weichen Leder. Beim Aufrichten vergießt er Wein. Tessa gibt ihm eine Ohrfeige. Eine intime Ansage, ein Statement. Tessas Statement. Der Schreck signiert sein Gesicht, verursacht einen desorganisierten Dr. Schmidt.

»Darf ich bitte zu Gela gehen?«, fragt er, den Blick gesenkt.

Tessa nickt. Sie fühlt sich gut, energiegeladen – endlich. Die Latexkorsage liegt eng an ihrem Körper, schnürt ihr ein wunderbares Dekolleté. Zwischen den Brüsten schwitzt sie ein wenig. Sie fährt mit dem Finger dazwischen, den Blick auf das Hinterteil ihres Opfers gerichtet. Mit ihren 1,69 Meter, mit Absätzen 1,79, ist sie wesentlich kleiner als Jan. Er ist 1,90 Meter groß. Und doch wirkt er klein und zart irgendwie.

Als Tessa wieder am Tisch sitzt, nimmt Gela sie zur Seite. Ihre Miene ist besorgt.

»Er hasst es, öffentlich gedemütigt zu werden.«

Tessa sieht Gela belustigt an.

»Na, das will ich doch hoffen!«

»Nein, Tessa, bitte sei vorsichtig. Er ist ein lieber Kerl. Ich will nicht, dass du ihm wehtust … also … natürlich schon … aber nicht so … du weißt, wie ich das meine …«

Natürlich weiß sie, worauf Gela hinauswill. Jan und Tessa haben keine Erfahrung miteinander, sind nicht eingespielt. Ihre Verantwortung für Jan sollte weit über diesen Abend hinausreichen. Zumindest, wenn sie noch weitergeht. Doch diese ganzen Gedanken ermüden, verderben ihr die Lust an der Party, die Lust am Spontansein, die Lust an der Lust an sich.

»Ich habe alles mit Jan vorher geklärt. Er weiß, dass er keine weiteren Ansprüche an mich hat. Ich denke, damit ist er auch ganz zufrieden.« Tessa bemerkt, wie hart ihre Worte klingen, weiß aber nicht, welche Formulierung an dieser Stelle angebrachter wäre. Schnell fügt sie hinzu:

»Vertrau mir doch einfach. Du kennst mich doch.«

Gela setzt erneut an: »Ich will ja auch gar nicht den Moralapostel spielen. Jan wirkt immer härter, als er ist.«

Diese Grundsatzdiskussionen – nicht jetzt, nicht hier. Vielleicht morgen, oder vielleicht auch nie. Tessa bricht das Gespräch ab, nimmt das Weinglas und stellt fest:

»Da ist ja nicht besonders viel dringeblieben.«

Jan schaut unterm Tisch hervor, die Brauen sorgenvoll nach oben gezogen. Um zu veranschaulichen, wie wenig Wein tatsächlich übrig geblieben ist, leert sie ihr Glas in einem Zug.

»Du weißt ja, was du zu tun hast, Jan! Und vor allem, wie es mir gefällt.«

Jan lümmelt sich unterm Tisch hervor, die Schlaufe der Leine noch immer zwischen den Zähnen. Dann steht er auf, geht mit durchgedrücktem Rücken zur Bar. Tessa ist kurzfristig zufrieden.

»Was er braucht, ist die Gerte, ein bisschen Schmerzen, damit er sich entspannt. Zwischendurch ein paar Küsse und hinterher jemanden, der einfach da ist«, glaubt Gela zu wissen. Tessa gibt Gela einen Kuss auf den Mund.

»Nur weil du so bist, heißt das noch lange nicht, dass andere auch so ticken.«

Ertappt. Gela grinst.

»Na ja … Ich weiß eigentlich wirklich nicht, worauf er steht. Er redet nicht gern darüber.«

»Soso …«

Jan kommt zurück. Die Leine baumelt munter aus seinem Mund. Auch zwischen seinen Beinen baumelt es. Unvorteilhaft. Tessas Blick wechselt zwischen beidem hin und her. Er bekommt ein feuerrotes Gesicht. Ihr Versprechen drängt sich ins Gedächtnis. Maßnehmen wollte sie. Vielleicht hat sie es ja vergessen? Tessa liebt es, Verunsicherung zu stiften. Ihr Augenspiel verändert sich, verharrt zwischen Jans Beinen. Jan kämpft gegen eine Erektion, bleibt erfolglos, hofft weiterhin auf Tessas Vergesslichkeit. Die frisch gefüllten Gläser in den Händen kommt er näher, steht nun vor Tessa.

»Soll ich den Wein auf den Tisch stellen?«

Tessa nickt, öffnet ihre Handtasche. Jan ist ein nervöses Bündel. Er stellt die Gläser ab, will sich wieder unterm Tisch verkriechen. Raus aus den lauten Blicken, weg, runter zu vertrauten Füßen. Etwas wird aus der Handtasche gezogen. Sie hat nicht vergessen. Oft verlegt sie ihre Schlüssel, sucht jedes Jahr wieder nach ihrem Reisepass oder vergisst ihr Handy bei einem Kunden. Aber ihre Worte vergisst sie so gut wie nie.

»Hiergeblieben!«, ruft sie. Erstaunlich, wie aufmerksam Jan auf einmal ist.

Nun ist Tessa in ihrem Element. Sie zieht Latexhandschuhe aus der Tasche, über ihre Hände. Die Handschuhe der unpersönlichen Wirkung wegen. Ganz langsam. Sein Blick haftet auf Füßen, ein großer, lackierter Zeh – sein Fixpunkt. Er riecht den Duft von Latex, schwillt noch mehr. Sie nimmt seinen Ständer. Jan bebt. Es wird Maß genommen, mit kritischem Blick. Er schluckt. Tessa spürt, wie sehr sie ihn in diesem Moment spaltet. Spürt, wie dicht Unwille und Geilheit beieinanderliegen. Ja, es liegt eine notwendige Effekthascherei in ihrem Vorgehen. So banal dieses Spiel auch sein mag, er scheint Demütigungen dieser Art zu brauchen. Tessa weiß das. Zumindest lässt sie ihn glauben, dass sie um sein ambivalentes Begehren weiß. Mehr als den Glauben in Tessas Wissen benötigt er nicht, um alles, was sie ihm antut, tatsächlich zu brauchen.