WattenMord - Andreas Schmidt - E-Book

WattenMord E-Book

Andreas Schmidt

4,6

Beschreibung

Das ehrgeizige Vorhaben, am Husumer Badestrand Dockkoog ein Ferienressort zu errichten, stößt nicht nur bei Umweltschützern auf wenig Gegenliebe. Eine Leiche im Großbecken des Multimar Wattforums in Tönning – schnell finden die junge Kommissarin Wiebke Ulbricht und ihr Partner Jan Petersen von der Kripo Husum heraus, dass es sich bei dem Toten um Holger Heiners, den ungeliebten Dockkoog-Investor handelt. Der Millionär ist qualvoll im eiskalten Nordseewasser ertrunken – es steht außer Zweifel, dass dabei jemand nachgeholfen hat. Geht der Mord auf das Konto militanter Umweltschützer oder hatte Heiners noch weitere Feinde? Die blutige Spur führt an die Ostseeküste. Der Fall wird nicht einfacher, als plötzlich Wiebkes tot geglaubter Vater, Hauptkommissar Norbert Ulbricht, im Türrahmen steht und sich sehr zu ihrem Entsetzen in die Ermittlungen einmischt. Als Ulbricht senior selber Zeuge eines kaltblütigen Mordes wird, muss er sich vom Leiter der Flensburger Mordkommission unbequeme Fragen gefallen lassen.

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Im Verlag CW Niemeyer sind bereitsfolgende Bücher des Autoren erschienen:

Tödlicher Schnappschuss

WeserTodTodesDuft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2012 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Umschlagfoto und Bearbeitung: CW Niemeyer Buchverlage

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

ISBN 978-3-8271-9511-1

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

E-Book ISBN 978-3-8271-9816-7

 

 

Für meine Mutter.

Einfach mal, um danke zu sagen!

 

 

Über den Autor:

Andreas Schmidt ist verheiratet und Vater zweier Kinder, er lebt und arbeitet mit seiner Familie in Wuppertal. Die Leidenschaft für das Schreiben entdeckte er als Jugendlicher; so schrieb er als Schüler diverse Kurzgeschichten und arbeitete an Schülerzeitungsprojekten mit. Nachdem er zahlreiche Heftromane für große Verlage geschrieben hatte, gab er 1999 mit „In Satans Namen“ sein Krimi-Debüt. 2002 gelang ihm mit „Das Schwebebahn-Komplott“ der Durchbruch. Inzwischen sind sechs Wuppertal-Krimis, eine Anthologie sowie der Thriller „Mein ist die Nacht“ erschienen. Seit 2008 ist er hauptberuflich als Autor und Texter für verschiedene Agenturen und Verlage sowie als Freier Redakteur tätig.

Mehr über Andreas Schmidt und seine Aktivitäten erfahren Sie unter www.andreasschmidt.org

EINS

Husum, Badestrand Dockkoog, 7.30 Uhr

Als sie die Deichkrone erreicht hatte, bot sich ihr ein einzigartiger Ausblick auf das Meer. Ja, dachte sie zufrieden, so fühlt sich Freiheit an. Wie jeden Samstag hatte sie sich in aller Frühe aufgemacht, um ein paar Runden am Husumer Badestrand zu joggen. Wiebke Ulbricht verlangsamte ihre Schritte und war froh, ihren Puls wieder unter Kontrolle zu haben. Ein sanfter Wind strich über die Grasbüschel auf dem Deich. Die Luft roch frisch und würzig, genau so liebte sie es. Langsam eroberte die See das Watt zurück, und nur ein sanfter Wind strich über die Grasbüschel auf dem Deich. Eine Möwe kreischte über ihrem Kopf und zog dann in östliche Richtung davon.

Die junge Kommissarin genoss die Ruhe und Einsamkeit, die hier herrschten, bevor die ersten Badegäste eintrafen.

Um diese Zeit lagen die Strandkörbe noch verlassen da. Wiebke genoss die Stille, die nur vom Rauschen des Meeres überlagert wurde. Soeben brach die Sonne durch die Wolken und zauberte ihr einzigartiges Licht auf die Wiesen und den Strand. Das morgendliche Joggen war für Wiebke Ulbricht Balsam auf der Seele und der nötige Ausgleich, um von der Hektik im Job abzuschalten.

Neben ihr lag jetzt das „Nordsee-Hotel“. Bald schon würde sich hier etwas tun, und Wiebke wusste nicht, ob sie die geplanten Umbauarbeiten als gut oder schlecht bewerten sollte. Ein Investor plante, am Dockkoog einen Ferienpark zu errichten. Dazu würden das alte Hotel und der benachbarte Campingplatz für immer weichen müssen. Während die Stadtväter einen Vorteil in den Plänen des Bauherrn sahen – immerhin sorgte er mit seiner Investition für zusätzliche Gewerbesteuer und Arbeitsplätze – gingen Naturschützer schon seit mehr als einem Jahr gegen das Bauvorhaben auf die Barrikaden. Es verging kein Tag, an dem es keinen Artikel über das geplante Ferienressort am Dockkoog in den Husumer Nachrichten gab. Nach dem augenblicklichen Stand der Dinge sollte das alte „Nordsee-Hotel“ dem Erdboden gleichgemacht werden. Doch der Besitzer weigerte sich, zu verkaufen. Wahrscheinlich, so unterstellte man ihm hinter vorgehaltener Hand, wollte er den Preis für sein Grundstück damit in die Höhe treiben, um sich dann zur Ruhe zu setzen.

Eine Bürgerinitiative wehrte sich gegen das Ferienressort und machte in Husum Stimmung, doch der Investor, ein Immobilienkaufmann aus Flensburg, ließ sich vom Einsatz der um die Umwelt besorgten Bürger nicht von seinem Vorhaben abbringen. Auch die Unterschriftensammlung der Menschen, die sich gegen das Ressort am Badestrand ausgesprochen hatten, konnte den Immobilienkaufmann nicht dazu bewegen, an einer anderen Stelle zu bauen. Nur der Besitzer des „Nordsee-Hotels“ stellte noch eine Hürde dar.

Während Wiebke weiterjoggte, fragte sie sich, wann er dem Druck nachgab und endlich verkaufte. Im Grunde war es ihr egal, ob man hier baute oder nicht. Sicherlich brachten solche Änderungen eine Menge Vor-, aber auch viele Nachteile. Doch sie war Polizistin und kannte sich weder mit dem Geschäft der Spekulanten, noch mit der Ökologie genügend aus, um sich ein Urteil zu erlauben.

Außerdem war ihr Privatleben turbulent genug, hatte sie doch die letzte Nacht mit ihrem Freund Tiedje verbracht. Er war wieder einmal völlig unangemeldet bei ihr zu Hause in Ostenfeld aufgetaucht, hatte Blumen und eine Flasche Wein mitgebracht und sie mit seinem treuen Hundeblick angeschaut, sodass sie ihn nicht fortschicken wollte. Unwillkürlich zweifelte Wiebke daran, ob „Freund“ die richtige Bezeichnung für ihr Verhältnis zu Tiedje war. Zwei Jahre lang waren sie ein Paar, und Wiebke war fest davon überzeugt gewesen, an seiner Seite alt zu werden. Doch er hatte darunter gelitten, als sie die Stelle bei der Kripo in Husum angenommen hatte. Zu wenig Freizeit, und wenn ein Einsatz anstand, kam es durchaus vor, dass sie sich ein paar Tage lang überhaupt nicht sahen. Die freie Zeit hatte Tiedje genutzt, um sich ein neues Mädchen anzulachen. Wiebke hatte er damit das Herz gebrochen. Sie hatte wochenlang darunter gelitten und sich fest vorgenommen, sich nie wieder mit ihm einzulassen. Doch irgendwann war er bei ihr aufgekreuzt und hatte sie überzeugt, dass sie die richtige Frau für ihn sei. Und zwar nur sie.

Dennoch war das Verhältnis seitdem angespannt. Wie sagte man neudeutsch? Sie führten eine On-Off-Beziehung. Eine feste Beziehung hatten sie nicht mehr. Nur ab und zu, wenn sie sich nach einer starken Schulter und körperlicher Nähe sehnte, dann sahen sie sich und verbrachten auch eine Nacht zusammen. Am nächsten Morgen verschwand er dann wieder nach Kiel, wo er lebte. Sie wusste nicht, was er dort trieb, und wenn sie ehrlich zu sich war, dann wollte sie es auch gar nicht wissen. Wiebke versuchte sich damit abzufinden, Single zu sein. Sie hatte in den letzten Monaten einen unsichtbaren Schutzwall um sich errichtet, um Tiedje auf der nötigen Distanz zu halten. Auf gar keinen Fall wollte sie zu viele Gefühle in ihn investieren. Nicht, um eines Tages wieder von ihm enttäuscht zu werden.

Wiebke verlangsamte ihre Schritte und sog die würzige Meeresluft tief in ihre Lungen ein. Sie ließ den Blick über die Stelle schweifen, an der das Ferienressort entstehen sollte. In der Zeitung hatte sie Fotomontagen gesehen, in denen man darstellte, wie es hier bald schon aussehen könnte.

Das dumpfe Tuckern eines Schiffsdiesels riss sie aus den Gedanken. Wiebke blickte auf die Nordsee hinaus. Die „Argus“, ein im Husumer Hafen beheimateter Krabbenkutter, ging auf Fang. Schemenhaft erkannte sie den Käpt‘n auf der Brücke. Während der 250 PS Cummins-Diesel gegen die Wellen anstampfte, klappten die Arme der Fangnetze über die Bordwände. Wenn der siebzehn Meter lange Kutter von seiner Fahrt zurückkehrte, würde man die fangfrischen Fische und Krabben sofort auf die wartenden Lastwagen verfrachten.

Auch wenn die Klagen der Fischer immer lauter wurden, so hatte der Anblick des blauen Kutters doch etwas Romantisches, fand Wiebke. Sie trabte weiter, ohne nach vorn zu blicken.

Prompt prallte sie mit einem stabilen Mann zusammen. Ein keuchender Laut kam über seine spröden Lippen, während er Wiebke böse anblickte.

„Haben Sie keine Augen im Kopf?“, fragte er.

„Entschuldigung, aber ich war in Gedanken“, erwiderte Wiebke peinlich berührt.

„Schon gut, ist ja nichts passiert.“ Er lächelte versöhnlich.

Wiebke glaubte zumindest, dass der Mann lächelte. Denn von seinem runden Gesicht konnte sie nicht viel erkennen – es verbarg sich hinter einer dunkelblauen Pudelmütze, buschigen Augenbrauen und einem dichten Vollbart. Im Mundwinkel klemmte eine längst erkaltete Pfeife. Mit seiner blauweiß gestreiften Arbeitsjacke, den Gummistiefeln und der verblichenen Hose sah der Mann aus, als käme er geradewegs von Bord der „Argus“.

Wiebke schätzte ihn auf knapp zwei Meter; sein Alter vermochte sie nur grob zu schätzen und sie tippte, dass er Mitte dreißig war. Der Bart machte ihn älter.

„Ist das nicht ein Jammer?“, fragte der Hüne jetzt und blickte an Wiebke vorbei. Bei jedem seiner Wörter wippte die Pfeife zwischen seinen Lippen.

Sie wusste nicht, wovon der Fremde sprach und wandte sich um. Schräg hinter ihr lag das „Nordsee-Hotel“.

„Was ist ein Jammer?“

„Na, das alles wird bald der Vergangenheit angehören. Und die Umwelt gleich mit.“ Er schüttelte den Kopf, so, als könne er seinen Worten selbst keinen Glauben schenken. „Es ist ein Skandal allererster Güte, was hier passieren soll.“

Jetzt verstand Wiebke. „Sie meinen die Baupläne für das Ferienressort?“

Er nickte mit ernster Miene. „Da kann man schon mal unkonzentriert über den Deich joggen, wie Sie es getan haben. Dieser Heiners ist ein aalglatter Geschäftsmann. Er schert sich nicht darum, was er hier anrichtet, solange er seine Gewinne optimieren kann. Als wenn seine Bausünden auf Sylt nicht genügen würden.“

„Sylt?“

„Ja, Heiners hat eine ähnliche Siedlung vor einigen Jahren auf Sylt verbrochen. Die Natur hat eben den Kürzeren gezogen, so einfach ist das.“

„Und Sie setzen sich für den Schutz der Natur hier am Dockkoog ein“, mutmaßte Wiebke, die eigentlich nicht vorhatte, sich mit einem fremden Mann über die Pläne eines Immobilienmaklers zu unterhalten. Längst schon war der Dockkoog zum Politikum geworden.

„Sozusagen, ja.“

Er hielt Wiebke seine große Pranke hin. Sie war nicht grob, sondern trotz ihrer Größe fast feminin. Den Tick, bei einem Mann zuerst auf die Hände zu achten, hatte sie wohl von ihrer Mutter geerbt, die immer gesagt hatte, dass die Hände eines fremden Mannes ganze Geschichten erzählen konnten. Wiebke betrachtete unauffällig die gepflegten Hände ihres Gegenübers. Diese Hände waren keine harte Arbeit gewohnt.

„Mein Name ist Torben Schäfer. Und ich habe die Bürgerinitiative ,Rettet den Dockkoog‘ ins Leben gerufen.“ Nun grinste er.

„Und dabei bin ich schon des Öfteren mit Heiners angeeckt.“

„Kann man davon denn leben?“

„Das ist Ehrenamt.“ Schäfer winkte ab. „Im wahren Leben bin ich Lehrer an der Hermann-Tast-Schule, aber der Erhalt des Naturschutzgebietes am Dockkoog ist meine Herzensangelegenheit.“

Wiebke tippte darauf, dass Schäfer Biolehrer war, schwieg aber. Wahrscheinlich mussten seine Schüler zahlreiche Wattwanderungen mit ihm unternehmen.

„Nun denn, ich muss weiter. Aber wenn Sie mögen, kommen Sie doch einfach am nächsten Freitag in die Aula unserer Schule. Dort findet eine Podiumsdiskussion statt. Sogar Heiners hat sein Kommen angekündigt.“ Schäfer strich sich durch den pelzigen Bart und griente kampflustig. „Na, der soll sich mal warm einpacken.“

Wiebke lächelte freundlich zurück, murmelte „ich überleg es mir“ und verabschiedete sich von Torben Schäfer. Sie mochte Menschen, die wussten, was sie wollten. Und zu dieser Sorte gehörte der Lehrer ganz bestimmt. Vielleicht sollte sie sich die Podiumsdiskussion wirklich anschauen.

ZWEI

Oldenswort, 5.35 Uhr

Als sie die Augen aufschlug, wehte ein verführerischer Duft nach frischem Kaffee durch die Wohnung. Mit dem Erwachen lag ein glückliches Lächeln auf Beke Frahms Lippen. Sie rekelte sich wohlig auf dem Laken ihres Betts und blinzelte in die Sonne, die durch das Fenster ins Zimmer fiel und das Mobiliar in ein warmes Licht tauchte. Beke blickte auf den altmodischen Wecker, der auf dem kleinen Nachtschrank neben dem Bett stand und ein metallisches Ticken erzeugte.

Halb sechs, höchste Zeit, zu Potte zu kommen. Beke schlug die dünne Bettdecke zurück und stand auf. Wie immer hatte sie nackt geschlafen. Im Sommer verzichtete sie auf Nachtwäsche. Und selbst wenn sie welche getragen hätte, dann wäre sie spätestens dem Nahkampf mit Peer Hansen in der letzten Nacht zum Opfer gefallen. Ihr Herz schlug ein paar Takte schneller, als sie an ihren Freund dachte, der gut gelaunt in der Küche herumwerkelte und laut, aber falsch, zur Musik aus dem Radio mitsang. Es war eine seltsame Liebe, die das Paar seit einigen Monaten miteinander verband. Er war fünfundzwanzig Jahre älter als sie und verheiratet. Wirklich viel wusste sie nicht von ihm, außer dass er in der Geschäftsführung eines Husumer Unternehmens am Außenhafen arbeitete und dort einige Leute unter sich hatte. Peer verdiente gut und fuhr einen dicken Wagen, doch das war es nicht, was die junge Frau an ihm faszinierte.

Sie litt nicht unter einem Vaterkomplex, doch seine erfahrene Art machte ihn unwiderstehlich für Beke: Peer war einfühlsam, konnte stundenlang mit ihr ernsthafte Gespräche führen und im nächsten Moment herzlich mit ihr lachen. Er hatte eine Vorstellung von seinem Leben … und er war ein unglaublich guter Liebhaber. Unter seinen Händen vergaß Beke jedes Mal den Altersunterschied, der sie trennte. Nur der Umstand, dass er verheiratet war, bereitete ihr Kopfzerbrechen. Niemals hatte sie vorgehabt, eine Ehe zu zerstören. Doch Peer versicherte ihr immer wieder, dass seine Ehe nur noch auf dem Papier bestand und dass auch seine Frau ein sehr ausschweifendes Liebesleben führte.

Außerehelich, versteht sich – das fügte er immer mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck hinzu, wenn sie wieder einmal darüber sprachen. Doch sie sprachen selten darüber, und Beke versetzte es jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn er nach einer leidenschaftlichen Nacht in den frühen Morgenstunden wieder zu seiner Frau fuhr.

Sie wischte die trüben Gedanken fort und trat an das Schlafzimmerfenster. Albers schlich schon wieder über den ehemaligen Schulhof. Der alte Mann hatte immer etwas zu tun. Heute kümmerte er sich um sein kleines Beet am Rande des sonst eher heruntergekommenen Hofes. Die Blumen standen in voller Blüte, und Vogelgezwitscher drang durch den Spalt des offenen Fensters an ihre Ohren. Die Luft roch herrlich, und Beke schlüpfte in den dünnen Morgenmantel, der über der Lehne des Stuhls hing. Barfuß ging sie in die Küche, lehnte schmunzelnd im Türrahmen und beobachtete Peer, der gerade eine Portion Rührei zubereitete und ihr den Rücken zukehrte. Den wackligen Tisch hatte er liebevoll gedeckt. Gut sah er aus in seinem hellblauen Hemd und der Baumwollhose. Damit keine Fettspritzer aus der Pfanne auf seinem Hemd landeten, hatte er sich ihre Küchenschürze übergezogen.

Peer war groß und breitschultrig, sein kurzes dunkles Haar von einzelnen silbernen Fäden durchzogen. Er legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres; wahrscheinlich lag das auch an seinem Job als Geschäftsführer.

Beke konnte nicht anders – sie schlich sich von hinten an ihn heran und schlang ihre Arme um seinen Körper. Er unterbrach sein Treiben und genoss, wie sie sich an ihn schmiegte. Eilig nahm er die Pfanne von der Platte und schaltete den Herd aus. Dann drückte er Beke sanft fort und drehte sich zu ihr um.

„Guten Morgen, mein Schatz“, sagte er und lächelte sie glücklich an. Bevor sie antworten konnte, verschloss er ihre Lippen mit einem Kuss. Seine Hände glitten unter den Morgenmantel, lösten den Gürtel und streiften ihr den dünnen Stoff von den Schultern. Raschelnd glitt das leichte Kleidungsstück zu Boden. Peer bedeckte ihre Haut mit Küssen und ließ dabei keine Stelle aus. Es dauerte nicht lange, bis sie wohlig erschauderte, die Augen schloss und den Kopf in den Nacken warf.

„Ich bin spät dran“, flüsterte sie zwischen zwei Küssen, doch Peer legte ihr einen Finger auf den Mund und bedeutete ihr zu schweigen. Sanft drückte er sie gegen die Arbeitsplatte und setzte seine Liebkosungen fort. Als er vor ihr auf die Knie sank und seinen Kopf in ihrem Schoß barg, war ihr Widerstand wie weggeblasen. Sie konnte nicht anders, spreizte die schlanken Schenkel und hob das Becken an.

Wieder einmal hat er mich verzaubert, dachte Beke, dann schaltete sie den Verstand ab und sehnte herbei, ihn endlich ganz zu spüren. Dieser Mann war der blanke Wahnsinn. Und er war wie gebaut für Beke Frahm.

Multimar Wattforum, Tönning, 7.40 Uhr

Die Adresse „Am Robbenberg“ war Programm: Hier lag das Multimar Wattforum in Tönning. Der Architekt hatte wohl einen mächtigen Ozeanriesen im Kopf gehabt, als er die Entwürfe für das Hauptgebäude angefertigt hatte. Große Glasflächen und runde Fenster, die an Bullaugen erinnerten, unterstrichen den Eindruck, dass es sich bei dem Gebäude um ein Kreuzfahrtschiff handeln könnte. So schien das Multimar Wattforum wie ein majestätisches Schiff gleich neben dem Deich vor Anker zu liegen. Seit seiner Eröffnung 1999 hatten mehr als zwei Millionen Besucher den Weg nach Tönning gefunden, um sich von der Unterwasserwelt der Nordsee verzaubern zu lassen. Längst hatte sich die Einrichtung bei Schulklassen und Touristen als Geheimtipp herumgesprochen. Beke erfüllte es mit Stolz, hier arbeiten zu dürfen.

Wolken schienen über das Flachdach des Gebäudes nach Osten zu kriechen.

Obwohl sie die sieben Kilometer von ihrem Wohnort Oldenswort normalerweise mit dem Fahrrad zurücklegte, hatte sie sich heute ausnahmsweise von Peer mit dem Auto bringen lassen.

Nach ihrem leidenschaftlichen Liebesspiel am Morgen war sie spät dran. Doch sie bereute nichts und war froh, dass Peer sie nach Tönning fahren konnte. Abgesehen davon, dass sie seine Anwesenheit im Auto noch ein paar Minuten länger hatte genießen können, war es ihr gelungen, in buchstäblich letzter Minute zum Dienst zu erscheinen.

Mit einem leidenschaftlichen Kuss verabschiedeten sie sich voneinander. Sofort kribbelte es wieder in Bekes Schoß, und als er seine Hände an den Innenseiten ihrer Schenkel hochgleiten ließ, kam ein leises Stöhnen über ihre Lippen. Dieser Mann machte sie verrückt; er wusste genau, welche Knöpfe er drücken musste, um ihre Lust zu wecken. Widerwillig entzog sie sich seinen Liebkosungen. „Ich bin spät dran“, murmelte sie heiser und brachte ein Lächeln zustande. Es dauerte einen Moment, bis sich ihr Puls wieder normalisiert hatte. „Sehen wir uns heute Abend?“ Sie wusste nicht, ob sie es so lange ohne Peer aushielt, verzehrte sie sich doch jetzt schon wieder nach ihm.

Er nickte. „Ich komme später, aber ich werde kommen.“ Nun legte er den Kopf schräg. „Haben wir den Abend denn für uns, oder müssen wir noch mal los, so wie gestern?“

„Ich hatte nur etwas vergessen, mehr nicht“, erwiderte sie hastig und öffnete die Beifahrertür. Ein frischer Wind wehte ins Wageninnere und spielte mit ihrem Haar. Ein letztes Mal beugte sie sich zu ihm herüber und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, dann stieg sie aus. „Bis heute Abend also.“

Er nickte. „Bis heute Abend.“

Nachdem sie die Tür ins Schloss gedrückt hatte, legte er einen Gang ein und wendete den Mercedes, bevor er mit quietschenden Reifen den Personalparkplatz verließ.

Wehmütig blickte sie ihm hinterher. Nachdem der schwere Wagen um die nächste Biegung verschwunden war, versuchte sie sich auf den Job zu konzentrieren. Als Ausstellungsbetreuerin hatte sie die ehrenvolle Aufgabe, die Anlage „hochzufahren“, wie man den ersten Rundgang durch die Ausstellung intern nannte.

Das Wetter war in der letzten halben Stunde umgeschlagen; dichte Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Der feine Sprühregen durchnässte ihr Haar und überzog Bekes Kleidung wie ein nasses Netz.

Beke betrat das Wattforum durch den Diensteingang, der sich seitlich am Hauptgebäude befand. Nachdem sie sich an der elektronischen Stechuhr eingeloggt und ihre Arbeitszeit offiziell begonnen hatte, fand sie sich in einem Treppenhaus wieder. Steile Stufen führten nach oben. Rechts gab es eine Kaffeeküche. Beke streifte die Jacke ab und hängte sie an den Haken, bevor sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. Als die Maschine ihr asthmatisches Röcheln von sich gab, verließ Beke den Raum und holte von nebenan einen Putzlappen aus einer kleinen Kammer. Hier hing auch ihre dunkelblaue Weste mit dem weißen Multimar-Logo auf der Brust. Sie schlüpfte hinein und setzte ihren Weg fort. Durch eine feuerfeste Tür gelangte sie in die eigentliche Ausstellung. In den Aquarien herrschte Dunkelheit; die Beleuchtung der Becken wurde jahreszeitabhängig über Zeitschaltuhren gesteuert. Erst gegen neun Uhr, wenn die ersten Besucher die Ausstellung betraten, würde die hier versammelte Unterwasserwelt zum Leben erwachen.

Beke tauchte in die Fauna der Nordsee ein und ließ sich von dem hier herrschenden Dämmerlicht verzaubern. Die Meeres- und Wattbewohner schienen noch zu schlafen. Eine fast surreale Welt umgab sie, und Beke genoss den Augenblick der fast meditativen Stille hier unten. Sie liebte den Morgenrundgang, die Stunde der Einsamkeit, bevor die Besucher in das Zentrum stürmten und Kinderlachen und Stimmengewirr allgegenwärtig waren. Die junge Frau befreite die Scheiben der einzelnen Becken von Fingerabdrücken, die man auf den unbeleuchteten Aquarien gut erkennen konnte. Ab und zu huschten Schatten an ihr vorüber; Fische, die durch ihre Arbeit angelockt wurden.

Das Walhaus wurde von der Nachbildung des achtzehn Meter langen Pottwals, der unter der hohen Decke zu schweben schien, beherrscht. Beke fand es ein wenig unheimlich, dass man den Meeresgiganten unter Verwendung eines echten Skeletts nachgebildet hatte. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass auch die kleinen Kabinen, in denen die Besucher den Walgesängen lauschen konnten, sauber waren, führte Bekes Weg sie zu ihrem persönlichen Highlight der Ausstellung: Dem Großbecken mit knapp dreihunderttausend Litern Wasser. Zweimal wöchentlich stieg ein Taucher ins Wasser, um die Fische vor den Augen der Zuschauer zu füttern. Der Raum vor dem großen Aquarium erinnerte dabei an einen Uni-Hörsaal: Stufenförmig waren Bänke angelegt worden, die den Besuchern ermöglichten, hier mit den Bewohnern der Nordsee auf Tuchfühlung zu gehen. Während das Forum tagsüber abgedunkelt war, brannte jetzt das Arbeitslicht. Von hier unten aus wirkte der hohe Raum fast zylindrisch. Bevor sie sich an das Reinigen der großen Scheibe machte, betrat sie einen kleinen Nebenraum, den sie „die Grotte“ nannte. Durch ein Seitenfenster konnten die Besucher in das nachgebildete Riff blicken. Durch unsichtbare Lautsprecher wurden sphärisch anmutende Klänge eingeblendet. Beke atmete tief durch, dann befreite sie das Fenster von Fingerabdrücken. Als ein Schatten, schnell wie ein Blitz, nur wenige Zentimeter jenseits der dicken Scheibe an ihr vorbeischoss, zuckte sie zurück. Um ein Haar hätte sie geschrien.

„Mann, hast du mich erschreckt“, murmelte Beke, als sie im Dunkel des Beckens einen Stör erkennen konnte, der nervös seine Bahn durch das Wasser zog und sie bei der Arbeit zu beobachten schien. Nachdem sich Bekes Herzschlag normalisiert hatte, setzte sie ihre Arbeit fort und sorgte für Ordnung und Sauberkeit in dem kleinen Raum mit der niedrigen Decke. Sie bemerkte, dass sich noch nicht so viele Tiere an der Scheibe aufhielten, wie es sonst der Fall war, wenn sie morgens als Erste die Ausstellung besuchte.

Beke umrundete die kleine Grotte und stand im Forum. Bei den Vorführungen fanden hier gut einhundertdreißig Personen Platz, um das einzigartige Unterwasser-Spektakel aus nächster Nähe beobachten zu können. Doch so hell erleuchtet hatte der Raum seinen fast mystischen Charme, den er bei Dunkelheit und beleuchtetem Aquarium besaß, verloren. Trotzdem genoss die junge Frau die Stille und nahm sich einen Augenblick Zeit. Sie setzte sich auf die unterste Bank und betrachtete das Treiben im Großbecken. Das Wasser selbst war gefiltert und wurde von Eiweiß gereinigt. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse erkannte sie die leichte Strömung um den nachgebildeten Felsen in der Mitte des Beckens, die Algen und feinste Partikel vor sich hertrieb. Und da war noch etwas, das sie verwunderte: Auf dem Boden des Aquariums wimmelte es von Fischen. Es schien, als hätten sich alle Tiere, die in dem Becken lebten, an einer Stelle versammelt. So etwas war außergewöhnlich und kam nur dann vor, wenn es Futter gab, das man nur an einer einzigen Stelle ausgelegt hatte. Doch die Meeresbiologen des Multimar waren keine Anfänger – sie wussten, wie man Fische artgerecht fütterte. Was also war es, das die Fische so in den Bann zog, dass sie in hektisches Treiben ausgebrochen waren?

Beke erhob sich verwundert und trat nah an die Scheibe, um im Zwielicht des Großbassins etwas erkennen zu können. Die Fische nahm sie nur schemenhaft wahr, zu sehr spiegelte sich das Arbeitslicht des Vorraumes im Glas. Es war eine unheimliche und bizarre Szenerie, und Beke legte schützend beide Hände zwischen Gesicht und Scheibe, um in das Innere des Beckens blicken zu können. Die Ranken im nachgebildeten Felsen verschwammen mit den aufgeregt wirkenden Tieren zu einer breiigen Masse, und Beke war versucht, den Technikbereich des Multimar aufzusuchen, um die Beleuchtung des Großbeckens einzuschalten. Hier stimmte etwas nicht, so viel stand für die Ausstellungsbetreuerin fest. Sie blinzelte in das Schummerlicht und traute ihren Augen nicht: Täuschte sie sich, oder lag da eine menschliche Gestalt am Grund des Beckens?

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und Beke rang nach Luft. Sie spähte angestrengt ins Wasser und glaubte nun tatsächlich, einen Arm erkennen zu können, der im Wasser trieb. Je länger sie hinsah, desto sicherer wurde sie. Nun kannte sie den Grund, warum sich die Fische hier unten versammelt hatten: Sie witterten Nahrung. Einer der Rochen schien seine Beute besonders zu genießen; ein Katzenhai zog bereits lauernd seine Bahnen um den leblosen Körper im Wasser.

Es war ein bizarrer Anblick: Der Mensch am Boden des Großbassins leistete keine Gegenwehr. Er ließ es widerstandslos geschehen, dass die Fische an ihm herumknabberten. Der Hummer hatte sein Versteck verlassen. Er machte sich mit seinen Scheren an den Händen und im Gesicht des Unbekannten zu schaffen. Die Rochen hatten mit ihren Raspelzähnen flächige Abschürfungen auf der freien Haut des Mannes hinterlassen. Nun erkannte Beke auch ein wächsernes Gesicht. Mund und Augen standen offen, und sie fürchtete, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Es war zu dunkel, um die winzigen blutigen Wunden im Gesicht des Mannes zu erkennen, doch Beke konnte die offenen Stellen erahnen.

Sie stieß sich von der dicken Glasscheibe ab und schüttelte den Kopf. Spielte ihr die Fantasie einen Streich? Natürlich, dachte sie, natürlich ist es eine sehr kurze und durchliebte Nacht gewesen, und sie hatte denkbar wenig Schlaf gefunden, doch war

es möglich, dass sie sich das, was hinter der mehr

als dreißig Zentimeter dicken Scheibe geschah, einbildete?

Beke zögerte, dann gab sie sich einen Ruck und wandte sich um. Sie presste ihr erhitztes Gesicht an das kühle Glas und blickte angestrengt in das Wasser.

Nein, dachte sie und spürte, wie Adrenalin in ihre Blutbahn floss. Keine Einbildung. Der Mensch im Wasser war Realität.

Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wie war der Mann hinter dem Glas in das Großbassin gekommen? Hatte sich jemand in den Technikraum über dem Becken verirrt und war durch einen Fehltritt in das Aquarium gestürzt?

„Hilfe“, durchzuckte es sie brennend. „Ich muss Hilfe holen.“

Nach einem letzten Blick ins schummrige Wasser rannte sie aus dem Forum. Sollte der Mann im Wasser noch leben, kam es jetzt auf jede Sekunde an. Den vernünftigsten Gedanken, nämlich den, dass der Mensch schon längst tot war, verdrängte sie.

DREI

Tönning, 8.50 Uhr

Wiebke spürte, dass etwas mit ihrem Partner nicht stimmte. Die junge Kommissarin hatte ihn schon während der Fahrt nach Tönning immer wieder von der Seite betrachtet, doch Hauptkommissar Jan Petersen hatte stur nach vorn geblickt und das Lenkrad so fest umklammert, als würde er es am liebsten zwischen den Händen zerquetschen. Unterwegs sprach er nur über ihren Auftrag– kein einziges privates Wort, nichts. So kannte Wiebke ihren Kollegen nicht. Sie hatte ihm förmlich angesehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dennoch wollte sie ihn nicht nach dem Grund für sein Verhalten fragen. Sie war sicher, dass Petersen mit ihr darüber reden würde, sobald er mit sich selbst wieder im Reinen war. Womöglich, so vermutete sie, gab es wieder Probleme mit seiner Exfrau. Petersen war geschieden und litt unter dem ehrgeizigen Rechtsanwalt seiner Ex, der immer wieder einen Weg fand, den Kommissar bis auf das letzte Hemd auszuziehen.

An sich war Petersen ein netter Kerl, er war umgänglich und trug das große Herz am rechten Fleck, was ihn im Kollegenkreis beliebt machte. Am meisten imponierte der jungen Kommissarin der ausgeprägte Gerechtigkeitssinn, der ihn irgendwann dazu bewogen hatte, bei der Polizei anzuheuern.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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