Was über Frauen geredet wird - Mieze Medusa - E-Book

Was über Frauen geredet wird E-Book

Mieze Medusa

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Beschreibung

Es gibt keinen Grund, aufzugeben, und schon gar nicht als Frau: Das macht Mieze Medusa mit Witz und Herzenswärme deutlich. Freundinnen und Partnerinnen, Mütter und Töchter: In Mieze Medusas hinreißendem neuen Roman dreht sich alles um Frauen und ihr Recht, auf das zu pfeifen, "was über sie geredet wird:" Die Tirolerin Laura lebt in Innsbruck und hasst Skifahren, Hüttenromantik und Alpenzauber. Frederike, genannt Fred, mit vierzig immer noch unstet und öfter arbeitslos, lebt in Wien, früher mal mit Marlis, verliebt sich aber in die Musikerin Milla YoloBitch. Marlis will ein Kind, Fred will Milla, Milla will rappen, Laura will Comics zeichnen, Lauras Schwester Isabella will Familie und Karriere. Und wenn auch nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen, so legt Mieze Medusa hier doch ein flammendes Plädoyer dafür vor, dass Frauen alles sein, werden und wollen dürfen.

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Mieze Medusa

Was über Frauen geredet wird

Roman

Residenz Verlag

Wir danken für die Unterstützung

© 2022 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

Lektorat: Jessica Beer

ISBN eBook: 978 3 7017 4680 4

ISBN Print: 978 3 7017 1760 6

Inhalt

Der Blick nach unten ist überschätzt

Schnee, Steine, Scherben

Gönn dir!

Nicht alles gelingt und schon gar nicht auf Anhieb

Ich und Echo

Stell dir vor, es ist Winter und niemand geht hin

Alles Gekritzel!

I will survive (Eh scho wissen Remix)

Who is Milla Yolobitch?

Gsund, lustig, draußen

8. März, Bitches!

Aufstieg nicht gesichert

Ziehen, nicht zerren!

Sisterhood, schrecklich!

Zusammen ist man weniger allein

Wunden haben mit Blicken gemeinsam, dass sie offen sein können

Wir sind Problemwölfe

Familie ist, was wir daraus machen

Wildes Leuchten

Kahlschlag

Alles auf Anfang

Wurzeln & Werk

Aufwind beim Absprung

Gummistiefel für die Apokalypse

Bonus Track

Dank

Der Blick nach unten ist überschätzt

Es ist wie Achterbahn fahren. Vor deinen Augen stürzt eine schroffe Landschaft glitzernd in die Tiefe. Ob Schnee liegt? Ja. Aber aus dem Tal leuchtet es grün. Schneesicherheit kauft man auf der Tourismusmesse. Die Hütte wird seit der Erfindung der Zentralheizung als idyllisch bezeichnet. Sie duckt sich unter dem Wind weg. Die zerzausten Bäume in der Nähe wissen warum. Das Dach ist aus Eternit, das ist zu bedauern. Aber siehst du den Glockenturm mit Wetterhahn? Der hat, wie es sich gehört, ein Schindeldach, denn das war immer schon so, und Tradition ist nichts, was hier unbeachtet ins Eck gestellt wird. Die Fenster sind klein.

Geheizt wird mit Holz, das an der Außenwand gestapelt ist. Man sagt, es wurde mit Pferdefuhrwerken aus dem Wald geholt. Andere behaupten, im Lagerhaus gab’s eine Aktion und der Besitzer der Hütte hat einen SUV. Auf beide Versionen der Geschichte ist man gleichermaßen stolz.

Griaß di!

Kim eina!

Mogsch a Schnapsal?

Idylle, von wegen. Heimat, das heißt: Bilder basteln, bis sich die Balken biegen.

Selbst schuld, wenn man der großen Schwester alles glaubt. Silvester mit der Familie, hat Isabella gesagt. Das wird wirklich schön, hat Isabella gesagt. Dass Laura darauf reingefallen ist! Mama hat wie jedes Jahr Nachtschicht und gerade noch rechtzeitig hat Laura erfahren, wer auf der Gästeliste steht. Eh klar, der Schlüssel zur Hütte gehört ja ihm. Laura kann sich das richtig gut vorstellen. Silvester feiern und dabei dem Konrad ausweichen wie den Stangen beim Slalom. Bloß nicht einfädeln. Laura ist nicht dafür bekannt, dass sie die Ideallinie findet. Jetzt schmollen alle außer Mama, aber die hat ja ohnehin Nachtdienst.

Laura schenkt sich Prosecco nach und stößt mit sich selbst an. Ist doch egal. Nicht für jeden Panoramablick braucht man Steigeisen. Der Balkon im Schöpfgeierhorst hat auch einen schönen Ausblick! Schöpfgeierhorst, so nennt der Teil der Familie Schöpf, den Laura zu ihrer Familie zählt, die Wohnung im 6. Stock eines Hochhauses im Innsbrucker O-Dorf. Wo der Name herkommt? Wahrscheinlich hat die Mama ihnen als Kind von der Geierwally erzählt, der mutigen Anna Stainer-Knittel, die … ach, googelt das doch selbst.

Die Nachbarn haben den Fernseher laut gestellt. Wie lang noch, bis »Dinner for one« läuft? Immerhin ist Laura nicht die Einzige, die keine großen Pläne hat.

»Dass du immer so stur sein musst«, hat Isabella geschimpft.

Wenn Laura von Familie redet, meint sie Mama und Isabella und sonst niemanden. Isabella legt Wert auf einen erweiterten Familienbegriff. Egal. Also haben sie es gemacht wie jedes Jahr: Familienfeier zu Mittag und dann sind alle ihrer Wege gegangen: die Mama in den Nachtdienst. Isabella mit ihrem Hubert auf die Hütte zu den anderen. Laura hat sich in voller Wintermontur mit einer Flasche Prosecco auf den Balkon verzogen und wartet darauf, dass ihre Freundin Kuni vorbeikommt. Gewaltige Aussichten.

Lauras Handy vibriert. Kuni kündigt ihr Kommen mit gut gelaunten SMS an. Die Stadt ist voll. Bin im Bus, der ist volle leer, weil ALLE sind in der Innenstadt. Laura schaut auf die neue Brücke. Nicht mehr lange, dann fährt niemand mehr mit dem Bus ins O-Dorf. Ende des Monats wird die Straßenbahn eingeweiht. Der Baulärm hat genervt, aber auf die Straßenbahn freut sie sich. Es ist keine U-Bahn, aber fast! Noch eine SMS. Was is’n das für ein Scheiß? Euer Lift ist kaputt? Kuni schnauft, als sie vor der Tür steht. 6 Stockwerke, das ist zwar kein Gipfelsieg, aber es ist nicht nichts.

Laura schickt Kuni gleich auf den Balkon. Sie holt ein zweites Glas aus der Küche und aus dem Wohnzimmer alle Decken, die sie findet. Sie decken sich zu, bis nur noch die Nasenspitzen in direktem Kontakt mit der kalten Luft sind, und passen beim Anstoßen auf, dass ihnen die Gläser nicht aus den Handschuhhänden rutschen. Noch eine SMS, diesmal von der Mama, die wissen will, ob Laura schon Pläne gemacht hat. Mama mag es nicht, wenn Laura zu wichtigen Anlässen alleine ist, aber die Feiertagszuschläge sind fix ins Familienbudget eingeplant. Kuni ist da, wir machen Grande Silvester Party, schreibt Laura und grinst ihre Freundin an.

»Freut mich volle, dass du da bist.«

»Sowieso. Melanie und Matti machen heute nichts, die wollen morgen die Ersten auf der Seegrube sein. Hab kurz überlegt, ob ich zum Waltherpark gehe, aber da hättest du schon am Vormittag einen Platz reservieren müssen. Das glaubst gar nicht, wie voll die Stadt ist.«

»Ruhe hast heute nur in der Sillschlucht.«

»Wenn das langt!«

»Aber dort sieht man nichts vom Feuerwerk.«

»Stimmt.«

Lauras Nase ist kalt, das verstärkt das Prickeln des Proseccos. Sie hört Kuni zu, die vom Studium erzählt. Sprint bis zu den Semesterferien! Abgabetermine, Prüfungen und überhaupt, Kuni muss sich bald für das Thema ihrer Bachelorarbeit entscheiden. Deshalb wollte sie ja zum Waltherpark. Wenn man dort mit dem Rücken zur Nordkette steht, hat man einen wunderbaren Blick auf die Dächer der Altstadt, den Dom und, weiter hinten, den Patscherkofel. 1499 hat Albrecht Dürer da seine Staffelei aufgestellt und seine berühmte Stadtansicht gemalt.

»Ist dir das noch nie aufgefallen, das metallene Dings in dem Betonpavillon?«

Eine Künstlerin, von der Kunis Professorin schwärmt, hat die alte Stadtansicht nachgeschmiedet und in den Betonpavillon, der schon dort gestanden ist, integriert. Während Kuni redet, schaut Laura Richtung Patscherkofel. Sie liebt es, Kuni zuzuhören, ihre Freundin ist kompetent und begeisterungsfähig, das ist ansteckend. Aber das alles kann nicht verhindern, dass Laura sich abgehängt fühlt. Kuni weiß genau, was sie will. Sie muss nur noch ein paar Details klären und ein paar Deadlines einhalten, dann gehört ihr die Welt. Laura dagegen hat nicht die geringste Ahnung, was sie machen könnte. Das Einzige, das sie sicher weiß, ist, dass sie keinen Glühwein und keine Kiachln mehr sehen kann. Kiachln, das sind, sie hat es im letzten Monat oft genug irgendwelchen Touris erklärt, in heißem Öl rausgebackene und mit Staubzucker, Preiselbeeren oder Sauerkraut garnierte Krapfen.

Geil, hat sie vor dem Christkindlmarkt gedacht.

Grauslich, denkt sie jetzt.

Ein Monat Weihnachtsmarkt hinterlässt seine Spuren. Na ja, immerhin auch Geld auf dem Konto.

Was sie sich fürs neue Jahr wünscht? Einen Masterplan.

Nach der Matura, hat die Mama immer gesagt, kannst du machen, was du willst. Aber die Matura muss sein. Also hat Laura Matura gemacht. Klar.

(Nichts war klar. Alles eine einzige Katastrophe! Kurz nicht aufgepasst und schon hinkst du hinterher. Durchfallen würde heißen, die Freundinnen sind nicht mehr in der gleichen Klasse und der Konrad schweigt noch lauter, weil er länger Unterhalt zahlen muss. Nachhilfe riecht nach verschissenem Wochenende. Bis Laura der Geduldsfaden gerissen ist und sie nur noch Party und gar nichts für die Schule gemacht hat. Kuni hat ohnehin zu den Ursulinen gewechselt. Der Rest der Klasse ist ihr egal, tröstet sich Laura. Sie ist nicht absichtlich schlecht in der Schule. Aber es ist wie verhext. Dort, wo Laura Wissen ablegen will, liegt immer schon was. Wie ihre Notizbücher: nie ein leeres Blatt, immer hat sie schon etwas reingekritzelt. Zeichnen hilft, aber Laura ist sich nicht sicher, ob sie die Ergebnisse mag. Die Mädels, natürlich, die sind voll begeistert. Volle cool, volle geil, volle gewaltig! Es tut gut, dass ihre Freundinnen so sehr an sie glauben. Aber es verunsichert Laura auch. Was, wenn abgesehen von den Freundinnen niemand mag, was sie macht? Wenn sie draufkommt, dass sie kein Talent hat? Sie hat einen Traum, das schon, aber was, wenn er so stabil ist wie eine Seifenblase?)

Matura also, dann kannst du machen, was du willst? Auf die Uni? Die anderen wissen irgendwie immer ganz genau, wie ihr Leben verlaufen wird. Alles durchgeplant. No shit, Lehrerin ist ein toller Job und super vereinbar, wenn du später dann Familie hast. Den Baugrund im Zillertal gibt’s gratis dazu, zum Bachelor? Nein? Aber zur Hochzeit? Wenn der Mann der Oma in den Kram passt? Dann ist’s ja gut.

Laura will jetzt einfach mal ein paar Jahre eigenes Geld verdienen. Genug für ein WG-Zimmer, endlich von zu Hause ausziehen, auch wenn’s Verschwendung ist, genau genommen, und bei den Wohnungspreisen in Innsbruck eigentlich keine Option.

Mitten in dieses Weiß-nicht-Weiter war Isabella mit einer Frage geplatzt: Ob Laura sich vorstellen könnte, jeden Tag ein paar Stunden bei Hubert im Büro zu hocken? Bezahlt, natürlich. Die große Schwester hat das Gefühl, jemand sollte ein Auge auf den Hubert haben. Auch wenn sie dieses Jahr heiraten werden, ist sie selbst noch nicht bereit dafür, ihm in seiner Kanzlei den Rücken zu stärken und den Kaffee zu kochen. Isabella ist ebenfalls Juristin, sie hat sich etwas zu beweisen vor einer zweiten Karriere als Tiroler Trophy Wife in der Hubert-eigenen Kanzlei, die, das kommt ja noch dazu, offiziell nach wie vor seinem Vater gehört. Den Schwiegervater als Chef? Sicher nicht.

Zwischenbilanz: Kuni liebt ihr Studium und hat bald ihren Bachelor in der Tasche. Laura lässt sich treiben, seit sie die Matura hat, und jobbt in der Kanzlei vom zukünftigen Mann der großen Schwester. Vor Weihnachten hat sie Schichten am Christkindlmarkt geschoben. Gap Year ist auch nur ein anderes Wort für »Was weiß denn ich?«.

Die W-Fragen des Lebens:

Was? Keine Ahnung.

Wie? Keine Ahnung.

Wann? Jetzt. Immer jetzt. Das Leben ist diesbezüglich erbarmungslos.

Wo? Im alpin-urbanen Zentrum von »gsund, lustig & draußen«.

Was man über Innsbruck wissen muss? Gut ein Drittel der Menschen, die hier leben, studieren. Das ist gut für die Stadt und schlecht für Menschen, die eine Wohnung suchen. Dabei sein zählt, aber wenn Laura ehrlich ist, zählt sie die Stunden, bis sie sich davonmachen kann. Aber wohin? Das ist auch nur eine andere Wo-Frage. Bis sie die Antwort weiß, bleibt sie besser, wo sie ist. Im Schöpfgeierhorst, im 6. Stock eines Hochhauses im Olympischen Dorf.

In Innsbruck gibt es genau genommen zwei Olympische Dörfer. Der Volksmund und der Innsbrucker Verkehrsverbund haben sie zusammengelegt und nennen sie O-Dorf. Mit dem Rad am Inn entlang erreicht man das O-Dorf in sweeten 15 Minuten. Das macht aber niemand, weil in der Ebene bewegen sich die Tiroler nicht so gern. Zu voller Form laufen sie erst auf, wenn sich ein Gipfel in den Weg stellt.

Wenn die Luft röhrt und ein heißer Wind über die Stadt fegt, dann ist das entweder der Föhn oder ein Flugzeug im Landeanflug. Wer noch nicht lange in der Stadt ist, zieht mehrmals am Tag den Kopf ein, aber was ist so ein bisschen Lärm im Vergleich zu den Segnungen des Tourismus? Willst du wohl still sein, hier fließen Milch und Honig aus den Taschen der Touristen direkt in unsere Bank-Accounts. Manche sagen Gäste zu den Touristen, andere nennen sie Fremde. Aus allen Himmelsrichtungen kommen sie zu uns, den Kopf schon beim Aussteigen in den Nacken gelegt: Ja, wo sind sie denn, die Berge?

Dann hustet die Nordkette kurz, setzt sich in Szene und die Angereisten lächeln selig.

Es gibt auch Menschen, die stößt das ab. Sie fühlen sich eingekesselt. Üblicherweise bleiben die nicht lang. Die Berge überragen die Stadt wie schlecht gelaunte Türsteher.

Innsbruck erhebt keinen Anspruch darauf, die Perle Tirols zu sein. Perlen sind etwas für ältere Damen, die Tee trinken und sich dabei ihr aufgefädeltes Vermögen durch die Finger gleiten lassen. Innsbruck ist reich, setzt aber auf ein cooles Image. Mehr SUV als Mercedes SL. Mehr Matcha als Tee. Wenn schon Tee, dann mit Schnaps.

Es ist nicht schwer, sich in Innsbruck zurechtzufinden. Wenn du dich verirrst, schau einfach nach, wo die Bergkette ist, dort ist Norden. Man grüßt mit »Grüß Gott« und ist per Du. Wer mit »Guten Tag« grüßt, wird gesiezt und schlechter behandelt. Das ist nicht bös gemeint, das ist einfach so.

Wenn in Tirol jemand eine Idee hat, wird meistens der Betonmischer angeworfen: eine Autobahn, eine Lawinenverbauung, eine Seilbahn, ein Wasserkraftwerk mitten in ein unberührtes Flußbett, um damit eine einzelne Schneekanone zu betreiben, ein Hotel, such’s dir aus. Alles, was wild ist, muss gezähmt werden. Alles, was nicht gezähmt werden kann, muss weg. Danach im Gleichschritt zum Après-Ski und mal wieder so richtig die Sau rauslassen. Exportschlager Hüttengaudi! Natürlich ist das keine Natur mehr, wo wir Tourismus betreiben, sagt, nicht weit von Innsbruck, ein Bergbauernbub mit Las-Vegas-Erfahrung.

Wenn man bedenkt, wie rasant sich die Tourismusindustrie hier in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, ist es eigentlich erstaunlich, dass Tirol den Ruf hat, konservativ zu sein. Aber es stimmt schon. Alles muss wachsen und gleichzeitig bleiben, wie es immer schon war. Als das Snowboarden nach Tirol kam, waren die alteingesessenen Skifahrer kein bisschen amüsiert. Liftverbote für Snowboards, wütende Schlagzeilen in den Zeitungen. Mit dem Skaten ist es ähnlich. Zu laut, zu schnell, zu jung, zu bunt und außerdem hinterlässt es Striche auf dem Asphalt und wo kommen wir denn hin, wenn der Asphalt dreckig wird?

»Gleich geht’s los!«

Kuni wickelt die Decke um sich und stellt sich zu Laura ans Geländer. Sie haben einen perfekten Blick auf die Stadt samt Nordkette. Sie drehen das Radio laut auf und warten auf die Walzerklänge. Isabella schickt ein Foto von Hubert und sich und wünscht ihrer »kleinen Schwester einen guten Rutsch ins neue Jahr! Prosecco, Prosecco, Herzchen, Herzchen, Herzchen, Feuerwerk und Grüße von der ganzen Familie«! Dazu ein angehängtes Gruppenselfie, das Laura sofort wegklickt. Mama schickt ein Prosit mit Feuerwerk.

Laura und Kuni lassen die Finger über die Tasten fliegen und senden ebenfalls ihre Prosits in die Welt. Das Feuerwerk erleuchtet die Altstadt. Sogar auf der Seegrube werden Raketen gezündet, einen Augenblick lang ist das schneebedeckte Hafelekar hell erleuchtet. Dunkel und mächtig fließt der Inn Richtung Donau, von der das Orchester im Radio behauptet, sie sei so blau, so blau, so blau.

Schnee, Steine, Scherben

Die Stadt ist heute noch staubiger als sonst. Überall liegt Müll. Sektkorken, abgebrannte Feuerwerkskörper und was sonst übrig bleibt, wenn die ganze Stadt feiert, über allem liegt eine zuckrige Schicht Feinstaub. Fred hasst Schnee in der Stadt. Warum sich von der guten Laune des frisch gefallenen Schnees anstecken lassen, wenn der ohnehin sofort zu grauem Gatsch zerfällt? Aber mit dem Müll von Silvesterpartys ist es noch schlimmer.

Fred heißt eigentlich Frederike Bodenwieser. Wie ihre Haare ist ihr auch ihr Name in Kurz lieber. Sie hasst den Schnee in der Stadt, aber jetzt wünscht sie sich, dass die verkaterte Stadt von einer flauschigen Decke Neuschnee zugedeckt wird.

Legen wir einen Mantel des Vergessens über den Lärm von gestern Nacht. Alles sauber, still und weich! Eine Einladung, alles zu machen wie früher. Einfach fallen lassen, nach hinten, sanft landen und mit Händen und Füßen um sich schlagen. Schneeengel sind die einzigen Engel, die wenigstens ein bisschen interessant sind. Ansonsten war Fred schon als Kind mit jeder Faser des Körpers ein Bengel: Muskelkater, Sonnenbrand, aufgeschlagene Knie … Rennen, springen, raufen … Schreien, bis die Stimme bricht, aber unbekümmert, Schreien aus Lebenslust, nicht aus Wut. Wie lang das her ist! In ihren Erinnerungen könnte man archäologische Grabungen durchführen.

Fred macht eine schnelle Bestandsaufnahme:

Wut? Ist da.

Lebenslust? Ist da.

Knie? Sind da und heil und das ist viel.

Der Rücken quietscht, aber bei wem nicht?

Fred genießt die Ruhe nach dem Sturm. Alles, was stressen könnte, liegt mit Aspirin und Verdauungstropfen im Bett. Es gibt keine stillere Zeit als den ersten Jänner, bevor das Neujahrskonzert beginnt.

Fred räumt leere Flaschen und Gläser mit Lippenstifträndern in die Küche und schaut unter der Wolldecke auf dem Sofa nach, wer den Heimweg nicht geschafft hat. Sie lässt die Wolldecke wieder fallen. Sie mag Rosa. Aber sie will den Morgen mit niemandem teilen.

Rosa ist leider keine enge Freundin von Marlis. Sie ist für Marlis eine Nummer zu cool, deshalb war Marlis ziemlich aus dem Häuschen, als Rosa bei ihrer Party aufgetaucht ist. Fred kennt Rosa aus dem Joplin. Dort ist die Musik gut, und die Menschen sind größtenteils auszuhalten. Rosa ist dort Kellnerin und zwar nicht irgendeine. Sie schupft den Laden. Außerdem betreibt sie einen Podcast, in dem sie von Großstadt, Musik, Leben und von allem, was sonst noch so auf der Straße zu finden ist, erzählt.

Zu verstehen ist das nicht. Plötzlich wollen alle berühmt sein. Fred ist Teil der Generation, die lieber das Fluchtauto fahren will, als im Scheinwerferlicht zu stehen.

Marlis schläft. Rosa schläft. Die anderen Gäste schlafen auch, aber in ihren eigenen Wohnungen oder jedenfalls nicht hier. Die Party war ein voller Erfolg, was Fred freut, weil sie weiß, wie wichtig Marlis das ist. Sie selbst ist rumgestanden wie eine Stehlampe.

Fred sieht sich um. Marlis ist zum Studieren bei ihrer Großtante eingezogen und hat nach deren Tod nicht viel verändert. Die Häkeldeckchen hat sie verräumt und eigene Bücher in die dunklen Vollholzregale gestellt, das war’s. Daran hat sich auch nichts geändert, als Fred eingezogen ist. Alles, woran Fred hängt, hat in ihrem Auto Platz, einem alten, liebevoll gepflegten Fiat Panda, dem gemütlichsten Fluchtwagen der Welt. Als sie bei Marlis eingezogen ist – warum nochmal? Sicher um Geld zu sparen, aber der einzige Grund war das nicht. Sie hat ihre Schlafcouch und ihren Schreibtisch ins leere Gästezimmer gestellt, ein paar Erinnerungen im Kellerabteil verstaut und den Rest verkauft. Seit sie in Wien lebt (und Fred lebt in Wien, seit sie selbst entscheiden darf, wo sie lebt), ist sie ausgesprochen oft umgezogen. Freds Motto: Beweglich bleiben, Chancen nützen.

Marlis war auch so eine Chance: Vor Fred hatte sie die Wohnung mit einer Person geteilt, die ihr unfassbar viel bedeutet hat. Bitte nicht nach Details fragen, das war kein Streit, das war ein Kahlschlag. Marlis hat sich verraten gefühlt, sich heulend ins Bett gelegt und eine Ersatzmama gebraucht, die ihr gelegentlich eine Suppe kocht, ihr zuhört und sie wieder aufpäppelt.

Fred war auf Zimmersuche. Die Freundin, deren Wohnung sie zwischennutzen wollte, hatte unvermittelt Heimweh bekommen, ihr Auslandsjahr abgebrochen und um Verständnis gebeten: Bitte zieh aus, so sofort wie möglich.

Als Marlis emotional wieder ausreichend gefestigt war, um neben feinen Süppchen gelegentlich auch wieder feste Nahrung zu sich zu nehmen, hatten sie sich bereits aneinander gewöhnt. Fred ist also geblieben. Du verstehst mich so gut, das bedeutet mir die Welt, sagt Marlis gar nicht so selten. Fred hört es gern, auch wenn es sie manchmal nervt, dass das Lob meist nur der Auftakt für eine bis ins Detail bekannte Litanei ist: Nie zuvor … so verraten … niemand hat sie so verletzt wie XYZ. Manchmal wechselt der Name, meist nicht.

Die Party jedenfalls war ein voller Erfolg. Die Großtante hat Marlis nicht nur eine vollmöblierte Wohnung hinterlassen, sondern auch den Zugang zu einer Dachterrasse. Am 31. Dezember führt das verlässlich dazu, dass alle Menschen, mit denen du jemals Kontakt gehabt hast, mit dir feiern wollen. Blei gießen, Zeit zerreden, Brettspiele, Alkohol, Countdown, Feuerwerk, Walzer tanzen und so tun, als könnte man die Pummerin trotz krachender Böller nicht nur im Radio hören. Den Nachbarn, die auch Zugang zur Dachterrasse haben, zuprosten.

Rosa hat ihren Sekt runtergestürzt, sich ans Geländer gelehnt und laut in die Nacht geschrien: »Endlich! Ehe für alle, ihr Arschlöcher!«

Die Nachbarn haben peinlich berührt gelächelt, dann aber doch ihre Sektgläser zum Prosit erhoben. Sie haben nichts gegen die Ehe für alle, aber sie wären gut damit zurechtgekommen, die nächsten paar Jahrzehnte nicht daran zu denken.

Alle umarmen sich. Es wird geküsst und gejohlt. Fred küsst und johlt mit. Danach steht sie wieder rum wie eine Stehlampe.

Sie schaut in die Nacht. Wie viel Geld sich die Leute ihre Feuerwerke kosten lassen. Sie schaut in den Himmel und sieht den einen oder anderen Kleinwagen oder Luxusurlaub in der Luft verpuffen. Marlis tanzt. Rosa tanzt. Alle tanzen. Alle stehen. Alle trinken.

»Na, altes Haus«, Rosas Hand landet schwer auf Freds Schulter, »lass hören, was sind deine Neujahrsvorsätze?«

Fred hat keine Neujahrsvorsätze.

»Kennst mich doch«, sagt sie zu Rosa, »ich hab keine Vorsätze.«

»Na eh«, sagt Rosa, »aber was wünschst du dir fürs neue Jahr?«

Sie schaut Fred streng an und ergänzt: »Sag jetzt nicht, Gesundheit, weil: eh klar.«

»Das Übliche: Reisen, so viel es geht. Erleben, so viel es geht. Menschen treffen, aber auch zu allen sagen können, dass sie mich gernhaben können, wenn ihnen was nicht passt.«

Rosa schaut nicht sehr beeindruckt drein. Stimmt ja, Reisen ist genauso wenig originell wie Gesundheit. Die neue Generation will jeden Gedanken gleich zu einer besonderen Erfahrung aufblasen. Aber Fred findet, das ist viel zu viel Aufwand. Warum die Bilder schon ausformulieren, bevor man auf Reisen war? Das macht doch gar keinen Sinn!

Im Nachhinein die Bilder abrufen ist viel besser.

In Warschau an der Hotelbar sitzen und ins elektrische Effektfeuer starren, das so tut, als wär’s ein Kamin. Still werden nach einem busy day. Wie sich Kommunismus und Turbokapitalismus ähnlichschauen, wie verschmolzen sie sind in dieser Stadt.

In Brüssel spätabends ankommen und mit den Öffis zu ihrer Freundin fahren und mit großem Unbehagen feststellen, dass sie die einzige unbegleitete Frau in der Straßenbahn ist. Angestarrt werden, mit Blicken, die sie nicht zu deuten weiß. Nach dem Aussteigen einfach losmarschieren, egal, in welche Richtung, sich nur nicht anmerken lassen, wie fremd sie hier ist.

Fred hat aus Prinzip keine Angst, die Welt gehört ihr genauso sehr wie den anderen, aber naiv ist sie nicht.

In Sofia eine halbe Stunde unter einer Straßenlaterne stehen bleiben, bis sie endlich die kyrillischen Schriftzeichen enträtselt hat und auf dem Stadtplan nachschauen kann, wo sie ist.

In Istanbul extra nach Kadiköy fahren, damit sie sagen kann: »Ja, ich war auch in Asien.« Es später sogar bis nach Shanghai schaffen und bewaffnet mit dem Sprachteil des Reiseführers auch in no-english-Straßenlokale gehen, auf das Schriftzeichen für Huhn deuten und das Beste hoffen.

Nochmal später den Kopf schütteln über die privilegierten Jungspunde, die Sätze sagen wie »Shanghai, das interessiert mich überhaupt nicht, das ist mir viel zu westlich.«

Jedes Mal wenn Fred ihre Freundin Ulrike in London besucht, eilt sie ohne Umwege zur Tower Bridge und dort zum nördlichen Ufer der Themse. Sie muss sich vergewissern, dass die Statue noch steht. Ein Kind, das unbekümmert mit einem Delfin tanzt. Ein Mädchen und ein Delfin. Macht doch nichts, wenn das kitschig klingt, aber Kunst darf das: Schwerelosigkeit vortäuschen, Trost spenden, eine Oase der Ruhe sein und dahinter fließt dreckiges Wasser ins Meer.

Oder Barbara. Mit Barbara in Barcelona am Strand liegen und einen Lachkrampf bekommen, weil ein Mann mit schönem Körper und schlechten Zähnen sie hartnäckig anquatscht.

»Wir wollen nichts von dir, schon gar nicht für Sex zahlen«, sagt Barbara, bevor Fred die ganze Situation überhaupt eingeordnet hat. Der Mann versteht kein Deutsch, was man ihm in Barcelona nicht vorwerfen kann, aber er braucht auch sehr lange, bis er ihr fast schon gebrülltes »No, no, no, nada, niente« versteht, was man ihm sehr wohl vorwerfen kann.

»Echt jetzt«, sagt Fred, als er endlich weg ist, »unser Leben ist doch kein Ulrich-Seidl-Film.«

Überhaupt, Barbara!

Fred hat Barbara besucht, als diese damals in Berkeley lebte, weil sie ein Forschungsstipendium an dieser Uni hatte, die überall Parkplätze für Nobelpreisträger bereitstellt. Mit dem Mietauto sind sie gemeinsam Richtung Big Sur gefahren. Lange Sandstrände mit rollenden Wellen. Ein Nachmittag sticht heraus. Im legendären Ensalen Institute spielt Joan Baez live. Stellt sich raus: Die Königin der fragilen Folksongs ist in den Zwischenansagen eine ziemliche Wuchteldruckerin.

»My motto these days …«, so Joan Baez in einer Zwischenansage, in der es um alles geht, den Zustand von Amerika, was in Amerika immer mit dem Zustand der Welt gleichgesetzt wird, »… these days my motto is: small victories and big defeats. Do what you have to do, do what you know is right.«

Das Publikum legte die iPads aus der Hand, applaudierte frenetisch und erhob sich geschmeidig aus den Liegestühlen, um ein bisschen Tai Chi zu machen. Weitere Attraktion: Schwefelbäder mit Blick auf den Pazifik.

Jetzt lebt Barbara wieder in Wien. Mit der großen Unikarriere hat es nicht geklappt. Fehlendes Netzwerk, das ist auch nur ein anderer Ausdruck für: Dieses Land ist korrupt und Barbara ist eine Frau. Sie schlägt sich durch, das schon.

Was in der Zwischenzeit passiert ist? Donald Trump ist immer noch Präsident und in Österreich, na ja. Autsch. Auch so ein Totalschaden.

Immerhin sind wir ein kleines Land, immerhin sind wir nicht wichtig. Aber einen Vormittag gibt es, da darf man sich auch in Österreich so fühlen, als wären wir der Nabel der Welt.

Fred setzt sich zu Rosa, die mittlerweile aufgewacht ist, auf die Fernsehcouch. Als Friedensangebot bringt sie ihr Kaffee und ein Glas Wasser. Wo ist die Fernbedienung? Die Türen zum Musikverein haben sich kaum geöffnet, da hat Fred schon wieder die Schnauze voll: Es dauert keine 30 Sekunden, bis die Buben in hohen Ämtern zu sehen sind. Wie sie mit den höchsten Ämtern im Land spielen, als ginge es um nichts. Verlieren werden viele, Frauen und Kinder zuerst.

Sekunden später hat sich Fred wieder beruhigt: Als der Dirigent den Konzertmeister begrüßt, darf Albena Danailova zwischen den Schultern der Kollegen durchlugen und lächeln. Was es dafür alles gebraucht hat: Internationale Kritik, Boykottaufrufe und massiver politischer Druck waren nötig, damit Ende der 90er Jahre des letzten Jahrtausends Anna Lelkes, die seit über 20 Jahren für das Orchester gespielt hat, sich endlich auch offiziell Philharmonikerin nennen durfte.

Jahrzehnte später liegt die Frauenquote bei unter 10 Prozent, Dirigentin gab’s noch keine.

Rosa gibt extra Zucker in ihren Kaffee. »Warum genau schauen wir das?«

Rosa ist mit ihrem Podcast die Stimme einer sehr spezifischen Gruppe junger Frauen, die die Schnauze voll haben.

»Wegen dem Blumenschmuck!«

Marlis schaut verschlafen aus. Ihre Stimme klingt nach Kater, die Jogginghosen hängen tief. Fred springt auf, agil wie die Alt-Hippies im Ensalen Institute damals, und holt für Marlis Kaffee aus der Küche.

»Ja, ja«, mault Rosa mit Blick auf den Fernseher, »die coolen Jobs sind für die Jungs und wir sollen uns mit dem Blumenschmuck zufriedengeben.«

Marlis setzt sich neben Rosa. Dann zeigt sie auf den Fernseher und schaut zu Fred.

»Wegen ihr, stimmt’s? Wir schauen das Neujahrskonzert wegen ihr.«

Es stimmt. Fred wird jedes Mal vergnügt, wenn Sophie Dervaux ins Bild kommt. Wie viel Witz und Gelassenheit man ausstrahlen kann, wenn man auf höchstem Niveau Fagott spielt!

Schon wieder ein Schwenk auf die Politbuben. Die waren gestern immer wieder Thema in den Gesprächen der Partygäste: weniger Geld für Gewaltschutz, aktiver Abbau von Kinderbetreuungsplätzen, Kürzungen für so gut wie alle feministischen Initiativen in Österreich. The times, they are a-changing. Eng ist es geworden im Land.

Dass es ausgerechnet diese Koalition ist, die von der EU dazu gezwungen wird, die Ehe für alle umzusetzen, ist ein Witz ohne Pointe. Small victories und big defeats. Joan Baez kennt sich aus.

Marlis grinst Fred immer noch an und sagt: »Wir sitzen ganz schön in der Scheiße, echt wahr. Aber die Musik hat Schwung!«

Dann prostet sie den Würdenträgern im Fernsehen mit ihrem Kaffee zu.

»Arschlöcher!«

Sie holt eine Tafel Schokolade aus der Küche.

»Okay, Spielidee. Immer, wenn eine Musikerin länger als 10 Sekunden im Bild ist, dürfen wir ein Stück essen.«

Fred bricht sich eine Rippe ab und sagt: »Vergiss es. Warum sollte ich warten, bis mir das Patriarchat erlaubt, Schokolade zu essen!«

Gönn dir!

Von der Lasagne ist nicht mehr viel übrig. Von der Spielfreude der anderen auch nicht. Matti hat sich neben Melanie gesetzt und macht seine Schultern extra breit in der Hoffnung, dass seine Arme zufällig die von Melanie berühren. Die Lasagne hat Lauras Mama vorbereitet. Sie hat schon wieder Nachtdienst und will mit der Lasagne für den Spieleabend beweisen, dass sie trotz Überarbeitung eine gute Mutter ist. Laura wollte helfen, aber sie ist zu spät gekommen. Sie ist nach der Arbeit wirklich nur ganz kurz auf einen Tee ins Treibhaus gegangen und hat ein bisschen in ihrem Skizzenblock gezeichnet. Als sie endlich heimgekommen ist, war die Lasagne schon im Ofen und die Mama mit einem Fuß aus der Tür.

Laura zählt im Kopf Rohstoffe und Siegpunkte durch. Reicht fast! Ein bisschen Würfelglück und das Spiel ist zu Ende.

Kuni geht in die Küche und holt Chips aus dem Schrank. Sie stellt die Schüsseln auf den Tisch, füllt die Wasserkaraffe nach. Das wäre alles Lauras Aufgabe, aber die ist damit beschäftigt, dem Würfel gut zuzureden. Seit Kunis Familie vor Jahren nach Telfs gezogen ist, hat Kuni einen inoffiziellen Zweitwohnsitz im Schöpfgeierhorst.

»Tu weiter, Laura. Ich muss endlich heim. Morgen muss ich dringend was arbeiten. Weißt eh, die Uni!«

Kuni ist nicht mehr die Einzige, die an die Uni denkt. Auch Melanie ist gestresst. Alle sind spät dran, na ja, alle. Matti denkt eigentlich nur an Powder, Freeriden, Karrinne und wahrscheinlich auch an Melanie. Aber Kuni hat den größten Ehrgeiz.

Ist Laura wirklich so leicht zu durchschauen? Wissen alle am Tisch, dass sie nur noch zwei Erz braucht und dann fertig ist? Sie nimmt die beiden Würfel, wirft und ärgert sich. Sie kaut auf ihren Lippen, während sie im Kopf die Rohstoffe hin und her tauscht.

»Melanie, gibst mir bitte zwei Erz, kannst haben, was du willst.«

Laura ist überrascht, als Matti sich vehement auf ihre Seite schlägt: »Ja, gib ihr die zwei Erz! Ich will morgen auch früh raus, die Seegrube wartet. Du kommst doch mit, oder?«

Melanie schaut nicht mal in Lauras Richtung, als sie ihr das Erz rüberschiebt.

»Am Vormittag bin ich im Shop, leider. Aber am Nachmittag komm ich fix nach.«

Laura zählt die Rohstoffe runter, baut die Stadt, die ihr die fehlenden Siegpunkte bringt, springt auf und tanzt durchs Zimmer. Ist doch egal, dass die anderen sie gewinnen haben lassen, in der nächsten Runde wäre es sich locker ausgegangen.

Außerdem: Sieg! Ist! Sieg!!!

»Was? Ist es schon vorbei?«, fragt Melanie und schaut immer noch in Mattis Richtung.

»Stark, Laura!« Kuni nickt anerkennend.

»Was ist mit dir, Laura, kommst mit auf die Seegrube?«

Alle schauen sie auffordernd an. Laura nickt resigniert.

»Gewaltig«, sagt Melanie, »holst mich im Shop ab?«

Das Wiltener Platzl ist ein Geheimtipp. Auf halbem Weg zwischen Zentrum und Berg Isel gibt’s einen kleinen Platz mit gutem Kaffee und kaum Touris. Dort jobbt Melanie in einem Laden, der unentschlossen zwischen Erdgeschoß und Keller hängt.

Als Laura den Laden betritt, grüßt Melanie nur kurz. Sie ist beschäftigt. Im Hintergrund läuft Sublime. Laura beobachtet zwei Touristinnen, die sich Kleider an den Körper halten und die Pläne für den nächsten Tag diskutieren. Ihre Augen glänzen, als sie Beanies in der Hand hin und her drehen und von der Fahrt auf den Patscherkofel reden. Snowboarden, wie schwer kann’s sein? Laura ist schon froh, dass es der Patscherkofel ist, über den sie reden. So steil wie auf der Seegrube ist es dort nicht. Andererseits: Die echten Herausforderungen beim Snowboarden sind nicht die Steilhänge, sondern die flachen Familienpisten. Einen Steilhang kann man runterrutschen, aber diese flachen Pisten, bei denen man Ski einfach laufen lassen kann, die sind auf dem Snowboard ein Drahtseilakt. Einmal verkantet und schon landest du auf dem Rücken und schnappst nach Luft, wie ein Fisch, der versucht hat, die Fluchtszene in »Finding Nemo« nachzustellen, und sich hart verschätzt hat, was den Abstand zwischen Aquarium und Klo betrifft.

Lovin’ is what I got, erinnern Sublime die Welt, I said, remember that, lovin’ is what I got.

Laura dreht die Musik lauter. With your feet in the air and your head on the ground. Die Pixies. Melanie steht bei den Touristinnen und lässt im Beratungsgespräch das K extra hart knacken. Bringt Umsätze.

»Is euch die Musik eh nicht zu laut? Ich find, der Song ist total stark!«

Mit einer Hand hält Laura das Snowboard, mit der anderen führt sie ihr Speck-Vinschgerl zum Mund. Die Hungerburgbahn ist voller Fahrgäste in bunter Wintersportmontur. Mützen mit Fell, Mützen mit Hörnern, Mützen, die ihren Bommel mit Stolz tragen. Melanie grinst. Sie kaut. Ganz gegen ihre Gewohnheiten hat sie sich für einen Kornspitz mit Käse und ein bisschen Grünzeug entschieden. Speck schmeckt gut, aber man riecht ihn so lang. Laura kommt das komisch vor. Warum schaut sie so anders aus? Warum hat sie heute keine Lust auf Speck? Sie sind doch eh den ganzen Tag draußen? Schließlich treffen sie Matti auf der Seegrube und der setzt sich fix nicht in die Hütte. Ab jetzt heißt’s, durchfahren bis zur letzten Gondel. Dafür braucht man in erster Linie Energie, der frische Atem kommt dann ganz von selbst. Matti! Natürlich!

»Nein!«

Melanie grinst noch breiter. Fast kann Laura das zerkaute Käseweckerl sehen.

»Nein!«

Melanie strahlt.

»Erzähl!«

Kauen, runterschlucken, Board nehmen, aussteigen. Erste Station: Hungerburg, jetzt weiter zur Gondel, die sie hoch zur Seegrube bringt.

»Wir sind gemeinsam zur Straßenbahn, oder? Bei der Haltestelle haben wir rumgeblödelt. Matti steigt eigentlich früher aus als ich, aber er ist einfach sitzen geblieben, hat g’sagt, er bringt mich heim.«

Melanie schaut cute aus. Die Dreads hochgebunden, die Mütze drüber, aber ein paar Strähnen hängen runter. Sie bekommt natürlich Rabatt in Bernis Shop, aber trotzdem, man sieht, dass ihr Mode was wert ist. Das dunkle Rosa ihrer Burton-Jacke passt perfekt zu ihrem braungebrannten Gesicht mit den braunen Augen, die von der Sonnenbrille geschützt werden. Im Gegensatz zu Laura hat sie eine Saisonkarte.

»Und dann?«

»Was dann?«

»Er hat dich heimbringen wollen, oder? Was war dann?« »Was dann war?!«

Melanie zappelt so sehr, dass es sich auf die Gondel überträgt. Laura stabilisiert sich, schaut sich suchend nach einer Wand oder einem Griff um, aber da hat sich die Gondel schon wieder beruhigt. Melanie nicht. Ihre Augen leuchten, sie lehnt sich zu Laura rüber, flüstert ihr ins Ohr. Er hat. Und sie hat. Dann hat er …

Während Laura Melanie zuhört, wird es in ihr still. Nach der Stütze sackt die Gondel ein bisschen ab. Die verschneiten Baumwipfel sind nah. Wie oft sieht man einen Wald von oben?

Melanie holt das Handy raus.

»Der Matti wartet schon!«

Die ersten Schritte nach der Gondel sind ein bisschen wackelig. Die Knie haben sich noch nicht an den festen Boden gewöhnt. Die Stufen hoch und raus auf die Steinterrasse vom Restaurant. Strahlend blauer Himmel, die Luft ist kalt. Durch die Nase atmen. Tut weh, aber die Luft ist wärmer, wenn sie die Lunge erreicht. Melanie beschleunigt, stimmt, dort, am Ende der Terrasse, steht Matti im Schnee und winkt. Die beiden strahlen sich an, als wären sie zwei Heizpilze. Kommt, entscheidet euch einfach, umarmt euch, küsst euch, was auch immer! Aber steht bitte nicht rum, als wäre gestern nichts gewesen.

Laura kriegt gleich einen Ausschlag vor lauter Peinlichkeit. Also schaut sie an den beiden vorbei. Das Panorama ist atemberaubend. Ganz egal, wie oft du auf der Seegrube bist, das haut dich um. Überall glitzert es. Nichts kann besser stillstehen als Berge. Manchmal wirbelt Schnee Richtung Tal. Sogar die Lawinenverbauungen sehen irgendwie verträumt aus. Wenn man atmet, hat man das Gefühl, endlich den Knopf gefunden zu haben, der den Zeitraffer abstellt.

Laura packt ihr Board und läuft Melanie und Matti hinterher, die die Schuhe in die Bindung stellen, festzurren und los geht’s. Der Schnee unter den Boots macht knirschend klar, dass es heute keine gute Idee ist, auf Risiko zu fahren. Heute fällt man nicht weich. Zum Aufwärmen nehmen sie beide Sessellifte je einmal, dann fahren sie zur Talstation ab. Als sie wieder zur Seegrube hochgegondelt sind, zieht Matti Melanie weiter: auf zum Hafelekar.

Laura winkt ab. Sie ist müde und außerdem überflüssig: Wenn sie fällt, hilft ihr Melanie zwar hoch, aber sie verliert Matti nicht aus den Augen.

Der Germknödel fühlt sich in seinem Bad aus Butter und Mohn pudelwohl. Der Himmel strahlt. Laura hat den Anorak aufgemacht und hält das Gesicht in die Sonne. Schutzfaktor Gletschersonne hat ganz schön zu tun. Sie nimmt einen großen Schluck Skiwasser. Am Nebentisch schweigt sich eine Horde Tiroler an. Was ihr Schweigen erzählt? Der Tag ist gewaltig, der Schnee bärig, die Welt gehört dir, wenn du im Skyline Park abhebst, beim Springen einen Blick ins Tal riskierst und den Jump dann auch sicher auf den Boden bringst.

Auf der anderen Seite hockt ein Mann im neongelben Anorak und sagt zu seinem Freund: »Guck dir das an, Wolfgang, was für ein Blick. Das Panaroma ist der reinste Wahnsinn! Ich krieg mich gar nicht mehr ein!«

»Ja, Mensch, wenn wir auch so ein Skigebiet vor der Haustür hätten, dann wären wir bestimmt so fit wie Hermann Maier!«

Nicht, dass es so wahnsinnig wichtig wäre, aber Hermann Maier ist nicht aus Tirol.

Wenn sie Leute trifft, die nicht aus Tirol sind, wird Laura immer zuerst gefragt, ob sie Ski oder Snowboard fahren kann. Selbstverständlich!

Aber macht sie es? Selten. Skifahren geht gar nicht. Snowboarden ist ihr lieber, aber das Unbehagen bleibt. Die Liebe zum Schnee ist verloren gegangen. In Innsbruck ist das keine populäre Meinung, sogar die Mama ist deshalb enttäuscht.

Zur Tarnung lässt sich Laura immer wieder auf der Seegrube sehen. Ein paar Mal alibimäßig die Hänge runterrutschen und danach beginnt der wirkliche Spaß. Spätestens nach dem vierten Mal Sessellift gibt Laura der Stimme nach, die sagt: Alles viel zu zach. Habe ich meine Leasinggebühr für die Berge endlich bezahlt? Kann ich mich jetzt vor der Hütte in den Liegestuhl fläzen, ins Tal schauen und an Germknödel denken?

Die Freundinnen finden das zum Schreien komisch.

Laura atmet ein. Alles glitzert. Die Luft riecht im Winter nach nichts, das macht sie extra samtig. Na ja, samtig. Kann Samt klirren? Winterluft ist messerscharf und hat einen eigenen Körper.

Aber die Freundinnen, denkt Laura, müssen sie nehmen, wie sie ist. Das ist doch das Gute an Freundinnen. Abgesehen davon: Tirol ist nicht so intolerant, wie alle immer