Wo die Liebe hinschlägt ... - Julia Strassburg - E-Book

Wo die Liebe hinschlägt ... E-Book

Julia Strassburg

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Beschreibung

Julia Strassburg sucht in ihrem neuen Buch nach Antworten jenseits von Klischees und Stereotypen. Sie gibt eine Einführung in die BDSM-Szene für Menschen, die genug von Blümchensex haben, erotisches Neuland entdecken wollen oder sich bisher einfach noch nicht richtig getraut haben - schließlich wird niemand in Latex geboren. Das Buch zeigt die verschiedenen Facetten und Perspektiven der Szene: Die Autorin selbst sowie 10 andere SMler erzählen über ihren ganz persönlichen Einstieg und 10 weitere Insider, wie eine Domina, ein Latexdesigner und ein Fetischparty-Veranstalter, berichten davon, wie es ist, in der Szene zu arbeiten. Zusätzlich testet Julia Strassburg im Selbstversuch die Besonderheiten und Unterschiede der Partyszene, indem sie eine Reihe einschlägiger Veranstaltungen in verschiedenen Städten besucht. Wo die Liebe hinschlägt. ist ein Buch, das neue Blickwinkel eröffnet und mit einigen Vorurteilen gründlich aufräumt!

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Seitenzahl: 340

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Julia Strassburg

Wo die Liebe hinschlägt

Ein persönlicher BDSM-Ratgeber und Szeneguide

Vorwort

BDSMer – sie sind unter uns

BDSM scheint gerade salonfähig zu werden. Seit »Mommyporn« zum Modebegriff geworden ist, weiß jeder, dass in vielen Schlafzimmern ein Bedürfnis nach Abwechslung herrscht. Aber ist das wirklich so? Haben die Frauen genug vom Blümchensex? Ist es an der Zeit für die Peitsche im Nachttisch?

Shades of Grey – am Erfolg dieser Bücher wird vieles gemessen. SM sei inzwischen ein Teil der Massenkultur, so die kühne These. Ist es die geheime Sehnsucht jeder Frau, unterjocht zu werden? Ich glaube kaum. Wahrscheinlich ist es eher der simple Wunsch nach anregender Unterhaltung, der Frauen zur SM-Literatur greifen lässt, und nicht die Unzufriedenheit mit ihrem Partner oder ihrem Sexleben. Daher sollte man sich lieber fragen, ob Mommyporn wirklich etwas Neues ist oder bloß der Medienhype zum Schnee von gestern.

Aus meiner Sicht reiht sich Shades of Grey in die Tradition der Arztromane ein. Erotische Bücher von Frauen für Frauen gab es schon immer. Etwas neuer ist, wie offen die Texte mit alternativer Sexualität umgehen und wie explizit manche Schilderungen sind. Aber dieser Umstand ist keineswegs revolutionär. In den Medien und im Netz kann man expliziten Tatsachen kaum noch entgehen. Pornografie ist in unserem Alltag angekommen.

Die Lust am SM bleibt bei den meisten Leserinnen aber bereits im Kopf stecken. Nur wenige laufen hinterher tatsächlich zu ihrem Mann und wollen unterworfen werden. SM ist nicht für jeden geeignet. Er ist Einstellungs- oder Geschmackssache. Der Mommyporn als solcher reicht den meisten Damen, um ein wenig Abwechslung in ihren Alltag zu bringen. Übrigens: Manchmal haben auch Männer Schläge gern.

Allem Sex in den Medien zum Trotz sind gerade die devianten Spielarten für viele noch etwas reizvoll Verdorbenes. In manchen Staaten Amerikas ist sogar Oralsex verboten. Dennoch tun es die meisten heimlich. Wenn nicht sogar alle. Verbote und Lust – das passt prima zusammen. Also auf nach Virginia, dort haben Blowjobs eine andere Qualität!

Aber sollte man überhaupt danach streben, BDSM salonfähig zu machen? Würde es damit nicht gewöhnlich? Außerdem: Braucht man überhaupt eine Szene, um SM zu leben? Nein, braucht man nicht. Wir spielen ja auch Badminton, ohne uns einem Verein anzuschließen, und mögen Blumen, ohne Mitglied im Kleingartenverein zu sein. Warum also sollten wir uns den Normen einer Gruppe unterwerfen, wenn wir unsere Sexualität befreien wollen, damit Platz ist für etwas anderes, genauso Natürliches?

In einem Interview wurde mir einmal die Frage gestellt, ob ich glauben würde, dass BDSM bald eine ähnliche Anerkennung erleben werde wie die Homosexualität. Die Formulierung der Journalistin war folgende: »Inzwischen sieht man Homosexuelle überall auf den Straßen, sie gehören dazu. Glauben Sie, dass man SMer auch bald auf den Straßen sehen wird?«

Ich habe ziemlich große Augen gemacht. Denn man sieht SMer ja längst auf den Straßen – nur erkennt man sie nicht. Ob sie zukünftig vermehrt auftreten werden, wird sich also ebenso wenig feststellen lassen.

Natürlich zielte die Frage auf etwas anderes ab. Die Journalistin wollte wissen, ob man bald Menschen in Lack, Leder und Latex sehen werde und ob Paare zukünftig gedächten, in Ketten und Handschellen durch unsere Städte zu flanieren.

Ich war geschockt. Mal abgesehen davon, dass das Bild des ganz in Leder gekleideten SMers mehr als überholt ist – warum sollten die Leute mit ihrem Sexspielzeug auf der Straße herumlaufen? Am liebsten hätte ich die Journalistin gefragt, ob sie ihren Dildo denn auch öffentlich spazieren führe. Aber sie konnte ja nichts dafür. Stereotype führen eben nicht zu den richtigen Fragen. Ein Teufelskreis.

BDSM ist weit davon entfernt, salonfähig zu werden. Konsens sind lediglich die Klischees, die über BDSM kursieren. Und wenn es so etwas wie richtigen SM überhaupt gibt, findet man ihn sicher nicht in Materialien wie Lack und Leder. Eine Peitsche macht noch lange keinen SMer. Und ein SMer ohne Peitsche steht nicht mit leeren Händen da. Doch was ist es dann? Was ist richtiger SM? Was ein richtiger SMer? Vielleicht findet man in diesem Buch keine Antworten, aber hoffentlich stellt man danach die richtigen Fragen.

1

Meine Geschichte

Ich bin nicht eines Morgens aufgewacht und wusste: Ich bin SMer. Mein Weg fühlte sich nicht außergewöhnlich, abgründig oder falsch an. Er fühlte sich so natürlich an wie die Wahrnehmung einer Farbe. Deshalb bin ich auch nicht auf die Idee gekommen, ihn SM zu nennen. Selbst dann nicht, als mir diese Begrifflichkeit immer häufiger begegnete. In der Szene schmückte man sich gern mit Worten aus der Schublade. Ich habe das nie verstanden.

Während meine Freundinnen von Zärtlichkeit sprachen, zeigte ich voller Stolz Kratzspuren auf meinem Rücken. Mit großen Augen und noch größeren Gesten rieten mir die Mädels, mich von meinem damaligen Freund zu trennen. Er sei nicht gut für mich. Zum Glück haben sie seinen Rücken nicht gesehen! Dabei war meine Welt gar nicht so anders. Genau wie andere Mädchen suchte ich Liebe, Geborgenheit und Nähe. Bloß dass mein Weg nicht über Gänseblümchen in den Sonnenaufgang führte.

Es wäre schön, ein Stück meiner damaligen Naivität zurückzubekommen. Meine Unwissenheit bedeutete Freiheit. Mein damaliger Freund und ich vertrauten einander. Dieses Vertrauen, große Neugier und Fantasie machten unser Sexleben zu einer bunten Wundertüte innerhalb eines sicheren Rahmens. Wir hinterfragten nicht, in welche Schublade unser Glück passen könnte.

In den Jahren danach begann ich zu schreiben. Irgendwann erwischte ich mich beim Schreiben einer erotischen Geschichte. Kurz darauf stolperte ich über eine Seite im Netz. Wenn etwas im Leben zum Thema wird, ist es eben plötzlich überall. Das Internet war noch jung. Auf der besagten Seite war nicht die Rede von SM, sondern von »Domantik« (Dominanz und Romantik) und »Domantikern« – Menschen, die Liebe und intensiven Sex miteinander verbinden. Wie gesagt, in meinen Augen unterschied ich mich nicht von anderen Mädels in meinem Alter. Sie lasen Liebesromane und ich las Artikel und Erfahrungsberichte auf www.domantik.de. Nicht zu vergessen die Geschichte der O, die ich allerdings eher als tragisch empfand und ganz und gar nicht als domantisch.

Die Internetseite wurde von Privatleuten betrieben. Sie befand sich noch in den Startlöchern und es wurden Autoren gesucht. So fand meine erste Kurzgeschichte ihren Weg in die Öffentlichkeit. Die Geschichten entsprangen meiner Fantasie. Ausgenommen jene über mich und meinen ersten Freund. Aber irgendwann wollte ich nicht mehr nur schreiben, sondern auch wieder erleben. Also traf ich einen Jungen in meinem Alter, den ich über domantik.de kennengelernt hatte.

Wieder hatte ich Glück. Auch er war ein unbeschriebenes Blatt – mit wenig Erfahrung und unverdorben von den starren Konzepten der SM-Szene. Sein Kopf war voll unkonventioneller Gedanken und jeder Menge wundersamer Fantasie. Wir wussten gar nicht, wie wertvoll diese Unwissenheit war. Dominanz und Unterwerfung klangen für uns wie Zuneigung und Wertschätzung.

Seit ich über SM schreibe, verliert sich mein Gefühl manchmal im Abstrakten. In diesen Momenten wünsche ich mir mein Halbwissen zurück. Damals musste ich mich noch nicht gegen all diese Szene-Stereotype verteidigen. Mehr Verständnis bedeutet nämlich nicht unbedingt mehr Freiheit. Das klingt widersprüchlich. Aber SM ist widersprüchlich.

Wir finden Freiheit in Gefangenschaft, etablieren aus Zuneigung ein Machtgefälle, sehen Schönheit in Groteskem, unterwerfen uns aus freien Stücken. Und das Beste: Wir können hinterher lachen und ein Bier auf Augenhöhe trinken. Wenn wir wollen.

Kein richtiger SM? Nach meiner Domantik-Erfahrung folgte eine lange Beziehung. Fünf Jahre vergingen. SM spielte während dieser Zeit keine Rolle. Und ich vermisste nichts. Erst nach der Trennung kamen die Gedanken daran zurück. Man kennt das: Trennung, Reflexion, Erinnerungen an das Selbstbild vor der Beziehung. Der übliche Weg. Dennoch kam der Impuls, mich wieder mit SM zu beschäftigen, von außen, vermittelt durch die Mitfahrzentrale. Bei einer Fahrt von Hamburg nach Hannover unterhielt ich mich mit einem angehenden Journalisten namens Gérard über das Schreiben. Ohne zu überlegen, erzählte ich von meinen ersten Publikationen im Netz. Natürlich wollte er es genau wissen. Selbst als ich ihm versicherte, es sei nicht sein Genre, ließ er nicht locker. Also schrieb ich ihm den Namen der Internetseite und meine E-Mail-Adresse auf einen Zettel.

Drei Tage später bekam ich eine Mail von Gérard. Wenn ich damals nicht diese E-Mail bekommen hätte, wäre ich wohl nie zu einem Stammtisch gegangen. Die Szene hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal interessiert. Gérard erklärte, dass ihm Domantik ein Begriff sei, und fragte, ob ich ihn zu einem Stammtisch begleiten wolle. Ich staunte, dass es so etwas überhaupt gab. SM-Stammtische? Das klang nicht gerade einladend, eher nach lieblosen Partykellern mit schäbigen Holzbänken und finsteren Mienen samt Bierschaum im Schnauzer. Oder nach therapeutischem Ringelpiez mit neigungsorientiertem Anfassen.

Glücklicherweise war es das nicht. Wir trafen auf eine unscheinbare Gruppe von Leuten unterschiedlichen Alters. Gérard gestand, dass es auch sein erster Stammtisch sei. Wir waren etwas enttäuscht von der sogenannten »Szene«, die so bürgerlich daherkam. Hatte das Partyvolk mehr zu bieten? Doch auch beim Besuch unserer ersten SM-Party war ich nicht wirklich angetan von der Stimmung. Ich hatte auf die düstere Variante einer »Studio 54«-Party gehofft. Der New Yorker Nachtklub war in den Siebzigerjahren legendär für seine exzessiven Partys gewesen. Doch der Exzess blieb aus. Genau wie Gäste in fantasievollen Outfits und tanzbare Musik. Am meisten aber verstörte mich das Gerede.

Viele entdecken »ihren SM« erst wirklich in der Gemeinschaft der Szene, finden Antworten und Sicherheit innerhalb der Gruppe. Endlich kommt Ordnung in den Geist: Gleichgesinnte treffen, sich austauschen, verstanden fühlen und neu entdecken.

Bei mir war es genau umgekehrt. Das Schubladendenken und all die Menschen, die ihre sexuelle Identität in Stein meißelten und ausstellten, erschlugen mich und warfen mich zurück. Man forderte mich auf, eine Seite zu wählen. Sub oder Top? Herr oder Herrin? Devot oder dominant? Masochistisch oder sadistisch? Aktiv oder passiv? Oder gar ein Vanilla?

»Setzt doch bitte ein ›und‹ dazwischen statt ein ›oder‹, dann heißt die Antwort: Ja!«, war meine Reaktion. Auch dafür hatte man eine Schublade parat. »Eine Switcherin!«, hieß es verächtlich. »Eine, die sich nicht entscheiden kann. Aber du bist ja auch noch jung!« Heute, da ich nicht mehr ganz so jung bin, haben sie ’ne neue Platte aufgelegt. Jetzt heißt es: »Du bist ja gar keine richtige SMerin.« Mag sein, dass sie recht haben. Das Gute ist: Es hält mich trotzdem nicht davon ab, SM zu leben. Sofern mir danach ist.

Die neue Szene

Seit ein paar Jahren verändert sich die Szene. Das gefällt nicht jedem, denn es lockt Touristen und Unwissende an – jenes Volk, das die »wahre« Philosophie des SM nicht versteht und wertschätzt. Habe ich mir sagen lassen. Und dann maßen die Neuen sich auch noch an, sich als SMer zu bezeichnen! Über diese neue Szene habe ich geschrieben. Warum? Weil mir der frische Ansatz gefällt. Die Veranstaltungen werden bunter, das Angebot vielfältiger und – ja – sogar etwas salonfähiger. Die Partys sind Leben, Bühne, Abwechslung und Spaß. Mehr nicht. Das sehen viele so. Alle anderen können ruhig böse gucken, im dunklen Keller ihrer Wahl. Auch das ist okay, wenn’s glücklich macht.

Neigungspolizei

Phasen kommen und gehen. Meine Partnerwahl ist nicht mehr abhängig von der Szene. Das Gefühl entscheidet, nicht die Neigung. Eine Beziehung basiert ja auf mehr als nur Sex. Doch als ob es nicht schon kompliziert genug wäre, überhaupt jemanden zu finden, klopft auch noch die Neigungspolizei an. Das ist jene Überwachungsinstanz, die sicherstellt, dass einem das Herz nicht von einem Stino geraubt wird oder man sich in seinen Neigungen für den Partner verbiegt.

Diverse Internetcommunitys dienen der Rasterfahndung. Man klickt durch die Profile, die bereits ihren Stempel haben. Man braucht also nicht mehr selbst zu denken – sehr praktisch. Nach einem kurzen Gesichtsscan werden die Neigungskästchen überprüft. Devot? Passt! Mal sehen, was er für Neigungen hat. Fußfetisch? Also sollte ich vor dem Date meine Fußnägel lackieren. Naturdominant? Schade. Ich habe gern meinen eigenen Kopf. Der Nächste bitte.

Die Neigungspolizei ist schwer bewaffnet, das Urteil schnell gefällt. Keine Chance auf Einspruch für den Profileigner. Umgekehrt kann die Neigungspolizei auch zu Fehltritten verleiten. Jeder weiß um den Einfluss eines Online-Profils auf seine Besucher. Also wird regelmäßig Profilhygiene betrieben. Ein bisschen Gesäusel hier, ein wenig verklärte Wahrheit dort. Nicht zu vergessen das obligatorische Zitat eines großen Dichters. Trommelwirbel, Tusch – und fertig ist der glänzende Auftritt. Mit Realität hat das wenig zu tun. Spätestens beim ersten Treffen mit einem dieser Superprofile stellt man fest, dass jenes schillernde Fabelwesen offline doch nur ein gewöhnlicher Mensch ist.

Dies ist kein Beziehungsratgeber und ich möchte an dieser Stelle weder Hoffnung noch Frustration verbreiten. Ich will bloß darauf hinweisen, dass wir Zeit und Lust vergeuden, indem wir zu sehr kategorisieren, und dass man sich und seine Bedürfnisse auch zu Tode analysieren kann.

Natürlich ist es wichtig, sich mit seinen Neigungen auseinanderzusetzen und mit dem Partner darüber zu sprechen, wenn er daran teilhaben soll. Reden sollte man aber erst dann, wenn man sich nah ist. Wenn der Bauch entschieden hat, dass es weitergehen darf.

Ich habe schon erlebt, dass SMer beim Kennenlernen ihre Neigung über alles andere stellten. Da wurde nicht nach Hobbys oder Musikgeschmack gefragt, sondern nach Schmerzempfindlichkeit und der Neigungsgeschichte. Ich hätte große Lust, so etwas mal bei einem Vanilla-Date nachzuspielen. Begrüßungsküsschen, Kaffee bestellen und dann die erste Frage: »Sag mal, wie bist du eigentlich zum Oralverkehr gekommen?«

Vielleicht stöhnen manche, die mein Buch gerade in den Händen halten: »Die ist ja gar keine richtige SMerin.« Und weil ich das nicht mehr hören kann, habe ich beschlossen herauszufinden, was eigentlich »richtige SMer« sind. Ob mir das gelungen ist, darf jeder für sich selbst entscheiden.

Teil I

Das erste SMal

Wie kommt man zum SM? Wird man so geboren? Ist das normal, unnormal oder gar pathologisch? Neigungen sind so verschieden wie die Menschen, in denen sie wohnen. Hier erzählen zehn sehr unterschiedliche Personen über Schlüsselmomente, Nähe, Einsamkeit, Schattensprünge, Lust, Zerrissenheit, Liebe, Kontroversen und die ewige Suche nach sich selbst. Womöglich bringen die folgenden Geschichten ein wenig Licht ins Dunkel. Womöglich auch nicht.

Die Geschehnisse der Erzählungen haben allesamt in der Vergangenheit stattgefunden – einige sind viele Jahre, andere erst ein paar Monate her. Dennoch habe ich einige der Geschichten in der Gegenwart handeln lassen. Dabei habe ich mich auf meinen Bauch verlassen, mich leiten lassen vom Gegenüber – je nachdem wie präsent das Erlebte noch für denjenigen war, der mir seine Geschichte erzählt hat.

2

Wenn die Physik stimmt

Esther (28), Wirtschaftsinformatikerin aus Kiel, über K. (29), Geschäftsmann aus München

Ich bin nackt. Aber das ist mir egal. Mein Körper gehört mir nicht mehr. Das habe ich beschlossen. Schmerz und Angst, über Stunden. Da würde jeder flüchten. Im Spiegel betrachte ich meine Haut, kann nicht glauben, was ich sehe. K. steht hinter mir. Seine Hand liegt auf meinem Bauch. Gemeinsam schauen wir uns an, was von mir übrig ist. Ich bin ein Geist. Fühle nichts. Dabei sollte ich fühlen. Mein Körper trägt Spuren. Die Haut ist geschwollen. So wie noch nie. Doch: Mein Herz pumpt, lässt mich hoffen, noch am Leben zu sein. »Schau dich an«, sagt K. und meint es so. Ich gehorche.

Zehn Jahre ist es her, dass ich K. zum ersten Mal begegnete. In einem Chatroom. Wir trafen uns im Separee. K. hatte begonnen, mich zu fesseln. Mit Worten. Er fesselte mich an Stühle, Baugerüste, Treppengeländer und Betten. Darin war er gut. Ich sah alles direkt vor mir. »Du hast mich verdorben«, habe ich später oft gesagt. »Nein«, sagte er. »Das war alles schon da.« Er hatte recht.

Nach einigen Wochen Chatgeflüster verlangte etwas in mir nach mehr. Vorerst seine Stimme. Am Telefon verbrachten wir ganze Nächte miteinander. Er las mir Gedichte vor, ich zeigte ihm Musik, die mir gefiel. Wir waren jung. Unerfahren und gierig, dies zu ändern. Was uns an einem Treffen hinderte, war die Entfernung. Bremen–München. Nicht leicht, einen Kaffee trinken zu gehen. Wir beschlossen zu warten. So lange, bis einer es nicht mehr aushielt. Zur Strafe sollte derjenige den weiten Weg auf sich nehmen und den anderen besuchen. So verging beinahe ein Jahr. Jungs, die ich hätte haben können, interessierten mich nicht mehr. Da war bloß K. in meinem Kopf. Bei allem, was ich tat. Nach der Uni führte der Weg direkt in meine Einzimmerwohnung.

Dort wartete ich auf ihn. Seinen Anruf, eine Mail oder ein Päckchen. K. hatte begonnen, mir Musik-CDs zu schicken. Einmal die Woche bekam ich selbst gebrannte Zusammenstellungen. »Stimmungsscheiben« nannte er sie. Viel Gothic, wenig von dem, was ich kannte. Es war nichts dabei, was mir nicht gefiel. Ich ließ mich darauf ein. Auf seine Musik, seine Welt, auf ihn. Eine schöne, neue Zeit hatte begonnen, verbunden mit dem Gefühl, anders zu sein. Das hatte ich auch früher schon, aber ich war nie stolz darauf gewesen. Nun war ich es.

Irgendwann fand ich etwas anderes in meinem Briefkasten. Etwas sehr Persönliches. K. hatte mir ein Hörbuch aufgenommen. Das Unwetter von Regine DeForges erzählte eine sadomasochistische Liebesgeschichte. Zwei Tage lang hörte ich es in Endlosschleife, ließ sogar die Uni sausen. Dann traf ich eine Entscheidung. Ich würde K. besuchen. Unsere Verbindung war besonders. Es gab keinen Grund, länger zu zögern. Freitagnachmittag kaufte ich mir ein Zugticket. Erst kurz bevor ich in den Zug stieg, rief ich K. an. »Ich komme zu dir, noch heute.«

Meine Mutter hatte mir irgendwann diese magnetischen Figuren geschenkt. Einen Jungen und ein Mädchen mit Magneten im Kopf. Sobald ihre Köpfe sich berührten, kamen sie nicht mehr voneinander los. Niemals hatte diese Art von Anziehungskraft liebevoll auf mich gewirkt. Die beiden hatten keine Wahl, sie beugten sich bloß einem physikalischen Gesetz.

So ähnlich erging es mir mit K. Ich stieg aus dem Zug. Dann ging alles ganz schnell. Magnetfelder kennen keine Gnade. Es gab einen Knall. Alles um uns herum verschwand. Drei Tage verließen wir seine Wohnung nicht. K. durfte alles mit mir machen, was er wollte. Vor allem meine Reaktionen verzückten ihn. Er ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Als sei ein Wunder geschehen. Womöglich war es das. Alles passierte wie von selbst. Ganz egal ob er mich schlug, fesselte oder fickte. So viel Aufmerksamkeit.

Ich kam nicht unerfahren zu ihm. Meine Lust hatte ich früh zu befriedigen versucht. Von anderen Jungs war ich schief angeschaut worden. Keiner war bereit gewesen, mir wehzutun. Die, die es versuchten, verstanden nicht, weshalb sie es tun sollten. »Wer die Musik nicht hört, hält die Tanzenden für wahnsinnig«, zitierte K., als ich ihm davon erzählte.

Satt und glücklich fuhr ich heim. Wir hielten weiterhin Kontakt. Ein Liebespaar wurden wir nicht, auch wenn wir uns etwas anderes gewünscht hätten. Doch wir machten kein Drama daraus. Mit Anfang zwanzig gehört Veränderung zum Alltag. K. fand bald einen Job. Ich brach mein Studium ab und studierte Wirtschaftsinformatik in Kiel. Dort lernte ich Tom kennen und verliebte mich. K. freute sich für mich, was mich freute. Mit Eifersucht hätte ich nichts anzufangen gewusst. »Das, was wir haben, kann eh keiner berühren«, sagte er. Das war so.

Tom machte mich glücklich, auch ohne SM. Unser Sex war leidenschaftlich. Nur hin und wieder überkam mich diese Sehnsucht nach mehr. In solchen Momenten rief ich K. an, ließ mich wie früher mit Worten fesseln. Wir sprachen niemals über unseren Alltag, unsere Partner oder dergleichen. Stets lösten wir uns auf, gingen ins Separee unserer Köpfe. Nicht selten sprachen wir darüber, uns eines Tages wiederzusehen. Wahr gemacht haben wir das nie. So vergingen Jahre. Meine Beziehung bröckelte, mein Studium ging in die Endrunde. Wieder änderte sich alles. K. blieb. Als wichtigste Person meines Lebens. Eine Stimme an meinem Ohr. Ein Gesicht, das ich neun Jahre nicht gesehen hatte.

Mit der Trennung von Tom zweifelte ich an allem. Meine erste Lebenskrise – und K. wurde Teil davon. Wild entschlossen, mein Leben zu ändern, rief ich ihn an. Es sollte ein Abschied werden. Da war kein Platz mehr für Illusionen, so dachte ich. Meine nächste Beziehung sollte beides beinhalten: Liebe und sexuelle Erfüllung. Ohne die Telefonate mit K. wäre die Beziehung mit Tom viel früher gescheitert. Das musste aufhören. Wie immer zeigte K. sich verständnisvoll. Trotz allem war er verletzt. Sehr sogar. Wir wünschten einander alles Gute. Danach löschte ich seine Telefonnummer.

Besser ging es mir dadurch nicht. Im Gegenteil. Mit K. hatte ich begonnen, mich zu akzeptieren. Ich war eben anders gepolt als der Durchschnitt. Ich wünschte mir dieses Gefühl zurück. Es musste einen Weg geben. Ein Leben ohne K.

Die SM-Szene hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt gemieden. Aus Angst, meine Beziehung für irgendwelche Gelüste aufgeben zu müssen. Doch nun meldete ich mich bei einer SM-Community an. Und da waren sie: Männer, die meine Neigung bedienen wollten. Viele. Mehr als ich gehofft hatte. Wie sollte ich es angehen? Vorsichtig anklopfen oder direkt sein? Die Entscheidung wurde mir nach dem Upload eines Profilbildes abgenommen. Eine Flut an Mails überschwemmte meinen Account. Frischfleisch war ich. Frischfleisch, das seinen Metzger selbst wählen durfte. Besser ging es nicht. Aber es war niemand dabei, der mich begeisterte. Ich wartete auf einen Impuls. Mein Bauch blieb stumm. Kein Mailwechsel, der mich kitzelte. Verzweiflung mischte sich mit sexuellem Verlangen. Womöglich durfte ich nicht wählerisch sein. Vielleicht war er längst dabei, der Richtige. Einer von ihnen gefiel mir zumindest optisch.

Es begann ähnlich wie mit K. Was mich hoffen ließ. Fantasien wurden ausgetauscht, auf Kompatibilität geprüft. Am Telefon lud er mich zu sich ein. Nach München. Ich musste lachen. Wieder in K.’s Nähe. Sicher ein gutes Zeichen.

Der erste Moment war kühl. Seinen Namen kannte ich nicht. Bloß seinen Nicknamen: »HerrTunichtgut«. Ich folgte seinem Wunsch, sprach ihn mit »Herr« an, senkte den Blick, küsste seine Hand. Es war künstlich und doch war ich angetan von der neuen Herangehensweise. Die Kälte des Herrn war Teil des Spiels. Der gefühlvolle Teil würde folgen, so hoffte ich. Seine Hand in meinem Nacken, spazierten wir durch München. Es war diesig an jenem Nachmittag, die Luft unangenehm feucht. Kein guter Tag für einen Spaziergang. Wir redeten nicht viel. Jeden meiner Versuche, mehr über ihn zu erfahren, erstickte er im Keim. Mal mit Worten: »Neugier. Unschöne Eigenschaft.« Mal mit Blicken: sachlich und blau. Wohin er wollte, wusste ich nicht. Auch darauf hatte er keine Antwort für mich.

Zunächst führte er mich in ein Café. Sehr stilvoll, etwas bieder vielleicht. Sein stummes Spiel setzte sich fort. Konsequent war er ja. Er machte aus nahezu allem ein Geheimnis. Was mich in den Wahnsinn trieb und plappern ließ. Was das hier für einen Sinn habe, wollte ich wissen. Und dass er doch wissen müsse, dass Vertrauen durch Kommunikation entstehe. Schließlich erteilte er mir Sprechverbot. »Was tust du, wenn ich mich nicht daran halte?«, provozierte ich und bekam prompt die Antwort. Eine Ohrfeige. Mein Kopf flog zur Seite und ich schwieg. In mir wurde es still und ernst. Der Herr meinte, was er sagte. Mir gefiel seine Konsequenz. Gleichzeitig verachtete ich ihn für die Arroganz. Sie war gleichermaßen erniedrigend und sexy. Meine innere Zerrissenheit stand mir ins Gesicht geschrieben. »Gib mir dein Höschen, bevor du dir eine Erkältung holst. Es dürfte inzwischen ziemlich nass sein«, sagte er kühl. Kein Grinsen, nicht einmal ein Blitzen in den Augen. Da war nichts, was auf Verbundenheit hinwies. Und doch hatte er recht. Ich war nass.

Ich entschuldigte mich und wollte zur Toilette verschwinden. Durfte ich nicht. Es sollte am Tisch geschehen, vor all den anderen Gästen. Ich griff unter meinen Rock, zog umständlich an meinem Slip herum. »Du siehst lächerlich aus«, sagte er. Mit hochrotem Kopf reichte ich ihm das Beweisstück. Zwischen Daumen und Zeigefinger rieb er die Stelle, wo es nass war, führte anschließend seine Finger zur Nase und nannte mich Dreckschlampe. So weit, so seltsam. Richtig Lust hatte ich nicht mehr auf sein Spiel. Er war so fremd. Doch mein Ego stellte sich mir in den Weg. Es wollte jagen, schießen und treffen. Ihn. Aufgeben kam nicht infrage. Ich war eine attraktive Frau und es hatten schon ganz andere Männer für mich gebrannt. Dass er es nicht zeigte, musste nicht heißen, dass es nicht so war. Nur ein Lächeln, ein verzücktes Lächeln. Mehr wollte ich nicht als Bestätigung. Vorher würde ich mich nicht verschenken. Das nahm ich mir vor.

Wir verließen das Café, wieder wusste ich nicht, wohin es ging. Doch nun, da ich einen Vorsatz hatte, fiel es leichter. Spaziergang, die Zweite: kein Lächeln, kein Wort. Langsam begann ich, Abschied zu nehmen. In seinen Mails hatte er von einem Hotel gesprochen. Sollte er mich dorthin bringen, würde ich ihm ein schönes Leben wünschen und gehen. Es sei denn … es sei denn … es sei denn …

Seine Hand in meinem Nacken fühlte sich warm an. Dort hatte lange keine Hand gelegen. Vielleicht sollte ich mich auf ihn einlassen. Nur um endlich meine Sehnsucht zu stillen. Vielleicht war dies jener wahre SM, über den in Internetforen diskutiert wurde. Ich haderte mit mir. Kopf, Bauch und Verlangen standen einander gegenüber.

Bis zum Hotel war es nicht weit. Ich folgte ihm in die Eingangshalle. Ein Zimmer war bereits reserviert. Sogar seinen Koffer hatte er hier abgegeben. Was sich darin befand, konnte ich nur ahnen. Noch konnte ich umkehren. Aber ich blieb stumm, wie verlangt. Zwischen meinen Beinen war es heiß, das Herz schlug schwer. Mein Körper wollte ihn. Sehr deutlich. Auch mein Kopf war nicht strikt dagegen. Ich war meiner Begierde nach München gefolgt. Also war es nur sinnvoll, jetzt auch Sex zu haben. Allein mein Bauch sendete Warnsignale.

Ich folgte dem Herrn in den Fahrstuhl. Er sah mich an. Zum ersten Mal, seit wir das Café verlassen hatten. Seine Hand löste das Haargummi seines Zopfes. Es muss mein Blick gewesen sein. Jedenfalls lächelte er plötzlich. Nicht wirklich freundlich. Eher verwegen und falsch. Aber er lächelte und all meine Vorsätze verpufften. Ich versuchte, ihn zu küssen. Er blockte ab, hielt meine Hände hinter dem Rücken zusammen. »Nicht so eilig.«

Im Hotelzimmer warf er mich aufs Bett. Verkrampft blieb ich liegen, das Gesicht in ein Kissen gedrückt. Hinter mir passierte etwas. Er öffnete den Koffer, holte etwas hervor. Etwas, was Geräusche machte. Ich drehte mich um. Da stand er, in der linken Hand hielt er einen Rohrstock. Mit der rechten griff er nach mir, packte zu, trieb mich zum Schreibtisch. Dort lag ich dann, aufgebahrt. So weit, so sexy.

Wenn nur das Gefühl gestimmt hätte. Aber ich hatte keine Zeit mehr zum Denken. Denn es hagelte Schmerzen. Der Rohrstock zischte durch die Luft. Immer wieder, immer schneller. Dem Schmerz des vergangenen Hiebs blieb keine Zeit zum Verblassen, denn der nächste legte sich darüber, dann der nächste, nächste, nächste. Irgendwann spürte ich gar nichts mehr. Ein leiser Brummton hatte eingesetzt und ich war nicht sicher, ob ich nicht vielleicht bloß träumte. Wach wurde ich wieder, als der Herr meinen Körper nahm und aufs Bett hievte. Dort legte er sich über mich, versenkte sich in mir, stieß zu, bis er kam. Auch davon bekam ich wenig mit. Erst als er von mir abließ und mir befahl, seinen Schwanz mit der Zunge zu säubern, kam ich wieder zu mir. So klar, dass es mir selbst komisch erschien. Ich wollte es nicht tun. Das stand fest. Da war keine Zärtlichkeit oder Zuneigung, die ich für diesen Menschen übrig hatte. Da war nichts außer dem Wunsch, allein zu sein.

»Bitte geh jetzt«, forderte ich ihn auf. Er lachte, versuchte, mich zu ohrfeigen. Ich wich ihm aus, hielt seinen Arm zurück. »Du willst also kämpfen? Hast du noch immer nicht genug?« Wir rangen miteinander. »Ich meine es ernst!«, schrie ich. Aber was redete ich da? Ernst meinte er es auch, von Beginn an. Seine körperliche Überlegenheit, meine zittrigen Knie. Wenig später lag ich auf dem Rücken, sein Knie auf meiner Brust. Meine Hände über dem Kopf zusammengehalten. Alles, was mir blieb, waren meine Beine. Also trat ich zu. Dorthin, wo es Männern wehtut. Wie ein nasser Sack kippte er zur Seite. Ich flüchtete ins Bad und schloss mich ein, konnte hören, wie er wieder zu sich kam. Er fluchte, beschimpfte mich. Dass ich was erleben könne, sagte er. Eine Weile hielt ich mir die Ohren zu, kauerte in der Wanne und wartete. Wie lange ich dort hockte, kann ich nicht sagen. Lange genug. Irgendwann ließ ich heißes Wasser in die Wanne laufen, suchte Entspannung. Er hatte Zeit, sich zu sammeln. Zeit, sich anzuziehen, seine Sachen zu nehmen und zu gehen. Die brauchte er, um zu begreifen, dass vorbei war, was nie begonnen hatte. Wenn nur sein Haar nicht gewesen wäre. Sein Haar, dieses Lächeln und mein dämlicher Vorsatz. Dann wäre das alles nicht passiert.

K. war leicht zu finden. Er ist ein Gewohnheitstier und verwendet denselben Nicknamen wie früher. Er war gerade online, als ich ihm schrieb. Sofort war klar, dass etwas nicht stimmte. Keine zwei Stunden später klopfte es an der Zimmertür.

Die ganze Nacht lang hielt K. mich in seinen Armen und fing auf, was noch nicht aufgeschlagen war. Alles war wieder da. Ursache–Wirkung.

Und nun stehe ich hier, betrachte meinen Körper im Spiegel. »Schau dich an«, sagt K. »Das machst du nie wieder, hörst du!«

Mir ist klar, dass diese Geschichte ein Happy End verdient hat. Eines, das K. und mich für immer vereint. Aber heute werde ich erst mal zurück nach Kiel fahren. K. wird eine Frau finden und heiraten. Auch ich werde einige Beziehungen erleben. Vielleicht sehen wir uns wieder, irgendwann. Dann wird alles wie von selbst geschehen, unsere Köpfe werden gegeneinanderprallen. Wir haben schließlich keine Wahl.

3

So etwas spielt man nicht

Paula (34), Vertrieblerin aus Hannover, über Mona (34), Rekruterin aus Hamburg

Zottelrabe!, haben sie gerufen, wenn Mona über den Schulhof schlich. Zottelrabe. Mona machte sich nicht viel aus ihrem Aussehen. Sie wohnte hinter dem Gestrüpp ihrer Haare, das ihr schwarz vor die Augen fiel. Es sei ihr Versteck, erzählte sie einmal. Ein Schutz. Von dort könne sie beobachten, ohne gesehen zu werden. Wie ein wildes Tier, das sich im Busch verkriecht. Mona umgab etwas Düsteres und alle hatten die Hosen voll, sobald Mona auf Provokationen reagierte. Das lag an ihrer Stimme. Hell, mit einem Kratzen im Rachen. Wie ein Rabe.

Ich dagegen war ein Huhn. Blond, klein und hyperaktiv. Die anderen Kinder langweilten mich und ich verstörte sie, weil ich Geschichten erfand. Gruselige Märchen. Regelmäßig riefen Eltern bei uns zu Hause an. Ob sie mal mit meiner Mutter sprechen dürften – ihr Kind könne nachts nicht mehr schlafen. Sie durften, aber es änderte nichts.

Man hätte denken können, dass Mona und mich nichts verband außer der Status der Außenseiterin. So war es aber nicht. Wir ergänzten uns. Mein Kopf war voller Ideen, aber ich allein konnte nichts mit ihnen anfangen. Jeder Einfall rieselte durch mein Bewusstsein ins Nirgendwo. Mona dachte nicht lange darüber nach. Erzählte ich ihr eine Vampirgeschichte, wurde sie zu einem. Etwa indem sie die Arme ausbreitete, die Zähne fletschte. Eben noch Treibsand, hatte Mona meiner Fantasie eine Form verpasst. Meine Geschichten wurden lebendig. Und Mona wurde lebendig durch meine Geschichten. Hin und wieder waren auch harmlose Geschichten darunter. Für uns waren sie nicht weniger spannend. Wir stürzten uns in jeden Abgrund und fühlten uns auch an der Oberfläche wohl. Wir waren Vampire und Prinzessinnen, Hexen und Cowgirls, Monster oder Kobolde, ja sogar Massenmörder. Als verboten oder makaber haben wir unsere Spiele nie empfunden.

Einmal erwischte uns mein älterer Bruder in meinem Zimmer. In der Schule hatten wir etwas über den Zweiten Weltkrieg gelernt und es sofort in unser Spiel integriert: Mann und Frau, in einem Zug gefangen, der über einer Klippe hing. Draußen war Krieg, es fielen Bomben. Unser Waggon drohte abzustürzen.

In die Mitte meines Zimmers hatten wir meinen Schreibtisch gewuchtet. Als Waggon diente eine Matratze, die über der Tischkante hing. Wir standen beide auf der wackeligen Konstruktion und ich rief: »Oh mein Gott, daran ist nur Hitler schuld!« In diesem Moment kam mein Bruder herein. »So etwas spielt man aber nicht!«, sagte er.

»So etwas spielt man aber nicht.« Das verstand ich nicht. Wir spielten nicht, wir versuchten zu verstehen. Die Welt wollte sich uns nicht über Barbiepuppen und Kasperletheater erschließen. Wir suchten Antworten, suchten Wege. Fanden sie. Wenn man so etwas nicht spielen durfte, was durfte man spielen? Wer stellte die Regeln auf? Und warum?

Es dauerte nicht lange, bis Mona und ich mitten in der Pubertät steckten. Unsere Spiele waren ruhiger geworden. Wir kletterten seltener auf Bäume, redeten dafür stundenlang. Kleine Rollenspiele, aus Dialogen bestehend, waren unsere Lieblingsbeschäftigung. Wie bei einem Hörspiel imitierten wir Treppengeräusche, summten Melodien, um die Spannung der Situation zu unterstreichen. Eines unserer liebsten Szenarien war: das Mädcheninternat. Mona übernahm die Rolle eines Mädchens, das ihren ersten Tag in einem strengen Internat erlebte. Ich übernahm die Rolle der Direktorin. Dabei führte ich das Mädchen durch die Räumlichkeiten und machte es mit den Regeln vertraut. Unsere Reise begann im Waschraum. Mona musste sich ausziehen. Natürlich nicht wirklich. Wir saßen uns bloß gegenüber, stellten es uns vor: wie sie nackt im Raum stand, den Blick der Direktorin auf sie gerichtet. Natürlich kam nur eisiges Wasser aus den Hähnen. Mona litt und jammerte, während ich sie tadelte. Manchmal musste sie mir ohne Kleidung in den Frühstückssaal folgen. Dort wurde sie von den anderen Mädchen ausgelacht. Mal fror sie und schämte sich. Ein anderes Mal rebellierte sie, legte sich mit anderen Mädchen an oder weigerte sich, ihre Kleidung auszuziehen. Es war immer abhängig von unserer Stimmung, was wir daraus machten. War ich milde gestimmt, ließ ich sie entkommen. Hatte ich einen schlechten Tag, holte ich den Gürtel hervor und versohlte sie. Wir waren mittendrin, obwohl es bloß in unseren Köpfen passierte. Manchmal schrien wir einander an, waren voller Wut, echter Wut. In solchen Fällen zog eine von uns die Notbremse. Meistens die, die sich weniger hineingesteigert hatte. Für jemanden, der nicht hören konnte, was wir sagten, hätte es wie eine lebhafte Unterhaltung ausgesehen. Manchmal wie ein Streit.

Bis auf das eine Mal. Unser Spiel hatte sich verselbstständigt. Wir trafen uns, tauschten ein paar Gedanken. Dann ging es los. Ein Wort gab das andere. Kopfkino auf Reset. Play.

An jenem Tag hatten wir eine Klassenarbeit geschrieben. Mathe lag uns beiden nicht. Mona war still, fand zuerst nicht richtig in ihre Rolle. Ein paarmal unterbrach sie das Spiel, holte sich etwas zu trinken oder musste aufs Klo. Doch irgendwann nahm unsere Geschichte Fahrt auf: Die Direktorin war außer sich. Die Zensuren der Mädchen waren eine Provokation. Mona hatte eine Sechs. Null Punkte. Das hatte Folgen. Mona widersetzte sich nicht. Sie sah mich traurig an und sagte: »Dann bestrafen Sie mich doch. Es ist doch eh alles egal.« Irgendetwas war anders als sonst. Jedenfalls wurde ich wütend, schrie sie an, sie solle sich nicht so gehen lassen. Dann tat ich etwas, was ich noch nie getan hatte: Ich stand auf und stellte mich mit verschränkten Armen vor sie. Meine Rolle hatte ich nicht verlassen, aber ihren Rahmen. Mona folgte dem neuen Weg, wie sie es schon immer getan hatte. Sie legte sich auf den Bauch und wiederholte: »Na los, bestrafen Sie mich! Mir ist alles egal.«

Ohne darüber nachzudenken, zog ich den Gürtel aus meiner Jeans. Ich berührte sie damit ein paarmal am Hintern und am Rücken, erzählte ihr aber, dass ich sehen könne, wie ihre Haut sich unter meinen Schlägen rot färbe. »Das war alles?«, stachelte Mona mich an. Also schlug ich zu. Erst vorsichtig, dann immer heftiger. Ich schlug zu und konnte nicht mehr aufhören. Zuerst jammerte sie und schrie. Es war die Art von Aufbegehren, wie ich sie schon kannte. Gespielt und nur in ihrem Kopf existent. Dachte ich. Irgendwann schreckte sie auf. Wie aus einem Albtraum erwacht, starrte sie mich an. Tränen flossen. Ich wollte mich entschuldigen, sie trösten. »Du bist gemein. Das hat dir richtig Spaß gemacht«, krächzte sie und rannte aus dem Zimmer.

Die Geschichte hätte an dieser Stelle eine Wendung nehmen, unsere Freundschaft für immer entzweibrechen können. Aber so war es nicht. Zwei Tage später wollte Mona mich wiedersehen. Wir sprachen nicht über das, was geschehen war. Nein, wir machten dort weiter, wo wir aufgehört hatten. Mitten im Spiel. Die ersten Male nahm ich mich zurück, schlug sie nur gedanklich. Erzählte, was ich ihr antat. Mona litt für mich. Die Versuchung aber war zu groß. Sie ebnete meiner Fantasie einen Weg. Irgendwann passierte es wieder. Aus Gedanken wurden Taten. Wieder weinte sie, lief davon. Niemals blieb sie. Obwohl ich mir oft wünschte, sie hinterher im Arm zu halten. Aber jedes Mal klopfte sie nur wenige Tage später wieder an und das Spiel ging von vorne los.

Kurz vorm Schuljahreswechsel verkündete Mona, dass ihre Mutter neu heiraten werde. Dies hatte zur Folge, dass Mona wegzog. Nicht sehr weit weg, aber weit genug, um unserer Freundschaft die Spontanität zu nehmen. Sogar die Schule wechselte Mona, sodass wir uns nur noch selten sahen. Und so endete es. Wir lebten uns auseinander, wurden älter, verloren uns aus den Augen.

Viele Jahre später traf ich Mona in einem Kaufhaus wieder. Wie jedes Jahr besuchte ich meine Mutter über Weihnachten und fuhr zurück in meine Heimatstadt. Mona war kein Rabe mehr. Eine selbstbewusste Frau blickte mich aus klaren Augen an. Kein Wort über unsere gemeinsame Zeit kam über ihre Lippen. Kein scheuer Blick hinter Haargestrüpp. Ich hätte ihr gern erzählt, was sich aus unseren Spielen entwickelt und dass ich endlich Antworten gefunden hatte. Ich war unseren Weg weitergegangen. So oft habe ich nach Gründen gesucht. Nach unseren Beweggründen. Ich hätte sie gern gefragt, ob auch sie die Erinnerung wie einen Schatz mit sich trage. Ob sie wisse, wie echt wir waren. Wie gern hätte ich ihr eine Vampirgeschichte erzählt, ihr zugesehen, wie sie zu einem wird. Bloß um noch einmal zu werden, was wir waren: der Rabe und das Huhn, auf der Suche nach Wahrheit.

4

Ihr Name war Mika

Claudio (34), Musiker aus Berlin, über Mika (35)

Wieso bist du hier?, hat sie gefragt und nicht einmal auf eine Antwort gewartet, bevor sie anschloss: »Ich wette, du bist ,n Schizo. Siehst nämlich verdächtig harmlos aus. Das ist ja das Krasse an Schizos: Man sieht es ihnen nicht an.«

Meine Diagnose lautete: manische Depression mit Verdacht auf Borderline-Persönlichkeitsstörung. Das glaubte ich den Ärzten uneingeschränkt, denn meine Gefühle gingen regelmäßig mit mir durch, in sämtliche Richtungen. War ich nicht gerade dabei, über Selbstmord nachzudenken, sprang ich durchs Leben und platzte fast vor Glück. Allerdings spürte ich, dass dieses Glücksgefühl ein anderes war als jenes, das ich als Kind empfunden hatte. Was fehlte, war die Ruhe. Hatte ich ein Hoch, war ich gehetzt, fühlte mich, als ginge das Glück mit mir durch wie ein rossige Stute. Ich lief von einer Party zur nächsten, überfiel meine Freunde mit spontanen Ideen und konnte einfach nicht still sitzen. Dachte ich in einem Moment noch, die Welt läge mir zu Füßen, so lag ich nur einen Tag später lethargisch auf meinem Sofa. Alles sinnlos. Alles weg. Von allen verlassen. Als hätte jemand den Stecker gezogen und alle sozialen Verbindungen gekappt.

Ich galt als suizidgefährdet, als meine Eltern mich in die Klinik brachten. Mit viel Whiskey hatte ich versucht, mir das Hirn wegzubrennen. Darauf noch Tabletten. Alles, was ich so finden konnte in meinem Schrank: Aspirin, Beruhigungsdragees, Paracetamol, Muskelrelaxantien. Ich war nämlich sogar zu träge gewesen, um mir von einem Arzt ein vernünftiges Schlafmittel verschreiben zu lassen. Der Weg dorthin schien zu weit. Mir war ja schon der Weg ins Bad ein Graus. Pillen rein und ab dafür. Was für eine Reise. Zusammen mit dem Alk hätte mich das killen können, sagten die Ärzte und legten mir nahe, mir »eine Pause zu gönnen«. So nannten die das, wenn sie jemandem sagen wollten: »Wir sperren dich jetzt weg, du verdrehter Vollkloppi.«

So bin ich dann in der Klapse gelandet. Oder in der »Einrichtung für Menschen, die mal eine Pause brauchen«, wie meine Mutter es den Ärzten nachplapperte. Keine geschlossene Anstalt. Es stand mir relativ frei zu gehen.

Anfangs war es gar nicht übel dort. Man bekam regelmäßig Mahlzeiten und durfte sogar weiterhin rauchen. Nikotinkonsum und Depression stehen übrigens in einem engen Zusammenhang, habe ich festgestellt. Im Raucherraum waren fast nur Depri-Patienten. Und der war ständig voll. Sogar nachts brannte da mindestens ein Glimmstängel pro Stunde. Spezieller Deal mit den Aufsehern, wenn einer sein Schlafmittel verweigerte. Wir waren ja alle »freiwillig« hier, klar. Also durften wir, wenn es sein musste, auch nachts unsere Nikotinsucht stillen. Ich tat das nur in bestimmten Nächten, nämlich dann, wenn mich wieder eine Gefühlswelle überrollte.

Und in einer dieser Nächte war es ihr Stängel, der dort aufglühte. »Mach dir keinen Kopf«, sagte sie. »Schizos sind irgendwie aufregend. Weil sie unberechenbar sind. Das mag ich. Nichts ist langweiliger als Wiederholung und Berechenbarkeit.« Ihr Name war Mika. »Eigentlich heiße ich Mikaela, aber komm bloß nicht auf die Idee, mich jemals so zu nennen, sonst brech ich dir die Nase.« Ich mochte Mika sofort. Sie war ehrlich, direkt, witzig und ziemlich respektlos. »Ich bin manisch«, sagte ich. Da lachte sie kurz auf und sagte, während ihr der Qualm aus den Nasenlöchern kam: »Klingt doch nett.« So wurden wir Freunde oder so was in der Art.