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Das ehrgeizige Vorhaben, am Husumer Badestrand Dockkoog ein Ferienressort zu errichten, stößt nicht nur bei Umweltschützern auf wenig Gegenliebe. Eine Leiche im Großbecken des Multimar Wattforums in Tönning – schnell finden die junge Kommissarin Wiebke Ulbricht und ihr Partner Jan Petersen von der Kripo Husum heraus, dass es sich bei dem Toten um Holger Heiners, den ungeliebten Dockkoog-Investor handelt. Der Millionär ist qualvoll im eiskalten Nordseewasser ertrunken – es steht außer Zweifel, dass dabei jemand nachgeholfen hat. Geht der Mord auf das Konto militanter Umweltschützer oder hatte Heiners noch weitere Feinde? Die blutige Spur führt an die Ostseeküste. Der Fall wird nicht einfacher, als plötzlich Wiebkes tot geglaubter Vater, Hauptkommissar Norbert Ulbricht, im Türrahmen steht und sich sehr zu ihrem Entsetzen in die Ermittlungen einmischt. Als Ulbricht senior selber Zeuge eines kaltblütigen Mordes wird, muss er sich vom Leiter der Flensburger Mordkommission unbequeme Fragen gefallen lassen.
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Veröffentlichungsjahr: 2012
Im Verlag CW Niemeyer sind bereitsfolgende Bücher des Autoren erschienen:
Tödlicher Schnappschuss
WeserTodTodesDuft
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Umschlagfoto und Bearbeitung: CW Niemeyer Buchverlage
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Printed in Germany
ISBN 978-3-8271-9511-1
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E-Book ISBN 978-3-8271-9816-7
Für meine Mutter.
Einfach mal, um danke zu sagen!
Über den Autor:
Andreas Schmidt ist verheiratet und Vater zweier Kinder, er lebt und arbeitet mit seiner Familie in Wuppertal. Die Leidenschaft für das Schreiben entdeckte er als Jugendlicher; so schrieb er als Schüler diverse Kurzgeschichten und arbeitete an Schülerzeitungsprojekten mit. Nachdem er zahlreiche Heftromane für große Verlage geschrieben hatte, gab er 1999 mit „In Satans Namen“ sein Krimi-Debüt. 2002 gelang ihm mit „Das Schwebebahn-Komplott“ der Durchbruch. Inzwischen sind sechs Wuppertal-Krimis, eine Anthologie sowie der Thriller „Mein ist die Nacht“ erschienen. Seit 2008 ist er hauptberuflich als Autor und Texter für verschiedene Agenturen und Verlage sowie als Freier Redakteur tätig.
Mehr über Andreas Schmidt und seine Aktivitäten erfahren Sie unter www.andreasschmidt.org
Als sie die Deichkrone erreicht hatte, bot sich ihr ein einzigartiger Ausblick auf das Meer. Ja, dachte sie zufrieden, so fühlt sich Freiheit an. Wie jeden Samstag hatte sie sich in aller Frühe aufgemacht, um ein paar Runden am Husumer Badestrand zu joggen. Wiebke Ulbricht verlangsamte ihre Schritte und war froh, ihren Puls wieder unter Kontrolle zu haben. Ein sanfter Wind strich über die Grasbüschel auf dem Deich. Die Luft roch frisch und würzig, genau so liebte sie es. Langsam eroberte die See das Watt zurück, und nur ein sanfter Wind strich über die Grasbüschel auf dem Deich. Eine Möwe kreischte über ihrem Kopf und zog dann in östliche Richtung davon.
Die junge Kommissarin genoss die Ruhe und Einsamkeit, die hier herrschten, bevor die ersten Badegäste eintrafen.
Um diese Zeit lagen die Strandkörbe noch verlassen da. Wiebke genoss die Stille, die nur vom Rauschen des Meeres überlagert wurde. Soeben brach die Sonne durch die Wolken und zauberte ihr einzigartiges Licht auf die Wiesen und den Strand. Das morgendliche Joggen war für Wiebke Ulbricht Balsam auf der Seele und der nötige Ausgleich, um von der Hektik im Job abzuschalten.
Neben ihr lag jetzt das „Nordsee-Hotel“. Bald schon würde sich hier etwas tun, und Wiebke wusste nicht, ob sie die geplanten Umbauarbeiten als gut oder schlecht bewerten sollte. Ein Investor plante, am Dockkoog einen Ferienpark zu errichten. Dazu würden das alte Hotel und der benachbarte Campingplatz für immer weichen müssen. Während die Stadtväter einen Vorteil in den Plänen des Bauherrn sahen – immerhin sorgte er mit seiner Investition für zusätzliche Gewerbesteuer und Arbeitsplätze – gingen Naturschützer schon seit mehr als einem Jahr gegen das Bauvorhaben auf die Barrikaden. Es verging kein Tag, an dem es keinen Artikel über das geplante Ferienressort am Dockkoog in den Husumer Nachrichten gab. Nach dem augenblicklichen Stand der Dinge sollte das alte „Nordsee-Hotel“ dem Erdboden gleichgemacht werden. Doch der Besitzer weigerte sich, zu verkaufen. Wahrscheinlich, so unterstellte man ihm hinter vorgehaltener Hand, wollte er den Preis für sein Grundstück damit in die Höhe treiben, um sich dann zur Ruhe zu setzen.
Eine Bürgerinitiative wehrte sich gegen das Ferienressort und machte in Husum Stimmung, doch der Investor, ein Immobilienkaufmann aus Flensburg, ließ sich vom Einsatz der um die Umwelt besorgten Bürger nicht von seinem Vorhaben abbringen. Auch die Unterschriftensammlung der Menschen, die sich gegen das Ressort am Badestrand ausgesprochen hatten, konnte den Immobilienkaufmann nicht dazu bewegen, an einer anderen Stelle zu bauen. Nur der Besitzer des „Nordsee-Hotels“ stellte noch eine Hürde dar.
Während Wiebke weiterjoggte, fragte sie sich, wann er dem Druck nachgab und endlich verkaufte. Im Grunde war es ihr egal, ob man hier baute oder nicht. Sicherlich brachten solche Änderungen eine Menge Vor-, aber auch viele Nachteile. Doch sie war Polizistin und kannte sich weder mit dem Geschäft der Spekulanten, noch mit der Ökologie genügend aus, um sich ein Urteil zu erlauben.
Außerdem war ihr Privatleben turbulent genug, hatte sie doch die letzte Nacht mit ihrem Freund Tiedje verbracht. Er war wieder einmal völlig unangemeldet bei ihr zu Hause in Ostenfeld aufgetaucht, hatte Blumen und eine Flasche Wein mitgebracht und sie mit seinem treuen Hundeblick angeschaut, sodass sie ihn nicht fortschicken wollte. Unwillkürlich zweifelte Wiebke daran, ob „Freund“ die richtige Bezeichnung für ihr Verhältnis zu Tiedje war. Zwei Jahre lang waren sie ein Paar, und Wiebke war fest davon überzeugt gewesen, an seiner Seite alt zu werden. Doch er hatte darunter gelitten, als sie die Stelle bei der Kripo in Husum angenommen hatte. Zu wenig Freizeit, und wenn ein Einsatz anstand, kam es durchaus vor, dass sie sich ein paar Tage lang überhaupt nicht sahen. Die freie Zeit hatte Tiedje genutzt, um sich ein neues Mädchen anzulachen. Wiebke hatte er damit das Herz gebrochen. Sie hatte wochenlang darunter gelitten und sich fest vorgenommen, sich nie wieder mit ihm einzulassen. Doch irgendwann war er bei ihr aufgekreuzt und hatte sie überzeugt, dass sie die richtige Frau für ihn sei. Und zwar nur sie.
Dennoch war das Verhältnis seitdem angespannt. Wie sagte man neudeutsch? Sie führten eine On-Off-Beziehung. Eine feste Beziehung hatten sie nicht mehr. Nur ab und zu, wenn sie sich nach einer starken Schulter und körperlicher Nähe sehnte, dann sahen sie sich und verbrachten auch eine Nacht zusammen. Am nächsten Morgen verschwand er dann wieder nach Kiel, wo er lebte. Sie wusste nicht, was er dort trieb, und wenn sie ehrlich zu sich war, dann wollte sie es auch gar nicht wissen. Wiebke versuchte sich damit abzufinden, Single zu sein. Sie hatte in den letzten Monaten einen unsichtbaren Schutzwall um sich errichtet, um Tiedje auf der nötigen Distanz zu halten. Auf gar keinen Fall wollte sie zu viele Gefühle in ihn investieren. Nicht, um eines Tages wieder von ihm enttäuscht zu werden.
Wiebke verlangsamte ihre Schritte und sog die würzige Meeresluft tief in ihre Lungen ein. Sie ließ den Blick über die Stelle schweifen, an der das Ferienressort entstehen sollte. In der Zeitung hatte sie Fotomontagen gesehen, in denen man darstellte, wie es hier bald schon aussehen könnte.
Das dumpfe Tuckern eines Schiffsdiesels riss sie aus den Gedanken. Wiebke blickte auf die Nordsee hinaus. Die „Argus“, ein im Husumer Hafen beheimateter Krabbenkutter, ging auf Fang. Schemenhaft erkannte sie den Käpt‘n auf der Brücke. Während der 250 PS Cummins-Diesel gegen die Wellen anstampfte, klappten die Arme der Fangnetze über die Bordwände. Wenn der siebzehn Meter lange Kutter von seiner Fahrt zurückkehrte, würde man die fangfrischen Fische und Krabben sofort auf die wartenden Lastwagen verfrachten.
Auch wenn die Klagen der Fischer immer lauter wurden, so hatte der Anblick des blauen Kutters doch etwas Romantisches, fand Wiebke. Sie trabte weiter, ohne nach vorn zu blicken.
Prompt prallte sie mit einem stabilen Mann zusammen. Ein keuchender Laut kam über seine spröden Lippen, während er Wiebke böse anblickte.
„Haben Sie keine Augen im Kopf?“, fragte er.
„Entschuldigung, aber ich war in Gedanken“, erwiderte Wiebke peinlich berührt.
„Schon gut, ist ja nichts passiert.“ Er lächelte versöhnlich.
Wiebke glaubte zumindest, dass der Mann lächelte. Denn von seinem runden Gesicht konnte sie nicht viel erkennen – es verbarg sich hinter einer dunkelblauen Pudelmütze, buschigen Augenbrauen und einem dichten Vollbart. Im Mundwinkel klemmte eine längst erkaltete Pfeife. Mit seiner blauweiß gestreiften Arbeitsjacke, den Gummistiefeln und der verblichenen Hose sah der Mann aus, als käme er geradewegs von Bord der „Argus“.
Wiebke schätzte ihn auf knapp zwei Meter; sein Alter vermochte sie nur grob zu schätzen und sie tippte, dass er Mitte dreißig war. Der Bart machte ihn älter.
„Ist das nicht ein Jammer?“, fragte der Hüne jetzt und blickte an Wiebke vorbei. Bei jedem seiner Wörter wippte die Pfeife zwischen seinen Lippen.
Sie wusste nicht, wovon der Fremde sprach und wandte sich um. Schräg hinter ihr lag das „Nordsee-Hotel“.
„Was ist ein Jammer?“
„Na, das alles wird bald der Vergangenheit angehören. Und die Umwelt gleich mit.“ Er schüttelte den Kopf, so, als könne er seinen Worten selbst keinen Glauben schenken. „Es ist ein Skandal allererster Güte, was hier passieren soll.“
Jetzt verstand Wiebke. „Sie meinen die Baupläne für das Ferienressort?“
Er nickte mit ernster Miene. „Da kann man schon mal unkonzentriert über den Deich joggen, wie Sie es getan haben. Dieser Heiners ist ein aalglatter Geschäftsmann. Er schert sich nicht darum, was er hier anrichtet, solange er seine Gewinne optimieren kann. Als wenn seine Bausünden auf Sylt nicht genügen würden.“
„Sylt?“
„Ja, Heiners hat eine ähnliche Siedlung vor einigen Jahren auf Sylt verbrochen. Die Natur hat eben den Kürzeren gezogen, so einfach ist das.“
„Und Sie setzen sich für den Schutz der Natur hier am Dockkoog ein“, mutmaßte Wiebke, die eigentlich nicht vorhatte, sich mit einem fremden Mann über die Pläne eines Immobilienmaklers zu unterhalten. Längst schon war der Dockkoog zum Politikum geworden.
„Sozusagen, ja.“
Er hielt Wiebke seine große Pranke hin. Sie war nicht grob, sondern trotz ihrer Größe fast feminin. Den Tick, bei einem Mann zuerst auf die Hände zu achten, hatte sie wohl von ihrer Mutter geerbt, die immer gesagt hatte, dass die Hände eines fremden Mannes ganze Geschichten erzählen konnten. Wiebke betrachtete unauffällig die gepflegten Hände ihres Gegenübers. Diese Hände waren keine harte Arbeit gewohnt.
„Mein Name ist Torben Schäfer. Und ich habe die Bürgerinitiative ,Rettet den Dockkoog‘ ins Leben gerufen.“ Nun grinste er.
„Und dabei bin ich schon des Öfteren mit Heiners angeeckt.“
„Kann man davon denn leben?“
„Das ist Ehrenamt.“ Schäfer winkte ab. „Im wahren Leben bin ich Lehrer an der Hermann-Tast-Schule, aber der Erhalt des Naturschutzgebietes am Dockkoog ist meine Herzensangelegenheit.“
Wiebke tippte darauf, dass Schäfer Biolehrer war, schwieg aber. Wahrscheinlich mussten seine Schüler zahlreiche Wattwanderungen mit ihm unternehmen.
„Nun denn, ich muss weiter. Aber wenn Sie mögen, kommen Sie doch einfach am nächsten Freitag in die Aula unserer Schule. Dort findet eine Podiumsdiskussion statt. Sogar Heiners hat sein Kommen angekündigt.“ Schäfer strich sich durch den pelzigen Bart und griente kampflustig. „Na, der soll sich mal warm einpacken.“
Wiebke lächelte freundlich zurück, murmelte „ich überleg es mir“ und verabschiedete sich von Torben Schäfer. Sie mochte Menschen, die wussten, was sie wollten. Und zu dieser Sorte gehörte der Lehrer ganz bestimmt. Vielleicht sollte sie sich die Podiumsdiskussion wirklich anschauen.
Als sie die Augen aufschlug, wehte ein verführerischer Duft nach frischem Kaffee durch die Wohnung. Mit dem Erwachen lag ein glückliches Lächeln auf Beke Frahms Lippen. Sie rekelte sich wohlig auf dem Laken ihres Betts und blinzelte in die Sonne, die durch das Fenster ins Zimmer fiel und das Mobiliar in ein warmes Licht tauchte. Beke blickte auf den altmodischen Wecker, der auf dem kleinen Nachtschrank neben dem Bett stand und ein metallisches Ticken erzeugte.
Halb sechs, höchste Zeit, zu Potte zu kommen. Beke schlug die dünne Bettdecke zurück und stand auf. Wie immer hatte sie nackt geschlafen. Im Sommer verzichtete sie auf Nachtwäsche. Und selbst wenn sie welche getragen hätte, dann wäre sie spätestens dem Nahkampf mit Peer Hansen in der letzten Nacht zum Opfer gefallen. Ihr Herz schlug ein paar Takte schneller, als sie an ihren Freund dachte, der gut gelaunt in der Küche herumwerkelte und laut, aber falsch, zur Musik aus dem Radio mitsang. Es war eine seltsame Liebe, die das Paar seit einigen Monaten miteinander verband. Er war fünfundzwanzig Jahre älter als sie und verheiratet. Wirklich viel wusste sie nicht von ihm, außer dass er in der Geschäftsführung eines Husumer Unternehmens am Außenhafen arbeitete und dort einige Leute unter sich hatte. Peer verdiente gut und fuhr einen dicken Wagen, doch das war es nicht, was die junge Frau an ihm faszinierte.
Sie litt nicht unter einem Vaterkomplex, doch seine erfahrene Art machte ihn unwiderstehlich für Beke: Peer war einfühlsam, konnte stundenlang mit ihr ernsthafte Gespräche führen und im nächsten Moment herzlich mit ihr lachen. Er hatte eine Vorstellung von seinem Leben … und er war ein unglaublich guter Liebhaber. Unter seinen Händen vergaß Beke jedes Mal den Altersunterschied, der sie trennte. Nur der Umstand, dass er verheiratet war, bereitete ihr Kopfzerbrechen. Niemals hatte sie vorgehabt, eine Ehe zu zerstören. Doch Peer versicherte ihr immer wieder, dass seine Ehe nur noch auf dem Papier bestand und dass auch seine Frau ein sehr ausschweifendes Liebesleben führte.
Außerehelich, versteht sich – das fügte er immer mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck hinzu, wenn sie wieder einmal darüber sprachen. Doch sie sprachen selten darüber, und Beke versetzte es jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn er nach einer leidenschaftlichen Nacht in den frühen Morgenstunden wieder zu seiner Frau fuhr.
Sie wischte die trüben Gedanken fort und trat an das Schlafzimmerfenster. Albers schlich schon wieder über den ehemaligen Schulhof. Der alte Mann hatte immer etwas zu tun. Heute kümmerte er sich um sein kleines Beet am Rande des sonst eher heruntergekommenen Hofes. Die Blumen standen in voller Blüte, und Vogelgezwitscher drang durch den Spalt des offenen Fensters an ihre Ohren. Die Luft roch herrlich, und Beke schlüpfte in den dünnen Morgenmantel, der über der Lehne des Stuhls hing. Barfuß ging sie in die Küche, lehnte schmunzelnd im Türrahmen und beobachtete Peer, der gerade eine Portion Rührei zubereitete und ihr den Rücken zukehrte. Den wackligen Tisch hatte er liebevoll gedeckt. Gut sah er aus in seinem hellblauen Hemd und der Baumwollhose. Damit keine Fettspritzer aus der Pfanne auf seinem Hemd landeten, hatte er sich ihre Küchenschürze übergezogen.
Peer war groß und breitschultrig, sein kurzes dunkles Haar von einzelnen silbernen Fäden durchzogen. Er legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres; wahrscheinlich lag das auch an seinem Job als Geschäftsführer.
Beke konnte nicht anders – sie schlich sich von hinten an ihn heran und schlang ihre Arme um seinen Körper. Er unterbrach sein Treiben und genoss, wie sie sich an ihn schmiegte. Eilig nahm er die Pfanne von der Platte und schaltete den Herd aus. Dann drückte er Beke sanft fort und drehte sich zu ihr um.
„Guten Morgen, mein Schatz“, sagte er und lächelte sie glücklich an. Bevor sie antworten konnte, verschloss er ihre Lippen mit einem Kuss. Seine Hände glitten unter den Morgenmantel, lösten den Gürtel und streiften ihr den dünnen Stoff von den Schultern. Raschelnd glitt das leichte Kleidungsstück zu Boden. Peer bedeckte ihre Haut mit Küssen und ließ dabei keine Stelle aus. Es dauerte nicht lange, bis sie wohlig erschauderte, die Augen schloss und den Kopf in den Nacken warf.
„Ich bin spät dran“, flüsterte sie zwischen zwei Küssen, doch Peer legte ihr einen Finger auf den Mund und bedeutete ihr zu schweigen. Sanft drückte er sie gegen die Arbeitsplatte und setzte seine Liebkosungen fort. Als er vor ihr auf die Knie sank und seinen Kopf in ihrem Schoß barg, war ihr Widerstand wie weggeblasen. Sie konnte nicht anders, spreizte die schlanken Schenkel und hob das Becken an.
Wieder einmal hat er mich verzaubert, dachte Beke, dann schaltete sie den Verstand ab und sehnte herbei, ihn endlich ganz zu spüren. Dieser Mann war der blanke Wahnsinn. Und er war wie gebaut für Beke Frahm.
Die Adresse „Am Robbenberg“ war Programm: Hier lag das Multimar Wattforum in Tönning. Der Architekt hatte wohl einen mächtigen Ozeanriesen im Kopf gehabt, als er die Entwürfe für das Hauptgebäude angefertigt hatte. Große Glasflächen und runde Fenster, die an Bullaugen erinnerten, unterstrichen den Eindruck, dass es sich bei dem Gebäude um ein Kreuzfahrtschiff handeln könnte. So schien das Multimar Wattforum wie ein majestätisches Schiff gleich neben dem Deich vor Anker zu liegen. Seit seiner Eröffnung 1999 hatten mehr als zwei Millionen Besucher den Weg nach Tönning gefunden, um sich von der Unterwasserwelt der Nordsee verzaubern zu lassen. Längst hatte sich die Einrichtung bei Schulklassen und Touristen als Geheimtipp herumgesprochen. Beke erfüllte es mit Stolz, hier arbeiten zu dürfen.
Wolken schienen über das Flachdach des Gebäudes nach Osten zu kriechen.
Obwohl sie die sieben Kilometer von ihrem Wohnort Oldenswort normalerweise mit dem Fahrrad zurücklegte, hatte sie sich heute ausnahmsweise von Peer mit dem Auto bringen lassen.
Nach ihrem leidenschaftlichen Liebesspiel am Morgen war sie spät dran. Doch sie bereute nichts und war froh, dass Peer sie nach Tönning fahren konnte. Abgesehen davon, dass sie seine Anwesenheit im Auto noch ein paar Minuten länger hatte genießen können, war es ihr gelungen, in buchstäblich letzter Minute zum Dienst zu erscheinen.
Mit einem leidenschaftlichen Kuss verabschiedeten sie sich voneinander. Sofort kribbelte es wieder in Bekes Schoß, und als er seine Hände an den Innenseiten ihrer Schenkel hochgleiten ließ, kam ein leises Stöhnen über ihre Lippen. Dieser Mann machte sie verrückt; er wusste genau, welche Knöpfe er drücken musste, um ihre Lust zu wecken. Widerwillig entzog sie sich seinen Liebkosungen. „Ich bin spät dran“, murmelte sie heiser und brachte ein Lächeln zustande. Es dauerte einen Moment, bis sich ihr Puls wieder normalisiert hatte. „Sehen wir uns heute Abend?“ Sie wusste nicht, ob sie es so lange ohne Peer aushielt, verzehrte sie sich doch jetzt schon wieder nach ihm.
Er nickte. „Ich komme später, aber ich werde kommen.“ Nun legte er den Kopf schräg. „Haben wir den Abend denn für uns, oder müssen wir noch mal los, so wie gestern?“
„Ich hatte nur etwas vergessen, mehr nicht“, erwiderte sie hastig und öffnete die Beifahrertür. Ein frischer Wind wehte ins Wageninnere und spielte mit ihrem Haar. Ein letztes Mal beugte sie sich zu ihm herüber und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, dann stieg sie aus. „Bis heute Abend also.“
Er nickte. „Bis heute Abend.“
Nachdem sie die Tür ins Schloss gedrückt hatte, legte er einen Gang ein und wendete den Mercedes, bevor er mit quietschenden Reifen den Personalparkplatz verließ.
Wehmütig blickte sie ihm hinterher. Nachdem der schwere Wagen um die nächste Biegung verschwunden war, versuchte sie sich auf den Job zu konzentrieren. Als Ausstellungsbetreuerin hatte sie die ehrenvolle Aufgabe, die Anlage „hochzufahren“, wie man den ersten Rundgang durch die Ausstellung intern nannte.
Das Wetter war in der letzten halben Stunde umgeschlagen; dichte Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Der feine Sprühregen durchnässte ihr Haar und überzog Bekes Kleidung wie ein nasses Netz.
Beke betrat das Wattforum durch den Diensteingang, der sich seitlich am Hauptgebäude befand. Nachdem sie sich an der elektronischen Stechuhr eingeloggt und ihre Arbeitszeit offiziell begonnen hatte, fand sie sich in einem Treppenhaus wieder. Steile Stufen führten nach oben. Rechts gab es eine Kaffeeküche. Beke streifte die Jacke ab und hängte sie an den Haken, bevor sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. Als die Maschine ihr asthmatisches Röcheln von sich gab, verließ Beke den Raum und holte von nebenan einen Putzlappen aus einer kleinen Kammer. Hier hing auch ihre dunkelblaue Weste mit dem weißen Multimar-Logo auf der Brust. Sie schlüpfte hinein und setzte ihren Weg fort. Durch eine feuerfeste Tür gelangte sie in die eigentliche Ausstellung. In den Aquarien herrschte Dunkelheit; die Beleuchtung der Becken wurde jahreszeitabhängig über Zeitschaltuhren gesteuert. Erst gegen neun Uhr, wenn die ersten Besucher die Ausstellung betraten, würde die hier versammelte Unterwasserwelt zum Leben erwachen.
Beke tauchte in die Fauna der Nordsee ein und ließ sich von dem hier herrschenden Dämmerlicht verzaubern. Die Meeres- und Wattbewohner schienen noch zu schlafen. Eine fast surreale Welt umgab sie, und Beke genoss den Augenblick der fast meditativen Stille hier unten. Sie liebte den Morgenrundgang, die Stunde der Einsamkeit, bevor die Besucher in das Zentrum stürmten und Kinderlachen und Stimmengewirr allgegenwärtig waren. Die junge Frau befreite die Scheiben der einzelnen Becken von Fingerabdrücken, die man auf den unbeleuchteten Aquarien gut erkennen konnte. Ab und zu huschten Schatten an ihr vorüber; Fische, die durch ihre Arbeit angelockt wurden.
Das Walhaus wurde von der Nachbildung des achtzehn Meter langen Pottwals, der unter der hohen Decke zu schweben schien, beherrscht. Beke fand es ein wenig unheimlich, dass man den Meeresgiganten unter Verwendung eines echten Skeletts nachgebildet hatte. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass auch die kleinen Kabinen, in denen die Besucher den Walgesängen lauschen konnten, sauber waren, führte Bekes Weg sie zu ihrem persönlichen Highlight der Ausstellung: Dem Großbecken mit knapp dreihunderttausend Litern Wasser. Zweimal wöchentlich stieg ein Taucher ins Wasser, um die Fische vor den Augen der Zuschauer zu füttern. Der Raum vor dem großen Aquarium erinnerte dabei an einen Uni-Hörsaal: Stufenförmig waren Bänke angelegt worden, die den Besuchern ermöglichten, hier mit den Bewohnern der Nordsee auf Tuchfühlung zu gehen. Während das Forum tagsüber abgedunkelt war, brannte jetzt das Arbeitslicht. Von hier unten aus wirkte der hohe Raum fast zylindrisch. Bevor sie sich an das Reinigen der großen Scheibe machte, betrat sie einen kleinen Nebenraum, den sie „die Grotte“ nannte. Durch ein Seitenfenster konnten die Besucher in das nachgebildete Riff blicken. Durch unsichtbare Lautsprecher wurden sphärisch anmutende Klänge eingeblendet. Beke atmete tief durch, dann befreite sie das Fenster von Fingerabdrücken. Als ein Schatten, schnell wie ein Blitz, nur wenige Zentimeter jenseits der dicken Scheibe an ihr vorbeischoss, zuckte sie zurück. Um ein Haar hätte sie geschrien.
„Mann, hast du mich erschreckt“, murmelte Beke, als sie im Dunkel des Beckens einen Stör erkennen konnte, der nervös seine Bahn durch das Wasser zog und sie bei der Arbeit zu beobachten schien. Nachdem sich Bekes Herzschlag normalisiert hatte, setzte sie ihre Arbeit fort und sorgte für Ordnung und Sauberkeit in dem kleinen Raum mit der niedrigen Decke. Sie bemerkte, dass sich noch nicht so viele Tiere an der Scheibe aufhielten, wie es sonst der Fall war, wenn sie morgens als Erste die Ausstellung besuchte.
Beke umrundete die kleine Grotte und stand im Forum. Bei den Vorführungen fanden hier gut einhundertdreißig Personen Platz, um das einzigartige Unterwasser-Spektakel aus nächster Nähe beobachten zu können. Doch so hell erleuchtet hatte der Raum seinen fast mystischen Charme, den er bei Dunkelheit und beleuchtetem Aquarium besaß, verloren. Trotzdem genoss die junge Frau die Stille und nahm sich einen Augenblick Zeit. Sie setzte sich auf die unterste Bank und betrachtete das Treiben im Großbecken. Das Wasser selbst war gefiltert und wurde von Eiweiß gereinigt. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse erkannte sie die leichte Strömung um den nachgebildeten Felsen in der Mitte des Beckens, die Algen und feinste Partikel vor sich hertrieb. Und da war noch etwas, das sie verwunderte: Auf dem Boden des Aquariums wimmelte es von Fischen. Es schien, als hätten sich alle Tiere, die in dem Becken lebten, an einer Stelle versammelt. So etwas war außergewöhnlich und kam nur dann vor, wenn es Futter gab, das man nur an einer einzigen Stelle ausgelegt hatte. Doch die Meeresbiologen des Multimar waren keine Anfänger – sie wussten, wie man Fische artgerecht fütterte. Was also war es, das die Fische so in den Bann zog, dass sie in hektisches Treiben ausgebrochen waren?
Beke erhob sich verwundert und trat nah an die Scheibe, um im Zwielicht des Großbassins etwas erkennen zu können. Die Fische nahm sie nur schemenhaft wahr, zu sehr spiegelte sich das Arbeitslicht des Vorraumes im Glas. Es war eine unheimliche und bizarre Szenerie, und Beke legte schützend beide Hände zwischen Gesicht und Scheibe, um in das Innere des Beckens blicken zu können. Die Ranken im nachgebildeten Felsen verschwammen mit den aufgeregt wirkenden Tieren zu einer breiigen Masse, und Beke war versucht, den Technikbereich des Multimar aufzusuchen, um die Beleuchtung des Großbeckens einzuschalten. Hier stimmte etwas nicht, so viel stand für die Ausstellungsbetreuerin fest. Sie blinzelte in das Schummerlicht und traute ihren Augen nicht: Täuschte sie sich, oder lag da eine menschliche Gestalt am Grund des Beckens?
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und Beke rang nach Luft. Sie spähte angestrengt ins Wasser und glaubte nun tatsächlich, einen Arm erkennen zu können, der im Wasser trieb. Je länger sie hinsah, desto sicherer wurde sie. Nun kannte sie den Grund, warum sich die Fische hier unten versammelt hatten: Sie witterten Nahrung. Einer der Rochen schien seine Beute besonders zu genießen; ein Katzenhai zog bereits lauernd seine Bahnen um den leblosen Körper im Wasser.
Es war ein bizarrer Anblick: Der Mensch am Boden des Großbassins leistete keine Gegenwehr. Er ließ es widerstandslos geschehen, dass die Fische an ihm herumknabberten. Der Hummer hatte sein Versteck verlassen. Er machte sich mit seinen Scheren an den Händen und im Gesicht des Unbekannten zu schaffen. Die Rochen hatten mit ihren Raspelzähnen flächige Abschürfungen auf der freien Haut des Mannes hinterlassen. Nun erkannte Beke auch ein wächsernes Gesicht. Mund und Augen standen offen, und sie fürchtete, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Es war zu dunkel, um die winzigen blutigen Wunden im Gesicht des Mannes zu erkennen, doch Beke konnte die offenen Stellen erahnen.
Sie stieß sich von der dicken Glasscheibe ab und schüttelte den Kopf. Spielte ihr die Fantasie einen Streich? Natürlich, dachte sie, natürlich ist es eine sehr kurze und durchliebte Nacht gewesen, und sie hatte denkbar wenig Schlaf gefunden, doch war
es möglich, dass sie sich das, was hinter der mehr
als dreißig Zentimeter dicken Scheibe geschah, einbildete?
Beke zögerte, dann gab sie sich einen Ruck und wandte sich um. Sie presste ihr erhitztes Gesicht an das kühle Glas und blickte angestrengt in das Wasser.
Nein, dachte sie und spürte, wie Adrenalin in ihre Blutbahn floss. Keine Einbildung. Der Mensch im Wasser war Realität.
Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wie war der Mann hinter dem Glas in das Großbassin gekommen? Hatte sich jemand in den Technikraum über dem Becken verirrt und war durch einen Fehltritt in das Aquarium gestürzt?
„Hilfe“, durchzuckte es sie brennend. „Ich muss Hilfe holen.“
Nach einem letzten Blick ins schummrige Wasser rannte sie aus dem Forum. Sollte der Mann im Wasser noch leben, kam es jetzt auf jede Sekunde an. Den vernünftigsten Gedanken, nämlich den, dass der Mensch schon längst tot war, verdrängte sie.
Wiebke spürte, dass etwas mit ihrem Partner nicht stimmte. Die junge Kommissarin hatte ihn schon während der Fahrt nach Tönning immer wieder von der Seite betrachtet, doch Hauptkommissar Jan Petersen hatte stur nach vorn geblickt und das Lenkrad so fest umklammert, als würde er es am liebsten zwischen den Händen zerquetschen. Unterwegs sprach er nur über ihren Auftrag – kein einziges privates Wort, nichts. So kannte Wiebke ihren Kollegen nicht. Sie hatte ihm förmlich angesehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dennoch wollte sie ihn nicht nach dem Grund für sein Verhalten fragen. Sie war sicher, dass Petersen mit ihr darüber reden würde, sobald er mit sich selbst wieder im Reinen war. Womöglich, so vermutete sie, gab es wieder Probleme mit seiner Exfrau. Petersen war geschieden und litt unter dem ehrgeizigen Rechtsanwalt seiner Ex, der immer wieder einen Weg fand, den Kommissar bis auf das letzte Hemd auszuziehen.
An sich war Petersen ein netter Kerl, er war umgänglich und trug das große Herz am rechten Fleck, was ihn im Kollegenkreis beliebt machte. Am meisten imponierte der jungen Kommissarin der ausgeprägte Gerechtigkeitssinn, der ihn irgendwann dazu bewogen hatte, bei der Polizei anzuheuern.
Um kurz nach acht erreichte die Husumer Polizei der Anruf aus dem Multimar Wattforum in Tönning. „Leblose Person im Wasserbecken“, hatte es lapidar geheißen. Matthias Dierks, seines Zeichens Erster Kriminalhauptkommissar und Leiter der Husumer Kriminaldirektion, hatte umgehend zum Hörer gegriffen und Piet Johannsen von der Spurensicherung losgeschickt. Dann informierte Dierks den diensthabenden Staatsanwalt und die Kollegen in Flensburg, bevor er zwei seiner Leute abstellte.
Wiebke saß gerade an ihrem Schreibtisch, als das Telefon sich meldete.
„Wir müssen sofort los“, hatte ihr Jan Petersen kurz angebunden gesagt. „Alles stehen und liegen lassen – ich erzähl dir alles im Auto.“
Die Fahrt hatte sie nach Tönning geführt, zum Multimar Wattforum. Im Becken des Großaquariums hatte eine Mitarbeiterin der Ausstellung am frühen Morgen einen Mann gefunden, den die Taucher des Multimar nur tot hatten bergen können. Ob es sich um einen Unfall handelte oder eventuell jemand nachgeholfen hatte, den Mann ins Wasser zu stürzen, war unbekannt. Fest stand nur, dass der Tote nicht zum Team gehörte. Keiner wusste, wie er sich Zutritt zur Ausstellung verschafft hatte. Das herauszufinden, war nun Wiebkes und Petersens Part.
„Schon einiges los hier“, murmelte Petersen, als er den Dienstwagen auf den Personalparkplatz lenkte, der sich seitlich vom Gebäude des Multimar befand. Der Kollege vom Streifendienst hatte sie zum Personaleingang gebeten.
„Allerdings“, nickte Wiebke. Sie sah ein paar Streifenwagen, die kreuz und quer auf dem Gelände parkten, einen Krankenwagen – offenbar das Einsatzfahrzeug des Notarztes – sowie den Kombi eines örtlichen Bestattungsunternehmens. Wie Wiebke erleichtert feststellte, schien die Presse noch nicht anwesend zu sein. Sie fand es müßig, sich den Journalisten zu stellen und Fragen nur ausweichend zu beantworten, weil sie die laufenden Ermittlungen nicht gefährden wollte. Schnell wurde einem da das Wort im Mund umgedreht, und Dierks tobte, weil mitunter am nächsten Tag eine Falschmeldung in der Zeitung stand.
Wiebke löste den Sicherheitsgurt und angelte nach ihren Unterlagen, die auf dem Rücksitz lagen. Sie verrenkte sich den Kopf und suchte den Parkplatz ab. „Ich sehe Piets Wagen gar nicht. Aber er ist doch lange vor uns los. Wenn er mit der Spurensicherung noch nicht durch ist, brauchen wir da gar nicht rein.“
Nun grinste Petersen. „Mach mal langsam, Mädchen. Piet ist schließlich nicht mehr der Jüngste.“
Seite an Seite marschierten sie auf den Personaleingang zu, eine feuerfeste Stahltür mit einem kreisförmigen Fenster, das einem Schiffsbullauge nachempfunden war.
Rechts gab es eine Videokamera und ein Panel, auf dem die Mitarbeiter sich per Zahlencode Zutritt verschaffen konnten, darunter ein handelsübliches Sicherheitsschloss.
Petersen bollerte mit der Faust gegen die Eisentür. Es dauerte einen Augenblick, dann wurde ihnen von einem uniformierten Kollegen geöffnet. Wiebke erkannte Polizeimeister Theves, einen jungen Kollegen vom Streifendienst. Eine eher unscheinbare Gestalt, daran änderte auch die dunkelblaue Polizeiuniform nicht viel.
Man kannte sich vom Sehen. „Moin - ihr wart zuerst hier?“, fragte Wiebke ihn.
Theves nickte und berichtete Petersen und Wiebke, was er wusste. Neues hatte er jedoch auch nicht zu berichten. „Der Staatsanwalt möchte, dass ihr euch einen Überblick verschafft“, schloss er seine Ausführungen, und Wiebke glaubte, ein schadenfrohes Grinsen auf seinen Lippen erkennen zu können.
„Mit wem haben wir die Ehre?“, fragte Petersen.
„Mahndorf hat Dienst“, erwiderte Theves.
„Na, der ist doch in Ordnung“, erwiderte Wiebke und bemerkte erst jetzt den hochgewachsenen Mann Ende vierzig, der sich zu ihnen gesellte. Er wirkte ziemlich nervös, daran änderte auch der wachsame Blick seiner blauen Augen und der gesund wirkende, braune Teint nichts. Zu einer khakifarbenen Hose trug er ein dunkelblaues Hemd, auf dessen Brusttasche das Multimar-Logo aufgestickt war. Ein Mitarbeiter also, wahrscheinlich einer der Vorgesetzten, schätzte Wiebke. Sie sparte es sich, die Dienstmarke zu zücken. „Kommissarin Ulbricht, mein Kollege Hauptkommissar Petersen von der Kripo Husum.“ Sie deutete mit dem Daumen auf Jan Petersen.
„Ralf Finner, Moin.“
Petersen erwiderte den Gruß. „Sie gehören zu dem Laden, nehme ich an?“
Manchmal war er einfach nur peinlich, durchzuckte es Wiebke.
Jan Petersen hatte eine etwas rustikale Art, die nicht immer angebracht war. Doch wer ihn kannte, wusste, dass er es nicht böse meinte.
Finner hatte die flapsige Anmerkung offenbar überhört.
Er nickte. „Schrecklich, was da passiert ist.“
„Führen Sie uns zum Fundort?“, bat Wiebke höflich.
„Natürlich.“ Finner nickte. „Bitte kommen Sie mit.“
„Wir kommen zurecht, danke“, sagte Petersen an Polizeimeister Theves gewandt. Er hatte Anstalten gemacht, sich der Gruppe anzuschließen. „Bleib man hier und halt die Stellung, nicht dass noch jemand von der Presse mit reinrutscht.“
„Allns torech.“ Theves nickte dienstbeflissen und zog die schwere Metalltür mit dem Bullauge zu.
Nun standen sie in einem gefliesten Korridor. Links gab es eine Stechuhr, die auf „Gehen“ stand.
Sie betraten ein recht unspektakuläres Treppenhaus, das steil nach oben führte. Die Wände waren weiß getüncht, der Boden wirkte frisch gewischt. Unterwegs berichtete Finner ihnen, was geschehen war.
„Wo befindet sich Ihre Mitarbeiterin jetzt?“, fragte Wiebke.
„Im Aufenthaltsraum. Wie Sie sich vorstellen können, steht Sie unter Schock.“
„Natürlich.“
Durch eine weitere feuerfeste Tür gelangten sie in die Ausstellung. Wiebke war vor einigen Jahren schon einmal hier gewesen. Doch seit ihrem letzten Besuch hatte sich vieles geändert im Multimar. So wie es aussah, hatte man die Ausstellung vergrößert. Jetzt aber fand sie keine Zeit, sich in Ruhe umzublicken, denn Finner marschierte zielstrebig zum „Forum“, wie er den theaterähnlichen Raum nannte. Anstatt einer Bühne bot sich den Zuschauern ein atemberaubender Ausblick auf eine faszinierende Unterwasserwelt.
„Ich krieg’ Hunger“, flüsterte Petersen an Wiebke gewandt.
Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, den er mit einem Grinsen quittierte.
„Riech doch mal – es duftet ganz herrlich nach Fischstäbchen!“, bekräftigte er unbeeindruckt.
„Du spinnst!“ Wiebke tippte sich bezeichnend gegen die Stirn.
„Das Thema ,vom Meer auf den Teller‘ haben wir tatsächlich in unserer Ausstellung aufgegriffen“, mischte sich Ralf Finner jetzt ein. „Das ist für unsere kleinen Besucher ganz wichtig, sie lernen zum Beispiel, wie aus Fisch ihre geliebten Fischstäbchen werden.“
Petersen nickte und warf Wiebke einen „Siehst du, ich hab‘s dir doch gesagt“-Blick zu.
„Das hier ist also das Forum?“, kam Wiebke zum Grund ihres Besuches im Multimar zurück. Sie blickte sich in dem Raum um. Durch eine gut sechs mal sechs Meter große Panoramascheibe konnten sie gleich in die Nordsee blicken – so sah es wenigstens aus.
Wiebke erkannte einen großen Hummer, der neugierig aus einer Felshöhle kam. Der Felsen bildete das zentrale Element im Wasser, um ihn herum tummelten sich die Fische. Sie erschauderte, als sie sich den Anblick eines Toten in dieser Unterwasserwelt vorstellte, und fragte Finner, welche Fische sich in dem Großbecken befanden.
„Fünf Kabeljaue, Lachse, zwei Störe, Steinbutts, Nagelrochen, Katzenhaie, Meerforellen und da unten unser großer Hummer“, zählte der Biologe auf.
„Was mich viel mehr interessiert“, fuhr Petersen dazwischen, der angestrengt ins Wasser starrte, „wo ist die tote Person denn abgeblieben?“
Finner zog die Mundwinkel nach unten. „Im Technikraum, der sich oberhalb des Beckens befindet. Leider konnten wir nichts mehr für ihn tun. Das Wasser ist konstant auf 11 Grad temperiert. Ein Mensch stirbt bei diesen Temperaturen nach spätestens zehn Minuten.“
Wiebke riss sich vom Anblick der künstlichen Unterwasserwelt los und wechselte einen Blick mit Petersen, der sehr schweigsam geworden war. „Worauf warten wir?“
„Wo bleibt ihr denn?“ Piet Johannsen war aufgeregt, als Wiebke und Petersen in Begleitung von Ralf Finner den Technikraum betraten. Hier herrschte eine Akustik wie in einem Hallenbad. Der Raum selbst war nicht sehr groß – dicke Leitungen, Schaltkästen mit Kontrolllampen und große Kessel bestimmten das Bild. Es gab schmale Gitterroste, die um das Becken herumführten und nur durch einen Handlauf aus Glasfaserkunststoff gesäumt wurden.
Johannsen raufte sich die schlohweißen Haare. Er war nicht allein: Neben ihm standen ein Mann im weißen Kittel – wohl der Notarzt – und Fritz Mahndorf, der Staatsanwalt. Wie immer war er perfekt gekleidet, der Maßanzug war bestimmt nicht von der Stange. Auch die schwarzen Schuhe trugen das Label eines italienischen Designers. Mahndorf machte eine betroffene Miene.
Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und marschierte auf dem schmalen Gitterrost, das zum Beckenrand führte, auf und ab.
Über den engen Laufgang kletterte Johannsen zu seinen Kollegen herunter, der Staatsanwalt folgte ein wenig schwerfällig.
„In der Ruhe liegt die Kraft“, belehrte Petersen den Kollegen von der Kriminaltechnik, der sich umständlich aus seinem weißen Faseranzug schälte und den Aluminiumkoffer mit der Ausrüstung zusammenklappte.
„Du hast gut reden“, erwiderte Johannsen und nahm die Nickelbrille von der geröteten Nase und polierte die Gläser mit dem Saum seines T-Shirts. Er deutete auf Mahndorf. „Der Staatsanwalt drängt.“
„Jetzt sind wir ja hier“, beschwichtigte Wiebke den Kollegen. Petersen blickte sich neugierig um. Dabei hatte er die Hände in den Hosentaschen versenkt – eine alte Angewohnheit. So vermied er es, an einem Tatort Spuren zu hinterlassen und Dinge aus Versehen anzufassen.
„Können Sie uns schon etwas zu dem Toten sagen?“, wandte sich Wiebke an den Notarzt, der sich ihr als Dr. Clausen vorstellte.
Clausen schüttelte den Kopf. „Bedauerlicherweise nein. Blutergüsse, die er sich beim Sturz über den Beckenrand zugezogen haben könnte, nichts, was zwangsläufig auf Fremdeinwirkung hindeutet. Ich kann also nicht sagen, ob da jemand nachgeholfen hat, falls das Ihre nächste Frage sein sollte.“ Er presste die schmalen Lippen zu einem Strich zusammen. „Er war bereits tot, als ihn die Taucher aus dem Wasser gezogen haben. Auch meine Reanimationsversuche verliefen erfolglos.“ Der Notarzt machte eine bedauernde Miene.
Wiebke löste sich von der Gruppe und kletterte über eine Eisentreppe hinauf zum Beckenrand. Ein grauweißes Schlauchboot stand an einem der Gitter. Unter der Decke gab es eine Art Kran und eine Lampe, die fast mittig über dem Bassin angebracht worden war und wahrscheinlich für den mystischen Lichtschein, der sich den Besuchern im Forum bot, verantwortlich war. Unter ihr glitten Schatten pfeilschnell durch das Wasser. Schemenhaft erkannte sie die Nachbildung des großen Riffs in der Beckenmitte. Ein Rochen wagte sich gemächlich an die Wasseroberfläche und zog eine Bahn durch das Becken, dann verschwand er wieder in der Tiefe. Wiebke bekam ein mulmiges Gefühl, als sie an der Stelle stand, wo der eiserne Handlauf unterbrochen war. Eine Klappleiter war ins Wasser gelassen worden. Es war offensichtlich, dass die Leiter nur angelegt war, wenn sich ein Taucher im Becken befand. Ansonsten gab es keine Möglichkeit, sich aus eigener Kraft an Land zu ziehen. Hier war der Mann ins Wasser gestürzt, ob freiwillig oder nicht, das mussten sie noch herausfinden. Zwischen der Wasseroberfläche und dem Rand des Gitters lagen gut anderthalb Meter. Wer hier hineinfiel, hatte keine Chance, ohne Hilfe wieder herauszukommen. Ihr war, als würde der Boden unter ihr schwanken. Wiebke umklammerte das Geländer fester, als sie sich nach vorn beugte und ins Wasser blickte. Ein Schauer rieselte über ihren Rücken, als sie sich vorstellte, dass ein Mensch in dem kalten Wasser so gut wie keine Überlebenschance hatte.
„Wie tief geht das runter?“, fragte sie über die Schulter.
„Siebeneinhalb Meter.“ Finner war ihr auf den Laufsteg gefolgt.
„Das ist ziemlich gefährlich.“ Wiebke riss sich vom Blick auf das Becken los und betrachtete den Meeresbiologen nachdenklich.
„Normalerweise nicht, denn unser Personal befindet sich niemals allein in diesem Raum. Wer sich am oder im Wasser befindet, hat immer eine Hilfsperson in seiner Nähe – so lautet die Vorschrift.“
Wiebke umklammerte den Handlauf jetzt so fest, dass ihre Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. Sie fragte sich, wie sich ein Mensch fühlte, der hier in das Großbecken fiel, den Gedanken vor Augen, es nicht mehr ohne fremde Hilfe an Land zu schaffen. Panik, Herzrasen, Unterkühlung, Wasser in der Lunge, Ersticken. Ein grausamer Tod.
Wiebke wandte sich vom Blick in die Tiefe ab und folgte Finner, der sich wieder zu den anderen gesellte.
„Frag mich jetzt bitte nicht, wie lange der arme Teufel im Wasser gelegen hat“, wurde sie von Johannsen empfangen. „Ein Scheißtod, gar keine Frage.“
„Ist er ertrunken oder erfroren?“
„Das muss die Obduktion ans Licht bringen“, antwortete Dr. Clausen, dann wandte er sich an Piet Johannsen. „Ich bin durch hier“, sagte er sachlich. „Wenn du mich nicht mehr brauchst …“
„Kein Thema, hau ruhig ab, jetzt sind wir am Zug.“
„Danke.“ Der Mediziner nickte Mahndorf zu, schnappte sich den Koffer und verließ den Raum.
Der Staatsanwalt räusperte sich. „Erschwerend kommt hinzu, dass wir es bei dem Opfer mit einer bekannten Person zu tun haben, die in den letzten Monaten immer wieder im Mittelpunkt der Öffentlichkeit stand.“
„Heißt das, unsere Leiche war ein Promi?“ Petersen schüttelte den Kopf.
„Wenn Sie es salopp so nennen möchten, ja.“ Fritz Mahndorf nickte. „Sicherlich sagt Ihnen der Name Holger Heiners etwas?“
Petersen warf Wiebke einen Blick zu und machte große Augen. Er pfiff durch die Zähne. „Der Holger Heiners?“
„Ich weiß nicht, wie viele Personen mit diesem Namen Sie kennen, aber hier handelt es sich um den bekannten Immobilienkaufmann, der für das geplante Ferienressort am Dockkoog verantwortlich zeichnet. Das Bauvorhaben stößt immer wieder auf Kritik der Anwohner und Umweltschützer. Insofern hatte der Tote wahrscheinlich nicht nur Freunde, wie Sie sich denken können. Und genau dieser Umstand verleiht dem Fall eine ungewöhnliche Brisanz. Deshalb muss ich Sie schon zu diesem Zeitpunkt bitten …“
Petersen winkte ab. „Keine Panik, wir werden diskret vorgehen und niemanden von der Presse informieren, was für einen dicken Fisch wir hier heute aus dem Wasser gezogen haben.“
Für die Metapher fing sich Petersen prompt einen missbilligenden Blick von Mahndorf ein.
„Ich muss Sie doch bitten, den Fall mit dem nötigen Ernst zu behandeln.“
„Natürlich.“ Petersen murmelte eine Entschuldigung. „Steht denn fest, dass er es ist?“
„Hören Sie, ich kannte Heiners seit vielen Jahren. Wir spielten gemeinsam im Golfclub Husumer Bucht. Des Weiteren hat ein Blick in seine Brieftasche bewiesen, dass ich mich nicht irre.“ Mahndorf schüttelte den Kopf. „Verwechslungen sind also ausgeschlossen. Bei dem Leichnam handelt es sich eindeutig um Holger Heiners.“
„Wir haben auch sein iPhone sichergestellt“, mischte sich nun Johannsen ein. „Aber die Dinger reagieren allergisch auf Wasser, wie ihr euch vorstellen könnt. Ich werde trotzdem versuchen, die Daten auf dem Ding zu retten, aber garantieren kann ich nichts.“
„Kann ich ihn sehen?“
Wiebke blickte den Staatsanwalt an wie ein kleines Mädchen, das sich sehnlichst wünschte, sein Weihnachtsgeschenk schon vor Heiligabend begutachten zu dürfen.
„Natürlich.“ Mahndorf nickte.
Wiebke sah ihm an, dass es dem Staatsanwalt imponierte, dass sie sich freiwillig eine Leiche ansehen wollte, die einen längeren Zeitraum im Wasser verbracht hatte.
„Folgen Sie mir.“
Mahndorf führte sie an den Rand des Technikraumes. Von hier zweigten zahlreiche unbeleuchtete Nischen ab. Es gab einen schmalen Gang, der von armdicken Leitungen und Kabelsträngen gesäumt war, die ins Nichts zu führen schienen.
„Das sind unsere Katakomben“, erklärte Ralf Finner, dem Wiebkes ängstlicher Blick nicht entgangen war. „Ein ausgezeichnetes Versteck für Zeitgenossen, die Böses im Schilde führen.“
„Soll das bedeuten, dass man hier auf Heiners gewartet hat, um ihn in einen Hinterhalt zu locken?“ Petersen war stehen geblieben.
„Das herauszufinden ist Ihr Job, aber ich wollte nur darauf hinweisen“, erwiderte Finner ein wenig pikiert.
Zwei Männer in schlecht sitzenden, schwarzen Anzügen waren damit beschäftigt, den leblosen Körper in einen Leichensack zu betten. Als sie die Polizisten sahen, traten die Bestatter zurück. Wiebke ging neben dem Toten in die Hocke und betrachtete ihn. Vor dem Anblick einer Wasserleiche hatte sie sich nicht gefürchtet, und entgegen ihrer schlimmsten Vorstellung war Holger Heiners’ Leichnam nicht aufgequollen. Seine Haut wirkte wächsern. Winzige Bisswunden übersäten sein Gesicht.
„Was ist das?“, fragte sie an Ralf Finner gewandt.
„Das, wonach es aussieht“, erwiderte er. „Bisswunden, die ihm von den Tieren im Becken zugefügt worden sind.“
„Soll das heißen, dass …“, Wiebke stutzte.
„Es sind Tiere, und sie wollen sich ernähren, so einfach ist das.“
„Die Fische aus der Nordsee würden also einen Menschen fressen?“
„Es sind Aasfresser. Und wäre der Mann erst in zwei Wochen entdeckt worden …“ Finner machte eine Pause, „viel wäre wohl nicht mehr von ihm übrig.“
„Wie schätzen Sie die Situation ein? War das ein Unglück oder hat da jemand nachgeholfen?“
„Schwer zu sagen. Heiners muss irgendwie hier reingekommen sein. Was dann geschah, müssen Sie herausfinden, Frau Kommissarin.“ Der Meeresbiologe zuckte die Schultern.
Wiebke betrachtete den Toten. Mit dem Mann, den sie von zahlreichen Fotos in der Zeitung kannte, hatte er nicht viel gemeinsam, und trotzdem war Heiners zu erkennen. Sie schätzte ihn auf Ende vierzig, Anfang fünfzig. Zu einer Jeans trug er ein Poloshirt mit dem bekannten Alligator auf Höhe der Brusttasche; ganz sicher handelte es sich bei dem blassgelben Shirt nicht um ein Plagiat. Einen Schuh hatte er verloren. Die Haare trug Heiners kurz, an der rechten Hand erkannte sie einen dicken Ehering. Also gab es eine trauernde Witwe, die wahrscheinlich noch nichts davon ahnte, dass ihr Mann tot war.
Wiebke erhob sich und bedeutete den Männern vom Bestattungsinstitut, den Leichensack zu verschließen. Sie hatten Anweisung, den Leichnam zur Rechtsmedizin nach Kiel zu transportieren. Hier würde die Obduktion stattfinden, und Wiebke befürchtete, dass sie und Petersen anwesend sein mussten. So war es Vorschrift, doch sie würde sich nicht darum reißen. Sie blickte Mahndorf an. „Wie sollen wir vorgehen?“
„Ich möchte mich nicht in Ihre Arbeit einmischen.“
„Also brauchen wir das ganz große Besteck hier“, murmelte Petersen und zog das Handy hervor. Er wählte die Nummer des Ersten Kriminalhauptkommissars Matthias Dierks und forderte Verstärkung durch Kollegen aus anderen Kommissariaten und dem Streifendienst an. Danach wandte er sich an Finner, der den Bestattern die Tür aufgehalten hatte.
„Wir benötigen eine Liste aller, die zum Multimar Zugang haben. Mitarbeiter, Lieferanten, Kunden, weiß der Geier. Und sagen Sie Ihrem Chef, dass der Laden bis auf Weiteres geschlossen bleibt.“
„Sie ist weg!“ Ein zierliches Mädchen mit kurzen, dunklen Haaren kam ihnen völlig aufgelöst im Treppenhaus entgegen. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet. An der dunkelblauen Weste mit dem Multimar-Logo auf der Brust erkannte Wiebke, dass sie zum Personal gehörte. Unsicher irrte ihr Blick zwischen Finner, der offenbar ihr Vorgesetzter war, und den Polizisten hin und her. „Ich war nur kurz eine rauchen, und als ich zurückkam …“
„Maike – wovon sprichst du?“ Ralf Finner blieb stehen und starrte sie entsetzt an. „Was heißt das: ,Sie ist weg‘?“
Maike wirkte hilflos. „Wenn ich das wüsste! Ich habe ihr gesagt: ,Warte hier, die Polizei kommt gleich und wird dich befragen, du musst hier bleiben‘, aber sie hat sich einfach nicht aufhalten lassen und ist abgehauen. So kenn ich die Beke gar nicht!“
„Warum sollte sie flüchten?“ Ralf Finner war es sichtlich peinlich, dass sich Beke Frahm der Befragung durch die Polizei entzogen hatte. „Sie hat doch gar nichts zu verbergen.“
„Wahrscheinlich steht sie unter Schock.“ Wiebke lächelte ihn freundlich an. „So etwas passiert schon mal. In solchen Situationen neigen manche Leute zu irrationalen Fluchten – meist dorthin, wo sie sich geborgen fühlen. Nach Hause, beispielsweise.“
„Ich werde Ihnen ihre Adresse heraussuchen, Frau Ulbricht.“ Finner führte die Beamten in den verwaisten Pausenraum, wo er ihnen einen Kaffee anbot. Petersen entschuldigte sich mit Kreislaufproblemen und lehnte dankend ab. Wiebke betrachtete ihn nachdenklich, kommentierte die Bemerkung ihres Partners aber nicht. Später würde sie mit ihm reden. Danach verschwand Finner von der Bildfläche. Das junge Mädchen, das offenbar die Aufgabe gehabt hatte, sich um die unter Schock stehende Beke zu kümmern, war ebenfalls fort. Wiebke hoffte, dass ihr nun keine personellen Konsequenzen drohten. Sie sank auf einen der einfachen Stühle in der Kaffeeküche und blickte durch das große Fenster hinaus in die Marsch. Der Regen hatte nachgelassen, doch noch immer war der Himmel grau. Wiebke pustete in die Tasse und genoss den leicht bitteren Geschmack des Kaffees.
„Was ist das für eine Scheiße?“, fragte sie leise an ihren Partner gewandt.
Petersen hockte sich vor ihr auf die Tischkante. „Heiners hatte Dreck am Stecken, jede Wette. Immer wieder geistern Gerüchte durch die Medien, dass er nicht ganz legal gearbeitet haben soll, um zum gewünschten Erfolg zu kommen. Das verschaffte ihm zwar Vorteile gegenüber seinen Mitbewerbern, aber auch viele Neider und Feinde.“ Er winkte ab. „Und wir können nun zusehen, dass wir die Nadel im Heuhaufen finden.“
„Sicherlich wird sich die Mordkommission einmischen, dann sind wir raus aus der Sache.“ Der Erste Kriminalhauptkommissar Udo Friedrichs von der Bezirkskriminalinspektion Flensburg leitete die Mordkommission. Er war für seine selbstherrliche und herrschsüchtige Art bekannt. Wiebke konnte gut darauf verzichten, ihm zuzuarbeiten. In Petersens momentaner Gemütslage konnten die Männer schnell aneinandergeraten; und da Friedrichs am längeren Hebel saß, würde Jan Petersen mit den Konsequenzen leben müssen.
„Die sind doch chronisch unterbesetzt“, unkte Petersen. „Mit ein bisschen Glück nehmen die uns den Bürokram ab. Die Feldarbeit bleibt an uns hängen, jede Wette! Aber so wie ich KHK Friedrichs kenne, wird er froh sein, am Ende die Pressekonferenz zu leiten und seine dumme Visage in jede Kameralinse zu halten. Der ist so was von mediengeil!“
Wiebke lachte trocken auf. In der Tat munkelte man hinter seinem Rücken, dass Friedrichs an einer Profilneurose litt. „Du machst mir ja richtig Mut.“ Dann wurde sie ernst. „Sag mal, glaubst du wirklich, dass die junge Frau, die Heiners im Becken entdeckt hat, unter Schock steht und deshalb abgehauen ist?“
Petersen rutschte von der Tischkante herunter, um durch den Raum zu wandern. „Ich weiß es nicht. Welchen Grund sollte sie sonst haben, sich zu verdünnisieren?“
„Vielleicht hängt sie tiefer in der Sache mit drin, war vielleicht in den Ablauf involviert.“
„In welchen Ablauf?“ Petersen unterbrach seine Wanderung und runzelte die Stirn.