Schöner leiden - 33 skurrile SM-Erlebnisse, seltsame Fetische und schräge Fantasien - Julia Strassburg - E-Book

Schöner leiden - 33 skurrile SM-Erlebnisse, seltsame Fetische und schräge Fantasien E-Book

Julia Strassburg

4,4
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Pleiten, Pech und Pannen im Bett sind brisant. Und noch brisanter sind sexuelle Missgeschicke, wenn sie Menschen mit ganz speziellen Neigungen passieren. In Schöner leiden erzählt Julia Strassburg von Pannen beim sexuellen Spiel, von bizarren Fetischen, ungewöhnlichen Praktiken und seltsamen Begegnungen innerhalb der BDSM-Szene. Was, wenn die schöne Fesselungsinszenierung von schwer bewaffneten Polizisten ruiniert wird? Was macht man mit einer Frau, die mit den 'Hufen' scharrt, schnaubt und einzig auf die Zügel reagiert? Und warum findet man sich als Besucher einer Latexparty plötzlich in einem Bett mit Hunderten von Plüschtieren wieder? Ob komisch, tragisch oder einfach nur skurril, jede der 33 Geschichten ist einzigartig, überraschend und hinterlässt beim Leser ein kleines Lächeln – oder breites Grinsen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 286

Bewertungen
4,4 (18 Bewertungen)
11
4
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Julia Strassburg

Schöner leiden

33 skurrile SM-Erlebnisse, seltsame Fetische und schräge Fantasien

Schwarzkopf & Schwarzkopf

Vorwort

Perverse zum Anfassen

In diesem Buch erzählen Menschen von der Liebe und anderen Missgeschicken. Von sexuellen Orientierungen und ihren Tücken. Von Nadelspielen, elastischen Neigungen, Zeitreisen, Illusionen. Wir treffen Frauen, die es besser wissen, Fabelwesen, die ihr Revier markieren, perverse Römer, die spinnen und lesen die Erfahrungsberichte von Menschen, die mit Anlauf und Vorfreude in Fettnäpfchen springen. Zeitreisen und Illusionen führen uns in fremde Betten und fremde Körper, in denen die Helden ein Zuhause finden. 33 Geschichten, so verschieden, wie die Menschen, die sie erlebten.

Sie versinken in Treibsand, rasen gedankenverloren auf Wände zu und stolpern taumelnd über ihre Herzen. Manchmal möchte man sie beschützen, ein anderes Mal an der Schulter nehmen und schütteln, allein lassen kann man sie kaum. »Was tust du noch dort? Nimm deine Beine in die Hand und renne!«, möchte man rufen. Doch hört man ihnen genauer zu, merkt man plötzlich, dass alles gar nicht so schaurig ist. Und möchte mit den Helden der Geschichten einfach eine Tasse Tee trinken – statt sich abzuwenden.

Ich habs getan, habe Tee mit ihnen getrunken und zugehört. Habe hingesehen, mich gewundert und gefreut. Vor allem darüber, dass Klischees keinen Platz in ihren Geschichten haben, keinen Platz in ihren Leben. Meine Erwartungen auf Sonderlinge zu stoßen, wurden nicht erfüllt. Echten Menschen durfte ich begegnen, mit wundersamen Geschichten, die es wert sind, aufgeschrieben und erzählt zu werden. Die Fragen, die ich mir vorher zurechtgelegt hatte, blieben unbeantwortet. Antworten bekam ich dennoch. Mehr als erhofft.

Julia Strassburg

1. ERLEBNIS

Das Pony auf Gleis 3

Julia (33), Autorin, Berlin,über Conny (22), Studentin, Berlin

Regen. Regen. Regen. Graue Schnüre bis zum Asphalt, ein dichtes Wolkengebälk, angetrieben von kaltem Wind. René las mich zu Hause auf – was ich sehr begrüßte. Ich trug ein Outfit, das nicht einmal im Ansatz für den Alltag bestimmt war. Berliner waren einiges gewohnt von ihren Mitmenschen. Über die Straßen schlenderten so einige modische Fragwürdigkeiten. Doch ganz in Latex gehüllt wollte ich mich an einem Samstag um 11 Uhr morgens nicht in die Straßenbahn setzen.

Wie jedes Jahr hatte ich mich für den German Fetisch Ball zurechtgemacht. Nicht um dort zu feiern, sondern um zu arbeiten. Zwei Tage Messe und zum Abschluss der Ball. Für diesen Event reisten die Besucher nicht nur aus allen Ecken Deutschlands an. Auch im Ausland hatte er sich bereits herumgesprochen. Aus diesem Grund wollte René seinen Gästen eine Besonderheit bieten und hatte eine Stadtrundfahrt bei der BVG gebucht. Ein zusätzlicher Anreiz für die Stadtfremden. Einen Fetischtrain hatte es vorher noch nie gegeben. Ich war gespannt.

Als ich ins Auto stieg, saß auf der Rückbank ein junges Mädchen, ebenfalls in Fetischkleidung. René stellte sie mir als Conny vor und erklärte, dass sie mich im Fetischtrain unterstützen würde. Wir sollten die Gäste während der Fahrt mit Getränken versorgen. Ich wollte ihr die Hand reichen, aber sie drehte lediglich den Kopf zur Seite, sodass ihr schwarzer Pferdeschwanz eine halbe Pirouette drehte. Seltsames Volk war keine Seltenheit in der eitlen Szene und Conny schien sehr jung zu sein, ungefähr Anfang zwanzig. In ihrem Alter, so dachte ich, habe ich meine Andersartigkeit auch noch zelebriert. Deshalb wunderte ich mich nicht über den exzentrischen Auftakt.

Wie jedes Jahr stand René unter Strom. Während der Fahrt telefonierte er unentwegt, vergewisserte sich, ob alles seine Richtigkeit auf der Messe hatte, ob das Personal vor Ort war oder sonst irgendetwas fehlte. Selbstverständlich lief nichts, wie es sollte. Mich persönlich brachte das nicht aus der Balance, ich kannte das Prozedere aus den Jahren zuvor. Am Ende würden so oder so alle zufrieden und glücklich sein. Bis dahin aber wurde viel Lärm um Nichts gemacht. So war das eben mit René. Keine Fetisch-Fair ohne Stress. Kein Fetisch-Ball ohne Drama. Dafür kannten und liebten wir ihn.

»Verdammt!«, schimpfte er, kurz bevor wir den Ostbahnhof erreichten. Belustigt schielte ich zur Seite. Eine Ahnung flüsterte mir, dass nun eine Planänderung folgen würde. Wahrscheinlich mussten wir vorher noch einmal zur Messehalle fahren oder jemanden abholen. Möglichkeiten gab es etliche. René bestätigte meine Annahme. »Ich muss noch mal zur Fair. Perdita hat Schwierigkeiten mit einem der Stände.« Womit ich jedoch nicht rechnete: Wir kamen in der Abwandlung des Planes nicht vor. René hielt vorm Ostbahnhof, mit den Worten: »Ich komme später nach. Wir treffen uns in einer halben Stunde auf Gleis 3. Der Zug fährt um 12.10 Uhr ein und um 12.30 Uhr ab. Bis dahin müssen alle eingestiegen sein. Aber das wird euch das Personal von der BVG bestätigen.« Sein Finger deutete auf die Beifahrertür. Ungläubig sah ich ihn an. »Wir sollen da jetzt allein rein gehen? In den Bahnhof? In diesen Outfits?«

»Klar, wieso denn nicht?«

Mir fielen diverse Gründe ein, weshalb ich nicht auf 12-Zentimeter-Absätzen und in der Unterbrustkorsage am helllichten Tage durch den Ostbahnhof staksen wollte. Zwei davon standen mit einem Dosenbier vorm Eingang, starrten mit gierigen Augen und schmierigen Dreitagebärten auf Conny. Sie war kommentar- und anstandslos ausgestiegen und hatte sich dekorativ auf dem Bordstein platziert. Aber René hatte andere Sorgen. Das verkündete er dann auch. »Ich hab jetzt andere Sorgen.«

Ich stieg aus. Der Wagen setzte sich in Bewegung, das Fenster fuhr hinunter. »Ach so, hilf bitte Conny, die Trense und die Zügel anzulegen, ich schaff das jetzt nicht mehr.« Rief René, griff nach hinten, holte ein Ledergeschirr von der Rückbank und streckte es mir aus dem Fenster entgegen. Conny stand teilnahmslos herum, während ich mit meinen High Heels an Renés rollendem Auto entlang humpelte, um das Ledergeschirr entgegenzunehmen. Erst als der Wagen aus meinem Sichtfeld verschwunden war, begriff ich: Jetzt gab es kein Zurück mehr. Regen perlte von meiner Korsage. Kalter Wind fuhr mir in die Frisur. Aus Verzweiflung begann ich zu lachen, schaute zu Conny, in der Hoffnung auf eine Reaktion. Nichts passierte. Zwei ausdruckslose Augen guckten durch mich hindurch. Ihr Fuß mit der 20-Zentimeter-Plateausohle scharrte auf dem Asphalt. Ich hielt ihr das Geschirr hin. »Das kannst du auch auf Gleis 3 anlegen. Lass uns mal zusehen, dass wir hier wegkommen.« Die zwei Typen mit dem Bier hatten sich inzwischen vermehrt und waren zu fünft. Bisher hatten sie bloß aus der Entfernung ein paar anzügliche Bemerkungen in unsere Richtung posaunt, doch nun, da ich zu ihnen rüber sah, rückten sie näher.

»Lass uns gehen!«, richtete ich eindringlich das Wort an Conny, die weder auf meine erste Bemerkung eingegangen war noch meine Unruhe teilte. In einer Endlosschleife schleuderte sie ihren langen Zopf herum und kratzte mit dem Fuß auf dem Boden. »Hallo! Wir müssen hier weg!« Langsam bekam ich meine Zweifel, ob Conny mich überhaupt verstand. Oder machte sie sich einen Scherz aus meiner Nervosität? Einer der Trunkenen stand inzwischen neben ihr, versuchte mit dem Finger das glänzende Material ihres Latexcatsuits zu berühren. »Echtet Lack, wa?!«, lallte er. Sein Atem verriet, dass das Bier in seiner Hand nicht das erste an diesem Tag war.

»Finger weg!«, fuhr ich ihn an und hoffte, dass Conny wenigstens jetzt reagierte. Das tat sie dann auch. Zwar nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte, zumindest aber auf eine Weise, die selbst den betrunkenen Anwärter irritierte. Conny fing an zu schnauben. Der scharrende Fuß hatte seinen Radius vergrößert und schabte stärker und schneller am Boden entlang. Hilflos sah ich mich um. Einige Passanten beobachteten uns aus sicherer Entfernung, andere kamen direkt auf uns zu. Wieder andere hoben die Daumen und lachten. Die Panik wuchs. Madame scharrte und schnaubte noch immer. So langsam dämmerte es mir. Vielleicht musste ich ihr einfach das Geschirr anlegen, damit sie sich vom Fleck rührte. Gleichermaßen wütend wie irritiert ging ich auf sie zu. Sollte dies ein eigenwilliges Rollenspiel sein, so wollte ich nicht Teil davon werden. Schon gar nicht hier und jetzt. Meine Toleranz war schließlich nicht grenzenlos. Doch was blieb mir anderes übrig, als mich der Situation zu beugen? Als sie bemerkte, was ich vorhatte, nahm das Schnauben zu. Als Zeichen ihrer Freude schenkte sie mir ein Wiehern. Was für ein Glück. Anscheinend befand ich mich auf dem richtigen Weg.

Erfreulicherweise half sie beim Anlegen der Zügel ein wenig nach. Das versprach zumindest die Aussicht, dass sie nicht vollständig zum Pony mutiert war. Unter Umständen trug sie noch einen Krumen Mensch in sich.

Als Conny fertig war und die Trense zwischen ihren Zähnen steckte, wehte mir eine strenge Alkoholfahne in den Nacken und ich wusste, wir befanden uns mitten in der Gefahrenzone. Jetzt hieß es Galopp. Das Pony aber rührte sich nicht. »Ey, seid ihr pervers oder so?«, hörte ich eine kratzige Stimme hinter mir.

Wie von selbst griff ich nach dem Halfter um Connys Hals, schnalzte, rief: »Hopp hopp, Pony!« Tatsächlich. Das Ponymädchen setzte sich in Bewegung und schritt stolz neben mir her. Bei jedem Schritt hob sie das Knie an, wie es Dressurpferde tun. Wut und Verzweiflung. Ohrfeigen schieden aus. Conny hätte wahrscheinlich eher Gefallen daran und würde noch tiefer in ihrer Rolle versinken. Schulterblick. Dicht auf unseren Versen: die Penner. Inzwischen hatten sie sich warm geredet. Koseworte, Schimpfwörter, alles unter der Gürtellinie. Das Pony schritt hochmütig und gemächlich durch die Bahnhofshalle. Apropos Schläge, dachte ich. Meine Hand schnellte durch die Luft und traf seine Flanke. Aufbäumen, wiehern, dann endlich Galopp. Seine Plateauhufen hatte es besser im Griff als ich meine Heels, deshalb strauchelte ich hinterher. Die Bahnsteignummern flogen an uns vorbei.

An Gleis 3 bremste das Pony abrupt. Wieder fing es an zu scharren. Erleichterung überkam mich. Völlig außer Atem lobte ich das Pony und tätschelte seine Schulter. Brav folgte es mir die Treppe hinauf. Am Gleis standen bereits ein paar der Fahrgäste für den Fetischtrain. Hier fielen wir nicht mehr auf. Der Bahnsteig füllte sich langsam. Bald verschwanden wir zwischen all den glänzenden Latex-Outfits. Endlich normale Leute.

Der Zug fuhr ein, öffnete seine Türen, ließ die Gäste eintreten. Inzwischen führte ich das Pony ganz selbstverständlich an seinem Halfter. Niemand fragte, was es damit auf sich habe.

Froh, endlich angekommen zu sein, war mir völlig entfallen, dass wir ja zum Arbeiten hier waren. Würde das Pony überhaupt in der Lage sein, Bestellungen entgegenzunehmen? Und wenn nicht, was machte ich dann? Ein Blick auf die Uhr. 5 Minuten bis zur Abfahrt. René blieb fern. An der kleinen Bar des Abteils begrüßte ich zwei BVG-Mitarbeiter. Ihre verschreckten Gesichter machten mir bewusst, dass mein Job weit über einen Kellnerdienst hinausgehen würde. So freundlich wie möglich fragte ich nach dem Ablauf.

»Ich würde die Bar machen«, sagte eine kleine Dame mit gesenktem Haupt, den Blick konsequent auf den Tresen gerichtet. Dabei stupste sie unentwegt ihre Brille Richtung Nasenwurzel. »Ja, sie können hier bleiben. Wir …«, ich stockte, besah das Pony an meiner Seite, korrigierte mich: »Ich kümmere mich um die Gäste.« Hektisches Nicken meines Gegenübers. Der andere, ein älterer Herr, war für die Moderation zuständig. In seinem Gesicht konnte ich lesen, wie mulmig ihm zumute war. Jemand musste die Führung übernehmen.

Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung, wir fuhren. »Okay!«, wendete ich mich an die beiden Beamten. »Wenn Sie Fragen haben, dann stellen Sie diese bitte ausschließlich mir.« Zwei Augenpaare schielten auf das Pony. »Die hier können Sie vergessen, denn die ist ein Pony. Alles klar?« Frenetisches Nicken. Was blieb ihnen auch übrig? Ich war wieder Herr der Lage. Zu meinem Erstaunen setzte sich das Ponymädchen in Bewegung, notierte sich schweigend die Bestellungen. Bei den Gästen kam sie gut an. Mal hier ein Klaps, mal dort ein Zuckerstückchen.

Nach einigen Minuten Fahrt entdeckte ich sogar René, der zwischen den Gästen saß und plauderte. Mit Blick aus dem Fenster wies der BVG-Beamte die Fahrgäste in Berlins Sehenswürdigkeiten ein. Trotz allem war ich nicht entspannt. Ständig sorgte ich mich um das Pony, las der Bardame Bestellzettelchen vor und hielt alle bei guter Laune. Nach und nach wuchsen die Schweißflecken unter den Armen des Moderators zu landkartenähnlichen Gebilden heran. Als einige der Gäste anfingen, den Hintern einer Dame zu flagellieren, tupfte er sich atemlos den Schweiß von Stirn und Nase. Schnell wies ich die Spieler zurecht, denn im Fetischtrain herrschte Spielverbot. Um die Situation für den Moderator zu entschärfen, flüsterte ich dem alten Herrn zu: »Skurril, nicht wahr?!«

Bestürzt sah er mich an und fragte: »Das finden selbst Sie?« Ich sah an mir hinab. Mein Outfit stand den anderen in nichts nach. Auch ich war in seinen Augen bloß Teil der außerirdischen Fahrgäste.

Als ich später aus dem Zug stieg, hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Ich drehte mich um. Conny stand vor mir. Das Geschirr hatte sie abgelegt. Es war das erste Mal, dass ich ihre Stimme hörte. »Hat Spaß gemacht. Bis morgen, wir sehen uns beim Ball.«

Verständnislos sah ich ihr nach. Wie selbstverständlich menschlich sie den Bahnsteig hinabging. Es war das erste und auch letzte Mal, dass ich Conny so erlebte. Auf dem Ball am nächsten Abend war sie wieder das Pony.

2. ERLEBNIS

Schneewittchen aus Marzahn

Martin (36), Versicherungskaufmann, Berlin,über Jessy (ca. 34), Sexarbeiterin, Berlin

Als ich an einem Samstagabend im März in meinem kleinen gebrauchten Polo zu der besagten Adresse fuhr, ergriff mich die Aufregung. Der letzte Event, der mich solch eine Regung hatte fühlen lassen, lag lange zurück.

Damals war ich 19 und ging zum ersten Mal in den KitKat-Club. Schon früh hatte ich begonnen, erotische Veranstaltungen zu besuchen. Früher mit pochendem Herzen und geliehenen Latexklamotten, später mit pochender Hose und geliehenen Frauen. Ich war einer der Menschen, die nicht einmal mehr zurück wollten, wenn sie denn gekonnt hätten. Zurück zu einem konventionelleren Lebenswandel – mit einer festen Partnerin oder gar Kindern. Nein, ich war zufrieden in der sexuell orientierten Gemeinde Berlins und sah keinen Grund, etwas zu ändern. Ich zog es vor, in einem WG-Zimmer zu leben, obwohl ich mir locker eine Drei-Zimmerwohnung hätte leisten können. Viele Jahre fuhr ich bloß mit dem Rad, später kaufte ich mir den alten Polo, obwohl mein Budget viel mehr zuließ.

Dennoch konnte man mich nicht als genügsam bezeichnen. Schließlich konsumierte ich Frauen. Es gab stets vier bis sechs Damen in meinem Umfeld. Wann immer mir nach etwas Zärtlichkeit oder einer berauschten Zeit war, brauchte ich bloß anzurufen. Manchmal begleitete mich eine meiner Gespielinnen auf Partys. Manchmal traf ich sie allesamt vor Ort. Man kannte sich untereinander, und wenn nicht, war selten jemand neuen Kameradschaften gegenüber abgeneigt. Nur riechen können musste man sich, darauf kam es an. Zumindest bei den Partys, bei denen Gespräche an zweiter Stelle standen – Swingerpartys. Schon immer habe ich mein Einzelgängertum gepflegt, mich wohlgefühlt in der Rolle des lonely Großstadtcowboys. Gute Gesellschaft wusste ich trotzdem zu schätzen. Ich mochte es, wenn Leben um mich herum war. Allerdings ohne Verpflichtungen, ohne Erwartungen.

Eines jedoch war mir bisher nicht widerfahren: die Liebe. Vieles hatte ich darüber gehört, gelesen.

Ich hatte mitbekommen, wie andere liebten, wie sie sich plötzlich anders verhielten, seltsame Dinge taten. Auch mich hatte man schon geliebt. Ein paar Damen hatten mir ihre Liebe gestanden. Manche im selben Moment ihres Zustands, einige im Nachhinein. Daran gab es nichts auszusetzen. Es war gut vorstellbar, dass ich liebenswert war. Ich war ja gut geraten und an Charme mangelte es mir erst recht nicht. Nur in Ruhe lassen musste man mich. Selber vermisste ich die Liebe nicht. Wenn man beobachtete, wie schmerzvoll sie sein konnte, war ich ganz froh, es mir in meiner Grauzone bequem gemacht zu haben. Vermutlich war ich einfach nicht gemacht für die großen Gefühle, so dachte ich. Das Einzige, das mehr und mehr abhandenkam, war das Kribbeln im Bauch, das ich einst auf Partys verspürt hatte. Mit den Jahren hatte die Aufregung der Gewohnheit Platz gemacht und das schöne Prickeln mit sich genommen.

Im Internet entdeckte ich eines Tages eine vielversprechende Annonce. Bei den Kleinanzeigen war ich über einen simplen, aber sehr eindeutigen Text gestolpert: »Benutzerparty. Zur Benutzung freigegeben: Schneewittchen. Wer hat noch nicht? Wer will noch mal?«, darunter eine Telefonnummer. Die Partys der Szene, die ich normalerweise besuchte, waren kommerziell, öffentlich. Diese private Anzeige dagegen versprach etwas Neues. Womöglich brachte sie sogar meine Faszination zurück.

Tatsächlich: An jenem Samstagabend regte sich etwas in meinem Bauch, was ich kaum noch für möglich gehalten hatte. Ich war regelrecht aufgeregt. Sieben Tage waren vergangen, seit ich die Anzeige ausgeschnitten und die Nummer gewählt hatte. Eine freundliche Männerstimme hatte mir Datum und Adresse der privaten Party genannt, mich außerdem beglückwünscht zum beinahe letzten Platz auf der Besucherliste. Danach hatte sie einige Benimmregeln vorgelesen, bei denen ich schon nicht mehr hinhörte. Mein Herz hatte zu schlagen begonnen, das war wichtiger.

Mit feuchten Händen parkte ich eine Straße entfernt. Vor der Hausnummer 27 war alles voll. Um einen Strafzettel zu vermeiden, verkniff ich mir, auf der gestreiften Zone zu parken. So stellte ich, meiner wachsenden Ungeduld zum Trotz, den Wagen einen Block entfernt ab. Anecken wollte ich nicht. Generell stand ich nicht gern im Mittelpunkt. Egal ob durch auffällige Kleidung, abnormes Auftreten oder außerordentliches Verhalten im Verkehr. Nur bei den Frauen, da war ich schon immer besonders.

Die Gegend ließ sich nicht gerade als schön bezeichnen. Genau das, was man von Marzahn erwartete: Berliner Plattenbau. An der Tür suchte ich nach einem Hinweis und fand ihn prompt: Jemand hatte das Klingelschild überklebt. »Schneewittchen« haftete über dem Nachnamen. Noch immer empfand ich die Schlichtheit, die dieser Offerte innewohnte als erfrischend. Und ein neuerlicher Schwung Aufregung überkam mich.

Mit feuchten Händen klingelte ich, man öffnete und ich fuhr in den zwölften Stock, wie der Mann am Telefon es erklärt hatte. An der Haustür wurde ich von einer Dame empfangen. Nicht hübsch, aber sehr charmant, was einiges ausglich, wie ich fand. Was mich wunderte: Sie trug, ganz untypisch für eine Sexparty, Jeans und Pullover. Als ich sie fragte, ob sie Schneewittchen sei, erklärte sie, dass sie nur für den Einlass zuständig sei. Dann zupfte sie die 20 Euro Unkostenbeitrag aus meinen Fingern, hakte meinen Namen auf der Liste ab: »SundM«. Vergebens wartete ich auf eine Bewegung in ihrem Gesicht, einen Hinweis, dass sie nicht bloß meinen Humor teilte, sondern verstand, dass ich kein herkömmlicher Besucher war. Zwar war ich kein typischer SM-ler, der sich ausschließlich in der Szene herumtrieb. Trotzdem wollte ich darauf hinweisen, in welche Richtung es mich zog, damit die Gastgeber vorgewarnt waren. Doch es tat sich nichts im Gesicht der Türdame. Bloß ihre Lippen spuckten ein paar Worte aus. In der Küche dürfe ich mich am Buffet bedienen, auch Getränke seien dort zu finden, dann ließ sie mich eintreten.

Langsam betrat ich die Wohnung des Neubaus. Ein früher Gast bin ich nie gewesen, das passte nicht zu mir. Ich bevorzugte Partys, die bereits in vollem Gange waren. Da fiel es nicht so auf, wenn man dazu stieß.

Aus einem der Räume drangen Geräusche. Ein paar der Gäste (alle männlich), standen in den Flur gedrängt, den Blick in den Raum, hinter dem ich ein Wohnzimmer erahnte. Eine Frau stöhnte rhythmisch. Dazu hörte man ein ordentliches Klatschen. Ansonsten: Totenstille. Dieses Geräusch war mir äußerst vertraut. So viele Male hatte ich es in Ohren gehabt. Fleisch, das gegen Fleisch prallt.

Erst als das Klatschen endete und Gespräche einsetzten, traute ich mich, näher zu treten. Die Männer machten mir Platz. Endlich konnte ich etwas sehen. Verhalten schielte ich in den Raum, stutzte. Überall Männer, alles voller Männer. Testosteron-gebeutelte Typen, die es nötig hatten. Einige standen in einer Schlange, andere saßen auf der Sofalandschaft herum und starrten. Auf einem unorganisierten Podest aus Kissen hatte man ein Mädchen aufgebahrt. Kopf und Schulterpartien waren unter einem hellblauen Laken verschwunden. Der Rest ihres Körpers war unbekleidet und schaute heraus. Ihr Becken lag auf einem Stapel Kissen, sodass ihr Hintern in die Höhe ragte. Das also war Schneewittchen. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt hatte sich meine Aufregung irgendwo hinter der ganzen Verwunderung verloren.

Neben dem Mädchenkörper stand ein Mann – anscheinend der Gastgeber. Er wies die Anwärter an, sich in Reih und Glied zu stellen, bevor sie Schneewittchen nahmen. Hier herrschte strengste Ordnung. Ich nickte anerkennend. Eine wirkliche Meinung hatte ich noch nicht. Während des ganzen Abends stand ich einfach nur da, schaute zu, grübelte. Dabei wechselte ich einige Male meinen Posten, um das Geschehen aus einer anderen Perspektive zu verfolgen. Viele der Zuschauer hielten ihre Schwänze in den Händen und wichsten unentwegt. Die meisten jedoch bedienten sich an den beiden Löchern, die zur Benutzung freigegeben waren. Ich aber stand nur da. Wie festgewachsen stand ich da, wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Da war weder Verlangen noch wirkliche Langeweile. Es war, als wäre ich unsichtbar, gehörte nicht dazu. Mehr und mehr wuchs ein Berg aus Fragen in mir heran. Fragen, die ich dem Menschen hinter den Körperöffnungen stellen wollte. Während ich auf ihre geweiteten Löcher starrte und das Stöhnen des Mädchens vernahm, fragte ich mich, was wohl ihre Beweggründe waren, sich benutzen zu lassen. Im Gesicht des Gastgebers suchte ich nach einer Antwort. Freude lag darin, Sadismus, wenn sie schrie. Und mit einem Mal war ich sicher: Schneewittchen war nicht freiwillig hier. Dutzende gierige Frauen hatte ich in der Szene getroffen. Vollblutschlampen, die sich gern benutzen ließen und nymphomane Tendenzen aufwiesen, aber so etwas hatte ich niemals erlebt.

Die Nacht neigte sich dem Ende zu, aber das Gesicht des Mädchens blieb allen verwehrt. Nicht einmal, als sie von ihrem Gebieter aus dem Raum geführt wurde, um kurz in einem zweiten Zimmer oder im Bad zu verschwinden, wurde das hellblaue Laken gelüftet. Es wurde 2 Uhr, 3 Uhr, die Gäste wurden immer weniger. Irgendwann gingen die Kerzen aus und das Licht an. Die Türdame klatschte in die Hände, forderte die Aufmerksamkeit der Übriggebliebenen. Die Show war vorbei. Gerade wollte ich mich damit abfinden, dass das Gesicht des Mädchens ein ewiges Geheimnis bleiben sollte, da begab sie sich in eine aufrechte Position und zog sich das Laken selbst vom Kopf. Natürlich war ich nicht der Einzige, der sie anstarrte, aber vermutlich war ich der Einzige, der Mitleid empfand. Einen gelockten Pagenkopf hatte sie und war älter, als ich bei diesem Körper vermutet hatte, ca. Mitte dreißig. Wie gern hätte ich sie im Arm gehalten, ihr das schweißnasse Gesicht gewaschen, die rosigen Wangen geküsst. Nie zuvor hatte ich so empfunden. Frauen waren stets Lustobjekte gewesen, die ihre Zustimmung gaben, selbige zu sein – somit eine Komplizenschaft mit mir eingingen. Zu keiner Zeit aber hatte ich den Wunsch, eine von ihnen zu retten. Jemand musste Schneewittchen von dem Gift in ihrem Leib befreien, sie küssen, sodass sie erwachte, steigerte ich mich weiter hinein. Irgendjemand musste etwas tun, vielleicht sogar ich.

Schneewittchen aber lächelte. Das war unfassbar. Ihr Besitzer, Freund, Ehemann, Zuhälter oder was auch immer er war, führte sie an der Hand heraus. Im Vorbeigehen zwinkerte sie mir zu. Zumindest glaubte ich, dass ich gemeint war. Was ich nicht glaubte, war, dass Schneewittchens Lächeln echt war. Es war eine Täuschung. Schlimmer noch: ein Befehl, den sie ausführte.

In den folgenden Wochen war ich verändert. Das WG-Zimmer verließ ich nur noch, um zu arbeiten, ich kam nach Hause und blieb, sogar an den Wochenenden. Meine Lust auf die Frauen war verschwunden. Es war unglaublich. Immer wieder musste ich an Schneewittchens Lächeln denken, an ihre Augen, ihren schmalen Mund, den ich so gern geküsst hätte. Auch an das Zerrbild ihrer Körperöffnungen, an die vielen Männer, die in ihr gesteckt hatten, sie zum Schreien gebracht hatten. Diese Bilder passten nicht zusammen. Wut stieg in mir auf. Etwas musste getan werden. Man musste Schneewittchen von dem bösen Zauber erlösen.

Als ich dann einer engen Freundin und Gespielin davon erzählte, sagte diese: »Du hast dich verliebt, ganz einfach.« Das wäre eine mögliche Erklärung, dachte ich. Auch das Stechen in meiner Brust bestätigte dies.

Tage später: Mit aller Kraft hatte ich versucht, meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Mit Frauen, Alkohol und Woody-Allen-Filmen. Mal gelang es mehr, mal weniger. Eines Abends lief auf meinem Heimweg ein Hit aus den Achtzigern im Radio. Erinnerungen kamen hoch. Wie jung ich damals gewesen war, wie neugierig und unverdorben. Plötzlich presste ich den Fuß auf die Bremse. Man konnte von Glück reden, dass hinter mir kein anderes Auto war, sonst hätte ich einen Unfall verursacht. Doch selbst das hätte mich wohl in diesem Moment nicht gestört. Am Straßenrand hatte ich sie gesehen: Schneewittchen. Ganz in Marineblau, ihre Locken schauten unter einer Mütze hervor. Sie war es, ganz sicher. Rückwärts fuhr ich in eine Einfahrt, stellte den Motor ab, stieg aus. Sie stand am Straßenrand, mit einem Zettel in der Hand. Genau konnte ich es nicht erkennen. Als ich in ihre Richtung ging, blickte sie auf, kam ebenfalls auf mich zu. Ob sie mich erkannt hatte?

Nach 20 Metern war ich nicht mehr sicher und kurz, bevor wir einander erreichten, wusste ich: Sie war es nicht. »So können Sie da aber nicht stehen bleiben«, sagte die Dame. Eine Politesse, nicht annähernd so liebreizend wie Schneewittchen. Ich kassierte einen Strafzettel und einen Denkzettel. Die Liebe ist nicht schön, dachte ich.

Am nächsten Tag kramte ich die Anzeige heraus, wählte Schneewittchens Nummer und erkundigte mich nach der nächsten Party. Tatsächlich sollte sie in zwei Wochen stattfinden. Wie ein Teenager fieberte ich jenem Abend entgegen. Genau wusste ich nicht, wie ich vorgehen sollte, aber dieses Mal würde ich in dem Moment, wo sie ihr Gesicht enthüllte, nicht tatenlos herumstehen, sondern handeln.

Jener Abend kam. Um den Anblick ihres Leids möglichst zu vermeiden, traf ich erst gegen 1.30 Uhr auf der Party ein. Von Stockwerk zu Stockwerk stieg meine Aufregung. Oben angekommen die Überraschung: An der Tür stand nicht die Dame der letzten Party, sondern Schneewittchen selbst. Sie war geschminkt und trug einen grünen Kapuzenpullover zu einer schwarzen Stoffhose.

»Je späta der Ahmt, desto schöner die Jäste«, begrüßte sie mich. Kurzerhand erstarrte ich zu einer Salzsäule. »Kommse ma rinn, junger Mann, nur nich so schüschtern«, berlinerte sie weiter.

»Schneewittchen?«, brachte ich endlich über meine Lippen. »Ne, ick bin die Jessy, Schneewittschen is drinne.« Ungläubig starrte ich mein Schneewittchen an. Sie war so verändert. »Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst. Du wirst ein gutes Leben führen«, stotterte ich und wusste längst nicht mehr, was ich da redete. »Kalle!«, rief das blonde Schneewittchen in die Wohnung hinter sich. »Hier is schon wieder Eener, der globt, mir retten zu müssn.« An diesem Punkt begann ich zu verstehen. Bei der nächsten Party erschien ich pünktlich. Telefonisch hatte ich mir Auskunft geben lassen, wann Jessy ihre nächste Darbietung als Schneewittchen haben würde. Ich war einer der Ersten, der sie benutzen durfte.

3. ERLEBNIS

Die üblichen Verdächtigen

Marla (28), Kaufhausdetektivin, Berlin, über Inge (ca. 30), Berlin

Als Kaufhausdetektivin muss man achtsam sein. Jeden Zentimeter, jedes einzelne Regal des Kaufhauses sollte man kennen, auch die Positionen der Kameras. Sein Hauptaugenmerk sollte man aber auf die toten Winkel legen. Die Ecken, in die es keine der Kameras schafft. In jedem Kaufhaus gibt es sie, diese Ecken, ganz egal wie sehr man versucht, sie zu umgehen. Begabte Diebe wissen um diese Sicherheitslücke und nutzen sie gern für sich. Manchmal schleichen sie tagelang in den Kaufhäusern umher, um sie auszuspionieren.

Wo die Technik versagte, kamen wir ins Spiel. Ein Sicherheitsteam aus vier Leuten. Drei Männer, eine Frau. In meinem Beruf traf man selten Frauen, noch seltener welche, die gut aussahen. Wahrscheinlich wäre mein Aussehen in anderen Berufen förderlich gewesen, aber ich hatte mir nun mal den Sicherheitsbereich ausgesucht und musste mein Können anderweitig unter Beweis stellen. Keine einfache Aufgabe. Vor allem dann nicht, wenn es an Chancen fehlte. Dabei war ich absolut teamfähig.

In den Anfängen hörten sie mir nicht einmal zu, selbst wenn ich tatsächlich einen Verdächtigen im Visier hatte. Es wurde abgewartet, bis sie selbst etwas Fragliches sahen, erst dann zugegriffen. Zugriff – das war der Moment, in dem sich unser Verdacht bestätigte und es eindeutig einen Diebstahl zu verzeichnen gab. Dann umzingelten wir die Verbrecher, gaben vorher den Sicherheitsleuten an der Tür Bescheid und schnappten sie uns, griffen zu. Meine Kollegen Gregor, Micha und Frank hatten das Sagen, ich musste folgen. Das zeigten sie mir deutlich. Wenn wir gemeinsam in einem Raum saßen, ignorierten sie mich. Sobald ich ihnen den Rücken zuwandte, starrten sie mir auf den Hintern. Auch das spürte ich. Frank war regelrecht verlegen, sobald ich das Wort an ihn richtete. Micha und Gregor dagegen waren einfach nur unfreundlich. Ich wartete auf meine Chance, wartete darauf, ihnen zu beweisen, dass ich mehr konnte als nett auszusehen. 15 Jahre Kampfsport, so stand es in meinem Lebenslauf, und auch die drei Jahre Berufserfahrung in Kaufhäusern. Dennoch: von Respekt keine Spur. Bevor meine Probezeit nicht vorüber war, wollte ich es nicht drauf ankommen lassen, indem ich mich widersetzte, das Problem ansprach. Also schwieg ich. Still und leise wartete ich auf eine Gelegenheit.

Eines Nachmittags, ich glaube, es war ein Samstag. Wir hatten schon eine Weile tatenlos umhergestanden, waren die üblichen Runden gelaufen, hatten uns schließlich alle im Raum mit den Monitoren versammelt. In der Basis, wie Frank zu sagen pflegte. Eher zufällig als gewollt. Alle, bis auf Micha, der gerade an zwei 18-jährigen Mädels in der Unterwäscheabteilung dran war. Zwischendurch versorgte er uns über Funk mit den nötigen und unnötigen Informationen. Notwendig waren jene, die seinen Verdacht bestätigten und uns auf Bereitschaft schalten ließen. Unnötig dagegen waren Kommentare über die Körbchengröße der beiden. Auch das gehörte in meinen Alltag hier. Ich lächelte matt.

Da entdeckte Frank eine merkwürdige Gestalt. »Ey, schaut euch den mal an«, rief er aufgeregt. Gregor und ich schauten auf die Bildschirme. Spontan fing ich an zu lachen. Was ich sah, amüsierte mich. »Soll das witzig sein?«, fragte Gregor. »Der Typ könnte Ärger bedeuten«, fügte Frank knurrend hinzu. Mein Lachen versiegte. Doch glaubte ich nicht, dass die Gestalt auf dem Bildschirm tatsächlich Ärger ankündigte. Vielleicht Aufsehen, ja, aber Ärger? Nein, ganz sicher nicht. Damit kannte ich mich aus.

Bei der verdächtigen Person handelte es sich um einen 2 Meter großen, sehr schlanken Mann, ganz in schwarzes Latex gehüllt. Sogar das Gesicht wurde von einer Maske bedeckt. Seine Körpergröße verdankte er den Plateausohlen unter seinen Füßen. Ich schätzte seine eigentliche Körpergröße auf 1,80 Meter. Um seinen Körper schlängelte sich eine pinkfarbene Stola und auf dem Rücken trug er einen kleinen schwarzen Rucksack mit Engelsflügeln, ebenfalls pink. Stolzen Schrittes und selbstverständlich, als wäre sein Outfit keinesfalls fremdartig, stelzte er durch die Regale. Wie gebannt starrten meine Kollegen auf die Monitore. »Was hat der vor?«, fragten sie. »So geht das aber nicht. Der vergrault uns doch die Kunden.« Ich schmunzelte. Noch gab es keinen Anlass, den Latexfreund des Hauses zu verweisen. Er trug zwar ein seltsames Outfit, zeigte aber weder zu viel Haut noch verhielt er sich sonst irgendwie bedenklich. Ja, unseren Gästen fiel er auf, doch keiner zeigte nachhaltiges Interesse oder fühlte sich belästigt. Nach wenigen Sekunden des Erstaunens widmete sich jeder wieder seinem Einkauf. Großstädte bringen nun mal schräge Vögel hervor, deren Flugrichtung wir nicht grundsätzlich verstehen müssen.

Unser Haus galt als kundenfreundlich, das wurde uns immer und immer wieder von der Geschäftsleitung eingebläut. Zugriff nur dann, wenn wirklich die Regeln verletzt wurden, ansonsten nur beobachten. Das taten die beiden Jungs auch. Inzwischen hatten sie Micha in Kenntnis gesetzt, dass er auf Bereitschaft gehen solle, denn im Erdgeschoss gäbe es eine Person, die bald Ärger machen würde, da waren sie sich ganz sicher. Er solle sich auf das Schlimmste gefasst machen.

In diesem Moment wurde mir bewusst, mit wem ich da eigentlich seit fast drei Monaten zusammenarbeitete. Solange es bloß die üblichen Verdächtigen waren, solange sie Langfinger und Trickbetrüger fertigmachen durften, sie »rundmachen« konnten, wie Gregor es nannte, waren sie zufrieden. Dann waren sie ihn ihrer Welt. Neue Situationen brachten die vermeintlich harten Kerle aus dem Gleichgewicht. Auf Monitor drei tauchte Micha auf, der sich langsam zu dem Kosmetikregal vortastete, an dem der Latexfreund stand. Unauffällig warf er Kamera drei einen bedeutungsschwangeren Blick zu. »Er hat ihn, er hat ihn«, rief Gregor. »Nu biste dran, Freundchen«, folgte Frank.

Das war der Moment, als mir der Kragen platzte. »Was ist eigentlich los mit euch? Auf Kamera fünf laufen viel problematischere Gestalten rum. Die solltet ihr euch mal lieber vornehmen. Der Typ da will ganz sicher nichts klauen.« Synchron drehten sich zwei Köpfe in meine Richtung. »Ach ja? Ich glaube nicht, dass du da mitreden kannst. Ich bin seit zwanzig Jahren im Geschäft. Ich kenne diese Exhi, Exhi …« begann Gregor seine Rede und Frank half ihm aus. »Exhifetischisten.«

»Ja, genau die!«

Vollidioten. Die Lage war schlimmer als ich dachte. Nun hieß es: Warten. Darauf, dass nichts geschah, der Latexfreund seinen Einkauf beendete und die Jungs sich wieder beruhigten. Mit Gegenargumenten und einem Fremdwörterlexikon konnte ich ihnen leider nicht kommen. Bloß die Zeit würde zeigen, dass ich richtig lag.

Leider passierte dann etwas, das mich persönlich zwar nicht störte, wohl aber gegen die Hausordnung verstieß. Die aufgeregte Stimme Michas ertönte über das Funkgerät: Ey, die Schwuchtel macht hier Fotos von sich.« Tatsächlich, Mr. Latex hatte eine kleine Kamera dabei, die er zwischen die Kosmetikartikel gestellt hatte, und begann via Selbstauslöser, Porträts von sich zu schießen. Dabei zog er wilde Grimassen. Das allein hätte die Hausordnung wahrscheinlich noch nicht verletzt, obwohl Gregor, Frank und Micha da anderer Meinung waren. Was aber eindeutig nicht mehr akzeptabel war: Er begann zu tanzen und sich dabei zu streicheln. Mit den Händen fuhr er seinen Körper hinauf, wieder hinab. An diesem Punkt musste selbst ich einsehen, dass das Wort Zugriff, das nun schon mehrmals gefallen war, seine Berechtigung hatte. Micha aber, der nur wenige Meter entfernt stand, griff nicht zu. Stattdessen versuchte er, Gregor und Frank dazu zu bewegen, ihm zu helfen. Die beiden sahen aber ganz und gar nicht ein, weshalb sie ihren Posten verlassen sollten, wenn er doch direkt daneben stand. Außerdem wäre Marla, also ich, doch noch nicht so geübt, was die Überwachung der Kameras anging, deshalb dürften sie mich nicht allein lassen. Während sie das sagten, war ich bereits auf dem Weg in die Verkaufshalle. Das Klacken der Tür war das Letzte, was sie hörten, bevor sie mich einige Sekunden später auf der Kamera beobachteten. »Marla, was machst du? Das kannst du nicht allein«, sagte Micha, als ich ihn passierte. »Geh zu den Jungs, dann kannst du zuschauen und bist in Sicherheit«, sagte ich verächtlich. Die Folgen meines patzigen Verhaltens waren mir inzwischen egal.