Water Moon - Samantha Sotto Yambao - E-Book

Water Moon E-Book

Samantha Sotto Yambao

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Liebesgeschichte voller Wunder – bewegend, verzaubernd, inspirierend.

In den Gassen von Tokio, hinter der Tür eines unauffälligen Ramen-Restaurants, verbirgt sich ein besonderes Geschäft: Hier können unverwirklichte Träume gegen Seelenfrieden und exquisiten grünen Tee eingetauscht werden. Doch an dem Tag, an dem Hana den Laden von ihrem Vater Toshio übernehmen soll, ist dieser plötzlich verschwunden und der Tresor geplündert. Ein junger Wissenschaftler bietet Hana an, mit ihr nach Toshio zu suchen. Die beiden begeben sich auf eine abenteuerliche Reise und je näher sie der Wahrheit kommen, desto klarer wird Hana, dass es an der Zeit ist, ihr eigenes Geheimnis zu lüften ...


Ein hinreißendes Setting und eine wunderschöne Geschichte um eine junge Frau, die durch die Kraft ihrer Träume das Schicksal ändert und die Liebe findet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 480

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Buch

In den Gassen von Tokio, hinter der Tür eines unauffälligen Ramen-Restaurants, verbirgt sich ein besonderes Geschäft: Hier können unverwirklichte Träume gegen Seelenfrieden und exquisiten grünen Tee eingetauscht werden. Doch an dem Tag, an dem Hana das Pfandhaus von ihrem Vater Toshio übernehmen soll, ist dieser plötzlich verschwunden und der Inhalt des Tresors ist nicht vollständig. Ein junger Wissenschaftler bietet Hana an, mit ihr nach Toshio zu suchen. Die beiden begeben sich auf eine abenteuerliche Reise, und je näher sie der Wahrheit kommen, desto klarer wird Hana, dass es an der Zeit ist, eine Entscheidung zu treffen …

Autorin

Samantha Sotto Yambao ist eine professionelle Tagträumerin und fände es sehr verlockend, durch die Zeit reisen zu können. Sie glaubt fest daran, dass man sich die eigenen Träume erfüllen kann, wenn man nur hart genug dafür arbeitet. Ihren ersten Roman schrieb sie in einem Café, während sie auf den Unterrichtsschluss ihres Sohnes wartete. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Manila. »Water Moon« ist ihr erster Roman im Limes Verlag, hat sich auf Anhieb in 20 Länder verkauft und wurde kurz nach Erscheinen zu einem USA Today- und einem Sunday Times-Bestseller.

SAMANTHA SOTTO YAMBAO

WATER MOON

Roman

Deutsch von Sonja Hagemann

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Water Moon« bei Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2025 by Marina Samantha Sotto Yambao

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Kerstin Kubitz

Umschlaggestaltung: Designomicon nach einem Entwurf von Regina Flath und unter Verwendung von Bildmaterial von Haylee Morice.

KW · Herstellung: KH

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-32359-2V003

www.limes-verlag.de

Für alle, die nach einem Neuanfang suchen

TEIL EINS

Die gefallene Blüte kehrt nicht zum Zweig zurück. Einen zerbrochenen Spiegel bringt niemand wieder zum Glänzen.

KAPITEL EINS Das Pfandhaus der Beinahes und Wenns

Zeit hat keine Grenzen, außer denen, die Menschen ihr setzen. An einem besonders kalten Herbsttag setzte Ishikawa Hana aus hauchdünner Haut eine solche Grenze. Für so etwas waren Lider äußerst nützlich. Solange sie die Lider geschlossen hielt, konnte Hana die beiden Hälften ihres Lebens sauber voneinander trennen: die einundzwanzig Jahre, die sie vor dem Öffnen der Augen gelebt hatte, und alles, was nun kommen würde.

Sie zog sich die Decke über den Kopf und tat einfach so, als wäre ihr verkaterter erster Tag als neue Besitzerin des Pfandhauses noch nicht angebrochen. Da machte es auch nichts, dass sie längst hellwach war, dass sich der letzte einer Reihe wirrer Träume, an die sie sich nicht erinnern konnte, vor mehr als einer Stunde aufgelöst hatte. Ihr Kopf war schwer und der Mund viel trockener als sonst, sie vermutete als Grund dafür aber weniger den Alkohol vom Vorabend als vielmehr das, was heute auf sie wartete.

Schon bald würde ihr Vater, Toshio, an die Tür klopfen und damit den neuen Tag einläuten.

Beharrlich klammerte sich Hana an die winzige Hoffnung, dass er heute vielleicht etwas länger im Bett bleiben würde, nachdem sie mit einer unvernünftigen Menge Sake auf seinen Ruhestand angestoßen hatten. Diese Hoffnung – wenn man überhaupt von Hoffnung sprechen konnte – war kleiner als ein moosbedeckter Bachkiesel und genauso schlüpfrig.

In all den Jahren, in denen Toshio für das Pfandhaus verantwortlich gewesen war, hatte es nur zweimal nicht pünktlich geöffnet. Tatsächlich hatte es an diesen beiden Tagen überhaupt nicht aufgemacht, aber über die sprachen Hana und ihr Vater nicht. Niemals.

Würde ihres wie andere gewöhnliche Pfandhäuser mit Diamanten, Silber und Gold handeln, dann hätten die Ishikawas, die diesen Familienbetrieb seit Generationen führten, den Luxus von Krankheitstagen und freien Wochenenden gehabt. Aber Toshio hatte Hana dafür ausgebildet, den Wert viel kostbarerer Schätze zu taxieren.

Die meisten Kunden kamen, wenn sich der Sommer dem Ende neigte und die Nächte länger und kälter wurden. Melancholie war gut fürs Geschäft. Dass ihr kleines Pfandhaus in einer ruhigen Gasse des Tokioer Viertels Asakusa lag und keinen Namen hatte, stellte kein Problem dar. Wer ihre Dienste in Anspruch nehmen wollte, fand immer den Weg zu ihnen. Doch wäre jemand neugierig genug, um Hana zu fragen, wie sie selbst das Pfandhaus nennen würde, hätte sie eine Antwort parat: Ikigai. Kein anderer Name würde besser dazu passen.

Als sie ein gutes Jahr alt gewesen war, hatte Hana auf dem dunklen Holzfußboden des Pfandhauses laufen gelernt. Und seitdem hatte jeder ihrer Schritte sie dem Ziel näher gebracht, einst den Betrieb zu übernehmen, wenn ihr Vater sich zur Ruhe setzen würde. Er war Witwer und sie seine alleinige Erbin. Dieses Pfandhaus war das ihr vorgezeichnete Schicksal, ihre einzige Bestimmung im Leben. Ihr Ikigai. Aber in all den Jahren, in denen sie als kleines Mädchen zu den Füßen ihres Vaters gespielt oder als junge Frau Seite an Seite mit ihm gearbeitet hatte, hatte sich keiner der Kunden je damit aufgehalten, nach dem Namen des Pfandhauses zu fragen. In ihren Augen standen viel drängendere Fragen, wenn Toshio sie mit einer höflichen Verbeugung willkommen hieß. Als Erstes wollten sie fast immer wissen, wo sie hier eigentlich waren, und als Zweites, wie sie dort hingelangt waren.

Schließlich rechnete niemand damit, hinter der Tür eines Ramenrestaurants ein Pfandhaus vorzufinden.

Jeder in der Schlange vor dem beliebten Traditionsrestaurant würde bestätigen, dass es dort die besten Shoyu-Ramen im ganzen Bezirk Taitō gab. Manchem wurde das Warten durch den nach draußen wabernden Duft aus den dampfenden Schalen erleichtert, in denen Chijirimennudeln und Scheiben von perfekt geschmortem Bauchfleisch in einer reichhaltigen dunklen Knochenbrühe schwammen. Anderen erschien die Wartezeit in der sich windenden Schlange dadurch doppelt so lang. Trotzdem atmeten alle tief ein, ergötzten sich an dem in der Luft liegenden schmackhaften Versprechen, bis endlich auch sie bis zum beengten Gastraum vorgedrungen waren, der vor zwei Jahrzehnten vielleicht als modern gegolten hatte. Vergilbte Wände, an denen mit Autogrammen versehene Fotos prominenter Gäste des Restaurants hingen, nahmen sie auf dem Weg zu ihrem Platz in Empfang. Manche der Wartenden durchschritten zwar die Tür des Restaurants, landeten aber nicht in seinem Gastraum. Stattdessen ertönte eine kleine kupferne Türglocke, und sie fanden sich im nur schwach beleuchteten vorderen Raum eines Pfandhauses wieder.

Hana hatte das Läuten der Glocke im Ohr, während sie sich unter der Decke zusammenrollte. Es forderte sie dazu auf, endlich aufzustehen und das Unvermeidliche zu akzeptieren. Sie hielt sich die Ohren zu, verlor aber den Kampf gegen die Gedanken, die schon mal ohne sie das Bett verließen. Einige davon waren fast fertig angezogen, knöpften gerade die makellose schwarze Uniform des Pfandhauses fertig zu. Andere waren bereits im Büro unterhalb ihres Schlafzimmers und stellten sich vor, wie ihr Vater wohl den ersten Tag seines Ruhestandes verbringen würde: indem er sich in ihrer Nähe herumdrücken und alles zweimal überprüfen würde, was sie tat.

Wenn er sie bei einem Fehler ertappte, würde er nichts sagen, das tat er nie. Ein kleines Zucken der rechten Augenbraue reichte schon. Toshio war Schweigen lieber als Worte, seine Kraft und den Atem sparte er sich für die Kunden auf. Hana war im Laufe der Zeit ziemlich gut darin geworden, seine ruhige Atmung, seine Blicke und hier und da ein angedeutetes Lächeln zu interpretieren. Sie erinnerte sich nur an einen einzigen Vorfall, bei dem er die Nerven verloren hatte. Damals war sie zehn gewesen und hatte an einem stürmischen Nachmittag eine verpfändete antike Uhr verlegt. Sein Blick war finsterer geworden als die Wolken, die sich über dem Gärtchen im Innenhof zusammengebraut hatten. Er hatte sie bei den mageren Schultern gepackt und sich mit dem Mund ihrem Ohr genähert, während ihr das Herz in die Hose gerutscht war. Obwohl seine Stimme so leise gewesen war wie ein Windhauch, hatten seine Worte in Hanas Innerem wie ein Taifun gewütet: »Such sie. Jetzt sofort.«

Hana hatte keine Ahnung, was wohl passiert wäre, wenn sie die Uhr nicht später am Tag im Hinterzimmer hinter einem Stapel Bücher entdeckt hätte. Eins war jedenfalls klar – sie wollte ihren Vater nie wieder so mit ihr sprechen hören.

Hana atmete einmal schnaufend ein und zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. Ein unsichtbares Gewicht ruhte auf ihrer Brust. Sie hatte erwartet, dass die Last der Zukunft schwerer sein würde, zumindest schwerer als eine wohlgenährte Katze. Stattdessen fühlten sich die auf ihre Brust drückenden Tage wie bloße Hülsen an, ausgehöhlt und verbraucht, bevor sie auch nur angebrochen waren. Hana kannte jede der vor ihr liegenden Sekunden schon auswendig, da Toshio sie ihr seit jeher vorgelebt hatte. Jetzt war ihre Existenz zu der ihres Vaters geworden, und es würde nie wieder irgendetwas Neues passieren.

Als sie sich auf die Seite rollte, bemerkte sie die Ecke einer vergilbten Fotografie, die unter ihrem Kissen hervorlugte. Noch immer unter der Bettdecke, zog Hana das Foto hervor und betrachtete es mit zusammengekniffenen Augen. Wer da zurückblickte, war eine junge Frau, die ihre Zwillingsschwester hätte sein können. »Guten Morgen, Okā-san«, sagte Hana zu ihrer Mutter, die sie nie kennengelernt hatte, und schob das einzige Bild, das sie von ihr hatte, zurück in sein Versteck. Dann schlug sie die Decke zurück und spähte durch ihre dunklen Wimpern hindurch. Ein Sonnenstrahl fiel ihr in die Augen. Hana zwang sich zum Aufstehen und schloss die Lider, weil sie nichts zu sehen brauchte, um sich in ihrem Zimmer zurechtzufinden. Schließlich beschränkte sich ihre ganze Welt auf diesen Raum und das Pfandhaus unten, und heute fühlte sich diese Welt noch kleiner an.

Außerdem war sie so still.

Aufmerksam lauschte Hana und versuchte, das vertraute Klirren von Schälchen und Tassen unten aus der Küche zu vernehmen. Durch die Tür drang jedoch kein Laut herein. Hana biss sich auf die Unterlippe.

Sie war sich sicher, dass der Ruhestand einen Mann wie Toshio nicht von seinen üblichen Ritualen abhalten würde. Obwohl sie zu Hause einen kleinen Altar hatten, an dem ihr Vater die Ahnen verehrte, war sein wahrer Gott die Routine. Seine dampfende Tasse gerösteter grüner Tee am Morgen war ihm heilig, egal, wie viel Sake oder Whiskey noch vom Abend zuvor in seinem Blut zirkulierte.

Hana presste das Ohr gegen die Tür. Es gab nur zwei mögliche Gründe dafür, dass es im Pfandhaus so still war, und keiner der beiden war gut.

KAPITEL ZWEI Ishikawa Toshios letzte Kundin

Am Tag zuvor

Der Herbst hatte früh begonnen, und seitdem hatte sich die Anzahl der Kunden im Pfandhaus verdoppelt.

Toshio verlagerte das Gewicht, um seinem geplagten linken Fuß Erleichterung zu verschaffen. Er ignorierte, dass das Knurren seines Magens durch den schwarzen Anzug zu hören war, und rückte sich die Krawatte zurecht. Heute war nicht der erste Tag, an dem er zu beschäftigt gewesen war, um mittags etwas zu essen, es würde jedoch der letzte sein. Wenn er in weniger als einer Stunde zumachte, würde er offiziell in Rente sein und nie mehr die Mittagspause durcharbeiten müssen. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass dieser Gedanke ihn zum Lächeln bringen würde, aber seine Mundwinkel weigerten sich strikt, sich auch nur im Geringsten nach oben zu bewegen. Das Kupferglöckchen ertönte und kündigte die Ankunft seiner letzten Kundin an.

»Irasshaimase.« Toshios Stimme klang wie warmer Sake, als er sich mit geübtem Lächeln verbeugte.

Aus dem Büro hinten blickte Hana um die Ecke, das Registerbuch dieses Monats unter dem Arm. Mit einer Handbewegung bedeutete Toshio ihr, sich zurückzuziehen, und widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder der eleganten Frau, die gerade zur Tür hereingekommen war. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Die Frau sah den lächelnden Toshio verblüfft an. Durch ihren Porzellanteint wirkte sie jünger als er, aber das im Nacken zu einem losen Knoten zusammengebundene Haar war so weiß wie die Kette aus Süßwasserperlen, die sie um den Hals trug. »Tut mir leid, ich glaube, ich bin hier falsch. Eigentlich dachte ich, dass ich da draußen für das Ramenrestaurant angestanden habe.«

»Haben Sie auch«, bestätigte Toshio.

Die Frau blickte sich um. »Das hier ist aber nicht das Restaurant.«

»Nein, das ist mein Pfandhaus.«

»Haben sie das Restaurant nach oben verlegt?«

Toshio schüttelte den Kopf. »Nein.«

Die Frau legte die hübsche Stirn in Falten.

»Sie müssen müde sein, nachdem Sie so lange gewartet haben. Vielleicht würden Sie sich gern einen Moment setzen.« Toshio deutete auf seidene Kissen, die in einer Ecke des Raums rund um einen niedrigen Tisch auf dem Boden verteilt waren.

Nachdenklich legte die Frau eine Hand ans Kinn. »Ich … ich hätte schwören können, dass hier das Restaurant ist. Ich habe doch mitbekommen, wie der Mann vor mir hineingegangen ist, habe die Tische und Stühle gesehen und …« Sie senkte den Kopf und machte eine kleine Verbeugung. »Es tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Vielleicht einen Tee?«

»Danke, aber ich …«

»Bitte, ich bestehe darauf. Das macht doch keine Umstände.« Toshio kam hinter der Theke hervor und rief über die Schulter: »Hana? Bringst du bitte Tee? Wir haben einen Gast.«

Hana klappte das Registerbuch zu und erhob sich von dem Schreibtisch, der einst der Arbeitsplatz ihrer Mutter gewesen war. Sie wusste, was ihr Stichwort war, wie sie auch wusste, was der Frau jetzt durch den Kopf ging.

Tee. An diesem Punkt des Gesprächs mit ihrem Vater sannen alle Kunden über das Gleiche nach. Es war ein schlichter Gedanke, ganz klein und so leicht wie Luft, ohne scharfe Kanten, an denen man sich hätte schneiden können. Alle hatten schon einmal Tee getrunken und mussten jetzt daran denken, wie er die Zunge liebkost hatte, durch die Kehle geronnen war und die Seele gewärmt hatte. Eine Tasse Tee hatte noch nie geschadet, und ihnen kam kein einziger Grund dafür in den Sinn, die freundliche Einladung des Pfandhändlers auszuschlagen. Tatsächlich wäre eine Ablehnung sogar unhöflich, vor allem, nachdem sie versehentlich sein Pfandhaus betreten hatten. Sie versuchten, sich ihr eigentliches Ziel in Erinnerung zu rufen, spürten aber nur kalte Leere im Inneren. Und gegen die würde Tee sicher helfen. Vielleicht hatten sie in Wirklichkeit ja wegen des Tees so lange angestanden. Hana füllte einen Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd.

»Ein Tee wäre schön.« Lächelnd nickte die Frau.

»Wunderbar. Ich heiße Ishikawa Toshio.« Er deutete auf eins der Sitzkissen am Boden. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«

»Danke.« Die Frau ließ sich auf einem Kissen nieder, dessen graue Farbe dem Tag draußen entsprach. »Ich bin Takeda Izumi.«

»Danke, dass Sie uns heute mit Ihrem Besuch beehren, Takeda-sama. Sie werden sehen, dass wir Ihnen in diesem Pfandhaus ein nicht nur faires, sondern geradezu großzügiges Angebot machen werden.«

»Aber ich bin ja gar nicht hier, um …« Izumi drehte eine Perle ihrer Kette zwischen Zeigefinger und Daumen. Sie runzelte die Stirn, so als suche sie in den Schubladen ihres Verstandes nach dem, was sie als Nächstes hatte sagen wollen.

Auf einem schwarz lackierten Tablett brachte Hana den Tee.

»Hana, darf ich dir Takeda-sama vorstellen?«, sagte Toshio.

Hana neigte den Kopf. »Willkommen in unserem Pfandhaus. Genießen Sie Ihren Tee«, grüßte sie, während sie das Tablett auf dem Tisch abstellte.

Als sie sich entfernte, meinte Izumi zu Toshio: »Sie haben eine zauberhafte Tochter, Ishikawa-san.«

»Danke, sie kommt nach ihrer …« Mit angespanntem Lächeln verstummte Toshio.

Er richtete den Blick auf den Tee und goss ihn in kleine Tonschalen. Die Schälchen hatten die Farbe der ruhigen See, aber die Glasur war von zahllosen Rissen unterschiedlicher Größe durchzogen. Wenn sie nicht mit der Kintsugitechnik repariert worden wären, wären sie längst auseinandergefallen. Mit Goldstaub und Lack ausgefüllt, überzogen die Risse die Oberfläche wie Blitze.

»Wie erlesen«, sagte Izumi und betrachtete die Schälchen bewundernd.

»Danke. Ich habe mir große Vorwürfe gemacht, als ich gestolpert bin und sie habe fallen lassen, muss aber eingestehen, dass ich letztlich für mein Ungeschick dankbar bin.« Toshio reichte Izumi ihren Tee. »Zerbrochene Gegenstände haben ihre ganz eigene Schönheit, finden Sie nicht?«

Izumi fuhr mit der Spitze eines perfekt manikürten Fingers die zarten goldenen Fugen ihrer Schale nach. »Manche können so einen Makel besser verschmerzen als andere«, sagte sie leise, so sanft, als wolle sie dem Schälchen mit ihrer Stimme auf keinen Fall weiteren Schaden zufügen.

»Ich habe bei so vielen angeschlagenen Dingen Schönheit entdecken können. Bei Stühlen. Gebäuden. Menschen.«

Izumi sah von ihrem Tee auf. »Menschen?«

»Vor allem an Menschen. Gebrochene Menschen sind auf faszinierende Art und Weise angeschlagen. Jede Blessur, jede Wunde oder Beule erzählt eine Geschichte. Unsichtbare Narben verbergen dabei die tiefsten Verletzungen und sind am interessantesten.«

Izumi drehte einen der beiden großen Diamantringe an ihren Fingern, wobei sich die Haut verzog. »Das ist eine ungewöhnliche Sichtweise, Ishikawa-san.«

»Oh, das ist mehr als nur eine Sichtweise. Es ist der Grund dafür, dass ich dieses Unternehmen führe. Dabei handelt es sich um eine etwas andere Art von Pfandhaus, Takeda-sama. Wir befassen uns nicht mit dem Verpfänden von Materiellem. Diamantringe und Perlenketten haben hier keinen Wert.«

Im Hinterzimmer lauschte Hana der Unterhaltung zwischen Izumi und ihrem Vater. Dieses Gespräch bei einem Schälchen Tee hatte sie schon unzählige Male mit angehört. Wie oft ihr Vater auch die gleichen Worte vorbringen mochte, sie klangen immer aufrichtig. Er sagte überwiegend die Wahrheit, die für die Kunden aber manchmal schwer zu akzeptieren war. Dabei empfand Hana das, was ihr Vater ihnen offenbarte, nicht als schockierende Enthüllung. Trotzdem brauchten sie immer einen Moment, um die ungläubig hochgezogenen Augenbrauen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Und das war ja auch verständlich. Jenseits der Tür des Ramenrestaurants war oben oben und unten unten, ein Pfandhaus wie das ihre existierte dort nicht. Hanas Vater verfügte über ein besonderes Talent, wie Takeda Izumi gleich am eigenen Leib erfahren würde: Während sie ihren Tee zu Ende trank, würde er sie dazu bringen, seit ihrer Kindheit bestehende feste Überzeugungen aufzugeben und ihren Geist für Dinge zu öffnen, die nicht konkret greifbar waren.

Hana kehrte zum Schreibtisch zurück und nahm ein Buch in die Hand, das dort auf einem Stapel lag. Es handelte sich um ein abgewetztes Taschenbuch, dessen Seiten sich nur noch durch schiere Willenskraft am Buchrücken festzuhalten schienen. Ein Kunde namens Ito Daisuke hatte es heute Morgen verpfändet. Hana glich den Gegenstand mit der Liste in ihrem Registerbuch ab und setzte ein Häkchen daneben, um zu vermerken, dass alles seine Ordnung hatte. Unter den Objekten, die heute ihren Weg ins Pfandhaus gefunden hatten, war ihr dieses Buch das liebste.

Hana holte die Goldrandbrille ihrer Mutter aus einer Schublade des Schreibtisches. Sie setzte die Brille auf, rückte sie zurecht und sah durch die Gläser das Buch als das, was es wirklich war: eine Entscheidung, die den Verlauf von Ito Daisukes Leben verändert hatte.

In seiner wahren Gestalt war dieser Gegenstand viel schöner als einfach nur ein Buch. Plötzlich wurden die Seiten zu flaumigen Federn aus Licht, die sich auf Hanas Finger zu einem leuchtenden Singvogel zusammenfügten. Seine Farben changierten zwischen Blau und Gold.

Dieser Singvogel hatte einst glockenhell in Daisuke gesungen, während er fünf Jahre lang nach seiner Schicht als Verkäufer in einem Konbini an einem Krimi gearbeitet hatte. Als er vor zwei Jahren das Projekt aufgegeben und alle unfertigen Entwürfe gelöscht hatte, war der Vogel verstummt, war erst trübe und dann schwarz wie Kohle geworden. Er hatte jedes Mal an den Eingeweiden von Daisuke herumgepickt, wenn der an die von ihm ersonnenen Harajukumorde gedacht hatte, die nun ungelöst bleiben würden. Aber jetzt hatte Daisuke seine Entscheidung verpfändet und war endlich frei. Es würde Zeiten geben, in denen er kalte Leere an der Stelle spüren würde, wo der Entschluss einst gesessen hatte, aber das würde vorbeigehen. Er würde sich nicht mehr an die Entscheidung erinnern oder an dieses Pfandhaus oder an den Mann, der ihn davon überzeugt hatte, sich von einem abgenutzten Kriminalroman zu trennen. Wie es nach Seite 254 weitergehen könnte, würde er nie erfahren. Aber das sei doch ein angemessener Preis für seinen Seelenfrieden, hatte Toshio ihm versichert.

Hana nahm die Brille ab und machte in einem Regal neben einem Schlüsselbund und einem zerrissenen Flugticket Platz für Daisukes Buch. Wenn das Pfandhaus später schloss, würde ihr Vater diese Gegenstände aus dem Regal holen und sie zusammen mit allem, was heute bei ihnen eingegangen war, im Tresor verstauen.

Takeda Izumi blinzelte und versuchte, die Worte zu verstehen, die über zwei angeschlagenen Schälchen Tee in der Luft hingen. »Das ergibt doch keinen Sinn. Wie soll man denn Entscheidungen verpfänden?«

»›Sinn‹ ist relativ«, entgegnete Toshio. »Manche Dinge, die in Ihrer Welt Sinn ergeben, sind in meiner einfach lächerlich. Ich habe zum Beispiel noch nie verstanden, was eigentlich Fernseher oder Telefone sollen.«

»Was meinen Sie mit ›Ihrer Welt‹?«

»Sie stammen aus der Welt jenseits dieser Tür, meine Tochter und ich aus der Welt hier drinnen. Wenn von Ihrer Seite jemand den Weg in unser Pfandhaus findet, dann gibt es dafür immer einen guten Grund. Er hat eine Entscheidung getroffen, deren Last für ihn irgendwann zu schwer wurde. Wir nehmen diese Entscheidungen an uns, damit unsere Kunden erleichtert, zufrieden in ihre Welt zurückkehren können.«

»Ist das ein Scherz?«

»Wir verrichten wichtige Arbeit, über die ich niemals scherzen würde.«

Izumi griff nach ihrer Tasche. »Ich weiß nicht, was für ein Spiel Sie hier spielen, aber ich finde es nicht sehr lustig.«

»Das ist kein Spiel und soll auch nicht lustig sein. Ich kann Sie nicht zum Bleiben zwingen, aber ich weiß, dass niemand durch Zufall auf unser Pfandhaus stößt. Wenn Sie keinen Bedarf an unseren Diensten hätten, dann hätten Sie diese Tür geöffnet und ein Ramenrestaurant betreten, wie alle anderen aus der Schlange draußen.«

Izumi drückte die Schultern durch und hob das Kinn. »Selbst wenn Ihre Behauptungen wahr wären, und das sind sie ja nicht, dann hätte ich dennoch keinen Bedarf an Ihren Diensten. Ich bereue nichts.«

»Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht kränken, Takeda-sama.« Toshio neigte kurz den Kopf. »Aber ich mache diese Arbeit schon sehr lange und kann erkennen, ob jemand glücklich ist oder nicht, wie elegant auch seine Kleidung oder wie strahlend sein Lächeln sein mag. Glück hat wenig damit zu tun, was man besitzt, und alles damit, was man nicht hat.«

Izumi umklammerte ihre Tasche heftiger. »Sie kennen mich doch gar nicht.«

»Vielleicht nicht. Aber ich verfüge über Wissen, das meine Familie über Generationen hinweg durch das Führen dieses Pfandhauses zusammengetragen hat. Nach dem Durchschreiten dieser Tür haben mir alle Kunden versichert, dass sie aus Versehen hier gelandet sind. Und sie haben recht. Manchmal stößt man durch das Verfehlen des eigentlichen Ziels auf etwas, von dem man gar nicht wusste, dass man es gesucht hat.«

»Ich wusste ganz genau, worin heute mein Ziel bestand, nämlich darin, Ramen zu essen.«

»In der Stadt gibt es so viele gute Ramenrestaurants. Warum wollten Sie ausgerechnet in dieses?«

»Als ich jünger war, habe ich hier in der Nachbarschaft gewohnt. Das war damals mein Stammlokal.«

»Seitdem haben Sie doch bestimmt schon bessere Ramen gegessen.«

»Ja, natürlich, aber …«

»Und ich bin mir sicher, dass sich eine Frau wie Sie problemlos ein eleganteres Restaurant leisten kann.«

Den Blick auf ihren Tee gerichtet, spielte Izumi mit den Perlen um ihren Hals.

»Aber dieses Restaurant ist nicht wie alle anderen, oder?«, fragte Toshio.

Izumi sah ihn nicht an.

»Keine Sorge, Takeda-sama. Die Nase in Ihre Angelegenheiten zu stecken, ist nicht meine Absicht. Das habe ich auch gar nicht nötig. Ich weiß nämlich bereits, warum Sie beschlossen haben, heute in dieses Restaurant zu gehen.«

Izumis dünne Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Sie haben gesagt, dass Sie in jüngeren Jahren oft dort gegessen haben.« Toshio legte auf der Tischplatte die Hände übereinander. »Die Menschen kehren in ihre Vergangenheit zurück, um angenehme Erinnerungen noch einmal zu durchleben, unangenehme zu vertreiben oder beides.«

»Sie scheinen ja zu glauben, dass Sie mich ach so gut kennen, und wollen offenbar nicht akzeptieren, dass ich einfach nur Lust auf Ramen hatten. Dann verraten Sie mir doch bitte, welche dieser Erklärungen Ihrer Meinung nach auf mich zutrifft?«, entgegnete Izumi.

»Sie wollten in dieses Restaurant, um dort mit einem Geist zu essen.«

»Aber das …« Izumi stockte die Stimme. »Das ist doch Unfug!«

»Waren Sie etwa mit jemandem zum Essen verabredet?«

»Ich … Also … Nein, ich wollte allein essen. Ich komme gern allein her. Das mache ich jeden Herbst mindestens ein Mal.«

»Aber niemand isst je wirklich allein, oder?«, sagte Toshio. »Unsere Gedanken begleiten uns bei unserem Mahl, ob sie nun eingeladen sind oder nicht. Sie leisten uns Gesellschaft und sind besonders beharrlich, wenn niemand mit am Tisch sitzt. Dann plappern sie über alles, was wir nicht laut aussprechen können. In Ihrem Fall würde ich vermuten, dass Sie in eine Zeit zurückkehren, in der Sie noch nicht die Frau waren, die Sie heute sind. Vielleicht handelt es sich um einen Moment in Ihrem Leben, als Sie den Tisch im Ramenrestaurant mit jemandem geteilt haben.«

»Hören Sie auf.«

»Sie streiten sich mit Ihren Gedanken und beharren darauf, dass sie unrecht haben, aber das Ganze geht so lange weiter, bis Ihre Suppe schließlich kalt ist. Trotzdem kehren Sie bei jeder Gelegenheit zurück, weil eine Schale kalte Ramen immer noch besser schmeckt als jede warme Mahlzeit bei Ihnen zu Hause.«

»Nicht!« Tränen traten Izumi in die Augen und rollten ihr über die blassen Wangen. »Hören Sie bitte auf!«

»Es tut mir leid. Sie haben mir eine Frage gestellt, und ich habe darauf geantwortet. Es gibt vieles, was ich lieber nicht wissen würde. Aber nach einem ganzen Leben in diesem Pfandhaus kann ich in meinen Kunden lesen, als stünde ihnen ihre Geschichte auf die Stirn geschrieben.«

Izumi wischte sich über die Augen. »Nur, dass ich nicht Ihre Kundin bin.«

»Da haben Sie recht.« Toshio verschränkte die Finger. »Noch habe ich nicht entschieden, ob das, was Sie verpfänden möchten, für uns von Wert ist.«

»Es reicht, ich habe genug von Ihren Spielchen.« Neue Tränen stiegen auf. »Wer sind Sie?«

»Ich bin einfach nur ein Mann, der einen einzigartigen Dienst für alle anbietet, die ihn benötigen. Ein Mann, der erkennen kann, dass hinter Ihren Tränen nicht Traurigkeit, sondern Zorn steckt. Der sich aber nicht gegen mich richtet. Sie wünschten, er hätte mit mir zu tun, hat er aber nicht, weil Sie schon vor dem Betreten dieses Pfandhauses wütend waren.«

Izumi starrte ihn an, während ihr Röte ins Gesicht stieg. »Natürlich bin ich wütend. Ich finde es furchtbar, dass ich jeden Grund hätte, glücklich zu sein, und sich in mir trotzdem jedes Mal Risse auftun, wenn ich mich zu einem Lächeln zwingen will. Wollten Sie das von mir hören? Ist es das, was ich verpfänden soll? Ein zerbrochenes Lächeln, das wie Ihre Teeschälchen mit Gold gekittet wurde? In diesem Fall greifen Sie zu, das überlasse ich Ihnen sofort.«

»Sie glauben also, was ich Ihnen über das Pfandhaus erzählt habe?«

»Beweisen Sie es mir. Bringen Sie mich dazu, es zu glauben.«

»Nun gut. Dann zeigen Sie mir Ihre Entscheidung, und ich sage Ihnen, was sie wert ist.«

»Sie Ihnen zeigen? Wie denn? Eine Entscheidung ist doch nichts, was man im Handtäschchen oder in der Hosentasche mit sich herumträgt.«

»Man trägt alle Entscheidungen mit sich herum, die man im Leben getroffen hat, Takeda-sama. Das ist bei dieser nicht anders«, erklärte Toshio. »Und ich glaube, Sie wissen bereits genau, wo sie zu finden ist.«

KAPITEL DREI Der Preis einer Busfahrt

Ein Taschenspiegel. Ein matter Lippenstift in goldener Hülle. Hausschlüssel. Takeda Izumi dachte, dass man in der eigenen Handtasche für gewöhnlich mindestens drei andere Sachen fand, bevor man auf das stieß, was man suchte.

Sie schob die Schlüssel beiseite. Hinter einer Packung Feuchttücher ohne Duft versteckte sich ein Portemonnaie aus rotem Leder. Das zog sie nun hervor, genau wie jedes Mal, wenn sie im Konbini im Erdgeschoss ihres Apartmentgebäudes ihre Lieblingssüßigkeiten bezahlte. Sie traute sich nicht genug Selbstbeherrschung zu, um davon immer einen Vorrat zu Hause zu haben, und machte sich lieber dann eine Freude, wenn sie genug Kleingeld dafür zusammenhatte. In jüngeren Jahren war es ihr leichter gefallen, ihr Gewicht zu halten, und mittlerweile schien sie schon zuzunehmen, wenn sie beim Weg zu ihrem Blumenladen auch nur einen Blick hinüber zum Imagawayaki-Stand warf. Dennoch gab es Momente, in denen sie den duftenden, frisch gebackenen, gefüllten Pfannkuchen nicht widerstehen konnte. Vor allem bei denen mit einer süßen Füllung aus roten Bohnen wurde sie oft schwach, ließ an solchen Tagen aber die letzte Mahlzeit ausfallen. Ihrem Mann machte es zum Glück nichts aus, allein zu essen, und es kam ihr manchmal sogar so vor, als sei ihm das lieber.

Es wäre alles anders, wenn sie Kinder hätten. Izumi stellte sich vor, dass sie sich jeden Abend zur gleichen Zeit gemeinsam an den Esstisch setzen würden. Ihr Sohn würde höflich Fragen nach seinem Tag beantworten. Ihre Tochter, die gesprächigere der beiden, würde sanft kichern, während sie Geschichten über ihre Freundinnen erzählte. Ihr Ehemann würde schweigend kauen und gelegentlich nicken, wenn er einen Gesprächsbeitrag interessant fand. Izumi versuchte, eine Version von ihm heraufzubeschwören, die mehr redete, hatte nach beinahe drei Jahrzehnten Ehe dafür allerdings nicht mehr genug Vorstellungskraft. Das machte aber nichts, weil nur Menschen, die noch Träume hatten, viel Fantasie brauchten.

Ohne Träume zu leben, machte die Dinge einfacher. Routine war ein guter Ersatz für alles, was im Leben fehlte. Wenn sie nur gut genug geplant war, konnte sie einen Menschen vom Erwachen am Morgen bis zum Moment des Einschlafens am Abend tragen, ohne dabei Platz für Tagträumereien, vergilbte Wünsche oder staubige Gedanken zu lassen. Izumi genoss ihre tägliche Routine beinahe, die Arbeit in ihrem kleinen Blumenladen, nach der sie heimkehrte, um für Yoshi das Abendessen zuzubereiten. Unterwegs machte sie halt im Konbini, um den kleinen Vorrat an Süßigkeiten in ihrer Handtasche aufzufüllen.

Aber heute nahm sie ihr Portemonnaie mit einer ganz anderen Absicht aus der Handtasche. Ein merkwürdiger Pfandleiher wollte eine Entscheidung sehen, die sie vor einem halben Leben getroffen hatte. Und aus irgendeinem Grund, der sich nicht in Worte fassen ließ, wusste sie, dass diese Entscheidung zusammen mit ihrem Kleingeld in diesem Portemonnaie klimperte.

Izumi öffnete den Reißverschluss des Portemonnaies und überschlug kurz im Kopf. Sie wühlte zwischen den Münzen herum und suchte ungefähr zusammen, was sie einst für eine Fahrt vom Zuhause ihrer Kindheit bis zum Ramenrestaurant bezahlt hatte. Das Geld legte sie auf den Tisch.

Heute wäre es nicht mehr genug, aber vor Jahren hätte es für die Busfahrkarte gereicht, und sie hätte noch genug Wechselgeld herausbekommen, um ein paar ihrer Lieblingssüßigkeiten zu kaufen. Damals hatte sie sich auch noch keine Sorgen darüber machen müssen, dass sie dadurch zunehmen würde. Anders als ihr Ehemann hatte Junichiro sie nämlich mit jeder Figur geliebt. Und schließlich war Junichiro, mit dem sie sich zweimal die Woche bei seiner Arbeitsstelle im Ramenrestaurant getroffen hatte, selbst schuld daran gewesen, dass ihre Kleider immer enger geworden waren.

Den Job dort hatte Junichiro schon vor langer Zeit aufgegeben, aber Izumi suchte das Restaurant selbst nach all den Jahren noch immer auf, wenn sich die Bäume rotgolden verfärbten und das köstliche Aroma von Ramen durch die kühler werdende Luft waberte. Diesen Duft sog sie gern so tief wie möglich ein und wärmte sich an alten Erinnerungen von unbeschwertem Lächeln und unkomplizierteren Unterhaltungen. Heute war so ein Herbsttag, aber dieses Mal hatte ein Pfandhaus den Platz des Restaurants eingenommen.

»Darf ich?« Toshio deutete auf die Münzen, die Izumi auf den Tisch zwischen ihnen gelegt hatte. Er griff danach und wägte ihr Gewicht ab. »Die sind schwerer, als sie aussehen. Das ist bei den meisten Entscheidungen so. Ich muss sie genauer untersuchen, um Ihnen einen fairen Preis bieten zu können.« Toshio zog eine alte Brille aus seiner Hemdtasche und setzte sie auf. Sie war exakt wie die seiner Frau, nur dass seine einen Silberrand hatte und die ihre einen aus Gold. Mit der Brille sah er aus wie eine Eule.

»Der Preis ist mir egal. Behalten Sie die einfach.«

»So funktioniert das leider nicht. Wenn ich Ihnen nichts im Gegenzug dafür gebe, werden Sie sich immer fragen, was Sie eigentlich hier zurückgelassen haben.« Toshio untersuchte jede Münze und nickte langsam. »Verstehe«, sagte er, wobei sein Ton sanfter und behutsamer wurde.

»Was verstehen Sie?«

»Warum Sie vor all den Jahren nicht den Bus genommen haben, um sich mit Junichiro am Restaurant zu treffen, wie es ausgemacht war.«

Izumi senkte den Blick. »Ich hatte … keine Wahl.«

»Und dennoch liegt die Entscheidung hier vor uns.« Toshio legte die Münzen auf dem Tisch in einer ordentlichen Reihe nebeneinander.

»Ich war …«

»Rechtfertigen Sie sich nicht, das ist nicht nötig. Nach genauer Untersuchung Ihrer Münzen weiß ich jetzt, was Sie entschieden haben und warum.«

»Sie müssen mich für einen schrecklichen Menschen halten.«

»Ich sehe hier eine Kundin vor mir, die unsere Dienste benötigt. Sicher sind Sie es langsam leid, die Last dieses Entschlusses mit sich herumzutragen.«

»Mein Ehemann ist gut und loyal. Er hat eine Frau verdient, die nicht länger in der Vergangenheit lebt.«

»Lieben Sie ihn?«

Izumi starrte auf ihre Hände.

»Liebt er Sie?«

»Uns Menschen wird beigebracht, dass wir uns nach Liebe sehnen sollen. Aber wir brauchen doch einfach nur Gesellschaft, wenn wir am Abend heimkehren, und jemanden, der uns von der Tür aus hinterherwinkt, wenn wir aus dem Haus gehen.«

»Das ist mehr, als die meisten Menschen haben.« Ein Lächeln, das Toshio müde und älter aussehen ließ, stahl sich auf seine Lippen. »Meiner Meinung nach werden Sie sehr zufrieden mit dem Gegenwert Ihrer Entscheidung sein. Ich kann sie Ihnen jetzt abnehmen, und dann werden Sie sich im Herbst nie wieder nach Ramen sehnen.«

Hana wickelte ein Seidentuch mit frühlingshaftem Muster um ein Kästchen aus Holz. Sie hatte das Tuch selbst mit Blumen bemalt, weil sie sich darum bemühte, jedem Kästchen etwas Individuelles zu verleihen, obwohl der Inhalt immer gleich war. Was ihr Vater im Gegenzug für die Entscheidung den Kunden anbot, änderte sich nie, unabhängig von deren Wert. Jedes Kästchen enthielt die gleiche Menge an grünem Tee.

Als sie jünger gewesen war, hatte ihr Vater mit ihr ein Spiel gespielt. Es hatte darin bestanden, Teekästchen überall im Haus zu verstecken und dann Hinweise zu hinterlassen, anhand derer Hana sie finden konnte. Rätsel in leeren Sakeflaschen. Zu Origamifüchsen gefaltete Matheaufgaben. Eine angeschlagene Vase, die an der falschen Stelle stand. Nichts durfte übersehen werden. Mit diesen kleinen Schatzsuchen war sie beschäftigt und zufrieden, während ihr Vater Inventur machte oder sich um Kunden kümmerte. Oft ertappte sie ihn bei einem unterdrückten Lächeln, wenn seine Hinweise sie fälschlicherweise nach links statt nach rechts schickten. Im Laufe der Zeit wurde sie besser darin, die gelegte Spur zu entdecken, selbst dann, wenn sie auf den ersten Blick gar nicht wie eine aussah. Toshio war besonders stolz auf Anhaltspunkte, die zunächst überhaupt nicht ins Auge sprangen, bevor sie irgendwann offensichtlich wurden.

Diese Rätsel waren Hanas erste Lektion bei der Vorbereitung auf den Umgang mit Kunden. So wie bei der von ihrem Vater organisierten Spurensuche konnte man auch bei den Kunden mit etwas Übung und scharfem Blick die angestrengt verborgene Wahrheit so deutlich sehen wie Mund oder Nase. Aber Hana hatte ihre kleinen Schatzsuchen nie als Unterricht empfunden. Stattdessen hatte sie gern so getan, als seien die gefundenen Kästchen Geschenke ihrer verstorbenen Mutter und jeder Hinweis darauf ein geheimer Code für »Ich habe dich lieb«, »Du fehlst mir« und »Wir werden uns wiedersehen«.

Für Takeda Izumi hatte Hana ein Einschlagtuch mit einem ihrer Lieblingsmuster ausgewählt. Izumi schien ungefähr so alt zu sein wie ihre Mutter jetzt, wenn sie noch am Leben wäre. Auf dem einzigen Foto von ihr hatte ihre Mutter die gleiche Gesichtsform wie Izumi und ähnlich schmale Lippen. Die Augen waren unterschiedlich, aber das war schon in Ordnung. Hana verschloss das Seidentuch mit zwei Knoten, stellte das Teekästchen auf ein lackiertes Tablett und ging in den vorderen Raum, wo Takeda Izumi wartete.

Izumi bewunderte den Garten, mit dem der Seidenstoff bemalt war. Ein Lächeln legte sich über ihre Lippen, obwohl sie noch nicht wusste, was sich in dem Päckchen befand.

»Machen Sie es bitte auf«, wies Toshio sie an.

Als Izumi die seidenen Knoten löste, ergoss sich der Stoff um ein schlichtes Kästchen aus Holz, dem beim Anheben des Deckels ein frischer grüner Duft entströmte, durchzogen von der Süße kandierter Früchte. Izumis Lächeln wurde noch strahlender angesichts des Geruchs und des Anblicks der dunkelgrünen Blätter, von denen er herrührte. Gyokuro, Tee höchster Qualität, sorgfältig herangezogen in schattigen Plantagen. Diesen Tee aufzubrühen, erforderte ebenso viel Sorgfalt, aber Izumi freute sich bereits auf jeden behutsam ausgeführten Handgriff. Der Luxus, sich im Aroma dieser Blätter verlieren zu können, war die Zeit wert, es ihnen zu entlocken.

»Ich hoffe, er sagt Ihnen zu. Das ist die übliche Gegenleistung für alle Gegenstände, die in unser Pfandhaus gebracht werden«, erklärte Toshio.

»Üblich? Warum mussten Sie meine Entscheidung dann so genau prüfen?«

»Um zu sehen, ob sie diesen Tee wert ist.«

»Den hätte ich mir auch einfach selbst kaufen können.«

»Ja, das hätten Sie, und er hätte vermutlich köstlich geschmeckt. Aber er wäre nicht dieser Tee, den ich Ihnen überreiche, nicht der Tee als Gegenleistung für eine Entscheidung, die Ihr Leben entzweigerissen hat. Es wäre nicht der Tee, den Sie endlich genießen können, ohne dabei an ein Ramenrestaurant und einen Mann zurückdenken zu müssen, der darin wartet. Ich schicke vielleicht all meine Kunden mit diesem Tee nach Hause, aber es ist nicht mehr der gleiche, sobald sie davon trinken.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Hier befreien sich keine zwei Menschen von der gleichen Entscheidung. Jeder hat seine eigene Vorstellung davon, wie Freiheit schmeckt. Für Sie ist sie vielleicht tröstlich und warm, wie die Freude darüber, an einem Regentag aus dem Fenster zu blicken und nirgendwo anders sein zu wollen. Für meine nächste Kundin schmeckt Freiheit vielleicht nach Mut, betörend und von dunkler Süße.«

Izumi klappte das Kästchen zu.

»Erklären Sie sich mit dem Austausch einverstanden?«, fragte Toshio.

»Von Junichiro ist mir nur dieser Schmerz geblieben, und ich habe so lange damit gelebt, dass ich mich ohne ihn vielleicht selbst nicht wiedererkenne.«

»Dann sehen Sie das hier als Gelegenheit, es herauszufinden.«

»Aber was, wenn ich meine Meinung ändere? Wenn ich meine Entscheidung wiederhaben will?«

»Wir sind Pfandleiher, keine Kaufleute. Wenn Sie Ihre Entscheidung zurückwollen, brauchen Sie sie bloß auszulösen.«

Izumi atmete aus und entspannte die Schultern. »Gut.«

»Es kommen aber Zinsen hinzu.«

»Was für Zinsen bezahlt man denn für Tee?«

»Darüber können wir reden, wenn Sie Ihre Meinung ändern. Falls Sie das wirklich tun, wären Sie allerdings die Erste.«

»Keiner Ihrer Kunden hat es sich je anders überlegt?«

»Kein einziger« bestätigte Toshio. »Und wenn Entscheidungen am Ende der Woche nicht zurückgefordert werden, behält das Pfandhaus sie.«

Izumi kaute an ihrer Unterlippe. »Das ist aber nicht sehr lange.«

»Wie viel Zeit brauchen Sie denn, um sich darüber klar zu werden, ob Ihnen nach Lächeln zumute ist? Ich zwinge Sie nicht zu diesem Austausch, Takeda-sama. Wenn Sie Zweifel haben, dann nehmen Sie Ihre Entscheidung wieder an sich, und kehren Sie zum Ramenrestaurant zurück.«

»Wäre ich dazu in der Lage, Sie wiederzufinden?«

»Ich habe keine Macht darüber, wer die Tür des Pfandhauses durchschreitet.«

»Also ist es vielleicht meine letzte Chance, die Entscheidung hier zurückzulassen?«

»Ja.«

»Dann nehme ich Ihren Tee.«

»Sind Sie sicher?«

»Sicher?« Ihr entfuhr ein trockenes Lachen. »Ich glaube nicht, dass ich noch weiß, was dieses Wort bedeutet. Nicht, seit ich die Tür zu einem Ramenrestaurant geöffnet und stattdessen ein Pfandhaus betreten habe. Ich bin ja nicht einmal mehr sicher, ob das hier echt ist oder nur ein seltsamer Traum. Ich weiß nur, dass ich keine neue Last mit mir herumtragen will, weil ich wieder einmal etwas bedauere. Sollte das hier echt sein, dann ist es kein Zufall, dass ich bei Ihnen gelandet bin. In dem Fall war es mir wohl vorherbestimmt, dass ich Sie treffe und mich auf dieses Tauschgeschäft einlasse.«

»Also ist die Sache entschieden. Der Tee gehört Ihnen. Mögen Sie ihn bei guter Gesundheit genießen.«

»Was? Das ist alles?«

»Ja, das ist alles. Wir machen es hier nicht unnötig kompliziert. Es gibt nichts weiter zu tun für Sie.« Toshio griff nach Izumis Münzen auf dem Tisch.

»Aber ich fühle mich gar nicht anders.«

»Die Veränderung wird sich zeigen, wenn Sie in Ihre Welt zurückkehren.«

»Und wenn es nicht funktioniert?«

»Sie haben hier kein Radio, keine Uhr gekauft, Takeda-sama. Es handelt sich um einen einfachen Austausch. Da gibt es keine Mechanik, die blockieren oder auseinanderfallen kann.«

Sorgfältig verstaute Izumi das Teekästchen in ihrer Tasche. »Danke.«

Toshio verneigte sich mit einem Lächeln.

Izumi ging zur Tür hinüber und legte die Hand um den abgenutzten Türknauf aus Messing. Sie drehte ihn, zog daran und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Dann hielt sie inne und wandte sich zu Toshio um. »Ishikawa-san?«

»Ja?«

»Ich war so sehr damit beschäftigt, mich von meiner Entscheidung zu verabschieden, dass ich gar nicht gefragt habe, was Sie eigentlich damit wollen. Warum sammeln Sie Entscheidungen? Was können Sie denn damit anfangen?«

KAPITEL VIER Sake und Stille

Ein Hauch von Honigtauaroma blieb auf der Zunge zurück, als Hana ihre dritte Schale Sake geleert hatte. Sie vertrug Alkohol besser als die meisten, was sich ihr Vater voll und ganz als Verdienst anrechnete.

Wenn ihre Mutter am Leben wäre oder Toshio Freunde hätte, mit denen er ausgehen und etwas trinken könnte, dann hätte ihre allabendliche Routine vermutlich anders ausgesehen. Aber so schien Toshio vollkommen damit zufrieden zu sein, still mit Hana am Tisch zu sitzen. Seine Tochter leistete ihm Gesellschaft, während sie tranken, bis seine Lider zu schwer wurden, um sie länger aufzuhalten. Ihre Abende waren mehr von ruhigem Nippen als von Gesprächen geprägt, aber das fand sie in Ordnung. Warten ließ die Nacht länger erscheinen, und Hana war dankbar für alles, was den Morgen fernhielt.

Am Abend vor dem Ruhestand ihres Vaters halfen aber auch die längsten Pausen und das langsamste Trinken nicht gegen das unerbittliche Vorrücken der Uhrzeiger.

»Hana«, sagte Toshio und stellte ein eingewickeltes Kästchen auf den Tisch. »Das ist für dich.«

»Für mich?« Hana starrte das Kästchen an. Sie erkannte ein Einschlagtuch wieder, das sie selbst vor Kurzem bemalt hatte.

»Eine kleine Gabe, um das neue Kapitel in deinem Leben zu feiern.«

»Danke, Otō-san.« Ihr Vater war praktisch veranlagt, daher wunderte es Hana nicht, dass er ihr eins der Kästchen Tee schenkte, die eigentlich für die Kunden gedacht waren. Originell war das nicht, aber das wurde durch die Erinnerungen an die Schatzsuchen ihrer Kindheit wieder wettgemacht, die es heraufbeschwor. Es waren keine Worte nötig, damit Hana die Absicht dahinter erkannte. Die Tränen in Toshios Augen sagten alles.

»Weißt du noch, was ich unseren Kunden über diesen Tee sage?«

»Dass er für jeden anders schmeckt.«

»Das trifft auch auf dich zu. Du kennst diesen Tee schon dein Leben lang. Aber morgen wirst du deine erste Schale davon als neue Besitzerin des Pfandhauses trinken. Und dann wirst du dich vielleicht darüber wundern, wie viel sich verändert, selbst wenn es auf den ersten Blick gleich aussieht. Meinst du, dass du dafür bereit bist?«

»Heute Abend geht es nicht um mich, Otō-san. Wir feiern doch deinen Ruhestand.«

»Anfang und Ende fallen zusammen, und dieser Abend ist für dich genauso bedeutend wie für mich«, sagte er. »Vielleicht sogar noch bedeutender. Ich sehe, dass dir viel im Kopf herumgeht.«

Hana umfing das Teekästchen mit den Händen und versuchte, in den Falten der kühlen Seide etwas Trost zu finden. »Hat es …?« Sie wandte den Blick ab und beschloss, ihre Gedanken lieber für sich zu behalten.

»Sprich weiter.«

»Hat es dich glücklich gemacht?«

»Was?«

»Dieses Pfandhaus.«

»Verstehe.« Toshio nickte langsam und goss Sake in seine Schale. »Ab morgen wird das Pfandhaus deiner Verantwortung unterstehen, und du fragst dich, ob es dich genauso unglücklich machen wird, wie es deiner Meinung nach mich gemacht hat.«

»Nein … Nein … Otō-san, so habe ich das nicht gemeint.« Hanas Wangen begannen zu brennen. »Das habe ich nicht gesagt.«

»Seit wann brauchen wir denn Worte, um zu verstehen, was der andere empfindet? Ich würde dir das Pfandhaus nicht überlassen, wenn du diese Lektion nicht gelernt hättest. Wir würden die Hälfte aller Kunden verlieren, wenn wir nicht dazu in der Lage wären, das Unausgesprochene zu erspüren. Die Kunden sind für dich ein offenes Buch, Hana, und in mir kannst du noch viel besser lesen. Das Streben nach Glück stand bei meiner Arbeit doch nie im Mittelpunkt. Wir wissen schließlich beide, worin der wirkliche Sinn des Pfandhauses besteht, welche Pflicht wir tatsächlich erfüllen.«

Hana starrte ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe an. »Beneidest du sie nicht manchmal, Otō-san?«

»Wen?«

»Unsere Kunden. Ich weiß, dass ich das nicht sollte, aber von Zeit zu Zeit …«

Toshio knallte seine Schale auf den Tisch. »Muss ich dich etwa daran erinnern, was mit deiner Mutter passiert ist?«

Hana ließ den Kopf hängen und schluckte heftig. »Sie hat eine Entscheidung aus dem Tresor gestohlen.«

Toshio hob Hanas Kinn an und zwang sie dazu, ihn anzusehen. »Und?«

»Und sie hat für dieses Verbrechen mit dem Leben bezahlt.«

Toshio legte die Hände auf die Tischplatte und stieß einen Seufzer aus, der in seiner Brust widerhallte. Als er erneut sprach, brachte er seine Worte in dem sanften Tonfall vor, den er normalerweise bei den angespannteren unter ihren Kunden benutzte. »Ich weiß, dass du dir dieses Leben nicht wünschst, das hast du nie. Es ist der grausamsten aller Pflichten gewidmet, aber auch der wichtigsten.«

»Ich weiß, Otō-san. Ich weiß.«

»Für deine Mutter war ich nicht der Ehemann, den sie verdient hätte, und ich war dir auch nicht der beste Vater. Aber ich habe das Pfandhaus so gut geleitet, wie ich konnte, und dafür auch dich entsprechend auszubilden versucht. Das ist alles, was mir möglich war, und alles, was ich dir mitgeben kann. Deine Mutter habe ich auf furchtbare Art und Weise enttäuscht, aber ich hoffe, dass ich dir ein besserer Lehrer war. Morgen wird dieses Pfandhaus dir gehören, mit all seinen Regeln und deren Folgen. Ich werde nicht immer hier sein, um dich zu beschützen, Hana. Versprich mir, dass du den Fehler deiner Mutter nicht wiederholst. Du kannst jede Lektion aus dem Gedächtnis streichen, die ich dich gelehrt habe. Aber vergiss nie, dass dir in dieser Welt nur eine einzige Entscheidung zusteht, nämlich die zwischen Tod und …«

»… Schicksal.« Hana neigte den Kopf. »Ich werde es nicht vergessen.«

Hana schwirrte der Kopf, als sie ins Bett stolperte. Sie hätte nicht sagen können, ob ihr wegen des Reisweins schwindelig war oder wegen der Worte ihres Vaters. Hatte es sich dabei um eine Warnung gehandelt oder um einen Abschied? Mit Ersterem war Hana vertrauter als die meisten Menschen. Der Geist ihrer Mutter lebte nämlich in jedem Raum ihres Zuhauses und erinnerte Hana daran, was mit denen passierte, die gegen die wichtigste Regel des Pfandhauses verstießen: das Vergessen.

Dieses Wort hatte Toshio Hana vor allen anderen beigebracht und es sie gebetsmühlenartig wiederholen lassen, wenn sie morgens das Pfandhaus öffneten und es abends zumachten. Sobald sich die verpfändeten Entscheidungen im Tresor befanden, musste Hana sie komplett aus ihren Gedanken verbannen, wie glänzend, schön oder faszinierend sie auch sein mochten.

Die neuen Besitzer, die mit jedem Neumond im Pfandhaus erschienen, um die Entscheidungen der Kunden mitzunehmen, teilten diese wertvollen Fundstücke nicht gern. Das, so dachte Hana, war der wahre Grund für die versteckte Stelle, an der sich der Tresor im Hinterzimmer des Pfandhauses befand: hinter einem Bücherregal. Abschweifende Gedanken waren die verstohlensten Diebe, und Hana durfte niemals die möglichen Folgen von zu viel Interesse an Entscheidungen vergessen, die sie selbst nie würde treffen können. Warnungen waren für sie also nichts Neues. Mit Abschieden hatte sie hingegen wenig Erfahrung. Ihr Vater war so beständig wie der Mond, wenn man von diesem einen stillen Morgen absah, an dem es nicht so gewesen war.

Vor acht Monaten hatte Hana den reglosen Toshio am Fuß der Treppe gefunden, nachdem er einen Herzinfarkt erlitten hatte. Dieser Anblick hatte sich ihr tief ins Gedächtnis eingegraben. Es war das Letzte, was sie beim Einschlafen vor sich sah, und das Erste, was sie bei ihrer Rückkehr aus dem Reich der Träume erwartete. Toshios Herz hatte sich davon nie wieder richtig erholt. Das von Hana auch nicht. Ihr zog sich in der Brust sofort alles zusammen, wenn ihr Vater müde aussah oder außer Atem war. Als Hana am ersten Tag seines Ruhestandes aufwachte und nichts weiter hörte als ihre eigenen Gedanken, ging sie daher vom Schlimmsten aus. Ohne auch nur in ihre Hausschuhe zu schlüpfen, huschte sie hastig zu seinem Schlafzimmer hinüber.

Die Tür stand weit offen.

»Otō-san?« Hana schielte hinein.

Vor sich hatte sie ein leeres Bett. Mit angehaltenem Atem eilte sie zur Treppe.

Die Stufen und der Treppenabsatz waren leer. Hana stieß die Luft aus. Vermutlich war ihr Vater am ersten Tag, an dem die Leitung des Pfandhauses ihr oblag, genauso nervös gewesen wie sie, sagte sie sich, und war schon früh hinunter ins Pfandhaus gegangen. Hana ließ sich Zeit, als sie die Treppe hinunterstieg, und beschwor dabei Bilder davon herauf, wie Toshio ihre Registerbücher durchging und den Bestand an Tee überprüfte.

Das war eine viel angenehmere Erklärung für die Grabesruhe im Haus als die zweite Möglichkeit, über die Hana nicht einmal nachdenken wollte. Sie war zu jung, um eigene Erinnerungen an den besonders stillen Morgen zu haben, an dem ihre Mutter gestorben war. Aber als sie alt genug gewesen war, hatte Toshio ihr ein einziges Mal den Tag ihrer Hinrichtung beschrieben.

Hana erreichte das Fußende der Treppe und stieß mit dem Zeh gegen etwas Kleines, Hartes. Ein Teekästchen ohne Deckel schlitterte über den Fußboden und krachte gegen die umgestürzte Theke ihres Vaters. Ein fahler Sonnenstrahl erhellte das restliche Chaos zu ihren Füßen. Verstreute Registerbücher, umgefallene Stühle, zerbrochenes Glas von den Schiebetüren der Regale. Hana taumelte nach hinten und stolperte. Ein stechender Schmerz fuhr ihr durchs Steißbein, als sie auf die Stufen fiel.

Sie unterdrückte einen Schrei und rappelte sich wieder auf. Ihr Blick sauste durch das verwüstete Pfandhaus und folgte den hereinfallenden Sonnenstrahlen quer über den Fußboden bis zur weit offenen Haustür.

KAPITEL FÜNF Der Tresor

Niemand in der Schlange jenseits der dunkel gebeizten Hartholztür ahnte, was dieser Tür abverlangt wurde. Die Aufgabe anderer Türen bestand nur darin, innen und außen voneinander zu trennen. Dieser Tür zwischen hungrigen Menschen und einem Pfandhaus, das die meisten von ihnen nie zu Gesicht bekommen würden, oblag eine weitaus größere Verantwortung.

Soweit Hana wusste, war es die einzige Tür in der ganzen Geschichte der Türen, die je mit dem Ziel gebaut worden war, die Sicherheit einer ganzen Welt zu gewährleisten. Jetzt stand sie weit offen und erlaubte der Dämmerung einer anderen Welt, in Hanas Zuhause einzudringen.

Hana hastete zum Eingang und achtete dabei gar nicht auf die umgekippten Regale und die Glasscherben. Sie knallte die Tür zu und lehnte sich dagegen, während ihr das Blut in den Ohren rauschte. Dann sank sie zu Boden, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum.

In diesem Moment fiel ihr etwas ins Auge, was neben der Tür golden glitzerte. Scharf sog Hana die Luft ein und streckte die Hand aus. Ihre Finger erkannten die Form und das Gewicht des Gegenstandes sofort wieder.

Hana hielt die alte Brille ihrer Mutter hoch und untersuchte sie auf mögliche Schäden. Es kam einem Wunder gleich, dass der wohl zerbrechlichste Gegenstand im ganzen Pfandhaus, der sich in ihrer verschlossenen Schreibtischschublade befunden hatte, unversehrt hier bei der Tür gelandet war. Hana konnte nur hoffen, ihren Vater in einem ähnlichen Zustand vorzufinden.

Dass eine fremde Person ins Pfandhaus eingebrochen war und darin gewütet hatte, war schlimm genug. Furchtbarer war nur der Gedanke, was wohl passiert war, wenn Toshio sie dabei überrascht hatte. Leider kannte ihr Vater den Unterschied zwischen mutig und leichtsinnig nicht, sosehr sich Hana das auch einzureden versuchte. Sie rappelte sich hoch und stürzte hinüber zum einzigen Rückzugsort im Pfandhaus, der Toshio Sicherheit hätte bieten können.

Jenseits der Hintertür des Pfandhauses raschelten die Bäume des Tsubo-niwa im Wind. Der kleine Garten im Innenhof war Hanas liebster Bereich ihres Zuhauses, ein Ort, an dem in klaren Nächten der Mond im kleinen Koiteich schwamm.

Aber es würde noch einen ganzen Tag dauern, bis der Mond wieder aufgehen würde, und Hanas Ziel war nicht der Tsubo-niwa, sondern das Bücherregal neben der Hintertür. Sie fuhr mit den Fingern über die Seitenwand des Regals, bis sie eine Kerbe im Holz ertastete. Sie drückte darauf und trat zurück, während das Bücherregal aufschwang und eine massive Steinwand freigab. Als Hana die Brille ihrer Mutter aufsetzte, erschien vor ihr eine solide Holztür, hinter der gedämpftes Vogelgezwitscher lockte.

Normalerweise betrat Hana den Tresor nie. Ihr Vater übernahm die alleinige Verantwortung dafür, die neuen Objekte darin zu verstauen. Wäre er in Gefahr gewesen, so nahm Hana an, hätte er wohl darin Zuflucht gesucht.

Man konnte den Tresor nur durch Toshios Brille oder die ihrer Mutter sehen, und er wurde je nach Notwendigkeit größer oder kleiner. Vor drei Jahren war er im Herbst einst dreimal so groß gewesen wie das ganze Pfandhaus, während er in einem ruhigen Sommer kleiner geworden war als ihr Zimmer. In seinem Inneren saßen verpfändete Entscheidungen in mit Schildchen versehenen Holzkäfigen und sangen das immer gleiche, sich niemals wandelnde Lied. In ihrer Kindheit war es für Hana das schönste Lied der Welt gewesen. Erst später war ihr klar geworden, dass es tatsächlich das Traurigste war. Es handelte sich dabei um ein Abschiedslied für die Besitzer, die die Entscheidungen hier zurückgelassen hatten. Und als Hana jetzt auf der Suche nach Toshio den Tresor betrat, konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass die Vögel auch für ihn sangen.

Das Leuchten von mehr als hundert Vögeln umgab sie, das im Rhythmus ihres Liedes heller und matter wurde. Hana hielt nicht inne, um zuzuhören, sondern rannte zwischen den Reihen von Käfigen hin und her, während ihr Schatten übers Gesicht tanzten. »Otō-san?«

Unruhiges Zwitschern übertönte ihre Stimme. Die Federn der Vögel begannen, intensiver zu strahlen und den Tresor in ganzer Länge und Breite zu erhellen. Hana stellte schnell fest, dass sich Toshio nicht darin befand, und sank auf die Knie, weil ihre Beine nachzugeben drohten. Holzsplitter bohrten sich ihr ins Schienbein und lenkten ihren Blick auf die Überreste eines Vogelkäfigs am Boden, dessen Entscheidung verschwunden war. Neben der zerbrochenen Sitzstange lagen eine handgemalte Spielkarte und das zerknitterte Schildchen des Käfigs, die sich Hana schnappte.

Die Karte stammte aus Toshios Satz Hanafuda-Karten und zeigte einen in Schwarz und Rot gemalten Vollmond. Hana runzelte die Stirn und fragte sich, wie die wohl im Tresor gelandet war. Sie legte die Karte wieder hin und strich das Schildchen glatt. Die elegante Handschrift ihres Vaters gab Aufschluss über den Namen der Person, der die fehlende Entscheidung einst gehört hatte.

KAPITEL SECHS Takeda Izumis Entscheidung

Am Abend zuvor

Der Singvogel hockte auf Toshios Finger und plusterte die glänzenden Federn. Toshio hob die Hand und bewunderte das Tier durch seine Brille. »So eine Entscheidung kommt nicht oft herein, Hana. Guck mal.«

Hana schob den Vogelkäfig, den sie gerade vorbereitete, zur Seite und setzte die Brille ihrer Mutter auf. Takeda Izumis Münzen fügten sich flimmernd zu einem Vogel aus so intensivem blauem Licht zusammen, dass er am Nachthimmel die Sterne in den Schatten gestellt hätte. »So etwas … habe ich noch nie gesehen.«

»Ich schon.«

»Wann?«

»Ein einziges Mal, vor deiner Geburt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich etwas derart Strahlendes noch einmal zu Gesicht bekommen würde.«

Hana betrachtete den Vogel aus zusammengekniffenen Augen. »Warum leuchtet er denn so hell?«

Toshio setzte den Vogel vorsichtig in den Käfig und schloss die Tür. »Entscheidungen werden durch all die Möglichkeiten zum Leuchten gebracht, die sie enthalten. Die meisten davon kräuseln nur ein wenig die Wasseroberfläche, aber diese hier hätte in alle Richtungen Wellen geschlagen, wenn man sie nicht aufgegeben hätte.«

»Ich frage mich, ob Takeda-sama wohl geahnt hat, was alles hätte sein können.« Hana reichte Toshio ein leeres Schildchen.

»Unsere Kunden können oft nicht mehr sehen als das, was sie direkt vor der Nase haben. Und manche sind selbst dafür blind.« Toshio tauchte einen Pinsel in ein kleines Tintenfass und schrieb mit raschen, sicheren Strichen Takeda Izumis Namen auf das Schildchen.

»Vielleicht ist es besser so.« Hana fädelte ein Stück rote Schnur durch das Loch im Schildchen und band es an den Käfig.

Der Vogel kreischte und flatterte in seinem neuen Zuhause aufgebracht hin und her.

»Pscht, pscht.« Hana streckte die Hand nach der Tür des Käfigs aus.

»Nicht.« Toshio hielt sie am Handgelenk fest.

»Aber so hat sich noch kein Vogel aufgeführt. Ist er verletzt? Vielleicht kann ich ja versuchen, ihn zu beruhigen …«

»Nein.«

Der Vogel hackte wütend nach dem Käfig und rasselte an den Stäben.

»Du darfst nie einen Vogel herausholen, das weißt du doch.«

»Ich passe auch gut auf. Er wird schon nicht entkommen.«

Toshio schüttelte den Kopf. »Ich habe das Gleiche gesagt, bevor mir einer davongeflogen ist, als ich ein kleiner Junge war.«

»Dir …« Hana bekam einen ganz trockenen Mund. »Dir ist mal ein Vogel entwischt?«

»Mein Vater hat ihn gepackt, bevor er die Tür erreicht hatte. Wenn nicht …« Mit bebender Unterlippe schloss er die Augen.

Hana lehnte sich vor und senkte die Stimme. »Was wäre dann passiert, Otō-san?«

»Er wäre zu dem Moment zurückgeflogen, in dem er entstanden ist.«

»Zurückgeflogen?« Hana machte große Augen. »In die Vergangenheit?«

Toshio nickte. »Ein Vogel, der einmal die Freiheit gekostet hat, wird alles tun, um nicht wieder in Gefangenschaft zu geraten. Er würde sogar die Zeit auf null stellen, um sein Schicksal zu ändern.«

»Aber das würde ja bedeuten …«

»… dass sich jenseits der Tür dadurch alles verändern würde. Wichtiges und Unwichtiges. Vergessene Geschichten würden geschrieben, verlorene Liebhaber gefunden werden. Der nicht gewählte Weg würde eingeschlagen werden und würde mit seinen vielen Abzweigungen den Besitzer der Entscheidung zu einem völlig neuen Leben führen.«