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Mieze Medusas neuer Roman hat, was Frauen zum Überleben brauchen: Tempo, Herz, Humor, Wut und viel Solidarität. Melanie hat vermutlich nicht immer die richtigen Entscheidungen getroffen: Sonst wäre sie nicht die zweite Ex eines reichen Mannes mit internationalem Lebensstil, der bei Ehefrau Nummer drei angekommen ist und die gemeinsame Tochter Adele nach Neuseeland mitgenommen hat. Melanies Alltag in Wien ist eine holprige Angelegenheit: Ohne Unterhaltsanspruch plagen sie Geldnöte und ohne ihr fernes Kind plagt sie die Sehnsucht. Doch sie ist nicht allein: Melanie jobbt in einem feministischen Hotelprojekt, sie hat wirklich gute Freundinnen und irgendwann wird ja auch Adele nach Europa zurückkehren. Warmherzig und mutmachend zeigt Mieze Medusa, dass Zusammenhalt und Humor mit Geld nicht zu bezahlen sind – und dass das Leben ohne falsche Entscheidungen verdammt langweilig wäre …
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Seitenzahl: 452
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Mieze Medusa
Hätte ich es vorher gewusst, hätte ich es genauso gemacht
Mieze Medusa
Roman
Residenz Verlag
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© 2025 Residenz Verlag GmbH
Mühlstraße 7, 5023 Salzburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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www.residenzverlag.com
Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!
Umschlaggestaltung: Moritz Pisk
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Jessica Beer
ISBN ePub:
9783701747573
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 9331 0
Mehr Licht!
Am Stand strampeln
Ich hab von der Nacht gekostet und sie schmeckt nach Sizilien
Ameisengefühle in Nachtfalterneongelb
Sag's der Donau
Hotel Adele
Mama kennt sich aus
Vogelscheiße ist Dünger, merk dir das!
Signalwellen
Bird shit bringt Glück
Sex haben auf Trümmern und träumen
Davon kann man leben?
Der Himmel trägt
Bist du ein Würschtel oder willst du ein Würschtel?
Aufwachsen am La La Land
Ich war jung und brauchte den Held
Es ist kompliziert oder: 10 Gründe, Adele zu lieben
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Die Welt geht in Etappen unter
Haben oder seins
Dance like a girl
Sam macht den Ton und der Ton macht die Musik
Wie viel Schweiß macht aus der Donau das Meer?
GUMO, Sonne! Alle wach?
Viele aufgewärmte Gedanken und eine kalte Dusche
Zahnpasta und andere Flecken
Kaffee, Kapern, Kohle
Erklär mir die Alm
Lauter Christbäume!
Eine Alm muss man hochfahren wie einen Computer
Ich hab keine Wurzeln, ich hab Myzel
Knusprig
Wald ohne W-Lan
Du sagst: Brennnessel, ich sag: Superfood
Eine Alm macht den Körper müde
Schau her, ich lebe, ich lebe
Zugfahrt mit Sam
Paradies auf Beton
Spiel mit Flecken und Kanten
Wie unter Wasser
Wenn du was erleben willst … und das hast du dann davon
Ich hab alles in der Hand
Staycation im Park
Nie wieder Kaffeetrinken mit dem eigenen Selbstmitleid
Auf der Welt ist ganz schön was los
Siedepunkte
Wake-up Call
Der beste Ort für Tomatensaft
Adele im Heuhaufen
Schmähstad in Edinburgh
Hätte ich es vorher gewusst, hätte ich es genauso gemacht
»Ich bin nicht so eine, die man daran erinnern muss, dass im Inneren von Allem Blut ist.«
CaariceLispector
»No worries, I'm Gucci«
Sa-Roc
Beim Zufallen macht die Haustür ein Geräusch wie die Vakuum-Toilette auf einem Segelboot. Der Alltag flutscht weg, du bist auf hoher See mit dir allein.
Wir müssen leider draußen bleiben, sagt die Tür zu den Geräuschen der Stadt. Aber sagen kann man viel. Melanie lebt in Österreichs einziger Großstadt. Die Geräusche sind so hartnäckig wie Kernölflecken auf dem Lieblings-T-Shirt.
Draußen fährt jemand sehr laut Auto. Wo er so dringend hin muss, mitten in der Nacht? Pedal durchdrücken, überholen, durch die Nacht gleiten. Die Musik laut und das Fenster runtergekurbelt, um den Fahrtwind zu spüren. Nein, niemand kurbelt im Sommer freiwillig die Fenster runter, auch nicht elektrisch. Sommer in Wien, das heißt: Die Fenster bleiben zu, Klima an, sonst stirbst du. Dolby Surround auf laut und geht schon, Vollgas.
Melanie gleitet anders durch die Stadt. Mit Fahrrad oder U-Bahn. Im Ohr die Airpods, die Adele vor ihrer Abreise in der Wohnung vergessen hat. Sam schimpft deshalb. Wenn man Airpods mit einem Android-Handy verwendet, leidet die Soundqualität. Sam erklärt gerne im Detail, woran das liegt. Irgendwas mit AAC und dem Encoding des Apple Audio Standards und dem Energiemanagement der Androidsysteme …, »da werden Frequenzbereiche einfach abgeschnitten«. Melanie hört den Unterschied nicht, aber bitte! Neulich hat Sam einfach in die Tasche gegriffen und einen oft benützten Ohrstöpsel der Austrian Airlines aus dem Jahre Schnee auf den Tisch geknallt. Die Kabel sind so verknotet, das ist fast schon Kunst. Sam sammelt diese alten Ohrstöpsel, sie bindet sie mit einem Gummiringerl zusammen und hängt einen Zettel dazu: »Verwende mich, wenn du kein Arschloch bist«. Die legt sie der Mitmenschheit auf den Tisch, die im Kaffeehaus, in den Öffis oder im Zug Handyvideos ohne Kopfhörer schaut. Jetzt hat Melanie so einen bekommen: »Kannst ja gleich den verwenden, wenn es eh egal ist, wie es klingt!«
Was tun?
Melanie hat gelacht, dankend abgelehnt und gesagt: »Weißt, ich mag's einfach, wenn ich was von Adele im Ohr hab.« Sam hat sie umarmt, gesagt: »Jetzt kommt sie ja bald«, und dann schnell das Thema gewechselt. Überhaupt kein Problem. Sam hat viel zu erzählen. Nach den schaumgebremsten Jahren hat sie allerhand nachzuholen. Sie geht aus, trifft sich, hat einen Orgasmus … oder eine gute Story. Ines schaut dann immer missbilligend. Melanie hat sie im Verdacht, genauso süchtig nach Sams Geschichten zu sein wie sie selbst.
Wieder ist ein Tag verglüht: Hier ist es, das gute Leben. In Bewegung bleiben, durch die Stadt gleiten. Abkühlung mit Donauwasser bis zum Hals, dann abtauchen, im Wasser, in der Stadt, Cocktails mit den richtig guten Freundinnen. Jetzt klebt die Zunge am Gaumen und im Schweiß unter den Achseln entsteht möglicherweise neues Leben.
Melanie ist müde. Die Geräusche der Stadt sind gedämpft und eigentlich sollte das Licht angehen, während Melanie mit sich selbst verhandelt, ob sie den Lift nimmt oder Stufen steigt. Stufen steigen ist gesund und gut für den Hintern. Andererseits ist sie dann vielleicht wieder wach, wenn sie oben ankommt, und Melanie will wirklich … Wirklich! WIRKLICH! … schlafen.
Tief und fest schlafen.
Traumlos schlafen.
Schlafen wie in der Kindheit: umfallen wie ausgeschaltet, am nächsten Morgen sind die Akkus wieder voll und der ganze Körper kribbelt vor lauter Energie.
Kein Licht im Stiegenhaus. Melanie kramt nach ihrem Handy. Früher hatten wir Dinge, heute haben wir Apps. You're not afraid of the dark, are you? Das Dunkel ist flauschig und malt Schemen und Schatten auf Melanies Iris. Melanie ist schon als Kind gerne durch das Dunkel geschlichen, sie reißt die Augen auf und tastet sich voran. Als sie im dritten Stock ankommt, sind ihre Augen entspannt. Sich durch die Dunkelheit tasten ist das Gegenteil von Bildschirmarbeit. Das Licht in der Wohnung funktioniert. Morgen ein Mail an die Hausverwaltung schreiben. Heute nicht an morgen denken, sonst flüchtet der Schlaf.
Abschminken, Zähneputzen, Nachthemd, aber das ganz dünne. Es ist heiß. Auch in der Nacht.
Nochmal das Handy und alle Kanäle checken. Adele hat sich nicht gemeldet.
Muss ich dich holen kommen?, murmelt Melanie in die Dunkelheit. Aber als das das letzte Mal funktioniert hat, da hatte Adele noch ein einstelliges Alter und war außerdem in Rufweite.
Für das Problem gibt es sowas Ähnliches wie eine Lösung. Ein Ritual. Melanie konzentriert sich. Lässt alles locker. Dann denkt sie an Adele. Drei Bilder, drei Situationen, drei Erinnerungen. Eine aus der heilen Zeit: Adele als Kleinkind, als Melanie sich sicher gefühlt hat. Adele, schon etwas größer, nach der Trennung von Vincent. Ein Bild aus der Jetzt-Zeit: ein Foto, ein Skypegespräch, ein Wienbesuch. Hab eine gute Zeit, Adele.
Was fehlt noch?
Gute Nacht, Melanie, schlaf gut und träum was Schönes oder nichts.
Es ist nicht neurotisch, sich selbst eine gute Nacht zu wünschen. Melanie wechselt ja auch selbst die Glühbirnen, bringt den Müll runter, bringt das Zeug rauf, das dann später zu Müll wird, und kümmert sich sonst auch um alles.
Melanie kann nicht schlafen. Das passiert öfter, sie hat dafür Methoden. Atmen. Nicht denken (versuchen). Zur Ruhe kommen. Oder aufgeben und rüber zu Netflix.
Problemstellung: Die Tage sind lang und heiß, die Nächte kurz und klebrig. Jede Sekunde Schlaf zählt. Alles kribbelt! Vielleicht liegt's am ersten Cocktail oder am dritten, alle mit Zucker. Alkohol ist nur dann ein Schlafmittel, wenn man viel zu viel davon trinkt.
Jetzt bloß keine Reue!
Endlich ist es wieder unbeschwert möglich, sich unter Menschen zu mischen und frei zu atmen. Ein kleines bisschen über die Stränge zu schlagen, das haben wir uns doch verdient! Melanies Augen sind geschlossen, Lichtflecken tanzen an der Innenseite ihrer Lider. Sie dreht sich auf den Rücken und achtet darauf, dass die Arme locker neben dem Körper liegen. Sie versucht an nichts zu denken. Als das nicht gelingt, denkt sie ans Radfahren. Fahrtwind und Schweiß und Blicke auf die Donau.
Sag laut: »Wien.«
Sofort haben alle Bilder im Kopf. Blicke, die zwischen Mischwäldern und Weinbergen beginnen und langsam Richtung Beton fliegen. Das blaue Band der Donau wird von der Donauinsel in zwei Stränge zerteilt. Die 20 km lange Hochwasserverbauung ist sehr schmal, so ist sie erstaunlich leicht zu übersehen. Sie macht die Donau schlanker, als sie tatsächlich ist, aber so ist das nun mal mit Längsstreifen. Verlass die Stadt, singt Gustav, und nur in Niederösterreich glaubt man, das wäre eine Reiseempfehlung für die Wachau.
Melanie ist nicht wütend auf die Wachau, warum denn auch?
Geht dir auch das Herz auf, wenn du an die Kulturlandschaft aus Buchenwäldern und Weinbergen, die aussehen wie Reisfelder in Hanglage, denkst? Freust du dich auf den nächsten Tagesausflug, entlang der Donau von einem Ort zum anderen? Dazwischen eine Burgruine, ein Schloss oder, viel wahrscheinlicher: irgendwas mit Kirche. Ein Stift, ein Kloster, eine Abtei. Die Dörfer, natürlich, haben schmucke Zentren mit Kirchturm, Kopfsteinpflaster, Marillenmarmelade und Erinnerungen an eine Vergangenheit, von der viele mit etwas glasigen Augen vermuten, dass es Grund gibt, sie zu verklären. Wonach sehnen die sich eigentlich? Nach Autos ohne Gurtpflicht und Abgasfilter? Nach Jobs nur mit Parteibuch und zwar dem richtigen? Nach der politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit vom großen Nachbarn Deutschland? Danach, dass alles bleibt wie immer. Jedenfalls wird behauptet, dass alle Lösungen in den Gemeinden gemacht werden, die Probleme hingegen alle aus Brüssel kommen. (Oder aus Wien.)
So ist das, wenn man nicht schlafen kann. Du willst an nichts denken und denkst an Politik.
Du denkst an Supermächte und die Abwesenheit von Weltfrieden.
Du willst an Wien denken und landest in der Wachau.
Weil beides mit W beginnt, wahrscheinlich. Wein, Wespe, Wellental … So eine Unruhe! Klar, das Leben ist nicht immer leicht. Es hat Höhen und Tiefen, und wir haben die fatale Angewohnheit, die Höhen als Standard festzulegen und dann große Augen zu machen, wenn ein Wellental kommt. Nein, Melanie ist nicht wütend auf die Wachau, auch nicht auf Wien. Sie ist nicht mal wütend auf die Wespe, die am Nachmittag unbedingt in ihrem Getränk baden gehen wollte.
Melanie ist wütend auf die Welt. Die beginnt auch mit W und ist außerdem zu groß, selbst in Zeiten von Billigflügen und Glasfaserkabel. In dieser großen Welt geht es drunter und drüber. Vielleicht geht sie sogar unter. Aber das ist nicht der Grund, weswegen Melanie nächtelang wachliegt. Zu viele Menschen, die Melanie liebt, haben sich außer Reichweite gebracht. Denk jetzt bloß nicht an Adele, dann kannst du das mit dem Schlafen sofort vergessen. Das war ein Familienentscheid, erinnert sich Melanie, das haben wir alle gemeinsam beschlossen. Vincent, Adele, Melanie und Sally. Sally, Vincents neue Partnerin, hat sicher auch mitgeredet. Aber was macht sich Melanie vor? Sie hat nachgegeben, nicht das erste Mal. Mögliche Auswirkungen waren ihr nicht in vollem Umfang bewusst. Ich hab doch nicht wissen können, dass eine Pandemie kommt und den Planeten lahmlegt!
Adele war dreizehn, als sie mit Vincent (und Sally) nach Neuseeland gezogen ist. Dieses tolle Alter. Nach den Zahnlücken, aber bevor die Pubertät Mädchen in kichernde Wesen verwandelt, denen alles peinlich ist und die Angst haben vor dem Blick von außen.
»Sprachkenntnisse und ein Jahr Auslandserfahrung, du weißt, was das für Adeles Zukunft bedeutet«, so Vincent damals. »Denk nicht immer nur an dich, Melanie!«
Als ob!!!
Wahrscheinlich hat Vincent mehr an seine neue Partnerin Sally gedacht, die nicht nur mit Vincent glücklich sein, sondern auch von der Vergangenheit, also von Vincents Kindern akzeptiert werden will. Ist ja nicht so, als könnte Melanie sich nicht daran erinnern, wie das ist, die neue Frau in Vincents Leben zu sein.
Egal.
Mach dir keine Vorwürfe, niemand hat wissen können, dass ein unsichtbares Virus das Leben deiner Tochter in Neuseeland dauerhaft fixieren würde. Den Schock, als der erste Lockdown verkündet wurde, wird Melanie nie wieder vergessen.
Adele! Was ist mit Adele!
Ihr erster Gedanke und dann kam ganz lange kein anderer.
Vielleicht kommt der Kopf zur Ruhe, wenn Melanie hartnäckig an die letzte Radtour denkt. Bis in die Wachau hat sie es nicht geschafft. Viel zu weit. Niederösterreich zuckt beleidigt mit den Schultern. Du bist zu geizig für unsere Highlights und dann redest du so blöd über uns wie wir über dich? Aber es geht nicht um Geiz, wenn Melanie sich weigert, zuerst in einen Zug zu steigen, bevor sie eine Radtour startet. In ihrer Freizeit strampelt sich Melanie gerne ab. Es geht ihr um die Bewegung, nicht um den Weg und schon gar nicht um das Ziel.
Sie hat alles richtig gemacht, das Badezeug eingepackt, sich auf das Rad geschwungen und los. Sogar hier in der Vorvorstadt gibt es jetzt gelegentlich Radwege. Zwischen engstehenden Neubauten Richtung Donau rollen. Das Mühlwasser überqueren, dann die Donau, auf der anderen Seite der Donau sofort rechts abbiegen und immer geradeaus.
Alle Wege führen nach Wien heißt auch: Alle Wege führen aus Wien wieder raus.
Ums Ziel geht es nicht, aber sie hat eins. Das Strombad Kritzendorf erreicht man, wenn man am Kahlenberg vorbeiradelt, Klosterneuburg durchquert und dann stur weiterradelt. Beim ersten Besuch vor Jahren und wohl noch unter dem Einfluss von Vincent hat sie Kritzendorf schäbig gefunden. Aber Ines kommt verlässlich ins Schwärmen und erzählt vom Roten Wien (Rotes Wien mit Großbuchstaben, über hundert Jahre her und eine Blütezeit der Architektur und Stadtplanung). Heute, so Ines, wird wie wild gebaut, aber wenig visionär. Geld machen statt Wohnraum schaffen. Beim Bauen geht es nur mehr um Quadratmeter und Beton, es wird nie wieder so großzügig gebaut werden wie in den 70er Jahren, sagt sie manchmal.
Dass Ines ihre Contenance verliert, ist so selten wie eine vom Aussterben bedrohte Tierart (Adler, Bonobos, Braunbären … weiter bis Z), aber wenn es passiert, geht es um Architektur. »Du kennst Kritzendorf nicht?«, hat sie vor Jahren empört gesagt, Melanie, Adele sowie ihre eigenen Töchter Lea und Alex gepackt und alle in die S-Bahn gesetzt. Inzwischen liebt Melanie das Strombad fast so sehr wie Ines. Warum? Man kann mit der Donau Infinity-Pool spielen: Einfach mit dem Abstand zum Ufer einstellen, wie schnell man schwimmen muss, um nicht abgetrieben zu werden. Die Mutigen lassen sich treiben und schauen dann blöd. Die ganz Mutigen träumen von einer schwimmenden Donauüberquerung.
Also Wertsachen in die Schwimmboje und ab ins Wasser. Wieder raus und ab in den Schatten. In Melanies Satteltaschen findet sich immer ein Buch. Sie hat sich einen Roman von Janet Frame aus der Bücherei geholt, eine neuseeländische Autorin, die Melanie eigentlich mag. Heute nicht. Sie schreibt zu viel über die Landschaft und zu wenig über Adele. Kein Wunder, sie ist gestorben, bevor Adele geboren ist. Aber Melanie hat keine Lust, fair zu sein. Es geht heute um sie. Sie hat frei bis übermorgen. Buch weg, lesen kann man auch am Handy. Kurzurlaub im Schatten mit Lesestoff, Kaltgetränken und Donauwasser.
Bei der Rückfahrt gibt's wie erwartet Gegenwind. Heiße Luft, die über die Haut streicht. Manchmal überquert Melanie auf dem Rückweg die Donau mit der Rollfähre von Klosterneuburg nach Tuttendörfl.
Tuttendörfl, daran ist nichts lustig. Das ist ein ganz normaler Name. Wenn du hier laut kicherst, sagst du nichts über Tuttendörfl, aber jede Menge über dich selbst.
Heute radelt Melanie am Heimweg weiter bis zum Imbiss, der am Fuß des Kahlenbergs auf durstige Radler wartet. Das ist einer ihrer Lieblingsplätze, auch wenn sie die meisten Gäste dort schwer aushält: laute Männergruppen in hautengen Sportdressen. Die zahlen viel Geld dafür, dass auf ihren quietschbunten Radlerdressen Sponsorenlogos prangen. Ungefähr so vernünftig sind auch ihre Äußerungen zur aktuellen Lage von Gesellschaft und Welt.
»Für Wien brauchst a Gspür«, so der politische Slogan eines beliebten Altbürgermeisters, wie hat der es in der immer noch schlaflosen Nacht in Melanies Kopf geschafft?
Vincent hat ihn gekannt, natürlich. Vincent, VIP-Vincent, Visitenkarten-Vincent, Ex-Vincent. Melanie drückt den Gedanken an Vincent weg. Den kann sie gar nicht brauchen, sonst schläft sie fix nicht ein.
Es stimmt auch nicht. Für Wien brauchst kein Gespür, sondern eine dicke Haut. Wien nimmt sich kein Blatt vor den Mund und lässt dich wissen, was Sache ist. Auch wenn man's lieber nicht hören will. Auch wenn man in Wien genauso gern beleidigt reagiert, wenn jemand dagegen redet, wie anderswo. Nicht alle hier sind gleich laut und gleich sichtbar, aber gut, dass ist auch anderswo nicht anders. Stadt heißt, dass man sich nahekommt. Dass wir den Raum teilen. Da darf man aneinander anecken. Gleich viel wert wollen wir sein, nicht alle gleich, auch nicht alle gleicher Meinung.
Und jetzt? Ist die Zeit reif für eine Bürgermeisterin? Der neue Bürgermeister ist auch schon ein paar Jahre lang im Amt und die Vizebürgermeisterin ist wieder ein Mann.
Wenn's dir hier nicht taugt, kannst ja wieder heimgehen, schimpfen alle Wiener Stammtische gleichzeitig, wenn auch ohne einander zuzuhören.
Schon gut, sagt Melanie, schon gut. Wo soll ich denn bitte hin?
Als Melanie nach Wien gezogen ist, war das Jahrtausend noch jung. Die Grundstimmung war optimistisch. Was soll schon schiefgehen? Die Welt lag groß und verheißungsvoll vor ihr. Melanie brannte darauf, sie kennenzulernen. Sie hatte ihre Sachen gepackt und war Vincent gefolgt. Seither hat sich Melanies Welt mehr als einmal völlig auf den Kopf gestellt, aber eines stimmt noch: Wenn Melanie donauabwärts am Kahlenberg vorbei Richtung Wien radelt, geht ihr das Herz weit auf. Der Radweg schlängelt sich unter einer Straßenbrücke entlang, die dir das Gefühl gibt, in New York zu sein. In einem New York mit Krankenversicherung für alle. Und leistbarem Wohnen. Obwohl die Preise auch in Wien nach oben fallen, als gäbe es für Geld keine Schwerkraft.
Schau: der Florido-Tower (»einfallslos und außerdem schlecht ausgelastet«, so Ines) und die Donauplatte mit Donauturm, dem einen Hochhaus mit Segel am Kopf, dem schwarzen Turm (»das ist der DC Tower«, sagt Ines), der ein Zwilling hätte werden sollen, aber jahrelang alleine blieb, weil, so wird schadenfroh gemunkelt, die großkopferten Architekten nicht mit den starken Winden und dem Düseneffekt der Hochhäuser gerechnet hatten. Die Videos von Menschen, die sich an Bauzäunen festhielten, um nicht weggeblasen zu werden, sind inzwischen vergessen. Seither sind die Winde stürmischer geworden, die Stadt und das Internet überhitzter. Das Jahrhunderthochwasser steigt jedes Jahr höher.
Aber es liegt nicht am Sturm, dass der zweite Zwilling nicht gebaut wurde. Eher an irgendwas mit Geld. Irgendwas mit Macht. Irgendwas mit Weltwirtschaftslage.
»Natürlich geht's da ums ganz große Geld«, sagt Ines.
Jetzt hat der dunkle, kantige Block ein Gegenüber: Der Turm aus weißen Scheiben – das sind Stockwerke, die die Kreisform alle unterschiedlich interpretieren – soll vielleicht an Wein- oder Reisterrassen erinnern oder an hängende Gärten, aber dazu müsste jemand die Fassade begrünen. Das ist aber bisher nur auf den Renderings der Fall. Kann sein, das kommt noch. Ines sagt den Namen des Hochhauses und schaut sehnsüchtig. Das hätte sie selbst gern gebaut. Aber, so fair muss man sein: Über die Kollegin sagt sie nur Gutes.
Die UNO-City ist inzwischen nur noch aus der Luft zu sehen, aber aus dieser Perspektive war sie ohnehin immer am schönsten.
Noch ist nicht alles Hochhaus in Wien. Noch ist alles da, wofür Wien berühmt ist, auch wenn alles enger geworden ist. Die Jugendstilhäuser, die Prachtbauten an der Ringstraße. Das Rathaus, das Parlament, die Hofburg, die Oper, das Belvedere, der Klimt, der Schiele, das MuQua, das Riesenrad, die Kaiserin, das Rechtsstehen auf der Rolltreppe, die Kaffeehäuser mit den grantigen Kellnern, das Einkaufen in der verkehrsberuhigten Mariahilferstraße … Wie sehr wir dagegen waren, haben wir sofort wieder vergessen. Die Welt geht unter, wenn da eine Fußgängerzone hinkommt. Ach, woher denn? Schau, wie gut sie funktioniert. Was noch? Schönbrunn, Otto Wagner, die Hofreitschule, die Ringstraße und der Park, in dem der vergoldete Strauss für uns fiedelt, dass es eine Freud ist. Über die Touris, die in Trauben davor stehen, lachen wir insgeheim.
Was noch? Zweistöckige Biedermeierhäuser. Mehrstöckige Altbauten mit oder ohne Lift. Der wehrhafte Karl-Marx-Hof und die vielen Gemeindebauten aus der gleichen Zeit. Die ersten Häuser mit Heizung und Fließwasser nicht nur für die Reichen.
In ihre Überlegungen platzt Sams Klingelton.
»Wo bist du?«
Wo ich bin? Mit dem Rad unterwegs, Stadt erleben, Baden gehen und jetzt gerade ein kurzer Boxenstopp mit Donaublick. Und ihr?
Stellt sich raus, Sam sitzt mit Ines in einem Lieblingslokal, auf einer Dachterrasse eines schicken Hotels zwischen Palais Auersperg und Volkstheater.
»Wir haben einen Sitzplatz und einen Cocktail für dich reserviert, komm schon, wo treibst du dich denn rum?«
Sam und Ines sind Melanies richtig gute Freundinnen, das Label »Besties« legt man mit den Jahren in die Schublade zu den Freundschaftsbändern. Aber nur das Label ist obsolet, die Freundschaft ist geblieben. Ohne die beiden wären die letzten Jahre für Melanie nicht auszuhalten gewesen.
»Gebt mir eine halbe Stunde, dann bin ich bei euch.«
Die Luft ist zum Kauen. Es ist Juni und schon klebt allen die Zunge am Asphalt. Vor dem Hochhaus mit Dachterrasse befindet sich ein Park. In einem Käfig spielen Leute Basketball. Den Soundtrack liefern Bluetoothboxen. Reggae, HipHop, der nach Berlin klingt, HipHop, der nach Wien klingt, warte nur, in einer Minute kommt wieder Aggrostakkato aus den Boxen. Neben der mehrspurigen Straße erinnert ein barockes Palais daran, dass Autos nicht immer schon das Stadtbild dominiert haben. Das Volkstheater und das Museumsquartier sind nicht weit.
Treffpunkt ist die Rooftopbar eines Hotels, dessen Entstehungsgeschichte Ines schon zu oft erzählt hat: geplant als Studentenheim, bis zur Fertigstellung der UNO-City als Bürogebäude zwischengenutzt. Heute ist es drei Stockwerke höher und ein Hotel. Die dreigeschossige Glasbox wurde auf die alte Substanz draufgesetzt, als das Heim noch im Vollbetrieb war. Melanie war damals Studentin oder sowas Ähnliches. Angst vor Prüfungen und Verzweiflung über Baulärm und Mindeststudienzeiten waren ihr fremd. Sie hatte ihre Hand am Unterarm von Vincent abgelegt, der führte sie durch ein anderes Wien: Business Lunches, Gartenpartys, bei denen Anzüge und Poloshirts über Geschäftliches sprechen, Jahre voller Access All Areas …
Damals hat sie Ines und Sam kennengelernt.
Schule des Lebens und so. Am besten nicht zu viel daran denken.
Da sitzen sie. Sam erzählt etwas. Alles an ihr ist in Bewegung. Wie still Ines sitzt, wenn sie konzentriert zuhört. Die Freundschaft zu den beiden hat nicht nur die Trennung von Vincent überlebt, sie fühlt sich trotz der vielen Jahre frisch an. Kühlend, wenn es überall zu heiß ist.
Als Sam Melanie sieht, springt sie auf. Sie strahlt über das ganze Gesicht und winkt mit den Armen, als wäre sie in Bergnot. Ihre Wangen sind rot. Ein Teil Hitze, ein Teil Alkohol, ein sehr großer Teil inneres Feuer. Sam hat so viel Sonne in sich, das reicht für drei Menschen. Sie ist das ultimative Party-Girl, was vielleicht nur heißt, dass sie auch dann gern tanzt, wenn sie keinen Alkohol getrunken hat.
Ines dagegen schaut aus wie immer. Eine Komposition aus gedeckten Farben und klaren Linien. Als hätte sie ein Kühlmodul eingebaut.
Melanie versucht nicht daran zu denken, wie oft heute schon Schweiß auf ihrer Haut getrocknet ist.
Sam erzählt Anekdoten aus ihrem Arbeitsalltag. Sie ist Tontechnikerin, selbstständig, gar nicht schlecht gebucht. Besonders bei Kongressen wird sie gerne ins Team geholt. Technisch ist das wenig anspruchsvoll, aber es ist besser bezahlt als das Mischen von Live-Musik. Mikro an, Mikro stumm schalten, Lautstärke regeln. Stellt sich raus: Je konservativer die Anzugträger sind, desto lieber haben sie's, wenn ihnen eine Frau das Headset am Kopf montiert und das Kabel an den Körper fummelt. Vor allem, wenn ein Kollege in der Nähe ist, von dem sie annehmen können, dass er die restliche Technik macht, was natürlich Bullshit ist. Aber es lohnt sich nicht, das aufzuklären. Wenn ihr wer wirklich blöd kommt, schraubt Sam dessen Stimme ein wenig Richtung Micky Maus. Falls das auffällt, bekommt den Ärger ja ohnehin einer der Kollegen, der nämlich, der nach Annahme des Anzugträgers die restliche Technik macht. Die Kollegen finden das meistens, so fair muss man sein, lustig.
Ines zieht die Augenbrauen hoch und macht eine Bewegung mit der Nase, aus der man in einem Animationsfilm einen Character Trait machen würde. Sie wedelt mit ihrem leeren Glas in Richtung Bar. Sie macht das nicht zum ersten Mal. Es dauert nicht lang und ein Schatten steht hinter Melanie. Ines bestellt das Gleiche wie vorher und zieht die Augenbrauen hoch, als der Kellner nachfragen muss. Sam bestellt irgendwas mit Sizilien im Namen. Melanie ärgert sich nur kurz darüber, dass sie die Getränkekarte am Smartphone laden muss. Sie entscheidet sich für einen »lick me till ice cream«, weil sie immer schon wissen wollte, ob Hafermilchschaum und Stoli Vodka zusammenpassen. Tun sie nicht. Der nächste Cocktail, beschließt Melanie, hat auch irgendwas mit Sizilien im Namen.
Melanie überlegt, ob sie fragen soll, ob sie Ines nach ihrem Mann Herbert fragen soll? Oder nach Lea und Alex. Aber Ines ist manchmal schwer einzuschätzen. Fragt man nach ihrer Familie, kann's passieren, dass sie genervt ist: »Eh lieb, dass du fragst, aber ich bin nicht nur Ehefrau und Mutter, weißt du?«
Fragt man nicht, kann's sein, dass sie von selbst anfängt: »Herbert, der euch allen übrigens liebe Grüße ausrichtet, ist ja übers Wochenende mit den Kindern in Bad Ischl.«
Klingt neutral? Denk dir den Blick dazu!
Heute freut sich Ines über die Frage. Herbert ist mit Alex und Lea übers Wochenende ins Salzkammergut gefahren. Herberts Familie hat dort nicht nur ein Haus und einen Garten. Dort ist alles um die Spur größer, die die Nachbarn neidisch macht. Das Haus ist eine Villa, der Garten fast schon ein Wald. Herbert und Ines, das Power Couple in der Kategorie »Zeig her, was du hast«.
Normalerweise verbringt Ines viele Wochenenden und einen Großteil der Sommermonate ebenfalls im Salzkammergut. Alex und Lea sollen beides kennen: das Land und die Stadt. In Österreich muss man nicht präzisieren, was gemeint ist, wenn man von der Stadt spricht. Es gibt nur eine. Außerhalb von Wien tut man so, als wäre das ein Witz. Es tut mir wirklich leid, wenn das Ihre Gefühle verletzt. Aber es ist wahr. Nach globalen Standards gibt es in Österreich nur eine Stadt. Nach globalen Standards hätten alle Menschen, die in Österreich leben, in einer einzigen Stadt Platz. Locker. Wie klein dieses Land ist, das vergessen wir manchmal so gern wie Teile unserer Geschichte.
Daumenregel: Jede Stadt in Deutschland, deren Namen du irgendwann schon mal gehört hast, ist größer als jede österreichische Stadt außer Wien. Und klar, Deutschland ist groß, aber es gibt Länder, die sind größer. Chinesische Städte, die mehr Einwohner haben als ganz Österreich und von denen du möglicherweise noch nie gehört hast: Chongqing, Chengdu, Guangzhou, Tianjin, Xi'an, Suzhou, Zhengzhou und irgendwann kommt dann auch Wuhan, aber von Wuhan haben wir in der Zwischenzeit mehr gehört, als uns lieb ist.
Das Bild ist schief und Melanie weiß das auch, aber: Neben Ines fühlt sie sich klein. Seit Vincent weg ist, ist sie geschrumpft. Seit Adele weg ist, fühlt sie sich wie amputiert, aber das hat mit Ines nichts zu tun. Wenn man Ines sieht, bekommt man Lust, daran zu glauben, dass nach dem Happy End einfach alles gut ist und gut bleibt. Ihre Ehe mit Herbert ist stabil, die Vermögensverhältnisse sind geordnet, die Kinder sind glücklich und gehen ans Telefon, wenn Mama anruft. Wenn Melanie Ines nicht so wahnsinnig gern hätte, würde sie sie hassen. Dass sie Ines so wahnsinnig gern hat, hat mit Sam fast so viel zu tun wie mit Ines.
Ines und Sam kennen sich schon immer. Sie sind wirklich aus Wien. Hier geboren und aufgewachsen. Echte Wiener Vorstadtgören. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein. Ines ist ehrgeizig und ergebnisorientiert. Sam ist Sam. Als Melanie nach Wien gezogen ist, hat sie vor allem Vincents Freunde kennengelernt. Wegen ihm ist sie ja schließlich auch hergezogen. Lauter Leute, die sich als Weltbürger verstehen, aber unbedingt unter sich bleiben wollen. Melanie kann sich nicht mehr erinnern, wer geschäftlich mit ihrem Ex zu tun gehabt hat: Ines oder ihr Mann. Jedenfalls wurde Melanie zu einer Gartenparty eingeladen, also, zusammen mit Vincent, aber der kannte ja jeden und blieb nicht allzu lang an ihrer Seite. Damals hat sie sich sicher gefühlt. Sie hat das Beste aus dem Nachmittag gemacht.
Sam war auch dort. Sam war bei diesem als Gartenfest getarnten Power Lunch ebenfalls ein Fremdkörper. Es ist selten, aber so etwas gibt es: ein Treffen und alles ist klar. Irgendwann stellte sich Ines dazu und wollte wissen, worüber die beiden so ausgelassen lachten.
Wenn Melanie mit Ines und Sam zusammensitzt, hat sie oft das Gefühl, einer Zeitreise beizuwohnen. Als könnte sie die beiden als Mädchen sehen: wie sie kaugummikauend ihre Hausaufgaben besprechen oder die Chancen, den Schummelzettel für die Schularbeit unbemerkt ins Klassenzimmer zu schmuggeln.
Gemeinsam in den Prater und dort Tagada fahren, bis das Taschengeld weg ist. Das Taschengeld ist schnell weg, was jetzt? Wie sie flüsternd besprechen, welches Lipgloss am besten schmeckt: Erdbeere oder Vanille. Zusammenhalten gegen alle, die ihnen blöd kommen. Nach der Schule ins Kaffeehaus. Kino ist teuer, aber in der Bücherei kann man DVDs ausleihen und dann schauen sie am Nachmittag Filme, bis sie das Gefühl haben, doch ein bisschen was von der Welt gesehen zu haben. Aber erst nachdem sie die Hausaufgaben gemacht haben. Irgendwann ist der DVD-Player kaputt und ohnehin gibt es später alles im Internet. Sam hat übrigens auch ein Faible für Horrorfilme. Ines ist froh, dass Sam mittlerweile jemand anderen gefunden hat, die sich mit ihr auf ein paar Schreckmomente verabredet. Insgesamt stimmt: Ines ist froh, dass Melanie Zeit mit Sam verbringt. Sam ist ihre Lebensfreundin, die Freundin für immer und ewig. Aber Ines ist mehr als das. Sie ist ein Workaholic und hat Familie. Sie will alles haben. Deshalb haben sie ja immer die Hausaufgaben gemacht, bevor sie DVDs geschaut haben oder abgehauen sind, in den Prater. Schon als Kind hat Ines gewusst, dass sie nur dann eine Chance hat, wenn sie sich keine Fehler erlaubt. Ihr Ziel: die Vorstadt hinter sich lassen. Den Aufstieg schaffen in ein echtes Leben mit echten Entscheidungen und echtem Spielraum.
Sam sagt, sie hat die Schule überhaupt nur geschafft, weil sie mit Ines befreundet war. Nicht, weil sie dumm ist, aber sie macht es gerne den anderen recht. Wenn ihre beste Freundin lieber Schule geschwänzt hätte, als Einser und Zweier zu schreiben, es wäre für Sam keine Frage gewesen, was wichtiger ist. Sam ist einer der loyalsten Menschen, die Melanie kennt.
Sam heißt nicht Sam. Sie heißt nicht mal Samantha, sondern Nadya. Mit circa zwölf hat Nadya alle damit überrascht, dass sie die Frage nach ihrem Traumtyp im Herr der Ringe ohne zu zögern mit Sam Gamdschie beantwortet hat. Alle anderen hatten einen Crush auf Aragorn oder Orlando Bloom. Doch Nadya blieb unbeirrt und hatte nur Augen für den loyalen Freund Frodos. Klar, in Sachen Kredit abzahlen, Müll rausbringen und die Mental Load gemeinsam schultern ist Sam Gamdschie die offensichtliche Wahl. Aber im Kriterienkatalog einer klassischen Präpubertät zählt das weniger als alles mit Hormonen. Dass ein paar der Mädels sie vor den anderen, vor allem vor den Jungs der Klasse, damit blamieren wollten, dass sie sie ein paar Wochen lang Sam gerufen haben, hat Nadya stoisch akzeptiert. Dann hat sie sich selbst so genannt.
Hat Sam diese frühe Weisheit zu Glück in der Liebe verholfen? Nein.
Stellt sich raus, Sam Gamdschie sexy finden und Sam Gamdschie im echten Leben erkennen: zwei Paar Schuhe. Von den drei Anwesenden ist Sam die ledigste.
Sam lungert auf der Outdoor-Couch rum, in der Hand ein Glas mit irgendwas Sprudelndem. Wir müssen uns wieder mal treffen, nur wir drei, schreibt Ines öfter und schickt gleich darauf einen Doodle-Link. Während der Pandemie haben sie das oft gemacht: online plaudern und bei Besinnung bleiben. Seit es wieder möglich ist, treffen sie sich im echten Leben, IRL, wie Sam das nennt. Sam ist plugged in as fuck. Sie ist ein Tech-Nerd und ein Fan von allem mit Kabeln und ohne Kabel. Trotzdem: echt ist echt. So sieht das Sam.
Wenn drei Frauen ohne männliche Begleitung Cocktails trinken, dauert es nicht lange, bis sich jemand dazustellt. Er hat Geld, bisschen Charisma und die Vorstellung, dass das reicht. Warum auch nachdenken über den ersten Satz? Bitte, nicht falsch verstehen, wenn man die Liebe seines Lebens trifft und so überfordert ist, dass irgendwas Peinliches aus dem Mund purzelt … das ist eine völlig andere Situation. Aber wenn man sich einfach breitbeinig zu Frauen stellt, die man nicht kennt, und dann kommt: »Na, Ladies, was feiert ihr denn heute so ausgelassen? Wer hat Geburtstag?«
Was erwartet man sich da? Applaus?
Ines mustert den Mann in einer Geschwindigkeit, die als Zeitlupe durchgeht, von oben bis unten. Dann hebt sie die Hand und winkt, so, dass man den Ehering sieht, Richtung Kellner. Mehr Cocktails, bitte!
»Komm schon«, sagt Sam, als der Kellner und der Mann mit dem Anmachspruch wieder außer Hörweite sind, was vor allem bei Zweiterem zu lange dauert, »sei nicht so streng, Ines! Der hätte irgendwann im Lauf des Abends etwas Lustiges gesagt!«
Dann lacht sie. Dreckig wie Donauwasser.
»Ich sag's euch. Dort draußen ist nur Wildnis. Wenn du Dates haben willst, brauchst du echt einen stabilen Magen und ein Survival Training. Ich weiß nicht, wie das alle anderen machen, aber ich bin aktuell noch drei Horrordates davon entfernt zu sagen: Ich lass es gut sein. Crazy Cat Lady ist auch eine Möglichkeit. Hab ich euch schon von Peter erzählt?«
»Ja eh«, sagt Ines, »Schatzi, erzähl uns nix von wegen Cat Lady. Du bist allergisch.«
»Es gibt Katzen, die sind antiallergen oder so.«
Melanie lacht und nickt. Sie weiß das. Sie hat in den letzten Jahren zu viel Zeit im Internet verbracht und dort gibt's jede Menge Cat Content.
»Hm«, sagt Ines, »was war mit Peter?«
Der Kellner bringt die bestellte Runde Cocktails.
Prost, Ladies, auf uns, aber zurück zu Peter. Der ist mit Zigarre zum Date gekommen, unangezündet natürlich, weil: Nichtraucherlokal. Dazu hat er eine Meinung und zu vielen anderen Sachen auch. Die hat er Sam alle mitgeteilt, ohne ihr eine einzige Frage zu stellen. Währenddessen hat er die Finger nicht wegbekommen vom fetten Stumpen und ihn das ganze Date lang massiert, als dächte er sehr intensiv an etwas anderes …
»Hast ein Foto?«, fragt Ines. Sam greift nach ihrem Handy. Sie zeigt Ines Peters Profil, die schaut mäßig beeindruckt. Die Geschichte ist typisch Sam. Melanie fragt sich manchmal, ob sie deshalb so viel datet, damit sie was zu erzählen hat. Ihre Erzählung verwebt sich mit Musikfetzen, vielstimmigen und lauten Prosts und Zurufen. Wochenende in Wien. Alles an Melanie entspannt sich. Der Tag war lang, ihre Muskeln sind müde. Ihr Herz ist in Sicherheit.
»Melli, Schluss mit Tagträumen. Wie schaut's bei dir aus?«
»Was meint ihr?«
»Na«, sagt Sam und macht eine ausschweifende Handbewegung, »ist es nicht langsam wieder an der Zeit, dass du dich umschaust, oder lässt du mich allein in der Wildnis?«
Ines lehnt sich in Melanies Richtung. Der Körper gespannt, der Blick wach. Ines und Sam kennen sich so lange, dass sie manchmal zeitgleich Gesichtsausdrücke aus ihrer Jugend heraufbeschwören. Wahlschwestern, ein Band, so unzerreißbar wie Gaffa Tape.
Aber lustig.
Seit Melanie Ines und Sam kennengelernt hat, ist nur Sam älter geworden. Nicht, dass Ines gar keine Falten hat. Aber es dürfen nur die bleiben, die vom Lachen kommen und die man zum Lachen braucht. Mit welchen Mitteln sie die anderen Falten bekämpft, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Offiziell sagt sie: aktives Leben, Schlaf, viel Wasser und gute Gene. Ach ja, und Jane Fonda ist eine Ikone. Inzwischen denken die Leute eher, dass Ines mit Melanie in die Schule gegangen ist, aber die ist, erstens, plusminus zehn Jahre jünger und lebte, zweitens, damals noch in der Steiermark.
»Komm schon, Melli, drifte nicht ab.«
Melanie hat nicht vergessen zu antworten, sie hat keine Lust darauf. Sam und Ines sind ihre richtig guten Freundinnen. Das heißt aber nicht, dass sie alles mit ihnen teilt. Wenn sie das Thema wechseln will, muss sie schnell sein. Sam akzeptiert fast alles: Widerspruch, schlechte Laune, Fahrstuhlmusik. Was sie nicht akzeptiert: wenn jemand sie ignoriert.
Was tun? Halbwahrheit oder Ablenkungsmanöver? Ausgerechnet der Typ von vorher erweist sich als hilfreich. Er ist zurück und zwar mit Verstärkung. Er stellt sich neben den Tisch und redet schon wieder einfach drauflos. Die Wangen rot, die Stimme laut. Was er sagt, ist genau genommen eine Beleidigung. Weil er so gar nicht nachgedacht hat. Komm schon, Junge, bei einem Motorrad achtest du doch auch auf den Spruch!
Sogar Sam, die schnell ein Lächeln für jemanden hat, schaut genervt.
»Was ist mit dir?«, fragt Ines ziemlich laut. »Wir haben klar gesagt, dass wir keine Lust auf das Gespräch mit dir haben.«
Er akzeptiert das nicht. Natürlich akzeptiert er das nicht.
»Warum seid ihr so garstig, Ladies? Wir wollen doch nur ein bisschen plaudern. Ist doch Feierabend, wir haben doch alle was zu feiern, oder nicht?«
»Was«, fragt der Wing Man des Wiederkehrers mit bedeutsamem Blick auf die Cocktails, »feiert ihr denn heute?«
Echt jetzt? Gleicher Spruch wie vorher? Weil es zwar wirklich viele Frauen auf der Welt gibt, aber ein Spruch für alle passt? Geh bitte! Melanie kann die Gedankenblase über Ines' Kopf fast schon sehen. Die wird jetzt laut. Auch ihre Körpersprache legt an Vehemenz zu: »Was wir feiern? Einen Abend ohne Leute wie euch.«
»Sorry«, sagt sie, als die Männer ans andere Ende des Balkons gehen, was länger dauert, weil die beiden das Abgewimmeltwerden als Spiel sehen und die Frauen wahrscheinlich als Burg, die man einnehmen muss … oder in Schutt und Asche legen. »Sorry fürs Lautwerden, aber ehrlich, ich pack's nicht, wenn einer einfach nicht checkt, wenn eine Nein sagt.«
Der Rest des Abends vergeht wie im Flug. Sam tanzt, natürlich tanzt Sam. Wenn Sam tanzt, tanzen alle, das ist so. Egal ob es eine Tanzfläche gibt. Man kann auch im Sitzen tanzen, man kann auch tanzen, wenn man an der Bar lehnt.
Ines spendiert einen Cocktail nach dem anderen. Melanie trinkt jetzt ebenfalls den Cocktail mit Sizilien im Namen. Er schmeckt wie Kurzurlaub. Wie Licht, das auf Wellen glitzert. Wie Wellen, die dich tragen, als wärst du schwerelos.
Melanie sollte Wasser bestellen. Der Zucker ihres Cocktails macht nichts besser, aber er schmeckt gut und er zündet den Turbo.
Ines unterbricht ihren Gedankengang: »Wie geht's eigentlich Theo?«
Theo ist Melanies Cousin, außerdem Surfer, Sportler, bei Geldmangel Hilfsarbeiter in der Gastro, Lebenskünstler und außerdem Alleinerbe von Melanies Kindheitswald im Murtal in der Steiermark. Abgesehen von Tante Renate ist er der Einzige in ihrer Familie, der zumindest zeitweise in Österreich wohnt.
»Genau«, sagt Sam, »wie geht's eigentlich Theo?«
Melanie zückt ihr Handy und zeigt die Fotos, die ihr Theo schickt: Sandstrand. Sonnenauf- und -untergänge. Brandung. Gegentlich ein Selfie.
»Gut«, sagt Melanie, »er ist in Portugal … Kennst ihn ja, ich weiß nicht, ob er vor dem Herbst zurückkommt. Das erinnert mich. Ich hab ihm versprochen, im Lauf des Sommers ein paar Mal auf der Alm vorbeizuschauen. Lust mitzukommen?«
»Sowieso«, sagt Sam und strahlt. Griff zum Handy, Kalender-App. »Jederzeit. Aber weißt eh, im Juli startet der Kultursommer! Da kann ich dann nur noch unter der Woche.«
Kultursommer, das gibt's in Wien seit ein paar Jahren … Ja, seit damals! Konzerte, Theater, Poetry Slams, Lesungen, Tanz … gratis für alle in Parks in ganz Wien. Tolle Sache. Für das Publikum. Und für Sam, die die Bühne in einem der Parks betreut und deshalb von Donnerstag bis Sonntag abends arbeitet. Berufsrisiko einer Tontechnikerin. Sam arbeitet oft, wenn andere Menschen Freizeit haben.
Ines winkt ab. »Bin eingespannt.«
Sie seufzt und verliert sich in ihren Gedanken.
»Was hast du vor?«, fragt Sam Melanie. »Geht's dieses Jahr endlich nach Neuseeland?«
Melanie schaut in die Ferne, als gäb's dort Flugtickets zu gewinnen.
»Nein, andersrum. Adele hat versprochen, nach Wien zu kommen. Anfang Juli starten die Ferien zwischen dem zweiten und dem dritten Term.«
In Neuseeland ist die Schulzeit in vier Semester unterteilt. Die langen Ferien sind in Neuseeland im Winter. Also, wenn bei uns Winter ist. In Neuseeland ist dann Sommer.
»Aber Vincent stellt sich quer. Es hängt von ihren Noten ab, sagt er auf einmal … Er hat ja nicht unrecht, es ist ihr letztes Jahr, ein guter Abschluss ist wichtig … aber … sie meldet sich grad nicht. Ich weiß auch nicht … Ich hab selbst schon wegen Flügen geschaut, aber wenn man so spät bucht, ist es einfach unfassbar teuer.«
Sam und Ines nicken.
Leben heißt manchmal kapitulieren und die Realität anerkennen. Nein. Leben heißt, die Realität Realität sein lassen und mit aller Kraft an etwas anderes denken.
Heute glitzert. Heute ist groß. Rad fahren, Schwimmen gehen und jetzt sitzt Melanie mit ihren heißen Freundinnen in der viel zu heißen Stadt. Sogar Ines hat Schweißtropfen auf ihrer Nasenspitze. Die Handbewegung, die sie zum Wegwischen braucht, tarnt sie mit einem Blick auf die Uhr. Dann erschrickt sie. Es ist später als gedacht. Der Abschiedsreigen beginnt.
»Ich muss. Bleibt ihr noch?«
Sam bleibt. Natürlich bleibt Sam. Manchmal fragt sich Melanie, wo Sam die Energie hernimmt.
Was mach ich, denkt Melanie. Es ist Wochenende und die U-Bahnen fahren die ganze Nacht. Was wartet daheim auf sie? Ein großes Loch, eine ganze Wohnung voll mit Adeles Abwesenheit.
»Kurz«, sagt Melanie, »ein bisschen bleib ich noch.«
Ines nickt überdeutlich. Ein bisschen lallt sie bei der Verabschiedung. Das kann passieren, wenn man Cocktails gegen den Durst trinkt. Ihre Umarmungen sind zu fest, ihre Stimme ein wenig zu laut.
»Mach nichts, was du mir nicht erzählen würdest …«
Das sagt Ines zu Sam. Beim Versuch, mit ihrem Finger Sams Nase anzustupsen, landet sie beinahe in Sams Auge.
»Du«, sagt Ines zu Melanie, »du …«
Dann sind Sam und Melanie zu zweit. Sam holt einen Fächer aus der Tasche, nicht nur wegen der Hitze, auch als Aufmerksamkeitssignal.
Plötzlich ist Melanie müde. Von einem Moment auf den anderen im Standby-Modus. Die Hitze liegt über der Stadt wie eine schwere Decke.
Sam wohnt quasi ums Eck. Zehn Minuten mit dem Rad, zwanzig zu Fuß, ihr Bus hält einen Block weiter. Für Taxi oder Uber ist der Weg zu kurz. Sam hat strenge Regeln: »Wenn der Fahrer nicht mal abbiegen muss, um mich heimzubringen, geh ich zu Fuß.« Ines wohnt noch näher, die ist wahrscheinlich schon daheim angekommen. Melanies Bett dagegen steht in einer Gegend, die in Wien manchmal mit Mordor verglichen wird. Schlimmer noch: Sie wohnt in einer Gegend, die oft mit gar nichts verglichen wird, weil man einfach auf sie vergisst. Über die Donau drüber. Leute, die lieb sind, nennen es Transdanubien.
Warum sie dort wohnt? Aus dem gleichen Grund, aus dem Adele in Neuseeland lebt. Wegen Vincent. Aber an den will Melanie jetzt nicht denken.
Sam kramt in ihrer Tasche. Am Nebentisch sitzen zwei Dudes, die sich trotz Feierlautstärke Videos am Handy zeigen. Die Kopfhörer, die Sam aus der Tasche zieht, sind rot, das Schild handgeschrieben. In Schönschrift handgeschrieben: »Stumm schalten oder rein ins Ohr.«
Ihr Lächeln, als sie die Kopfhörer auf den Nebentisch legt, sagt Melanie alles. Das ist keine Erziehungsmaßnahme, das ist Kontaktsuche. Melanie nuckelt an ihrem Cocktail. Sie wollte Wasser bestellen, aber das muss sie gar nicht. Im Glas ist nur noch Schmelzwasser mit Minze. Sie macht den Support-Act für Sam, bis sie das Gefühl hat, das Gespräch läuft. Sam mag die Dudes. Die Dudes sind okay, soweit man das beurteilen kann. Alles im grünen Bereich, abgesehen von Melanies Körper. Müdigkeit ist die kleine Schwester der Zufriedenheit.
»Ich schleich mich.«
Sam nickt. Als Melanie das Rad zur U-Bahn-Station geschoben und dort abgesperrt hat, findet sie schon ein Gruppenselfie von Sam mit ihren neuen Freunden im Chat.
Sam sagt gern, dass es nicht schwer ist, Leute kennenzulernen.
Das stimmt.
Es ist aber schwer, Leute kennenzulernen, die man wirklich mag.
Wie sie jetzt heimkommt? Mit den Öffis, wie sonst? Ihre U-Bahn fährt endlich wieder. Drei Jahre hat die Sanierung der Stammstrecke der U2 zwischen Schottentor und Karlsplatz gedauert. Das war ein ganzes Jahr länger als angekündigt und hat Melanie hart getroffen. Wann die Verlängerung fertig wird? Wer weiß. Melanie ist schon froh, dass ihr täglicher Weg in die Arbeit oder in die Innenstadt nicht mehr doppelt so lang dauert. Quality Time, so kann man sich's schönreden. Nie im Leben hätte Melanie so viele Podcasts gehört, wenn sie nicht die ganze Zeit in der U-Bahn gesessen wäre.
Das Licht in U-Bahn-Stationen hat einen Gelbstich. Nachtfalterneongelb. Die Leute in der U-Bahn haben Sorgen oder Probleme, manche haben auch ein Problem mit dir. Melanie hat Glanz in sich, fast zerreißt es sie. Aber auch Schatten. Ihre Sehnsucht nach Adele tut bis in die Knochen weh. War die Entscheidung damals falsch? Sie wollte für Adele nur das Beste.
Wir sind besessen von der Idee, das alles gut wird, vorausgesetzt, wir erlauben uns keine Fehler. Wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen, uns gut genug auf alles vorbereiten, kurz gesagt, das richtige Mindset haben. Als könnte man Glück einfach aus dem Universum runterladen. Als hätten wir es in der Hand. Als gäbe es einen Cheat Sheet fürs Leben.
Es ist schiefgegangen, aber ehrlich gesagt: nicht sehr.
Ja, Melanie sehnt sich mit jeder Zelle ihres Körpers nach ihrer Tochter. Doch wichtiger ist etwas anderes. Adele ist in Sicherheit. Adele geht es gut, murmelt Melanie. Ein Mantra, und zwar ein mächtiges.
Vierzig Minuten später fällt die Haustür hinter Melanie zu und macht ein Geräusch, als wäre die Welt weggebeamt. Kein Licht im Gang, aber das Schlüsselloch findet Melanie auch im Dunkeln. Melanie legt den Schlüssel auf das Kasterl im Vorzimmer. Neben dem Spiegel hängt ein gipserner Handabdruck von Adele, ein in die Jahre gekommenes Muttertagsgeschenk. Daneben hängen Bilder: Adele als Baby, Adele als Kleinkind, Adele, die wächst und wächst und wächst. Adele mit Melanie, Adele mit Ines und Sam. Beim Baden, beim Skifahren, im Flugzeug, vor dem Stephansdom, beim Cheerleaden, beim Reiten, Adele, die süß schaut und ihr Handy in der Hand hat. Der Schnappschuss lässt offen, ob ihr cuter Blick dem Handy oder der Fotografin gilt. Adele auf Theos Alm. Zwischen den Fotos gibt es eine Leerstelle. Dort ist Platz für ein Foto von Adele mit Vincent und Ursula, das Adele sehr liebt. Aber warum soll Melanie sich mit einem Foto von ihrem Ex und seiner Mutter bestrafen, wenn Adele einen ganzen Flugtag entfernt lebt?
Wenn Melanie jetzt weiter darüber nachdenkt, dann kann sie das Schlafen wieder mal vergessen. Das Gleiche gilt für: Handy in die Hand nehmen und Nachrichten checken. Sie schiebt den Gedanken an Adele im Kopf ganz nach hinten.
Melanie lässt sich nicht unterkriegen. Nicht von der Welt, nicht von Vincent. Nicht von Adeles Abwesenheit. Nicht von sich selbst. Nicht von dem, was sie sieht, wenn sie in den Spiegel schaut: Alles wie immer, nur müder als in den Jahren davor. Ein Geburtstag schleicht sich an, ein runder. Vier Null. Überhaupt keine Lust drauf. Sie wäscht sich sehr gründlich die Hände mit Seife und heißem Wasser, das Gesicht mit kaltem. Dann schaut sie in den Spiegel, kartografiert, was dort zu sehen ist, und erfindet ein Totemtier. Eine Gefährtin für Lebenswege. Ein Tier mit einer Superkraft, die sich mit ein bisschen Glück auf Melanie überträgt. Donaukanalkarpfen oder Bisambergratte oder Ameise. Aber sicher keine Heuschrecke, weil die gehört Vincent und der gehört jetzt echt nicht hierher, nicht mal in Gedanken.
Das Problem ist, dass man's sehen kann. Leben ist keine Bilanzbuchhaltung, okay. Vielleicht ein Nullsummenspiel, wenn stimmt, was über das Universum gesagt wird: Nichts geht verloren, alles verwandelt sich. Ameisen ist das egal. Ameisen wissen, was auf dem Spiel steht. Es gibt Ameisen, die klammern sich bei Flut zu einem Knäuel zusammen und bauen aus den Körpern der Gruppe ein Floß, das monatelang im Wasser treiben kann. Es gibt Ameisen, die beißen sich bei schweren Verletzungen sogar ein Bein ab, um Wundbrand zu verhindern. Grashüpfermäuse sind immun gegen das Gift von Skorpionen und fressen den Endgegner zum Frühstück. Nacktmulle reagieren nicht auf den Kontakt mit Säure. Dann gibt's noch Sparklemuffins. Das sind winzige Spinnen aus der Familie der Pfauenspinnen. Die sind so außergewöhnlich süß, dass sie Spitznamen bekommen: Skeletus oder Sparklemuffin. Sparklemuffins leben in Australien und das ist gleich neben Neuseeland. Der Gedanke an Sparklemuffins macht Melanie froh. Weil Australien ganz in der Nähe von Adele ist. Weil die Menschheit noch gar nicht lange weiß, dass es Sparklemuffins überhaupt gibt. Weil die Welt groß ist und voller Überraschungen. Manche dieser Überraschungen sind bunt und man wird ganz vergnügt, wenn man ihnen beim Balzen zuschaut. Dann denkt Melanie daran, wie weit weg Australien ist, und das ganze Froh zerplatzt. Nimm jetzt bloß nicht das Handy in die Hand und schau nach, was Adele von sich herzeigt. Schlafen, das hat Melanie in den letzten Jahren gelernt, funktioniert nur, wenn sie sich an das selbstauferlegte Handyverbot hält.
Der Körper kribbelt und auch sonst steht alles auf Unruhe, aber irgendwann liegt Melanie im Bett und nochmal später schläft sie vielleicht auch ein.
Aber dann kann Melanie doch nicht schlafen. Zweimal googelt sie Erdbeben und Auckland, zweimal mit demselben Ergebnis. Was sie nicht schlafen lässt, ist keine Vorahnung. Was sie nicht schlafen lässt, ist ihr Selbstgespräch, das sich immer im Kreis dreht.
Mach die Tür auf. Zünde eine Kerze an, nein, zwei, eine, die Mut macht, und eine, die Mücken vertreibt. Mach's dir gemütlich. Halte still. Nimm den Deckel runter. Schau nach, was brodelt. Bleib in Bewegung. Mach dich bereit. Acht Milliarden zweihundertsechsundsiebzig Millionen neunundachtzigtausendachthundertzwanzig Menschen. Und alle stehen zwischen hier und Adele.
Mach deine Hausaufgaben. Mach die Augen auf. Mach deinen Job. Mach, was du tun musst. Mach keinen Müll. Bau keinen Mist. Mach dich nützlich. Fall nicht zur Last. Fall nicht unangenehm auf. Mach dich sichtbar. Verschaff dir Gehör. Erfüll deine Aufgaben. Träum weiter. Trau dich. Sei das fehlende Puzzleteil. Füg dich ein. Verbieg dich nicht. Acht Milliarden zweihundertsechsundsiebzig Millionen neunundachtzigtausendachthundertzwanzig Menschen, davon zwei Millionen fünftausendsiebenhundertsechzig in Wien.
Mach eine Pause. Brenn nicht aus. Brenn für etwas. Koch dein eigenes Süppchen. Back dein Brot selbst. Mach Sport. Schütz dich vor Sonnenbrand. Versichere deine Werte. Bekämpf die Problemzonen. Hast du einen Traum? Wach auf! Gib mir dein Geld. Gib mir deine Zeit. Gib mir deine Aufmerksamkeit. Gib mir deine Energie. Gib mir deine Primetime. Acht Milliarden zweihundertsechsundsiebzig Millionen neunundachtzigtausendachthundertzwanzig Menschen, eine Million vierhundertvierzigtausenddreihundert davon in Auckland.
Hier irgendwo versteckt sich eine Lektion fürs Leben. Such den Durchblick. Such Ostereier. Such dich selbst. Hast du deine Träume upgedatet?
Die Welt ist so groß, man bekommt Kopfweh beim Drübernachdenken. Sie ist so groß, sie könnte alles sein. Eine Kugel, ein Geoid, eine Matrix, innen hohl … Wer will sich da schon festlegen. Hartnäckig hält sich das Gerücht, sie wäre flach, abgesehen von den Alpen und ein paar anderen Ausbuchtungen nach oben und unten. Kurzer Blick ins Internet genügt: Für die Realität haben wir zu wenig Vorstellungskraft. Die Welt ist uns ein paar Schuhnummern zu groß. Trotzdem glauben wir, wir könnten ihr mit unserem Hausverstand beikommen. Als hätten wir Kontrolle über die Welt, über uns und über unseren Platz in ihr. Wenn man in diese Richtung weiterdenkt, bekommt man Tunnelblick und kurz darauf atmest du in ein Papiersackerl.
Schau dich um, es geht doch! So schlecht ist es doch gar nicht. Die Luft kann man atmen, im Kühlschrank ist was zum Essen, auf dem Konto liegt ein wenig Geld, auch wenn es in atemberaubendem Tempo weniger wert wird.
Du fühlst dich allein?
Greif zum Telefon oder stöpsel dich ein.
Doch die Frage muss doch erlaubt sein: Wenn alles ohnehin so toll ist, so ein leiwandes Life, warum ist es dann so scheiße schwer, alles unter einen Hut zu bringen?
Das Geld!
Den Körper!
Das Umfeld!
Die Sehnsucht!
Die Daueraufträge am Konto, die Rechnungen im Briefkasten und in der Mailbox!
Die Stadt wird enger, da kann sie noch so oft lebenswerteste Stadt der Welt werden. Vielleicht stimmen die Rankings. Vielleicht lügt hier niemand. Aber für wen geht die Rechnung auf? Für wen wird gerechnet? Für alle oder für Männer wie Vincent, für Menschen, die bei einem internationalen Konzern arbeiten und sich um nichts und niemanden kümmern müssen, außer um sich selbst, das Erklimmen von Karriereleitern und das Erzielen von Gewinn.
Melanie kennt den Typ. Sie hat ein Kind mit ihm. Das Kind ist auf dieser viel zu großen Welt viel zu weit weg.
Die Chefin ist krank, was Fluch und Segen zugleich ist.
Fluch: Melanie muss den Dienst alleine stemmen.
Segen: Die Chefin ist nicht da.
Dabei ist die Chefin ein Glücksfall. Nicht nur, weil sie Melanie einen Job gegeben hat, als die dringend einen brauchte. Melanie denkt nicht gern daran, wie pleite sie war, nachdem Vincent sie verlassen hat. Sie denkt lieber an den Job, den sie damals gefunden hat. Das Lokal war für Brunch und Mittagstisch bekannt. Alles bio, zentral gelegen in der Nähe eines Ministeriums. Am Abend gab's oft eine DJ-Line für die Afterwork-Crowd. Melanie hat sich dort wohlgefühlt. Aber der Chef war politisch schlecht vernetzt und hat sie beim ersten Lockdown sofort gekündigt, bevor bekannt wurde, dass die Regierung Gelder zur Verfügung stellen würde. Koste es, was es wolle. Zwar hat er versucht, die Kündigung rückgängig zu machen, aber Melanie hat es ihm, bei allem Verständnis, nie ganz verziehen. Ines hat sie da rausgeholt. Sie hat wieder mal von ihrer Arbeit erzählt. Eine Freundin baut ein Hotel um. Melanie war sofort Feuer und Flamme. Nicht nur, weil das Hotel wie Melanies Tochter heißt: Hotel Adele.
Melanie hat sich schon beim Vorstellungsgespräch in die Chefin verliebt. Sie ist höflich, empathisch, begeisterungsfähig, sagt »Bitte« und »Danke« auch zu ihren Mitarbeiterinnen und ist mit allen auf eine Art per Du, dass Melanie fast schon vergessen hat, dass sie Claudia heißt, und sie nur noch die Chefin nennt. Sonst kann's zu leicht passieren, dass sie auf die Hierarchie vergisst. Auch die netteste Chefin der Welt musst du fragen, ob du Urlaub haben kannst. Du musst ihr auch auf eine andere Art Bescheid geben, wenn du krank bist, als du es Sam oder Ines erzählst. Scheißischeiß, was is auf Netflix, Nase rinnt wie die Donau bei Hochwasser, das ist keine ärztliche Bestätigung.
Auch die beste Chefin hat Eigenarten, die alle in den Wahnsinn treiben. Sie kommentiert ihre Tätigkeiten. Laufend und unablässig murmelt sie vor sich hin, als wäre sie ihr eigenes Voice-over
