Wasser und Zeit - Andri Snaer Magnason - E-Book

Wasser und Zeit E-Book

Andri Snaer Magnason

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Beschreibung

Alle Welt spricht von Corona, wir sollten dabei den Klimaschutz nicht vergessen. Die Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt. Das Leben auf der Erde wird sich grundlegend ändern, sagt der Isländer Andri Snær Magnason und blickt zurück auf das naturverbundene Leben seiner Vorfahren. Er denkt an seine Enkel und Urenkel und fragt sich, was wir tun können, damit ihre Welt lebenswert bleibt. Sein wissenschaftlich fundiertes, geschichten- und anekdotenreiches Buch ist ein mitreißender und dringender Appell an uns alle.

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Seitenzahl: 337

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Andri Snær Magnason

Wasser und Zeit

Eine Geschichte unserer Zukunft

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Insel Verlag

Dieses Buch widme ich meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln.

Du schützt nur das, was du liebst, du liebst nur das, was du kennst. Du kennst nur das, was man dich lehrt.

Guðmundur Páll Ólafsson

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Motto

Inhalt

Mögest du in interessanten Zeiten leben

Eine kleine Kostbarkeit

Ein Gespräch über die Zukunft

Dias

Gottes stillegeschwängerte Kosmosweite

Schreibblockade

Erzählen Sie Geschichten!

Wörter, die wir nicht verstehen

Die Suche nach der heiligen Kuh

Besuch von einem heiligen Mann

Offenbarung von einem falschen Gott

Zeitreise in die Vergangenheit

Krokodilträume

Eine Mythologie für die Gegenwart

N64 35.378, W16 44.691

Die Gletscher der Welt

Abschied von einem weißen Riesen

Deus Ex Dampfmaschine

Noch ein paar Worte

Das Meer so blau

Vielleicht wird alles gut

Interview mit dem Dalai Lama in seinem Gästezimmer in Dharamsala

Am milchigen Fluss

Crocodylus thorbjarnarsoni

2050

Ein Gespräch über die Zukunft

Quellenangaben

Bildnachweis

Danksagung

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Mögest du in interessanten Zeiten leben

»Achte das, was du beachtest.«

Þorvaldur Þorsteinsson

Wenn ich ausländische Gäste habe, fahre ich manchmal mit ihnen über die Borgartún in Reykjavík und erzähle, diese Straße sei der Boulevard der zerbrochenen Träume. Ich zeige ihnen das Höfði-Haus, das große weiße Holzhaus, in dem sich Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1986 trafen, ein Ereignis, das für viele das Ende des Kommunismus und den Fall des Eisernen Vorhangs markiert. Das nächstgelegene Gebäude ist ein schwarzer Klotz aus Marmor und Glas, in dem sich früher der Hauptsitz der Kaupþing-Bank befand. Als die Bank 2008 zusammenbrach, war das die viertgrößte Insolvenz in der Geschichte des Kapitalismus – nicht pro Kopf der isländischen Bevölkerung, sondern in Dollar: 20 000 Millionen. Zwanzig Billionen Dollar.1

Ich empfinde keine Schadenfreude über das Unglück anderer, aber es ist schon erstaunlich, gerade einmal in der Lebensmitte angekommen zu sein und bereits den Zusammenbruch zweier gigantischer Weltanschauungen erlebt zu haben. Beide Systeme wurden von Leuten gestützt, die den Gipfel des Establishments erreicht hatten und wegen ihrer Stellung an der Spitze der Pyramide entsprechend angesehen waren. Tief in ihren Systemen verankert, wahrten sie den Schein bis zum letzten Tag. Am 19. Januar 1989 sagte Erich Honecker: »Die Mauer wird in fünfzig und auch in hundert Jahren noch bestehen bleiben.« Die Berliner Mauer fiel im November desselben Jahres. Der Präsident von Kaupþing beteuerte in einem Interview im TV-Nachrichtenmagazin Kastljós am 6. Oktober 2008, nachdem seine Bank von der Isländischen Zentralbank einen Notkredit erhalten hatte: »Wir stehen sehr gut da, und die Zentralbank wird ihr Geld mit Sicherheit zurückbekommen (…) Das kann ich, ohne rot zu werden, sagen.« Drei Tage später war die Kaupþing-Bank pleite.

Wenn ein System zusammenbricht, befreit sich die Sprache aus ihren Fesseln. Wörter, die eigentlich die Realität beschreiben sollten, schweben frei in der Luft und sind nicht mehr zutreffend. Lehrbücher werden über Nacht obsolet, und Rangordnungen verschieben sich. Auf einmal fällt es den Menschen schwer, Wörter und Begriffe zu finden, die ihrer Realität entsprechen.

Zwischen dem Höfði-Haus und dem Hauptsitz der Bank befindet sich eine Rasenfläche mit einem kümmerlichen Wäldchen, sechs Fichten und ein paar verdorrte Wollweide-Sträucher. Ich legte mich auf die Wiese zwischen den Gebäuden, blickte in den Himmel und überlegte, welches System wohl als Nächstes zusammenbrechen würde und welche große Vision darauf folgen könnte.

Wissenschaftler haben uns aufgezeigt, dass die Grundlage unseres Lebens, die Erde selbst, kollabiert. Die wesentlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts betrachteten die Erde und die Natur als billigen, unbegrenzten Rohstoff. Man dachte, die Erdatmosphäre könne endlos Emissionen aufnehmen, das Meer könne endlos Müll aufnehmen, die Böden könnten durch mehr Dünger endlos Erträge liefern, die Tiere könnten endlos weiterziehen, während der Mensch sich immer mehr Lebensraum nimmt.

Wenn sich die Prognosen der Wissenschaftler über die Zukunft der Ozeane, der Atmosphäre und der Wettersysteme, über die Zukunft der Gletscher und Küstenregionen als richtig erweisen, müssen wir uns fragen, welche Wörter Themen einer solchen Größenordnung erfassen können. Welche Welterklärung kann das bewältigen? Was soll ich lesen? Milton Friedman, Konfuzius, Karl Marx, die Offenbarung des Johannes, den Koran oder die Veden? Wie lassen sich unsere Begehrlichkeiten zügeln, unser Konsum und unsere Profitgier, die das Biosystem der Erde allen Messungen zufolge bezwingen werden?

Man kann sagen, dieses Buch handelt von »Wasser und Zeit«. In den nächsten hundert Jahren wird sich der Zustand des Wassers auf der Erde grundlegend verändern. Die meisten Gletscher außerhalb der Pole werden beträchtlich schmelzen, der Meeresspiegel wird steigen, die Erdtemperatur wird sich erhöhen, begleitet von Dürren und Überflutungen, und der pH-Wert des Ozeans wird sich stärker verändern als in den letzten 50 Millionen Jahren. All dies wird sich während der Lebenszeit eines Kindes abspielen, das heute auf die Welt kommt und wie meine Großmutter 95 Jahre alt wird.

Die größten Kräfte der Erde haben die geologische Zeitskala verlassen und verändern sich nun auf einer menschlichen Skala. Veränderungen, die bislang hunderttausend Jahre brauchten, geschehen jetzt in hundert Jahren. Ein solches Tempo ist sagenhaft; es betrifft das gesamte Leben auf der Erde und die Grundfesten all dessen, was wir denken, entscheiden, produzieren und glauben. Es betrifft alle, die wir kennen, und alle, die wir lieben. Die Veränderungen, denen wir gegenüberstehen, sind komplexer als die meisten Dinge, mit denen wir uns normalerweise beschäftigen. Sie übersteigen all unsere bisherigen Erfahrungen, sie übersteigen die Sprache und die Metaphern, die wir benutzen, um unsere Realität zu verstehen.

Es ist, als würden wir versuchen, den Lärm eines Vulkanausbruchs aufzuzeichnen. Bei den meisten Geräten bricht das Geräusch in einer bestimmten Frequenz, und man hört nur noch ein Rauschen. Für viele Leute ist das Wort »Klimawandel« ein solches Rauschen. Da ist es einfacher, zu kleineren Themen eine Meinung zu haben. Wir verstehen, wenn etwas Wertvolles zerstört wird, wenn ein Tier erschossen wird oder ein Bauprojekt sich als zu teuer entpuppt. Aber bei einer so unendlich großen und heiligen Sache, die dazu noch die Grundlage unseres Lebens ist, reagieren wir nicht angemessen. Als könnte unser Gehirn ein solches Ausmaß nicht erfassen.

Das Rauschen narrt uns. Wir sehen Überschriften und glauben, die Wörter zu verstehen: »Gletscherschmelze«, »Rekordhitze«, »Versauerung der Meere«, »Treibhauseffekt«. Wenn die Wissenschaftler recht haben, bezeichnen diese Wörter etwas sehr Ernstes, etwas, das in der Menschheitsgeschichte noch nicht passiert ist. Wenn wir sie gänzlich verstehen würden, hätten sie unmittelbaren Einfluss auf unser Verhalten und unsere Entscheidungen. Doch 99 Prozent der Bedeutung dieser Wörter scheinen in dem Rauschen unterzugehen.

Vielleicht ist Rauschen nicht die richtige Metapher, denn das Phänomen ähnelt eher einem schwarzen Loch. Kein Wissenschaftler hat je ein schwarzes Loch, das die millionenfache Sonnenmasse haben und Licht komplett verschlucken kann, gesehen. Schwarze Löcher kann man nur ausmachen, indem man an ihnen vorbeischaut, auf nahe gelegene Nebelflecken und Sterne. Bei Themen, die das gesamte Wasser auf der Erde, die gesamte Erdoberfläche und die gesamte Atmosphäre betreffen, erreicht man eine Dimension, die jegliche Bedeutung aufsaugt. Über ein solches Thema kann man nur schreiben, wenn man dahinter, daneben und darunter schaut, in die Vergangenheit und die Zukunft blickt, sich ihm persönlich, aber auch wissenschaftlich annähert und die Sprache der Mythologie benutzt. Ich muss über die Dinge schreiben, indem ich nicht über sie schreibe. Ich muss rückwärtsgehen, um vorwärtszukommen.

Wir leben in einer Zeit, in der sich das Denken und die Sprache von ideologischen Fesseln befreien. Wir leben in der Zeit des chinesischen Fluchs, dessen Herkunft nicht eindeutig belegt ist, der aber gleichwohl zutrifft: »Mögest du in interessanten Zeiten leben.«

Eine kleine Kostbarkeit

Im Sommer 1997, nach meinem Abschluss an der Universität Islands, arbeitete ich im Kellergeschoss des Árni-Magnússon-Instituts für Isländische Studien. Das Institut befand sich hinter einer verschlossenen Tür in der geisteswissenschaftlichen Fakultät, und aus unerfindlichen Gründen war ich in all den Jahren, in denen ich in dem Gebäude studiert hatte, noch nie durch diese Tür gegangen. Es war eine geheimnisvolle Schwelle, eine Art Elfenfelsen: Ich hatte Geschichten von Leuten gehört, die in dieser Welt verschwunden und nie wieder aufgetaucht waren. Dort wurden die mittelalterlichen isländischen Handschriften aufbewahrt, und die Wissenschaftler brauchten Ruhe und Zeit, um diese Schätze zu erforschen. Die Türklingel war so schrill, dass sie mir wie ein Feueralarm vorkam. Ich traute mich nicht, auf den Knopf zu drücken, bis ich eines Tages das brennende Verlangen hatte, zu sehen, was sich dort drinnen befand. Ich klingelte und wurde hereingebeten.

Es war ruhig und dämmrig und roch nach alten Büchern, eine überwältigende Stille für einen jungen Mann, und ich fühlte mich ein bisschen fehl am Platz. Ich war umgeben von Handschriftenforschern, die teilweise so alt waren wie meine Großeltern. Meine Bedeutungslosigkeit wurde mir schlagartig bewusst, als in der Kaffeeküche darüber spekuliert wurde, ob Þorvaldur im Sommer 86 im Skagafjörður gewesen sei. Ich wusste nicht, ob sie von 1186, 1586 oder 1986 sprachen. Meine Angst, als unbelesen zu gelten, verstärkte sich noch durch meine Glossophobie – ich hatte das Gefühl, mich gleichzeitig (oder sagte man zugleich?) dumm und ungrammatisch auszudrücken.

Ich hatte im Sommer sonst immer draußen gearbeitet, Pflastersteine gelegt oder gegärtnert, und pflegte Büromenschen für ihre Unfreiheit zu bemitleiden. Jetzt beobachtete ich manchmal durchs Fenster meine leicht bekleideten Altersgenossen, die auf dem Campus Gras mähten, und meine Gedanken schweiften ab, in die große weite Welt hinaus. John Thorbjarnarson, mein Onkel mütterlicherseits, war Biologe und hatte mich eingeladen, ihn zu begleiten, um in den venezolanischen Mangrovenwäldern Anakondas zu erforschen und anschließend mit einer anderen Gruppe im Mamirauá Reservat im brasilianischen Amazonas-Regenwald Krokodileier zu zählen. Er leitete dort ein Forschungsteam zum Schutz des Schwarzen Kaimans, Melanosuchus niger, das größte Raubtier Südamerikas.2 Da der Wasserstand in dem Flutwald jährlich um bis zu zehn Meter schwankt, sollten wir in schwimmenden Häusern wohnen. John beschrieb mir das so: »Man kann sich nicht beschweren, wenn man morgens von den Geräuschen der Delphine aufwacht, die direkt vor der eigenen Haustür jagen.«

Zur selben Zeit stellte sich jedoch heraus, dass meine Freundin Margrét und ich unser erstes Kind erwarteten, weshalb es ziemlich unverantwortlich von mir gewesen wäre, mich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Man könnte also sagen, in meinem Leben wurden die Weichen gestellt. Der Zug fuhr ohne mich nach Venezuela und zum Amazonas, während ich mich in einer Art Warteschleife befand, unsicher, ob mir die ernsthafte Forschung und das einsame Schreiben lägen.

Eines Tages wurde ich gebeten, eine Handschriftenausstellung in einem kleinen Ausstellungsraum im oberen Stockwerk zu beaufsichtigen. Gísli Sigurðsson, der Handschriftenforscher, der für die Ausstellung zuständig war, forderte mich auf, ihm zu einer massiven Stahltür im Keller zu folgen. Dort holte er drei Schlüssel heraus, und ich war ganz ergriffen, als er die Tür zum Handschriftenarchiv aufschloss, dem ehrwürdigen Herz der isländischen Kulturgeschichte. Ich war umgeben von uralten Schätzen: Pergamenthandschriften, von denen die ältesten um 1100 geschrieben waren und Ereignisse aus grauer Vorzeit schilderten, Originalhandschriften der Isländersagas, Rittersagas, Königssagas und steinalte Gesetzesbücher. Gísli ging zu einem Regal und öffnete eine Schachtel. Er nahm eine kleine Handschrift heraus und reichte sie mir vorsichtig.

»Was ist das für ein Buch?«, flüsterte ich.

Ich weiß nicht, warum ich flüsterte. Ich fand es einfach passend, in diesem Raum zu flüstern.

»Das ist der Codex Regius. Konungsbók, das Königsbuch mit der Lieder-Edda.«

Meine Knie wurden weich, ich war hin und weg. Der Codex Regius ist die größte Kostbarkeit in ganz Island, vielleicht sogar in ganz Nordeuropa, die zweitwichtigste Quelle der nordischen Mythologie, die älteste Handschrift der Gedichte Völuspá, Hávamál und Þrymskviða. Eine große Inspiration für Wagner, Borges und Tolkien. Ich kam mir vor, als hätte ich den leibhaftigen Elvis Presley im Arm.

Die Handschrift selbst war unscheinbar. Angesichts ihres Inhalts und ihrer Bedeutung hätte sie vergoldet und prunkvoll sein müssen, aber in Wirklichkeit war sie klein und dunkel, fast wie ein Zauberbüchlein. Sie war uralt, aber nicht verschrumpelt, ein wunderschönes braunes Pergament mit einer schlichten, deutlichen Schrift, fast ohne Illustrationen, bis auf ein paar wenige Versalien – der älteste Beweis dafür, dass man ein Buch nie nach seinem Einband beurteilen soll.

Der Handschriftenforscher öffnete das Buch behutsam und zeigte mir ein deutliches S in der Mitte einer Seite. »Lies mal!«, forderte er mich auf. Ich nahm die Schrift in Augenschein und konnte tatsächlich weiterlesen: »Die Sonne verdunkelt sich, das Land versinkt im Meer, vom Himmel stürzen die hellen Sterne; es wüten Feuer und Rauch, große Hitze steigt selbst bis zum Himmel empor.«3

Ein Schauer lief mir über den Rücken: Das war Ragnarök, der Weltuntergang, wie er in der Originalhandschrift der Völuspá beschrieben wird. Die Sätze standen hintereinander, nicht in Gedichtzeilen unterteilt wie in allen gedruckten Ausgaben. Ich stand in direktem Kontakt mit jemandem, der diese Worte vor über 700 Jahren niedergeschrieben hatte. Ich reagierte hypersensibel auf meine Umgebung, hatte Angst zu husten oder zu stolpern und bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich in unmittelbarer Nähe des Buches atmete. Vielleicht war das übertrieben; immerhin hatte die Handschrift sieben Jahrhunderte in feuchten Torfhäusern herumgelegen, war in Truhen auf dem Pferderücken über schwellende Flüsse transportiert und 1662 als Geschenk für König Frederik III. mit dem Segelschiff nach Dänemark gebracht worden. Mich überkam ein überwältigendes Empfinden für die Zeit. Ich sprach fast dieselbe Sprache wie die Person, die das Manuskript geschrieben hatte. Würde es weitere siebenhundert Jahre überstehen? Bis zum Jahr 2700? Würden unsere Sprache und unsere Zivilisation dann noch existieren?

Der Homo sapiens hat nicht viele seiner alten Weltanschauungen derart gut erhalten: Vorstellungen von jenen Mächten und Göttern, die die Geschicke lenken, vom Anfang und vom Ende der Welt. Wir haben griechische, römische, ägyptische und buddhistische Weltbilder. Wir haben die Weltbilder der Hindus, der Christen und Fragmente des Weltbilds der Azteken. Die nordische Mythologie ist eines dieser Weltbilder, und deshalb ist das Konungsbók sogar wichtiger als die Mona Lisa. Das meiste, was wir über die nordischen Götter, über Walhall und Ragnarök wissen, stammt aus diesem Buch. Das Manuskript ist eine unerschöpfliche Quelle und Inspiration für die Künste: Moderne Tanzstücke beziehen sich darauf, Death-Metal-Bands und selbst Hollywood-Blockbuster wie Thor von Marvel Comics, in dem Thor und sein Freund Hulk es mit dem heimtückischen Loki, dem Riesen Surt und dem schrecklichen Fenriswolf aufnehmen.

Ich legte das Manuskript in einen kleinen Warenaufzug, schickte es in den oberen Stock und hastete die enge Wendeltreppe hinauf, um es in Empfang zu nehmen. Dann hob ich es vorsichtig auf ein Wägelchen und schob es, wie ein empfindliches Frühchen, durch den langen Flur zu seinem Platz in einer Glasvitrine, die ich sorgfältig abschloss. Die ganze Woche hatte ich immer wieder denselben Albtraum: Ich war in der Innenstadt und hatte das Buch verloren. Einmal begegnete ich im Flur einer Frau mit einem Putzwagen und malte mir ein kulturelles Desaster aus: Das Manuskript fällt in einen Putzeimer und kommt blitzsauber wie ein unbeschriebenes Blatt wieder heraus.

Marketing gehörte nicht zur stärksten Seite der Mittelalterexperten im Árni-Magnússon-Institut, weshalb ich tagelang mutterseelenallein über die Kostbarkeiten wachte, während die Touristen zum Gullfoss und Geysir fuhren. Natürlich war es ein Privileg, allein mit unserer Mona Lisa Zeit verbringen zu dürfen, und nicht nur mit ihr – neben dem Codex Regius wurden die wichtigsten Schätze der Sammlung ausgestellt: Grágás mit der alten Gesetzgebung des isländischen Freistaats, Möðruvallabók mit den wichtigsten Isländersagas und Flateyjarbók mit seinen zweihundert Kalbshaut-Blättern und prächtigen Illustrationen. Manchmal stand ich vor den Glasvitrinen und versuchte, die Texte auf den aufgeschlagenen Seiten zu entziffern, doch Konungsbók war am besten lesbar, die Schrift war deutlich, und ich konnte mich durch die uralten Wörter buchstabieren: »Jung war ich einst, allein ging ich, da verlief ich mich auf den Wegen; reich schätzt ich mich, als ich einen andern traf, der Mensch ist des Menschen Freude.«4

In derselben Woche rasten Margrét und ich mitten in der Nacht zur Entbindungsstation, und wenig später durfte ich meinen neugeborenen Sohn auf den Arm nehmen. Ich hatte noch nie etwas so Nagelneues und Fragiles in den Händen gehalten. Ich hatte noch nie etwas so Altes und Fragiles in den Händen gehalten. Und dann träumte ich wieder: Ich war in der Innenstadt, wo ich plötzlich merkte, dass ich nur eine Unterhose trug und meinen Sohn und die Handschrift verloren hatte.

In dem an das Handschriftenarchiv angrenzenden Raum befanden sich weitere Schätze: stapelweise Tonbänder mit Aufnahmen, die Ethnologen zwischen 1903 und 1973 im ganzen Land gesammelt hatten. Dort konnte man sich die ältesten Aufnahmen anhören, die je in Island gemacht wurden, aufgenommen 1903 mit einem Wachszylinder oder Edison-Phonographen. Alte Frauen, Bauern und Seemänner rezitierten Gedichte, sangen und erzählten Geschichten. Ich hatte noch nie etwas so Faszinierendes gehört und setzte mir in den Kopf, dass diese alten Stimmen unbedingt der Allgemeinheit präsentiert werden müssten. Meine Hauptaufgabe für den Rest des Sommers bestand darin, gemeinsam mit der Ethnologin Rósa Þorsteinsdóttir eine Auswahl aus der Sammlung zusammenzustellen, um sie auf einer CD zu veröffentlichen.

Wenn ich die schwarzen Spulen in das Tonbandgerät einfädelte und die Kopfhörer aufsetzte, stieg ich in eine Zeitmaschine. Ich stand im Wohnzimmer einer alten Frau, die 1888 geboren worden war. In der Küche tickte die Wanduhr, und die Frau rezitierte einen Vers, den sie von ihrer 1830 geborenen Großmutter gelernt hatte, die ihn von ihrer im späten 18. Jahrhundert geborenen Großmutter gelernt hatte, die ihn von ihrer 1740 geborenen Großmutter gelernt hatte. Die Aufnahme war von 1969 und umspannte einen Zyklus von fast 250 Jahren. Sie stammte aus einer Welt, in der die Jüngsten von den Ältesten lernen. Der Stil des alten Verses war mit nichts Heutigem zu vergleichen, der Tonfall und die Intonation waren mir völlig fremd. Ich suchte ein paar Beispiele heraus, spielte sie meinen Freunden vor und forderte sie auf, zu raten, woher dieser Sprechgesang käme. Sie tippten auf amerikanische Ureinwohner, samische Rentierhirten, tibetische Mönche oder arabische Gebetsgesänge. Nachdem sie alle exotischen Kulturkreise aufgezählt hatten, die sie kannten, sagte ich: »Das ist eine Aufnahme von 1970 aus den Westfjorden, aus Strandir. Der Mann, den ihr da hört, wurde 1900 geboren.«

Wenn mein Sohn unruhig war, spielte ich ihm die Aufnahmen vor, und sobald das Skandieren einsetzte, entspannte er sich. Ich hätte zu gern wissenschaftlich untersucht, ob dieser alte Sprechgesang einen nachweislich beruhigenden Einfluss auf Säuglinge hat.

Die Vorstellung, die Zeit einzufangen, fesselte mich, und mir wurde bewusst, dass ich selbst von so vielem umgeben war, das bald verschwinden würde, so wie die Frauen auf den schwarzen Spulen. Ich hatte drei Großväter und zwei Großmütter, die alle noch lebten, und in jenem Sommer begann ich, eher willkürlich, ihre Geschichten zu sammeln. Opa Jón wurde 1919 geboren, Oma Dísa 1925, Oma Hulda 1924, Opa Árni 1922 und Opa Björn 1921. Sie gehörten einer Generation an, die eine einschneidende Epoche miterlebte, kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren und Zeitzeugen der Weltwirtschaftskrise. Sie erlebten den Zweiten Weltkrieg und viele große Veränderungen des 20. Jahrhunderts. Einige von ihnen kamen vor der Zeit von elektrischem Licht und Maschinen auf die Welt, hineingeboren in eine Welt voller Armut, Hunger und Entbehrungen. Inspiriert von der Tonbandsammlung, beschloss ich, Gespräche mit meiner Familie aufzunehmen. Ich benutzte einen VHS-Videorekorder, ein Diktiergerät und später mein Handy. Im Grunde wusste ich nicht, wonach ich suchte – ich wollte einfach nur alles Mögliche sammeln und das Urteil darüber der Zukunft überlassen. Mein eigenes Tonbandarchiv zusammenstellen. Das Andri-Magnason-Institut.

Ein Gespräch über die Zukunft

Ich bin bei Oma Hulda und Opa Árni in Hlaðbær, wir sitzen in der Küche, der Fluss Elliðaá schlängelt sich am Haus vorbei, Jogger laufen über den Uferpfad. An den Hängen der Bláfjöll liegen noch ein paar Schneewehen, aber der Garten steht in voller Blüte. Ich klappe meinen Laptop auf, klicke ein Video an und zeige meinen Großeltern einen Film, den seit Jahren niemand mehr gesehen hat. Ich hatte eine alte 16-mm-Filmspule in ihrer Abstellkammer gefunden und digitalisiert. Mein Großvater hat den Film 1956 gedreht, schwarz-weiß und ohne Ton, aber die Bildqualität ist perfekt. Festlich herausgeputzte Kinder sitzen in der Sonntagsstube in Selás 3, dem großen weißen Haus, das mein Urgroßvater am Ufer der Elliðaá gebaut hat. Die Kinder trinken Cola aus kleinen Glasflaschen, und meine Großmutter kommt lächelnd herein, sie hält eine prächtige, mit brennenden Kerzen geschmückte Sahnetorte in den Händen. Am Tischende sitzen die zehnjährigen Zwillingsschwestern eng beieinander, sie lachen und pusten kräftig auf die Kerzen. Meine Urgroßmutter trägt ihre Nationaltracht und schaut zu. Im nächsten Filmausschnitt tanzen die Kinder im Garten im Kreis, sie spielen »Ringlein, Ringlein, du musst wandern«. Meine Mutter und meine Oma schauen sich den Film gebannt an und können alle Personen beim Namen nennen. Ein Kindergeburtstag aus dem Jahr 1956, eingefangen auf einem 16-mm-Film, das war wirklich einmalig – aus dieser Zeit gibt es noch nicht einmal Filme von der isländischen Regierung.

Jetzt sitzen wir sechzig Jahre später wieder in der Küche. Meine Mutter ist Anfang siebzig, meine Großmutter 94 und meine jüngste Tochter zehn. Oma hat sich kaum verändert, seit ich sie kenne, sie hat bis vor Kurzem noch Golf gespielt und kann sich an fast alles erinnern. Vor ein paar Jahren wollte ein Bekannter seine Bewunderung für sie ausdrücken und bezeichnete sie mir gegenüber als rüstig. Ich war fast beleidigt – rüstig? So wie eine Greisin? Meine Oma sieht die Welt genauso. »Schöner Schal«, bemerkte ich einmal über einen blauen Schal, den sie um die Schultern trug. »Ja, den hat eine alte Frau für mich gehäkelt.« – »Eine alte Frau?«, entgegnete ich. Da antwortete sie lachend: »Ja, sie ist bestimmt zehn Jahre jünger als ich!«

Das Telefon klingelt, und Oma steht auf. Wir bleiben sitzen und essen unsere Pfannkuchen, im Hintergrund dudelt leise das Radio. Ich forderte meine Tochter Hulda Filippía auf, eine kleine Rechenaufgabe zu lösen:

»Wie alt ist deine Uroma, wenn sie 1924 geboren wurde?«

»94!«, antwortet sie prompt.

»Schnell gerechnet«, lobe ich.

»Aber ich wusste ja, wie alt sie ist«, erwidert sie grinsend.

»Jetzt musst du aber wirklich rechnen. In welchem Jahr wirst du 94 sein?«

»Also 2008 plus 94?«

»Ja, genau.«

Sie nimmt einen Zettel und einen Stift und schaut ungläubig auf das Blatt. Dann zeigt sie mir das Ergebnis, als müsste es ein Missverständnis sein.

»2102?«

»Stimmt! Dann wirst du hoffentlich genauso fit sein wie die Uroma heute. Vielleicht wohnst du sogar in diesem Haus. Und vielleicht kommt im Jahr 2102 deine zehnjährige Urenkelin zu Besuch und sitzt mit dir in dieser Küche, so wie du jetzt hier sitzt.«

»Hm, vielleicht«, sagt Hulda und nippt an ihrem Milchglas.

»Lass uns mal weiterrechnen. Wann wird deine Urenkelin 94 Jahre alt sein?«

Hulda schreibt die Rechenaufgabe mit meiner Hilfe auf das Blatt.

»Wird sie 2092 geboren?«

»Ja, richtig gerechnet.«

»2092 plus 94 ergibt … 2186!«

Sie lacht bei dem Gedanken.

»Ja, stell dir mal vor! Du wirst vielleicht ein Mädchen kennen, das im Jahr 2186 noch lebt.«

Hulda kräuselt die Lippen und blickt mich schelmisch an.

»Darf ich jetzt gehen?«, fragt sie.

»Gleich«, antworte ich, »ich habe nur noch eine Rechenaufgabe für dich. Wie lang ist es von 1924 bis 2186?«

Hulda rechnet wieder.

»262 Jahre?«

»Stell dir mal vor! 262 Jahre! Das ist die Zeitspanne, mit der du in Verbindung stehst. Du kennst Menschen aus dieser gesamten Zeitspanne. Deine Zeit ist die Zeit von jemandem, den du kennst, den du liebst und der dich prägt. Und deine Zeit ist auch die Zeit von jemandem, den du kennen und lieben wirst, die Zeit, die du gestalten wirst. Du kannst 262 Jahre mit deinen bloßen Händen berühren. Deine Uroma bringt dir etwas bei, und du bringst deiner Urenkelin etwas bei. Du kannst direkten Einfluss auf die Zukunft nehmen, bis zum Jahr 2186.«

»2186!«

Dias

2. Dezember 2015

Im Fernsehzimmer hat mein Großvater das Rollo heruntergelassen und den Diaprojektor auf einen alten Bügeltisch gestellt. Er geht zur Abstellkammer und holt ein paar Diamagazine, die dort beschriftet und aufgereiht stehen: Lónsöræfi 1965, Vatnajökull 1955, Kverkfjöll 1960. Auf den Dias sind Schneeraupen, Skihütten und Skiläufer.

Dann erscheint ein Bild von Männern beim Schneeschippen auf der Leinwand, eine mindestens sechs Meter hohe Schneewehe, aus der Bug und Propeller eines großen Flugzeugs herausragen. Opa kann sich an fast alles erinnern, auch wenn es lange her ist, besonders, wenn er ein Foto davon hat.

»Das war 1951 auf Bárðarbunga. Da graben wir gerade die Dakota-Maschine aus, ein Schneeflugzeug vom US-Militär. Das sollte die Besatzung der Geysir retten, das isländische Flugzeug, das auf dem Gletscher notgelandet war. Aber weil die Dakota nicht wieder starten konnte, wurde sie zurückgelassen und im Winter unter einer dicken Schneeschicht begraben. Ein paar Flieger nahmen Kontakt zum Militär auf, kauften die Maschine für sieben Cent das Pfund und planten eine Expedition, um sie zu holen. Damals waren wir auch gerade mit der Gründung der Flugrettungswacht beschäftigt«, erzählt Opa. »Wir fanden die Maschine, sie sah aus wie ein kleiner Hügel auf der Eisfläche, und gruben sie aus. Eine ganz schöne Schufterei, sie lag nämlich in einer sieben Meter hohen Schneewehe. Wir zogen sie runter auf die vorbereitete Startbahn, und sie sprang direkt beim ersten Versuch an. Sie wurde dann nach Reykjavík geflogen. Das war ein richtiges Abenteuer«, sagt Opa versonnen.

Das Wrack der Geysir lag nicht weit entfernt von der Stelle, und sie konnten einen Teil der Fracht retten, die in dem Flugzeug zurückgelassen worden war.

Da mischt sich Oma in unser Gespräch ein.

»Guðbjörgs Taufkleid wurde aus einem Stoff genäht, der einen ganzen Winter oben auf dem Gletscher im Wrack der Geysir gelegen hatte.«

Opa zeigt mir Fotos von dem Wrack, auf denen ich das Bugrad und den Namen des Flugzeugs erkennen kann. Die Geysir kam vom Kurs ab und musste mitten auf dem Vatnajökull notlanden. Zunächst ging man davon aus, die Besatzung sei tot, und stellte die Suche ein. Eine Gedenkfeier wurde vorbereitet, und es herrschte nationale Trauer. Doch plötzlich empfing ein Küstenwachschiff vor Langanes zufällig den Notruf: »…CIER«. Erst wusste keiner, was das bedeuten sollte, aber dann kam man darauf, dass es sich um die letzte Silbe des Worts GLACIER handelte – Gletscher. Nach ausgiebiger Suche fand man das Wrack. Ein Rettungsflugzeug der US-Armee flog zu der Stelle und landete auf dem Gletscher, kam aber nicht wieder hoch, weil die Schienen am Eis festfroren. Zum Glück traf dann eine Rettungsmannschaft aus Akureyri ein, mit deren Hilfe alle zu Fuß oder auf Skiern vom Gletscher herunterkamen. Bestimmt wird irgendwann einmal ein Film über dieses Unglück gedreht.

Opa hat mehrere Alben mit alten Rolleiflex-Fotos, und in einer Kiste liegen 8- und 16-mm-Filme von seiner Bolex-Kamera. Tausende Dias und Filme, die fast sein gesamtes Leben dokumentieren, wobei er selbst fast nie im Bild ist, weil er meistens hinter der Kamera stand. Da ist Mama, oder meine Mamas, wie ich sie spaßeshalber nenne: Kristín und Guðrún, die elfjährigen Zwillinge in Latzhosen mit den aufgenähten Initialen KB und GB zur Unterscheidung.

Unschätzbare zeithistorische Quellen, einige Bilder sind sogar richtige Kunstwerke. Opa hatte definitiv ein gutes Auge für Motive. Als er achtzig wurde, kaufte er sich einen Scanner und einen Computer, was die meisten unsinnig fanden oder sogar meinten, er sei auf einen skrupellosen Verkäufer hereingefallen. Doch in den nächsten Jahren saß er tagelang in seiner kleinen Kammer und scannte alte Fotos ein. Am Anfang druckte er sie noch aus, aber als er neunzig wurde, stellte er sie direkt auf Facebook. Dort liegt der Stoff für Romane, Fotobände und Dokumentarfilme. So viele Geschichten, die man erzählen könnte.

Mein Sohn hat neuerdings auch einen Fotofimmel. Mein Großvater hat ihm seine alte Rolleiflex von 1960 geschenkt, und er konnte schon Filme dafür ausfindig machen. Typisch – jetzt, wo er endlich ein Handy mit richtig guter Kamera hat, entdeckt er eine sündhaft teure Methode zum Fotografieren. Er ist gerade draußen in der Garage und sucht den alten Vergrößerer, damit er sich zu Hause eine Dunkelkammer einrichten kann. Er kommt mit einem verstaubten Bilderrahmen zurück, Arinbjörn Hersir steht unter dem Foto von einem alten Trawler. Opa mustert es seufzend.

»Ach ja, das Foto. Damit fing alles an«, sagt er. »Mein Vater war auf diesem Schiff.«

Auf der Rückseite des Fotos entdecken wir einen vergilbten Zeitungsausschnitt aus Vísir vom 10. März 1933:

Kurz nachdem die Arinbjörn Hersir gestern Morgen zum Fischen ausgefahren war, ging ein Matrose über Bord und ertrank. Zunächst bemerkte man sein Verschwinden nicht. Als man schließlich feststellte, dass Kjartan Vigfússon fehlte, kehrte das Schiff um. Der Kapitän meldete den Vorfall bei der Polizei und fuhr anschließend wieder zum Fischen aus. Kjartan Vigfússon war verheiratet, 37 Jahre alt und Vater von vier Kindern.5

Kjartan war der Vater meines Großvaters Árni. Die lapidare Formulierung »… und fuhr anschließend wieder zum Fischen aus« zeigt, dass man keinen Anlass sah, sich länger damit zu beschäftigen, dass ein Mann über Bord gegangen war. In den ersten drei Monaten des Jahres 1933 starben 34 isländische Seemänner und drei ausländische Trawler sanken mit insgesamt vierzig Mann.

Mein Opa war 1933 elf Jahre alt. Sein Vater Kjartan arbeitete als Heizer auf Fischtrawlern, ein gefährlicher, harter Job. Warum und wie er über Bord gegangen war, weiß niemand. Ich frage Opa, ob er sich daran erinnert. Er schließt die Augen, und dieser Tag vor über achtzig Jahren ist immer noch präsent:

»Ich wollte eine Abkürzung über den zugefrorenen Stadtteich nehmen. Ich war schon zur Hälfte drüber, als ich merkte, dass das Eis immer dünner wurde und das Wasser unter mir schwappte. Also spurtete ich los, und bei jedem Schritt knackte das Eis. Ich schaffte es ans Ufer, blieb aber erst stehen, als ich zu Hause in der Óðinsgata angekommen war.«

Und dann kam der Schock. Zu Hause empfing ihn der Pfarrer mit der Nachricht, sein Vater sei am Morgen ertrunken.

»Ich kannte meinen Vater kaum«, erzählt Opa. »Er war meistens auf See, und wenn er Landgang hatte, war er immer betrunken. Eigentlich kann ich mich gar nicht an ihn erinnern.«

Damals kamen die ersten großen sozialen Visionen auf, vermutlich rettete das der Familie das Leben. Über den Witwenfonds der Seemänner bekamen sie eine neue Wohnung im Arbeiterviertel in der Ásvallagata. Diese Wohnungen waren modern, von dem damals erst 23-jährigen Architekten Gunnlaugur Halldórsson im Stil des Funktionalismus entworfen. Er war gerade erst mit den neuesten europäischen Trends im Handgepäck nach Island zurückgekehrt und gilt heute als der erste isländische Architekt der Moderne. Die Wohnungen hatten fließend Wasser, Toiletten, Duschen und Elektroherde und befanden sich in einem neuen Viertel, für dessen Bau sich der Politiker und Gewerkschaftsvorsitzende Héðinn Valdimarsson eingesetzt hatte. Der Ehrgeiz war groß, so wirkte im Hinblick auf Lichtverhältnisse und Luftqualität auch der junge Arzt Guðmundur Hannesson an der Umsetzung des Bauprojekts mit. Mein Großvater profitierte davon, dass man 1933 allmählich begriff, dass »der Arme« ebenso viel wert war wie »der Begüterte«. Opa erzählte oft von den Arbeiterwohnungen in der Ásvallagata und wie dankbar er war, eine solche Wohnung bekommen zu haben. Er hatte sich oft gefragt, was aus ihm geworden wäre, wenn man die Familie auseinandergerissen hätte, oder wie ihr Leben in einem feuchten, ungesunden Kellerloch ausgesehen hätte.

Trotz der Wohnung musste Opa mit elf Jahren von der Schule abgehen und als Botenjunge und Schlachtergehilfe arbeiten, weil seine Mutter gerade seine jüngste Schwester auf die Welt gebracht hatte und kränkelte. Einige seiner Schulkameraden aus der Grundschule wurden später Ingenieure oder Universitätsprofessoren.

»Ich war der beste Schüler in meiner Klasse«, erzählt er. »Aber ich glaube, diejenigen, die es bis auf die Universität geschafft haben, sind auch nicht unbedingt glücklicher geworden.«

Das lässt sich unmöglich sagen. Ich finde, er hat das Beste aus seinem Leben gemacht, aber man merkt ihm ein gewisses Bedauern wegen der fehlenden Schulbildung an.

In dem Arbeiterviertel gab es auch eine Volksbücherei mit lauter Büchern, die er abends nach einem langen Arbeitstag las. Er hatte großen Ehrgeiz und wurde mit dem Verein Valur isländischer Meister in der zweiten Handball-Liga und 1942 isländischer Meister im 1500- und 5000-Meter-Lauf. Sogar noch im Jahr 2016 zeigte er sich enttäuscht darüber, dass ihn eine Nasennebenhöhlenentzündung 1943 um den Meistertitel gebracht hatte.

Als junger Mann sparte er für einen Fotoapparat und wurde bald ein engagierter Hobbyfotograf. Im Keller gab es einen Raum, in dem er eine Dunkelkammer einrichtete, und oft musste er vom Sportplatz Melavöllur nach Hause rennen und schnell einen Film entwickeln, damit man feststellen konnte, wer beim Sprint gewonnen hatte. Heute nennt man das Videobeweis.

Der Diaprojektor brummt, dann klickt es und das helle Viereck auf der Leinwand wird bunt. Opa stellt das Bild scharf, und es erscheinen Dahlien, lange Reihen von Dahlien, die meine Großeltern züchteten. Manchmal stehen Bilder auf dem Kopf, manchmal verklemmen sie sich im Projektor, manchmal werden zwei übereinander an die Wand projiziert. Opa justiert das Gerät, und dann flimmern die Blumen über die Leinwand, rosafarbene und gelbe und feuerrote Dahlien, und dann wieder Berge, Autos, Sandwüsten und endlose Schneefelder auf dem Vatnajökull und Fotos aus Lech in Österreich von der alljährlichen Skifahrt mit Freunden.

Die Reihenfolge der Dias ist ein bisschen durcheinandergeraten, aber er erinnert sich an alles, was mit den Fotos zu tun hat. Er leiert Ortsnamen und Jahreszahlen herunter, obwohl sein Kurzzeitgedächtnis fast völlig zum Erliegen gekommen ist.

»Das kam urplötzlich«, erklärt er. »Wie ein Knall, als hätte mir jemand mit einem Bolzenschussgerät in den Kopf geschossen, und auf einmal wusste ich gar nichts mehr.« Er lacht, als er das sagt, und ist immer noch ganz derselbe. Wie viele Schläge das Gehirn wohl verkraftet, bis der Mensch nicht mehr er selbst ist?

Wobei er sich in den letzten Jahren schon verändert hat. Früher war er so kämpferisch, dass wir dachten, er könnte im Alter schwierig werden, aber er entwickelte sich in die entgegengesetzte Richtung, wurde sanft wie ein Lamm, ist dankbar und fast sentimental, wenn er Oma in den höchsten Tönen lobt.

Als wir im November seinen 93. Geburtstag feierten, sagte er: »Was ist denn los? Haben wir Ostern?« Am nächsten Tag konnte er sich nicht mehr an die Feier erinnern. Als ich ihm erklärte, er habe gestern Geburtstag gehabt, entgegnete er lachend: »Wie schön – wie alt bin ich denn?« Ich sagte ihm, er sei 112. »Nein«, erwiderte er ungläubig, »das kann nicht sein.« Dann nannte ich ihm sein richtiges Alter, und er fand die Zahl immer noch viel zu hoch.

Als ich ihn einmal ins Krankenhaus brachte, schaute er im Aufzug in den Spiegel und fragte erstaunt: »Wer ist das?« – »Das bist du, Opa«, antwortete ich. »Nein, ich bin doch rothaarig!« – »Nicht mehr, Opa.« – »Ach so«, sagte er verwirrt.

»Früher haben sie mich manchmal Rotschopf genannt. Aber das hat keiner öfter als einmal zu mir gesagt!«, erzählt er lachend und streckt mir die geballte Faust entgegen.

Obwohl er nicht mehr weiß, was Tag für Tag passiert, kann er sich daran erinnern, dass ich für die Präsidentschaftswahl kandidiert habe. »Aber du bist doch noch so jung«, sagt er, »was meinst du, wie es ist, wenn man mit fünfzig schon Staatspräsident war? Was willst du denn danach machen?« Wie das Gedächtnis wohl funktioniert? Er weiß nicht, wie alt er ist, er weiß nicht, dass er keine roten Haare mehr hat, aber irgendwie schafft er es, sich an mein Alter zu erinnern und zwei Wahlperioden dazuzurechnen.

Die Dias laufen weiter über das Rollo, jetzt in einer geordneteren Reihenfolge: Hochlandtouren, das große weiße Haus Selás 3, das mein Urgroßvater Filippus gebaut hat, als die Familie meiner Oma nach dem Krieg ins Árbær-Viertel zog, lange bevor dort ein ganzer Vorort entstanden ist. Dann kommt ein Bild von den Geschwistern meiner Oma.

»Ich war sehr enttäuscht, als mein Bruder Þórhallur geboren wurde«, sagt Oma. »Da hab ich die Augen zugemacht und gebetet: Lieber Gott, bitte nimm ihm den Pimmel ab!« Sie schlägt sich lachend auf die Schenkel. »Aber als meine Schwester Þóra auf die Welt kam, war alles wieder gut.«

»Ihr wart fünf Geschwister, oder?«

»Fünf, die überlebt haben. Meine Mutter hat zwei Kinder verloren«, erzählt Oma. »Zwei meiner Geschwister lebten nur kurz. Valur, der war älter als ich, und Guðrún. Beide waren bei der Geburt winzig klein und lebten nur einen Tag. Es wurde alles darangesetzt, einen Pfarrer zu holen, weil sie ungetauft nicht in den Himmel gekommen wären. Dann starben sie einfach, und wir erfuhren nie, was ihnen gefehlt hatte. Später kam Þórhallur auf die Welt, der war auch ganz kümmerlich, aber wir riefen einen Arzt, und er überlebte. Ich überlege oft, was wohl aus Guðrún und Valur geworden wäre, wenn man einen Arzt geholt hätte und keinen Pfarrer.«

Ich denke an all die Nachfahren meiner Oma und ihrer Geschwister. Stelle mir Valur als Urgroßvater vor, in einem großen Haus in Árbær mit sechzig Nachkommen. Stelle mir einen historischen Roman über sein fiktives Leben vor, eine vier Generationen umfassende Geschichte, die beginnt, als es im Árbær-Viertel nichts gab außer einem Torfhof und ein paar Schuppen. Die Geschichte kreist um Selás 3, das große weiße Haus mit dem roten Dach, das mein Urgroßvater gebaut hat. Ich vermute, dass er den Präsidentensitz Bessastaðir oder den Sitz der isländischen Regierung vermessen hat, bevor er sein Haus entwarf, denn es ähnelt diesen öffentlichen Gebäuden in Größe und Stil. Die Familie zog kurz nach 1944, als Island Republik wurde, dort ein, da lag Árbær noch weit vor den Toren der Stadt. Im Lauf der Zeit schossen im ganzen Viertel Häuser aus dem Boden, die alle im rechten Winkel zu Urgroßvaters altem Haus stehen. Der Roman könnte eine Art Teufelsinsel oder Hundert Jahre Einsamkeit in Árbær sein.

»Ich trug nie Schuhe«, sagt Oma. »Aber meine Mutter bestand darauf, dass ich wenigstens sonntags welche anzog. Ich lief immer am Fluss entlang und sprach mit den Elfen und den Tieren. Einmal freundete ich mich mit einem Goldregenpfeifer an. Den bemerkte ich eines Frühlings, als er auf seinem Nest saß. Geduldig schlich ich mich jeden Tag ein Stück näher an ihn heran, bis ich ihn streicheln konnte … Unten am Fluss schöpften wir Wasser und spülten die Wäsche aus. Im Wäschezuber war ein doppelter Boden, da flutschten manchmal Lachse rein«, erzählt sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Wir wurden immer zum Bauernhof geschickt, um bei der alten Kristjana Milch zu kaufen. Damals war der alte Torfhof in Árbær noch bewohnt und oben in Breiðholt standen keine Häuser.«

Oma hat mir erzählt, sie habe einmal einen Elfenmann gesehen, der sei ganz unten auf der Wiese am Breiðholt-Hang aus einem Felsen gekommen.

»Er hat Kleider zum Trocknen vor dem Felsen ausgebreitet. Ich rief nach den anderen, und die ganze Familie, die aus dem Haus gerannt kam, hat ihn gesehen, aber dann löste er sich einfach vor unseren Augen in Luft auf. Wir liefen zu dem Felsen, und das Gras davor war plattgedrückt, aber es war niemand mehr da.«

Opa blättert in einem Album mit Fotos von Oma in jungen Jahren, auf einem ist sie dreizehn und schiebt ein Fahrrad.

»Das war im Sommer 1939, da bin ich nach Stykkishólmur geradelt, um meine Großmutter zu besuchen. Es war der heißeste Sommer, den ich je erlebt habe.«

»Bist du von Árbær die ganze Strecke bis nach Stykkishólmur mit dem Rad gefahren?«, fragt mein Sohn ungläubig.

»Nein, von Borgarnes, bis dahin sind wir mit der Fähre gefahren. Wir haben in Scheunen geschlafen und auf der Heide aus Wasserlachen getrunken.«

Trotzdem waren es noch ungefähr 150 Kilometer Schotterstraße. Meine Großmutter ist die Heldin der Familie, und als wir klein waren, prahlten wir mit ihr: »Meine Oma ist stärker als dein Papa!« 1945 hat sie als erste Frau in Island den Segelschein erworben.

»Das ist ein Schulgleiter«, erklärt sie, »später bin ich ein Grunau Baby geflogen.«

Sie zeigt mir ihren Flugausweis und ein Foto, auf dem sie auf einer Stangenkonstruktion mit Flügeln sitzt. Das Gerät ähnelt den Flugapparaten, die die Gebrüder Wright in den ersten Jahren der Fliegerei bauten.

»Mit einem Segelflugzeug zu fliegen ist unvergleichlich. Es hat keinen Motor, man wird hochgezogen und gleitet dann lautlos wie ein Vogel.«

»Hattest du nie Angst?«, möchte ich wissen.

»Ach, weißt du, das ist seltsam, aber ich hatte nie Angst«, antwortet sie. »Schade, dass man damals noch nicht Fallschirmspringen konnte. Das hätte ich gerne mal ausprobiert.«

Die Brüder meiner Großmutter wuchsen mit dem Traum vom Fliegen auf. Sie rannten rüber zum Skólavörðuholt-Hügel, als 1930 ein Zeppelin über Reykjavík schwebte, und beobachteten fasziniert, wie der italienische Luftfahrtpionier Italo Balbo und sein Geschwader 1933 bei ihrer Atlantiküberquerung mit 24 Flugzeugen auf dem Sund landeten. Charles Lindbergh, der wagemutigste Pilot der Welt, flog im selben Sommer nach Island, und all diese Helden wurden fürstlich empfangen, mit Blasorchester und Mittagessen beim Ministerpräsidenten.