WattenZorn - Andreas Schmidt - E-Book

WattenZorn E-Book

Andreas Schmidt

5,0

Beschreibung

Eine rätselhafte Mordreihe hält die Kripo Nordfriesland in Atem. Ein Serienmörder drapiert seine Opfer an öffentlichen Plätzen. Offenbar möchte er mit seinen perfiden Taten Aufmerksamkeit erregen, Angst und Schrecken verbreiten. Welche Verbindung besteht zwischen den Mordopfern? Kommissarin Wiebke Ulbricht und ihr Partner Jan Petersen liefern sich ein Wettrennen mit dem Killer, dem es immer wieder gelingt, die Polizisten auf falsche Fährten zu locken. Der Skandal um eine Ärztin, die ihre Patienten als „Todesengel von Husum“ erlöst haben soll, bekommt eine neue Brisanz, als die Frau ermordet im Tine-Brunnen am Husumer Marktplatz gefunden wird. In ihrem neuesten Fall liefern sich die Ermittler Ulbricht und Petersen eine atemberaubende Jagd durch das „Land zwischen den Meeren“ und geraten so selber in die Fänge des Serienmörders. WattenZorn ist der fünfte Band der beliebten Küstenkrimis von Andreas Schmidt.

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Für meine Familie.Das Wertvollste, was ein Mensch haben kann. Danke für alles!

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8435-1

Andreas SchmidtWattenZorn

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Kapitel 1

Friedrichstadt, 20.30 Uhr

Die magische Stille des Augenblicks wurde nur unterbrochen vom Glucksen, das entstand, wenn er die Ruder in das schwarze Wasser der Gracht eintauchen ließ, um das kleine Boot mit seinen muskulösen Armen weiter nach vorn zu drücken.

Verzückt betrachtete Sina ihn im Widerschein der stimmungsvoll beleuchteten Häuserzeilen, die weiter oben am Ufer an ihnen vorüberglitten. Lennard hatte sie in den Abendstunden mit der kleinen Bootsfahrt überrascht, wollte sie durch die Wasserstraßen seiner Heimatstadt führen. Dazu hatte er ihnen sogar einen kleinen Picknickkorb gepackt, über den sie sich später hermachen würden. Seit einem halben Jahr waren sie jetzt ein Paar, und es war, als hätte sie in Lenny, wie sie ihn liebevoll nannte, den Mann gefunden, mit dem sie alt werden wollte. Mit ihren neunzehn Jahren hatte sie noch nicht allzu viele Partner gehabt, doch mit ihm war alles anders. Plötzlich erschien ihr die Vorstellung, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen, nicht mehr spießig und langweilig. Lennard saß mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, weil er so besser rudern konnte, wie er ihr anfangs gesagt hatte. Ihr war es recht, denn so konnten sie sich während der Fahrt in die Augen schauen. Während ihr schlecht geworden wäre, wenn sie rückwärts zur Fahrtrichtung hätte sitzen müssen, schien es ihm nichts auszumachen.

Fasziniert beobachtete Sina Lennard dabei, wie er sie durch die Grachten des Holländerstädtchens fuhr. Sein markantes Gesicht wirkte im Zwielicht geheimnisvoll. Als er bemerkte, dass sie ihn ansah, erwiderte er Sinas Lächeln. „Geht’s dir gut?“ „ Seine Stimme klang sanft und fürsorglich. Vorhin, als sie losgefahren waren, hatte er eine weiche Wolldecke über ihre Schultern gelegt.

„Aber so was von.“ Sie lächelte. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte sich zu ihm gesetzt, doch das sanfte Schaukeln des kleinen Bootes machte jede Bewegung unmöglich. So blieb sie auf der gegenüberliegenden Bank sitzen und genoss die romantische Fahrt durch die Gracht.

Links tauchten die markanten Giebelhäuser am Marktplatz auf. Die kannte Sina von früheren Besuchen in Friedrichstadt, doch noch nie hatte sie die bekannte Häuserzeile in einem derart romantischen Licht und vom Wasser aus gesehen. Sinas Herz klopfte vor Freude. Als sie den Blick wieder nach vorn richtete, sah sie in Lennys Rücken eine Brücke auftauchen, durch die sie gleich fahren würden. Bogenförmig spannte sich das historische Bauwerk über die kleine Wasserstraße. An dem schmiedeeisernen Geländer rankten in den Sommermonaten üppig bepflanzte Blumenkästen. Jetzt, wo der Herbst vor der Tür stand, hatte man die Kästen, wohl aus Angst vor den ersten Herbststürmen, abmontiert. Trotzdem schien etwas am Geländer befestigt zu sein, das Sina im diffusen Licht nicht erkennen konnte.

Lennys nächster Ruderstoß brachte sie näher an das Viadukt heran. Ein schwarzer, großer Gegenstand, der Sinas Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, ließ die romantische Stimmung verblassen. Sie versuchte zu erkennen, was dort am Geländer befestigt war. Sina erschauderte, als sie die Konturen eines menschlichen Körpers erkannte. Die Gestalt hing kopfüber an den Verstrebungen des Brückengeländers. Leblos hingen die Arme mit ausgestreckten Händen in die Tiefe.

Eine Puppe, durchzuckte es Sina panisch. Jemand muss eine menschengroße Puppe kopfüber ans Geländer gehängt haben.

Auf der Brücke bewegte sich etwas. Ein Schatten, der sich hinter die Verstrebungen geduckt hatte, huschte in die Höhe. Er löste sich aus dem Dunkel und machte sich an der Puppe zu schaffen. Noch während Sina sich fragte, wer so etwas tat, löste sich die Figur genau in dem Augenblick, als sich das kleine Ruderboot kurz vor der Brücke befand. Lenny hatte bemerkt, dass Sina abgelenkt war. Gerade als er sich umwandte, um zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit erregte, lösten sich die Stricke, mit denen man die Puppe an der Brücke befestigt hatte. Pfeilschnell stürzte der Körper in die Tiefe. Zeitgleich rannte die schwarz gekleidete Person auf der Brücke davon. Schritte entfernten sich hastig. Sina erkannte noch eine schwarze Kapuze und schwarze Stiefel zu einer dunklen Hose, dann richtete sie ihre Augen wieder auf die Puppe, die innerhalb eines Sekundenbruchteils der Wasseroberfläche entgegensauste.

Kurz bevor der leblose Körper in das Wasser der Gracht eintauchen konnte, blickte Sina in zwei weit aufgerissene Augen und auf einen Mund, der wie zu einem stummen Schrei geöffnet war.

Das ist keine Puppe, schrie alles in ihr. Das ist ein echter Mensch.

Sie wollte Lenny warnen, ihm zurufen, er solle ausweichen, das Boot zum Stehen bringen, brachte aber nur einen spitzen Schrei über die Lippen, der hohl durch die Stille hallte und ihren Freund in Alarmbereitschaft versetzte. Irgendwo klappte eine Autotür. Ein Motor wurde gestartet, der Wagen entfernte sich mit quietschenden Reifen.

Sinas Aufmerksamkeit galt ihrem Freund. Für Lennard war es zu spät, um noch zu reagieren. Als er die Ruder losließ, schlug der Kopf der Gestalt hart auf das Holz des Ruderbootes auf. Der Schädel brach mit einem hässlichen Knacken, als er auf die Bootsflanke schlug. Blut spritzte, dann tauchte die Kreatur mit einem lauten Platschen in die Gracht. Obwohl das Wasser schwarz schimmerte, sah Sina im Lichterschein der umliegenden Gebäude, wie das Blut das Wasser verfärbte. Regungslos tauchte die Gestalt unter, verschwand kurz unter dem Wasser, um schon im nächsten Moment wieder an der Oberfläche zu erscheinen.

Arme und Beine waren weit ausgebreitet, das Gesicht der dunkel gekleideten Gestalt befand sich kurz unter Wasser. Sina und Lenny blickten fassungslos auf die blutende Wunde am Hinterkopf der Gestalt. Fast schien es, als würde sich der Körper bewegen, doch er dümpelte mit den sanften Wellen des Wassers auf und ab und regte sich nicht mehr. Für die jungen Leute bestand kein Zweifel daran, dass die Person tot war.

Sina wusste, dass sie diesen Anblick nie wieder in ihrem noch jungen Leben vergessen würde.

Kapitel 2

Ostenfeld, 21.45 Uhr

„Dein Ernst?“ Eike betrachtete Wiebke mit einer Mischung aus Wut und Trauer. Sein Blick fiel auf die drei Umzugskartons, die Wiebke im Flur ihrer kleinen Dachwohnung aufeinandergestapelt hatte. Auf jeden einzelnen hatte sie mit einem dicken Filzstift seinen Namen gekritzelt. „Du schmeißt mich raus?“

„Bist du nicht schon längst draußen?“ Wiebke versuchte vergeblich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Innerlich bebte sie und kämpfte gegen die Tränen an. Sie hatte sich die Entscheidung, sich von ihrem langjährigen Freund zu trennen, nicht leicht gemacht. Wochen und Monate hatte sie mit sich gerungen und war zu dem Schluss gekommen, dass sie oft genug das Gespräch zu ihm gesucht hatte. Erfolglos, wie sie sich eingestehen musste. Denn an Eikes Verhalten hatte sich nichts geändert. Als er an diesem Abend zu ihr kam, konfrontierte sie ihn mit ihrer Entscheidung. Schon an ihrer abweisenden Art schien er bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte, dass etwas anders war als gewohnt. Bewusst gab Wiebke sich ihm gegenüber kühl und abweisend. Eher ein Selbstschutz, ein Mechanismus, nicht in letzter Sekunde von dem gefassten Entschluss abzuweichen. Oft hatte sie sich in den letzten Tagen ausgemalt, wie dieser Moment wohl aussehen würde. Jetzt war er gekommen, und Wiebke würde sich nicht von ihm umstimmen lassen. Zu oft schon hatte sie in der Vergangenheit nachgegeben und den Schmerz ertragen, wenn er mal wieder mit seiner Band „Sleepless“ unterwegs war und sie gnadenlos ignorierte.

Eike schloss die Wohnungstür und hakte die Daumen in den Gürtellaschen seiner verwaschenen Bluejeans ein. Offenbar wollte er nicht, dass Heike Ludzuweit, Wiebkes Vermieterin, das Gespräch vom Treppenhaus aus mithören konnte. „Wiebke“, sagte er, „ich liebe dich.“

„Warum meldest du dich dann tagelang nicht, wenn du auf Tour bist? Warum hast du nicht einmal die Güte, meine Textnachrichten zu lesen, geschweige denn, sie zu beantworten? Warum hältst du es nicht für nötig, mal zurückzurufen?“

Wiebke registrierte, dass ihre Stimme schrill wurde. Schnell versuchte sie, sich zu beruhigen. In Gedanken zählte sie bis fünf, atmete tief durch und wich seinem flehenden Blick aus. Wiebke ging ins Schlafzimmer und nahm eine gepackte Reisetasche vom Bett, um sie zu den Kartons im Flur zu stellen.

Fassungslos beobachtete Eike sie. „Wiebke, ich …“

Sie brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. „Diese Liste könnte ich beliebig fortsetzen, Eike. So geht es einfach nicht mehr weiter.“ Kopfschüttelnd senkte sie den Blick. Er sollte nicht sehen, dass ihre Augen feucht schimmerten.

„Ich liebe dich, Wiebke, und ich …“, setzte er erneut an.

„Warum sehnst du dich dann nicht nach mir, wenn du weg bist?“, entgegnete sie. „Warum vermisst du mich nicht so, wie ich dich vermisse?“ Als sie ihn mit tränenverschleiertem Blick anschaute, trat er näher, um seine Hände auf ihre Schultern zu legen. Wiebke konnte seine Nähe in diesem Augenblick nicht ertragen. Mit einer einzigen Bewegung schüttelte sie ihn ab.

„Tröstest du dich mit irgendwelchen Groupies im Hotelzimmer, oder was ist es?“

„Das ist Unsinn.“ Eike deutete wütend und enttäuscht auf die gepackten Umzugskartons und die Reisetasche. „Was soll das?“

„Ich kann das nicht mehr“, sagte Wiebke, um einen sachlichen Ton bemüht. Sie wandte sich von ihm ab. Es war eine skurrile Situation. Eike war am Abend zu ihr gekommen, nachdem er tagelang unterwegs gewesen war. In dieser Zeit hatte es von ihm kein Lebenszeichen gegeben. Es war wie zu oft in der letzten Zeit gewesen. Sein Verhalten hatte ihr die Entscheidung abgenommen, hatte ihren Entschluss, sich von ihm zu trennen, sogar gefestigt.

Nun standen sie sich im Flur von Wiebkes kleiner Wohnung gegenüber. In der Stube lief der Fernseher mit geringer Lautstärke. Durch die Milchglasscheibe drang ein bläulich zuckendes Licht in den Flur.

„Eike, ich bin es so satt, mir Sorgen um dich zu machen“, fuhr Wiebke fort. „Und deshalb beende ich unsere Beziehung hiermit.“ Jetzt war es raus.

„Wie stellst du dir das vor?“, fragte Eike und war wohl lauter geworden, als er beabsichtigt hatte. „Ich bin für dich …“

Sie wurden vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Wiebke war innerlich froh, seine schwachen Argumente jetzt nicht länger ertragen zu müssen. Schnell murmelte sie eine Entschuldigung, wandte sich ab und betrat die Küche, wo das Smartphone auf dem kleinen Tisch lag. Mit einem Blick auf das Display erkannte sie, dass es sich um Kai Christensen, den Husumer Kripochef, handelte.

„Tote Person in Friedrichstadt“, kam er gleich zum Grund seines späten Anrufs. Eine Entschuldigung für die Störung schob er nuschelnd hinterher. „Du solltest hinfahren und den ersten Angriff vor Ort leiten“, sagte Christensen. „Und tu mir einen Gefallen und nimm Jan mit – es würde zu lange dauern, bis er mit dem Rad in Friedrichstadt ankommt.“ Bevor Wiebke etwas sagen konnte, gab er ihr die Adresse des Leichenfundortes durch.

Sekundenlang stand Wiebke mit dem Handy in der Hand am Tisch und starrte auf das Display. Sie hatte nicht bemerkt, dass Eike zu ihr getreten war. Mit verschränkten Armen lehnte er im Türrahmen.

„Du musst also los.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Wiebke nickte. „Leiche in Friedrichstadt. Und ich muss Jan noch abholen.“ Bevor Eike etwas erwidern konnte, drückte Wiebke sich an ihm vorbei. Sie war froh, dieser unangenehmen Situation entkommen zu können. „Den Wohnungsschlüssel kannst du in den Briefkasten werfen“, sagte sie leise, dann ließ sie Eike alleine in ihrer Wohnung zurück.

Kapitel 3

Friedrichstadt, 22.20 Uhr

Trotz der späten Stunde herrschte rund um den Marktplatz des Holländerstädtchens hektisches Treiben. Von unterwegs aus hatte Wiebke alles Nötige telefonisch veranlasst, um den „ersten Angriff“, wie Christensen es genannt hatte, so effektiv wie möglich gestalten zu können. Sie hatte die Besatzungen sämtlicher Streifenwagen aus der Umgebung nach Friedrichstadt beordert, um den Einsatzort für Passanten und den Autoverkehr abzusperren. Ehrenamtler der Freiwilligen Feuerwehr waren ausgerückt, um die Szenerie mit leistungsstarken Scheinwerfern rund um die Brücke am Mittellandkanal auszuleuchten. Parallel mit Wiebke hatte Christensen auch die Husumer Kriminaltechniker alarmiert, die jetzt schon vor Ort waren, um Spuren zu sichern.

Wiebke hatte keine Lust gehabt, den Dienstwagen zu holen. So waren sie ohne den Umweg über das Revier an der Poggenburgstraße gleich mit dem Panda nach Friedrichstadt gefahren und hatten wertvolle Zeit gespart. Die Fahrt über die nächtliche Landstraße war weitgehend schweigend verlaufen, wobei Petersen nicht entgangen war, dass seine langjährige Partnerin etwas zu beschäftigen schien. Er hatte es vermieden, sie darauf anzusprechen. Doch als Wiebke den kleinen Fiat neben dem blau-weiß schraffierten Absperrband parkte, schien er das Bedürfnis zu haben, sie danach zu fragen. Vor diesem Moment hatte sie sich gefürchtet, denn die Trennung von Eike war noch zu frisch, um schon darüber sprechen zu können. Jetzt spürte sie Petersens Seitenblick, während sie starr durch die Windschutzscheibe nach vorn sah.

„Dich beschäftigt was.“ Besorgt musterte er Wiebke, während er den Sicherheitsgurt des Beifahrersitzes löste.

„Jo.“ Wiebke wusste nicht recht, was sie ihm darauf antworten sollte. Es war ihr unangenehm, dass ihr Partner sie durchschaut hatte. „Nicht gerade leicht im Moment“, murmelte sie halblaut. Im Augenwinkel sah sie Petersen nicken. Vermutlich konnte er sich denken, dass ihr hartnäckiges Schweigen mit Eike zusammenhing. Jan Petersen hatte in der Vergangenheit nie mit seiner Meinung über ihren Freund hinter dem Berg gehalten. Er war schon immer davon überzeugt gewesen, dass Eike nicht der richtige Mann für sie war. Doch jetzt, so hatte Wiebke den Eindruck, tat sie ihm leid. Mitleid konnte sie gerade nicht vertragen.

„Wenn du schnacken willst, dann sach Bescheid.“

„Mach ich“, versprach sie ihm und war dankbar, dass er nicht weiterbohrte. Vergeblich versuchte sie, die düsteren Gedanken aus dem Kopf zu verdrängen. Jetzt galt es, sich auf den Einsatz zu konzentrieren. Sie seufzte.

„Dann los.“ Petersen stieß die Tür auf und wuchtete seinen Körper ins Freie. Missmutig betrachtete er die trotz später Stunde versammelten Schaulustigen rund um den Einsatzort. „Großes Kino“, brummte er, als sie ausgestiegen war.

Wiebke wusste, dass er die Sensationslust der Anwohner grundsätzlich nicht guthieß, und hoffte, dass ihr eine Auseinandersetzung zwischen ihrem Partner und den Schaulustigen erspart blieb. In Gedanken war Wiebke noch bei dem Gespräch, das sie vor Christensens Anruf mit Eike geführt hatte. Obwohl sie froh gewesen war, der unangenehmen Situation zu entkommen, erschien es ihr jetzt ein wenig unpassend, dass sie das Gespräch – und damit ihre Beziehung – nicht vernünftig beendet hatte.

Doch jetzt war nicht der richtige Moment für Schuldgefühle. Ihr Beruf als Kommissarin fragte nicht nach privaten Problemen. Das Böse schläft nie, pflegte ihr Vater Norbert Ulbricht in solchen Fällen immer zu sagen. Und er musste es wissen, war die Ehe des inzwischen pensionierten Ersten Kriminalhauptkommissars nicht zuletzt wegen der ständigen Einsätze zu jeder Tages- und Nachtzeit gescheitert. Es war mehr als drei Jahrzehnte her, als ihn seine Frau in einer Nacht- und Nebelaktion mitsamt der damals noch kleinen gemeinsamen Tochter Wiebke verlassen hatte, um in Nordfriesland ein neues Leben zu beginnen. Viele Jahre lang hatte Wiebke, die inzwischen erwachsen geworden war und die selber eine Laufbahn bei der Polizei eingeschlagen hatte, keinen Kontakt zu ihrem Vater gehabt. Bis zu dem Tag, an dem er irgendwann auf der hölzernen Klönschnackbank neben der Haustür gesessen und auf die Heimkehr seiner einzigen Tochter gewartet hatte.

Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie schon seit geraumer Zeit nichts mehr von ihm gehört hatte, und nahm sich vor, Norbert Ulbricht mal wieder anzurufen, war er doch der letzte lebende Verwandte, von dem sie wusste.

Jetzt konzentrierte sie sich auf den Einsatz und meldete sich bei den uniformierten Kollegen, die sich entlang der Polizeiabsperrung aufgebaut hatten, um allzu neugierige Zeitgenossen auf Distanz zu halten.

Dort wurde sie an Jannis Petridis, den neuen Kriminaltechniker aus Husum, verwiesen. Kaum jemand der Husumer Polizeiinspektion kannte den richtigen Namen des jungen Kollegen – er hörte auf den Spitznamen Tasso. Seit einigen Wochen unterstützte er Piet Johannsen, den altgedienten Leiter der Husumer KTU, der sich seit Ewigkeiten über eine dauerhafte Überlastung beschwerte und sich schon auf den wohlverdienten Ruhestand freute. Tassos Eltern waren Griechen und führten seit Jahrzehnten ein traditionelles griechisches Restaurant in der Nähe des Schlossparks.

Wiebke hatte ein Faible für griechisches Essen und war schon oft bei Tassos Familie zu Gast gewesen. Doch an Freizeitvergnügen war gerade nicht zu denken, und so konzentrierte sie sich auf den neuen Fall.

Gerade war Tasso damit beschäftigt, am grauen Sprinter der KTU die Ausrüstung der HDR-Kamera zusammenzubauen. Offensichtlich war er selber auch noch nicht lange vor Ort. Als der Südländer die Kollegen bemerkte, ließ er den kleinen Koffer mit der 360-Grad-Kamera sinken. „Moin“, grüßte er freundlich und zeigte eine Reihe strahlend weißer Zähne.

„Was machst du?“, fragte Petersen und klopfte dem jungen Kollegen jovial auf die Schultern. Zwei fast schwarze Augen funkelten in einem rundlichen Gesicht, das auch durch den Dreitagebart nicht markanter wirkte. Er zeigte auf die Kamera in seinen Händen. „Das ist euch sicherlich eine große Hilfe, den Fall später zu rekonstruieren, oder?“

„Es spart vor allem viel Arbeit beim Schreiben der Berichte“, brummte Petersen. Mit den Aufnahmen, die Tasso gleich vom Einsatzort anfertigen würde, konnten sie in der Wache mit ein wenig Glück den Hergang rekonstruieren.

Der Wind frischte auf und ließ Wiebke frösteln. Sie wollte sich nicht die ganze Nacht um die Ohren schlagen. „Was ist genau passiert?“, wollte sie von Tasso wissen.

„Wenn mein schlimmster Verdacht sich bestätigt, eine ziemlich kranke Sache.“ Der Grieche betrachtete sie nachdenklich. „Eine Frau ist von der Brücke über den Mittelburggraben ins Wasser gestürzt und dabei mit dem Hinterkopf auf den Rumpf eines Ruderbootes geschlagen.“

„Das klingt nach einem tragischen Unglück – wenn du es nicht so komisch sagen würdest“, fand Petersen.

„Gut zugehört, Jan.“ Tasso nickte. „Als ich mit Piet den leblosen Körper ans Ufer gezogen habe, fanden wir die Rückstände von Klebeband an ihren Hand- und Fußgelenken. Fast so, als wäre sie vorher gefesselt gewesen.“

„Also hat jemand nachgeholfen?“ Wiebke zückte einen Stift und den kleinen Spiralblock, den sie immer mitführte.

Jannis Petridis nickte. „Davon ist auszugehen.“

„War die Frau denn schon tot, als sie von der Brücke gefallen wurde?“ Petersen tauschte einen Blick mit Wiebke.

Tasso zuckte mit den Schultern. „Ich bin nur der Techniker, Jan. Aber wir fanden noch eine Verletzung am Hals, die quer auf Höhe der Kehle verläuft, so, als hätte man die Frau erdrosselt.“ Er deutete mit dem Kinn zum Ufer der Gracht. „Aber Piet wird euch mehr erzählen können.“

„Ist er nicht auch Techniker?“, konnte sich Petersen nicht verkneifen zu sagen.

„Du bist und bleibst ein Klugscheißer, Jan.“ Tasso grinste. „Piet assistiert dem Notarzt gerade bei der ersten Leichenschau, deshalb dürfte er mehr im Thema sein als ich.“ Er wurde ernst. „Und unter uns: Ich habe mich vom Acker gemacht. Wenn ihr mich fragt, ist der Notarzt ein echter Kotzbrocken.“

„Das klingt nach einem amüsanten Abend.“ Petersen verdrehte die Augen. „Uns bleibt auch nichts erspart heute.“

„Wie dem auch sei, komm schon.“ Wiebke steckte Block und Stift in die Hosentasche und ging voran. Petersen folgte ihr wortlos zu der steilen Böschung, die hinunter zum Ufer des Kanals führte. Sie mussten achtgeben, auf dem feuchten Gras nicht auszurutschen. Petersen ruderte wild mit den Armen, war kurz davor zu stürzen, als seine ausgelatschten Schuhe den Halt verloren. Beherzt griff Wiebke zu und konnte so Schlimmeres verhindern.

Petersen warf ihr einen dankbaren Blick zu, dann erst bemerkte er die Menschenmenge am gegenüberliegenden Ufer der Gracht, die mit ihren Smartphones filmten und Fotos machten. Es war sehr wahrscheinlich, dass sie auch seinen Beinahesturz mitbekommen hatten.

„Ich könnte kotzen, wenn ich so was sehe“, fluchte Petersen außer sich. „Sichtschutzwände“, grollte er in Richtung der Menschenmenge. „Wir brauchen Sichtschutzwände.“

„Sind unterwegs“, erwiderte Wiebke und musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Es war offensichtlich, dass ihrem Partner der Ausrutscher unangenehm war. „Und jetzt komm.“ Sie blieb stehen, um sich einen Überblick über das Geschehen am Ufer des Kanals zu verschaffen.

Gleich neben dem Wasser lag das Ruderboot, das sich wohl zum falschen Moment am falschen Ort befunden hatte, im feuchten Gras. Im hölzernen Rumpf sah sie eine Wolldecke und einen Picknickkorb. Neben dem Boot knieten Piet Johannsen, ein Notarzt und zwei Rettungssanitäter um eine leblose Person, die mit einem Tuch abgedeckt war, im Gras. Als sich Wiebke und Petersen ihnen näherten, erhob sich Johannsen.

Wiebke nickte ihm zu. „Was wissen wir?“

Piet Johannsen rieb sich mit schmerzverzerrter Miene den Rücken. „Ich werde alt“, verkündete er.

„Das weiß ich schon lange“, lästerte Petersen und erntete damit einen missbilligenden Blick vom Notarzt, den er aber übersah. „Gut, dass ein Arzt schon vor Ort ist.“

„Mein Interesse gilt vor allem aber der toten Person“, bemerkte Wiebke, die gerade keine Nerven für die flapsigen Sprüche ihres Partners hatte. Das Gespräch mit Eike lag ihr schwer im Magen.

„So empfindlich?“ Piet Johannsen warf ihr einen pikierten Blick zu. „So kenn ich dich gar nicht.“

Wiebke ersparte sich darauf eine Antwort. „Können wir dann?“, fragte sie stattdessen.

Erst jetzt fühlte sich der Notarzt berufen, seine Arbeit zu unterbrechen, um ebenfalls aufzustehen. Der drahtige Mittfünfziger stellte sich distanziert und mit regungsloser Miene als Doktor Carsten Schramm vor. So wie er den Doktor betonte, schien er größten Wert auf seinen akademischen Titel zu legen. „Fragen Sie mich nicht zur Todesursache“, warnte er, als würde er die Frage befürchten wie der Teufel das Weihwasser. „Ich weiß nur, dass wir es mit einer weiblichen Person von etwa Mitte dreißig zu tun haben. Sie ist nicht sehr groß und von zierlicher Statur.“

„Kann ich einen Blick auf die Tote werfen?“ Wiebke trat näher und sah dem Arzt dabei zu, wie er neben der abgedeckten Leiche wieder in die Hocke ging und sich dabei so aufbaute, dass er den Schaulustigen keinen Blick auf die Tote ermöglichte, als er das Tuch ein wenig zurückzog.

Wiebke ging nun ebenfalls in die Hocke und schaute in zwei weit aufgerissene Augen und ein blasses Gesicht. Die Haut wirkte wächsern. Die Haare hingen der Toten strähnig ins Gesicht.

Johannsen räusperte sich. „Sie stürzte wohl in dem Augenblick von der Brücke, als sich im Wasser ein Ruderboot näherte. In Folge des Sturzes schlug die Frau mit dem Hinterkopf auf der rechten Bootsflanke auf und zog sich eine schwere Verletzung zu.“ Der Mediziner drehte den Kopf der Frau zur Seite, um Wiebke die klaffende Wunde am Hinterkopf zu zeigen. Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf und bedankte sich.

„Wer fährt zu dieser Jahreszeit so spät abends mit dem Ruderboot durch die Grachten?“, fragte sich Petersen und erhielt einen vielsagenden Blick von Johannsen.

„Ein junges, frisch verliebtes Paar – aber von so was wie Romantik hast du ja keine Ahnung“, flachste der Kriminaltechniker. Wie er so dastand und Petersen angrinste, erinnerte er Wiebke einmal mehr an den Schauspieler Peter Lustig, den sie aus dem Kinderfernsehen kannte. „Sie näherten sich mit dem Boot der Brücke, als die Frau ins Wasser stürzte.“

„Wo sind die beiden jetzt?“, wollte Wiebke wissen und sah sich suchend um.

„Sie sitzen in unserem Bullen-Bulli.“ Johannsen grinste schief. Er meinte damit den Polizei-VW-Bus, der am oberen Ende des Marktplatzes stand. Als Wiebke zu dem Fahrzeug blickte, sah sie, dass die Scheiben des Fahrzeuges beschlagen waren. Drinnen brannte Licht. Sie beschloss, das junge Paar im Anschluss zu befragen, und konzentrierte sich wieder auf die Tote.

„Wusstest du übrigens, dass Bulli ein Kunstwort ist, das aus Bus und Lieferwagen besteht?“ Petersen freute sich, als er Johannsens Gesicht sah.

Auch den Notarzt schien das Gefrotzel der Polizisten zu nerven. „Ob die Unbekannte zum Zeitpunkt des womöglich durch Fremdeinwirkung herbeigeführten Sturzes schon tot war, muss die Obduktion in Kiel zutage bringen“, bemerkte der Mann, der Wiebkes Blick gefolgt war. „Da ist noch etwas, auf das Sie Ihr Augenmerk richten sollten.“ Carsten Schramm machte sich am Kragen der Toten zu schaffen. Umständlich zog er mit den behandschuhten Fingerspitzen den durchnässten Stoff des Shirts zur Seite, sodass der Hals der Frau sichtbar wurde. Gut zehn Zentimeter unterhalb des Kinns verlief ein roter, blutunterlaufener Streifen. Ein winziger Graben hatte sich in Haut und Fleisch der Frau gegraben und dort tödliche Spuren hinterlassen. „Sehen Sie das?“

Wiebke erinnerte sich an Tassos Worte. Sie nickte. „Das sieht nach einer Strangulation aus.“

„Korrekt.“ Dr. Schramm nickte zufrieden.

„Mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie schon tot war, als sie über das Geländer in den Kanal stürzte“, bemerkte Wiebke.

Carsten Schramm zog eine Augenbraue hoch und betrachtete sie mit zweifelndem Blick. „Ob Ihr Bauchgefühl Ihnen bei den anstehenden Ermittlungen in einem Tötungsdelikt weiterhilft, vermag ich nicht zu beurteilen.“

Wiebke ärgerte sich darüber, dass sie nicht hundertprozentig bei der Sache war, und zwang sich zu mehr Konzentration. Noch immer geisterte ihr die Trennung von Eike im Kopf herum. „Wie dem auch sei“, antwortete sie energischer, als sie gewollt hatte, „ich bin sicher, dass mir Ihre Expertise weiterhelfen kann.“

„Abgesehen von der Wunde am Hals und den Rückständen des Klebebandes an den Hand- und Fußgelenken gibt es keinen Hinweis darauf, dass hier ein Kampf stattgefunden hat“, scharrte Schramm und wirkte sichtlich genervt. „Dennoch muss ich an die Kollegen der Rechtsmedizin verweisen.“ Er zuckte die Schultern. „Verlässliche Ergebnisse wird erst der endgültige Obduktionsbericht liefern.“

Wiebke bemerkte, dass ihrem Partner das arrogante Gehabe des Rechtsmediziners auf die Nerven ging. Petersen räusperte sich. „Jeder tut eben das, was er kann.“

„Richtig.“ Schramm wirkte konsterniert. Er lüftete das Tuch weiter. Dabei gingen ihm die beiden Rettungssanitäter zur Hand. Nacheinander hob er beide Arme der Toten und zeigte auf die deutlich sichtbaren Reste von Klebeband, die auf den Ärmeln hafteten.

„Danke, ich habe genug gesehen.“ Wiebke erhob sich. Erst jetzt registrierte sie, dass der Arzt von einer Unbekannten gesprochen hatte. Wiebke wandte sich an Piet Johannsen. „Wissen wir, mit wem wir es zu tun haben?“

„Bedaure.“ Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf und bestätigte so Wiebkes Verdacht. „Sie führt weder Schlüssel noch Papiere oder gar ein Smartphone mit sich.“

Petersen fluchte leise. „Das wird ’ne lange Nacht.“

„Da ist aber noch etwas“, bemerkte Johannsen. Er zeigte den Kollegen einen transparenten Asservatenbeutel. Darin befand sich ein Stück Papier, das im Wasser aufgeweicht war. Johannsen hatte es, als er das Beweisstück gesichert hatte, vorsichtig in dem Beutel glatt gestrichen.

„Da steht was drauf“, bemerkte Petersen und beugte sich mit Wiebke über den Zettel. Die Schrift war trotz der Einwirkung des Wassers nicht verwischt.

„Keine Toleranz“, las Petersen vor. „Für niemanden.“

„Was hat das zu bedeuten?“, wollte Wiebke wissen.

„Das herauszufinden ist wohl euer Part“, brummte Johannsen. „Gebt mir ein paar Stunden, dann kann ich euch mehr zur Handschrift, zur Beschaffenheit des Papiers und der Art des Stiftes, mit dem geschrieben wurde, sagen.“

„Sieht nicht aus, als hätte unser Opfer das geschrieben.“ Petersen betrachtete Wiebke. „Das ist keine Frauenhandschrift, würde ich meinen.“

Doktor Schramm hatte sich zwischenzeitlich erhoben. „Wenn Sie hier fertig sind, würde ich gern meine Arbeit fortsetzen.“

„Natürlich.“ Wiebke trat einen Schritt zur Seite.

„Während ich hier eine Leichenschau mit Hindernissen vornehmen muss, benötigt vielleicht woanders ein noch lebender Mensch meine Hilfe.“ Carsten Schramm schüttelte tadelnd den Kopf.

„Wie kann ein Mensch nur so böse sein?“, fragte Wiebke.

Johannsen grinste schief und schwieg.

„Wer weiß“, mischte sich Petersen ein. „Vielleicht hat ihn seine Frau rausgeworfen, und er ist jetzt frustriert.“

Kapitel 4

Das war verdammt knapp gewesen. Je länger er durch die Nacht fuhr, umso ruhiger wurde er. Um ein Haar wäre er dabei erwischt worden, wie er sie an dem Brückengeländer fixieren wollte. Durch ein Missgeschick war ihm ihr lebloser Körper entglitten und ins Wasser der Gracht gefallen. Eine Frau hatte vor Schreck geschrien wie am Spieß, und erst im zweiten Moment war ihm klar geworden, dass sie in dem Ruderboot gesessen haben musste, das zum falschen Zeitpunkt auf der Bildfläche erschienen war. Er hatte alles durchgeplant und sein Vorhaben gut vorbereitet, doch dass um diese Uhrzeit noch ein Boot im Kanal unterwegs war, hatte er nicht auf dem Schirm gehabt.

So blieb zu hoffen, dass die Leute im Boot ihn nicht erkannt hatten. So schnell wie möglich war er abgehauen, war wie von Furien gehetzt in sein Auto gesprungen und aus Friedrichstadt verschwunden. Fast so, als sei der Leibhaftige ihm auf den Fersen.

Ich bin der Leibhaftige, dachte er mit einem diabolischen Grinsen. Trotzdem war es schiefgelaufen. Er hatte sein Werk nicht beenden können, und das ärgerte ihn jetzt. Beim nächsten Mal musste er fehlerfrei arbeiten, sonst könnte ihm das kleinste Missgeschick zum Verhängnis werden.

Auf der Bundesstraße 5 waren ihm die Einsatzfahrzeuge der Polizei entgegengekommen, auch zwei Krankenwagen hatte er gesehen. Er wusste, wohin sie unterwegs waren, und empfand trotz des Missgeschickes eine tiefe Zufriedenheit.

Man hatte sie gefunden, wenn auch anders, als er es geplant hatte.

Langsam spürte er die Erschöpfung, die von ihm Besitz ergriff. Nach einiger Zeit wusste er nicht mehr, wie lange er ziellos durch die Nacht gefahren war. Seine Augen brannten, als er in das Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Fahrzeuge schaute. Je ruhiger er wurde, umso mehr ärgerte er sich darüber, dass er sein Vorhaben nicht wie geplant hatte abschließen können. Durch den Zwischenfall hatte er den Rückzug vorzeitig antreten müssen.

Das war eigentlich gar nicht seine Art. Er hasste es, zurückzustehen und Dinge nicht zu seiner vollsten Zufriedenheit abzuschließen. Doch diesmal war die Flucht in die Nacht die einzige Möglichkeit gewesen, unerkannt zu entkommen. Wenigstens würden sie die Botschaft finden, wenn die Bullen sie aus dem Wasser der Gracht fischten. Das stimmte ihn wieder froh, denn sie würden lange an seinem Rätsel zu knacken haben, da war er sicher.

*

Friedrichstadt, 23.10 Uhr

„Dann wollen wir mal.“ Wiebke zog, nachdem Petersen auf das Blech des Busses geklopft hatte, die Schiebetür auf und blickte in die verängstigten Gesichter eines jungen Paares, das auf der hintersten Bank kauerte. Man hatte ihnen zwei dieser grauen, kratzigen Behörden-Wolldecken um die Schultern gelegt. Der Junge trug ein weißes Baseballcap mit dem Label eines amerikanischen Footballclubs, dazu ein weißes Sleeve-Shirt mit knallroter Beschriftung. Unter dem Tisch läuerten ausgewaschene Jeans hervor.

Seine Freundin war etwas kleiner als er und stämmig, sie hatte die langen blonden Haare zu einem Zopf gebunden, mit dem sie jetzt gedankenverloren spielte, während sie mit den großen blauen Augen, die Wiebke an eine Manga-Figur erinnerten, ins Leere stierte. Ihr Pulli war dunkelblau und trug die dezente, weiße Beschriftung eines wohl angesagten Modelabels.

Im Bus gab es einen kleinen Klapptisch, der das Paar von der jungen, uniformierten Streifenpolizistin trennte, die sich um die beiden kümmerte. Sie hatte ihnen zwei Becher mit dampfendem Tee hingestellt und war gerade damit beschäftigt, die Personalien der jungen Leute in ein Formular, das sie an ein Klemmbrett geheftet hatte, zu notieren. Wiebke kannte die Kollegin vom Sehen, doch sie ärgerte sich ein wenig darüber, dass ihr der Name nicht einfallen wollte. „Moin Wiebke“, sagte sie freundlich und klopfte mit dem Kugelschreiber in ihrer Hand auf das Formular. „Ich habe schon mal angefangen.“

„Danke.“ Wiebke kletterte in den VW-Bus und nahm neben der Streifenbeamtin Platz. Petersen zog es vor, draußen stehen zu bleiben. Wiebke wusste, dass ihm die alten Bullis zu eng waren und ihm Platzangst bereiteten. Sie widmete sich dem Paar und stellte sich und ihren Partner erst einmal vor.

Der Junge räusperte sich. „Ich bin Lennard, Sie können mich Lenny nennen, das tun alle meine Bros.“ Sein Grinsen misslang ihm. Er deutete auf seine Freundin. „Sina, meine Freundin.“ Schwermütig seufzte der junge Mann. „Ich habe Sina mit einer kleinen Bootstour überrascht, wollte es uns romantisch machen, als wir …“ Er brach ab und senkte den Blick. „Schießen Sie los“, sagte der Junge halblaut. „Stellen Sie Ihre Fragen.“

So unauffällig wie möglich betrachtete Wiebke die beiden. Der Junge war schlank und groß, ein wenig schlaksig. Das blonde Haar trug er an den Seiten kurz, die buschigen Augenbrauen bildeten fast eine durchgehende Linie über den stahlblauen Augen. Beide waren leichenblass, ihre Bewegungen wirkten fahrig. Wiebke fragte sich, wie lange es dauerte, bis der Seelsorger kam, den sie schon beim Eintreffen angefordert hatte. „Sollen wir jemanden anrufen?“

„Nee, schon gut“, sagte der Junge schnell und schüttelte den Kopf. „Wir ziehen das jetzt hier durch.“

„Gut.“ Wiebke nickte. „Ihr habt also gesehen, wie …“, setzte sie an, doch der Junge schüttelte den Kopf. „Nee“, sagte er schnell, „ich hab nichts gesehen, saß mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, aber Sina hat alles mitbekommen.“

Jetzt ruckte der Kopf des Mädchens hoch. Sie sah Wiebke aus verheulten Augen an. „Ja“, sagte sie leise, „das Bild werde ich nie vergessen. Zuerst dachte ich, da hat jemand eine Puppe an die Brücke gehängt.“

Wiebke machte sich Notizen.

„Sina hat erzählt, dass sie jemanden auf der Brücke gesehen hat, der getürmt ist“, mischte sich jetzt Lennard ein. Alle Blicke lagen auf dem Mädchen.

„Da war so ein Typ, der abgehauen ist, als die Frau ins Wasser fiel und auf unser Boot …“ Sie brach ab und senkte den Blick.

„Gab es ein Handgemenge oder so etwas vorher auf der Brücke, einen Streit?“, setzte Wiebke nach.

„Nein. Sie hing doch schon an der Brücke.“ Sina wischte sich eine Träne aus den Augen. „Der Mann ist von der Brücke weggelaufen und mit dem Auto verschwunden.“

„Kannst du uns den Mann beschreiben?“

„Nee. Es ist dunkel, und der Typ trug schwarze Klamotten.“ Sie seufzte. „Außerdem habe ich ihn nur von hinten gesehen.“

„Und ich hab nur auf meine Freundin geachtet“, ergänzte Lennard hastig. „Aber den Motor habe ich auch gehört. Das muss eine richtig fette Karre gewesen sein. Achtzylinder oder so was.“

Wiebke schrieb mit, dann wandte sie sich an Sina. „Und du bist sicher, dass die Frau am Geländer der Brücke hing? Dass sie nicht gestürzt ist, warum auch immer?“

Erst nickte das Mädchen, dann schüttelte es den Kopf. „Da war nichts, was mir aufgefallen wäre“, behauptete Sina. „Nur dieser Körper, der kopfüber da hing. Es schien, als hätte der Typ die Befestigungen durchtrennt, als wir mit dem Boot unter der Brücke herfahren wollten. Als hätte er es absichtlich im richtigen Moment getan, um uns den Abend zu versauen.“

„Also hat er euch aufgelauert?“, fragte Petersen vom Türrahmen aus.

„Nee, das glaub ich nicht.“ Lennard schüttelte den Kopf. „Ist doch nicht normal, so was. Ich dachte erst, das wär ein Prank oder so was. Wie krank muss der gewesen sein?“

„Das werden wir rausfinden, Lenny“, versprach Petersen. Er gab Wiebke ein Zeichen. Offenbar hatte er genug gehört.

Wiebke friemelte im Sitzen eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie zwischen sich und den beiden auf den kleinen Tisch. „Hier“, sagte sie, „wenn euch noch etwas einfällt, ruft mich an.“

Lennard beugte sich vor und studierte die Karte. „Frau Kriminalhauptkommissarin“, sagte er grinsend und zog anerkennend die Mundwinkel hoch, während er Wiebke ansah. „Klingt groß. Dabei sehen Sie noch sehr jung aus.“

Wiebke musste schmunzeln. „Danke für die Blumen“, sagte sie, während sie aus dem Bulli krabbelte. Den zweifelnden Blick von Petersen ignorierte sie.

*

„Wie geht es weiter?“ Petersen stand mitten auf dem Marktplatz und hatte die Hände in den Taschen seines Parkas versenkt. „Hast du mit Flensburg telefoniert?“

„Vorhin schon.“ Wiebke nickte. Sie wusste um das gestörte Verhältnis ihres Partners zu den Kollegen der Kripo Flensburg, die immer dann auf den Plan gerufen wurden, wenn sie in einem Tötungsdelikt ermittelten. Im Gegensatz zu Petersen hatte Wiebke einige der Kollegen und Kolleginnen durchaus schätzen gelernt.

Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, sagte ihr Vater in solchen Situationen immer.

„Die Kollegen sind unterwegs.“

„Oha.“

Wiebke blieb stehen und betrachtete Jan Petersen. „Oha?“

Er nickte. „Jo. Oha – das ist eine mittelschwere, norddeutsche Panikattacke.“ Jetzt griente er sie an. „Kennste nicht?“

„Doch, doch.“ Sie nickte. „Ich denke, dass die Kollegen der Bezirkskriminalinspektion innerhalb der nächsten Stunden hier aufschlagen werden, dann können wir mit dem Klinkenputzen in der Nachbarschaft im großen Stil anfangen.“

„Sind die Streifenhörnchen nicht schon längst unterwegs?“ Petersen runzelte die Stirn.

„Einige Kollegen sind sicher schon unterwegs, um die Anwohner zu befragen“, nickte Wiebke, „aber das ist eine Sisyphusarbeit, die Kräfte bindet.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Wir müssen herausfinden, wer die Tote ist und wer ein Interesse daran hatte, sie kopfüber an die Brücke zu hängen.“

„Ich könnte mich mit Tasso zusammensetzen und seine Bilder auswerten, damit wir sie durch die Vermi/Utot-­Datenbanken jagen können“, schlug Petersen vor. Er zeigte zur Brücke, wo die Kriminaltechniker die 360-Grad-Kamera in Position gebracht hatten. Tasso wieselte im weißen Overall herum und machte Aufnahmen mit der Spiegelreflexkamera.

Wiebke hatte keine Einwände. Ihr würde es guttun, wenn sie sich alleine ein wenig am Ort des Geschehens umsehen konnte. „Mach das.“ Sie waren wieder am Ufer angekommen. Petersen legte zwei Finger auf die Unterlippe und pfiff. Die Einsatzkräfte unterbrachen ihre Arbeit und schauten neugierig auf.

„Tasso“, brüllte Petersen, „hast du einen Moment?“

Der Südländer ließ die Kamera sinken und kam ihnen entgegen. Nachdem Wiebke eine Entschuldigung gemurmelt hatte, verschwand sie alleine in Richtung Brücke. Da sich das Hauptgeschehen unterhalb des Bauwerkes abspielte, herrschte hier oben eine fast gespenstische Ruhe. Die Streifenbeamten hatten den Radius der Polizeiabsperrung zwischenzeitlich vergrößert, sodass auch die Schaulustigen die Arbeit der Polizisten nur noch aus größerer Entfernung beobachten konnten.

Wiebke war sich darüber im Klaren, dass sie mit dem Betreten der Brücke möglicherweise falsche Spuren legte, die den Kriminaltechnikern zusätzliche Arbeit machten. Doch für sie war es wichtig, sich in den neuen Fall hineinzudenken. Dazu benötigte sie Ruhe und die Sicht des Täters. Während sie auf die Brücke zumarschierte, versetzte sie sich in die Lage der Person, die sie mit dem Sturz der Frau in die Gracht in Verbindung brachte.

Was hatte ihn dazu bewegt, sie über das schmiedeeiserne Geländer zu stürzen? Hatten die beiden sich zu Lebzeiten gekannt? Hatte es Streit zwischen ihnen gegeben, oder war die Tote ihm völlig unbekannt gewesen und nur zufällig in seine Hände geraten, um so zum Opfer eines möglicherweise spontanen Verbrechens zu werden? Zahlreiche Mörder kannten ihr Opfer vor der Tat. Einige handelten aus einem Impuls heraus und wählten ihre Opfer spontan aus.

Zwischenzeitlich hatte Wiebke die Brücke erreicht. Die Stimmen der Kollegen unter dem Bauwerk und das Krächzen der Funkgeräte klangen wie durch Watte an ihre Ohren. Wiebke blieb am Fuß der Brücke stehen und wandte sich um. Von hier aus konnte man den Marktplatz sehen, geradeaus und rechts lagen die markanten Häuser mit ihren historischen Treppengiebeln. Als sie den Blick nach vorn richtete, erkannte sie jenseits der Brücke kleinere Häuser, die das Ufer des künstlich angelegten Kanals säumten, eine Straße, die Häuserfront und Ufer trennte, und eine Straße, die geradeaus führte – wahrscheinlich aus der Altstadt heraus.

Sie setzte langsam, fast zögernd einen Fuß vor den anderen und blieb erst auf dem höchsten Punkt der gewölbten Brücke stehen. Die Fahrbahn für Autos war an dieser Stelle eng, sie schätzte, dass sich hier zwei Fahrzeuge nicht begegnen konnten. Rechts und links gab es einen ebenfalls schmalen Gehweg für Fußgänger. Alte Bäume säumten den Kanal und spendeten im Sommer Schatten für die Touristen, die eine romantische Fahrt durch die Grachten des Holländerstädtchens gebucht hatten. Jetzt, im Herbst, erzeugte der seichte Wind ein leises, immer gegenwärtiges Rascheln im bunten Laub, das sicher schon in wenigen Tagen zu Boden taumeln und den Winter einläuten würde. Wiebke überlegte, ob die Bäume dem Täter Sichtschutz geboten hatten. Doch da er sich einen sehr präsenten Ort für seine Tat gesucht hatte, war sie sicher, dass ihn Zeugen nicht wirklich störten. Auf der anderen Seite hatte er die Flucht angetreten, als sich unten das Boot genähert hatte. Wollte er sogar auffallen? Wiebke war sicher, dass die Botschaft in der Tasche der Toten von ihrem Mörder stammte. Womöglich, dachte sie weiter, wollte er ein Zeichen setzen.

Keine Toleranz. Für niemanden, hatte auf dem Zettel gestanden. Was wollte er damit zum Ausdruck bringen? Wiebke schaute auf das eiserne Geländer, das die Brücke zu beiden Seiten säumte. Es bot keinen Sichtschutz, weder von der Gracht aus, noch von den Straßen, die auf die Brücke zuführten. Er wollte gesehen werden, hämmerte es in Wiebkes Kopf. Andererseits stand die Flucht im Gegensatz zu ihren Gedanken. Ein hubraumstarker Motor sei es gewesen, der aufgeheult hatte. Das hatte der Junge angegeben. Wenn die Tote bei ihrer Ankunft auf der Brücke bereits tot gewesen war, wovon sie ausging, musste er sie im Kofferraum seines Autos hergebracht haben. Doch wollte er sein Opfer im Fluss entsorgen, oder war es so, wie das Mädchen vermutet hatte, und er wollte die Frau am Brückengeländer fixieren?

Wiebke schloss die Augen und atmete tief durch. Vor ihrem geistigen Auge sah sie einen Wagen, der sich der Brücke vom Marktplatz her näherte, der stehen blieb, und sie sah, wie der Fahrer, ein hochgewachsener, kräftiger Mann in schwarzer Kleidung, ausstieg und den Kofferraum öffnete. Er schulterte die Ladung und schleppte sie zum Geländer, hängte die leblose Gestalt mit dem Oberkörper über die Brüstung und zog eine Rolle Klebeband aus der Tasche. Mit den Zähnen riss er ein Stückchen ab, war gerade damit beschäftigt, die Fußgelenke der Frau mit dem Klebeband zu umwickeln, um sie an den Eisenstreben des Geländers zu befestigen. Als es im Wasser gluckste, richtete er den Blick auf den Kanal unter der kleinen Brücke. Erschrocken stellte er fest, dass sich ein Ruderboot näherte. Er erkannte zwei Personen darin. Ein Mann saß mit dem Rücken zur Fahrt­richtung und bekam nichts von dem mit, was auf der Brücke geschah. Doch seine Begleitung, ein junges Mädchen, hatte die Tote längst entdeckt. Kein Wunder, schließlich waren die Gebäude rund um den Marktplatz stimmungsvoll illuminiert und boten genügend Restlicht, um einigermaßen gute Sicht auf das Geschehen auf der Brücke zu haben. Damit hatte er nicht gerechnet. Hastig schob er die Klebebandrolle zurück in die Tasche, versetzte der Toten einen letzten Stoß, wandte sich zum Gehen und sah noch im Augenwinkel, wie der leblose Körper wie ein nasser Sack in die Gracht stürzte, wo er unter den schrillen Schreien des Mädchens im Boot klatschend ins Wasser eintauchte. Doch da war noch ein anderes Geräusch, ein hölzernes Knacken, das nicht passen wollte. Ohne sich um die Ereignisse in der Gracht zu kümmern, umrundete der schwarz gekleidete Mann den Wagen, klemmte sich hinters Lenkrad, startete den Motor und verschwand mit quietschenden Reifen in der Nacht. Stille kehrte ein, als der Schrei des Mädchens verstummte. Tödliche Stille, die nur vom sanften Glucksen des Wassers durchschnitten wurde.

Wiebke spürte, wie ihr Herz raste. Sie schlug die Augen auf und atmete ein paar Mal tief durch. Das, was sie eben erlebt hatte, kam ihr wie die Szene aus einem Thriller vor. Es war, als hätte sie tatenlos daneben gestanden, als der Unbekannte sein Werk begonnen, aber nicht abgeschlossen hatte. Es dauerte einen Moment, bis Wiebke registrierte, dass sie eine Art Vision gehabt hatte. Oder hatte ihr ihre lebhafte Fantasie einen Streich gespielt? Sie wusste es nicht und beschloss, vorerst mit niemandem über das seltsame Erlebnis zu sprechen.

Nachdem sich ihr Kreislauf einigermaßen beruhigt hatte, verließ sie die kleine Brücke über den Mittelburggraben und kehrte zu Tasso und Petersen zurück, die sich am Sprinter der KTU aufhielten.

„Wiebke“, begrüßte Petersen sie. „Schön, dass du uns Gesellschaft leistest.“

„Ich find das nicht gut“, stellte Tasso fest. Seine Miene hatte sich verdunkelt.

„Was findest du nicht gut?“, fragte Wiebke.

„Dass du über die Brücke latschst und uns neue und falsche Spuren legst, die wir mühsam aufnehmen und katalogisieren müssen.“

„Sorry, es war mir ein Bedürfnis, mir von dort oben einen Überblick zu verschaffen.“

„Hör mal zu, Tasso“, sprang Petersen jetzt für sie in die Bresche. „Wiebke braucht das, um sich in den Täter hineinzuversetzen, das ist wichtig für unsere Arbeit.“ Als der Kriminaltechniker nichts erwiderte, wandte sich Petersen an seine Partnerin. „Und?“, fragte er, „hast du unseren Mann auf der Brücke getroffen?“

Wiebke wollte nicken, hielt sich aber im letzten Moment zurück und schwieg. Sie hatte nicht vor, den Männern hier und jetzt von ihrem Erlebnis zu erzählen. „Gibt es etwas Neues?“, wechselte sie das Thema und zeigte auf den aufgeklappten Laptop, an dem Tasso gerade gearbeitet hatte. Der Südländer nickte. „Ich habe die Fotos der Toten durch die Vermi/Utot gejagt“, erklärte er und zeigte auf das Fenster der BKA-Datenbank, in der alle Vermissten und unbekannten Toten aufgelistet waren.

„Und?“ Wiebke schob die Hände in die Hosentaschen und blickte den Männern über die Schultern.

„Negativ“, bedauerte Tasso. „Es blieb mir nur, sie als neuen Datensatz einzupflegen, in der Hoffnung, dass die Dame irgendwo bekannt ist.“ Jetzt hatten also alle deutschen Polizeibehörden Zugriff auf das Bild der Toten von Friedrichstadt. Wiebke beruhigte das nicht, sie wusste, dass es einen Täter gab, der frei herumlief – und sich möglicherweise ein nächstes Opfer suchte. Sie wollte keine Zeit verlieren und war sicher, dass die Identität der Toten zu ihrem Peiniger führte.

„Wir sollten herausfinden, ob es in der Vergangenheit ähnlich gelagerte Fälle gab“, schlug Wiebke vor.

Petersen nickte. „Ich kümmer mich darum.“ Er hatte sie aufmerksam beobachtet. Sie arbeiteten lange genug zusammen, dass er ahnte, was sie als Nächstes plante. „Presse?“, fragte er und sprach so ihre Gedanken aus.

„Ich muss das erst mit Kai abstimmen, aber ich denke, dass ein Aufruf in den Medien hilfreich sein könnte, wenn wir mit den Datenbanken nicht weiterkommen.“

„Es bringt ja auch nichts, nach dem Wagen des Täters zu fahnden – wir wissen so gut wie nichts über Hersteller und Modell, von einem Kennzeichen mal ganz zu schweigen.“ Petersen seufzte. „Wie machen wir weiter?“

Wiebke wandte sich an Tasso. „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass du auf der Brücke Reifenspuren sichern kannst?“

Tasso lachte auf. „Verschwindend gering, würde ich sagen. Ich will gar nicht wissen, wie viele Fahrzeuge am Tag die Brücke überqueren.“ Er sah sich suchend um. „Und es scheint hier keine Webcam zu geben, die etwas aufgezeichnet hat, das uns weiterhelfen könnte.“

„Es muss ein großer Wagen gewesen sein“, half Petersen.

„Ein Lieferwagen, Bus oder Lkw?“

„Nein, eher ein leistungsstarker SUV, ein Geländewagen oder so etwas“, bemerkte Wiebke und berichtete dem Techniker von der Aussage des Jungen.

Tasso dachte kurz nach. „Klingt nach einem teuren Mercedes, BMW oder so etwas in diese Richtung.“

„Kannst du das irgendwie herausfinden?“, fragte Wiebke. Sie wollte sich nicht entmutigen lassen. „Dann hätten wir zumindest einen Hinweis auf das Fahrzeug des Täters, der die Tote zur Brücke gebracht hat.“

Tasso seufzte erneut. „Ich werde es versuchen“, sagte er gedehnt. „Versprechen kann ich aber nichts.“

Wiebke lächelte ihn dankbar an. „Du bist der Beste“, sagte sie zufrieden.

Tasso schaute an ihr vorbei zum Ufer. „Lass das nur nicht Opa Piet hören.“

*

Drei Wochen zuvor

Es musste schnell gehen. Daran würde sein Vorhaben sicher nicht scheitern. Denn er konnte schnell sein, sehr schnell sogar. Wie ein Geist musste er in ihr Leben eintauchen, unbemerkt seine Arbeit tun und ebenso schnell und lautlos wieder aus ihrer Welt verschwinden. Sie war nicht zu Hause, befand sich noch eine gute Stunde auf der Arbeit. Als examinierte Krankenpflegerin im Husumer Theodor-Storm-Krankenhaus hatte sie Spätdienst und würde erst abends nach Hause kommen.

Er hatte freie Bahn.

Obwohl es gerade einmal später Nachmittag war, breitete sich die Dunkelheit bereits über Eiderstedt aus. Das war gut, denn die Finsternis bot ihm Schutz. Der Regen der letzten Stunden hatte nachgelassen, doch die Fahrbahn war gefährlich glatt, und so konnte er auf der engen und kurvenreichen Landstraße, die sich über die Halbinsel schlängelte, nicht allzu schnell fahren. Der Herbstwind wehte kräftig und ließ das bunte Laub von den windschiefen Bäumen entlang der Straße zu Boden taumeln. In den Fenstern der Häuser brannte bereits Licht. Die Menschen waren um diese Jahreszeit früh zu Hause und machten es sich in ihren vier Wänden gemütlich. So unwirtlich die Halbinsel sich auch in der dunklen Jahreszeit zeigte, so heimelig machten es sich die Bewohner von Eiderstedt in ihren reetgedeckten Häusern, die teils auf sanften, von Grün bewachsenen Warften lagen.

Es war seine Stunde, die er für die Umsetzung seines seit Langem vorbereiteten Plans nutzen würde. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte ihn nichts und niemand von seinem Vorhaben abhalten. Als er den Abzweig nach Osterhever erreicht hatte, drosselte er das Tempo.

Sie bewohnte eine ausgebaute Dachgeschosswohnung in einem Haubarg, der zwischen Tetenbüll und Osterhever stand. Das Anwesen lag ein wenig versteckt auf der linken Seite und war von der Straße aus kaum zu sehen. Im Schritttempo steuerte er den Wagen über den unbefestigten Weg, der zu dem alten Landgut führte. Im Morast hatten sich tiefe Pfützen gebildet, die nun im Licht der Scheinwerfer glänzten und wie winzige Seen auf ihn wirkten. Die Zweige der Bäume beiderseits des Weges neigten sich tief zur Seite und bildeten ein natürliches Dach aus buntem, nassem Laub.

Als er das ehemalige Bauerngut erreicht hatte, überlegte er kurz, wo er parken konnte. Es musste nicht sein, dass er von ihren Vermietern, die im Hauptgebäude lebten, gesehen wurde. Natürlich durften Imme und Ole Hinrichsen ihm begegnen, immerhin kannte man sich, doch er legte es nicht darauf an.

Nachdem er den Wagen an den Rand des Platzes gelenkt hatte, schaute er sich kurz um. Einst hatte der Haubarg Platz für das Vieh und die Bauern unter einem Dach geboten. Das Heu hatte man früher unter dem Reetdach gelagert, wo es sicher sein sollte vor den Sturmfluten. Irgendwann war ein findiger Investor auf die Idee gekommen, den Haubarg zu sanieren, um hier Ferienwohnungen unterschiedlicher Größe zu errichten. Doch der Geschäftsmann war pleitegegangen, und jetzt lebten Eiderstedter Bewohner in den Einheiten. Einige Stallungen hatte man im Originalzustand belassen. Hier standen auch ihre Pferde, zwei prächtige Friesen, ihr Ein und Alles. Er konnte mit ihrer Liebe für die Gäule nichts anfangen. Wer ein Pferd sein Eigen nannte, der lebte für das Tier. Ihm war das schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Lange hatte er darüber nachgedacht, den Tieren ein vorzeitiges Ende zu bereiten. Pferderipper trieben immer wieder ihr Unwesen auf den Weiden des Landes. Auf ihn würde sicher kein Verdacht fallen.

Doch er war nicht gekommen, um den Pferden einen Dolch in die Leiber zu rammen. Er verabscheute Blut, außerdem standen ihre Friesen nachts im sicheren Stall. Und er lebte von den Tieren.

Links neben dem Haubarg schälte sich der Schuppen aus dem Halbdunkel, weiter hinten lag die Koppel im Dunst.

Nachdem er kurz durchgeatmet hatte, nahm er den Rucksack vom Beifahrersitz und stieg aus. Der Wind zerrte an seiner weiten Jacke. Er stieß die Wagentür zu und stapfte zielstrebig auf den Schuppen im hinteren Bereich des Gehöfts zu. Dabei achtete er immer darauf, im Schatten der Bäume zu bleiben. Seine festen Schuhe sanken im weichen Boden ein und erzeugten bei jedem Schritt schmatzende Geräusche. An der Koppel angekommen, hielt er inne, um sich einen Überblick zu verschaffen. Erwartungsgemäß befand sich um diese Zeit kein Pferd auf der Weide. Sie hatte ihre geliebten Friesen in den sicheren Stall gebracht, bevor sie zum Dienst gefahren war, so wie sie es immer tat. Ihre aufopferungsvolle Liebe für Pferde würde er nie verstehen können. Für ihn waren Tiere Mittel zum Zweck, nicht mehr und nicht weniger.

Der Wind wehte den typischen Stallgeruch in seine Nase, als er die einfache Holztür des Schuppens öffnete, der nicht abgeschlossen war. Hier bewahrte sie Strohballen, Sättel, Decken und einige Geräte auf. Das Quietschen der rostigen Türangeln malträtierte seine Ohren, er zog eine Grimasse und hoffte, mit dem Lärm keine ungebetenen Zeugen auf den Plan zu rufen. Bevor er in den Bau schlüpfte, blickte er sich ein letztes Mal um. Von hier aus konnte er den Hintereingang des Gebäudes sehen, in dem sie wohnte.

Unbemerkt konnte er von hier aus in ihr Refugium eindringen. Seine Hand zitterte vor freudiger Erregung, als er über die raue Putzwand neben der Tür wischte. Er suchte und fand den Lichtschalter, zögerte und entschloss sich, das Licht nicht einzuschalten. Er hatte nicht vor, Aufmerksamkeit zu erregen.

Nachdem er einen Moment gewartet hatte, bis sich seine Augen an das Zwielicht im Stall gewöhnt hatten, bewegte er sich zielsicher zu dem Versteck, das sich in einer Nische befand, die man vom Eingang nicht gleich entdecken konnte. Er reckte sich und streckte den Arm zum Balkenwerk der niedrigen Decke aus. Blind tastete er über einen quer verlaufenden Holzbalken. Dabei achtete er darauf, sich in dem rauen Holz keinen Splitter in den Finger zu treiben.

Mit einem zufriedenen Grinsen fand er, wonach er suchte. Er nahm den Schlüssel aus dem Versteck, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf, dann verließ er den Schuppen. Die Tür ließ er offen stehen. Später würde er den Schlüssel wieder an seinem gewohnten Versteck deponieren, doch jetzt stand erst einmal sein Vorhaben im Vordergrund. So unauffällig wie möglich schob er sich an dem Rancherzaun entlang, der die Pferdekoppel säumte, und stand im nächsten Moment vor dem Hintereingang ihres Hauses. Seine Finger zitterten ein wenig vor Aufregung, als er den Schlüssel ins Schloss schob und die Tür öffnete. Dann setzte er einen Fuß über die Schwelle, hielt kurz inne und atmete mit geschlossenen Augen tief ein. Alles hier duftete nach ihr. Herrlich. Gut, vielleicht roch es auch etwas muffig und nach Stall. Er rümpfte die Nase. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder vergessen durchzulüften, als sie das Haus verlassen hatte.

Drinnen zog er seine matschverschmierten Schuhe aus und platzierte sie auf der dafür bereitliegenden Matte neben ihren Gummistiefeln, dann blickte er sich um.

Der Flur war recht eng und fand nur Platz für ihr E-­Bike, das er ihr vor einiger Zeit gekauft hatte, um damit gemeinsame Touren zu unternehmen. Jetzt stand es ungenutzt im Flur. Mühsam schob er sich an dem Rad vorbei. Hier unten gab es nur eine kleine Gästetoilette, in der man sich kaum bewegen konnte, und die steile Treppe, die nach oben, in ihre Wohnung führte. Er erinnerte sich daran, wie sie ihm von ihrem Einzug in den Seitentrakt des Haubargs berichtet hatte, als sie sich kennengelernt hatten. Sie liebte das Leben auf dem Land und ihre Pferde. Da war eine kleine Wohnung in einem umgebauten Haubarg fast wie ein Sechser im Lotto.

Dabei störte es sie auch nicht, dass es kein Zimmer für ihn gab. Die Wohnung war eng und klein und genügte gerade einmal für eine Person. Paare, geschweige denn Familien, hatte der Architekt damals wohl nicht auf dem Schirm gehabt, als er das Apartment geplant hatte.

Jetzt war es ihm gleichgültig. Er war gekommen, um ihr künftig näher zu sein. Wenn sie sich alleine in ihr Schneckenhäuschen zurückzog, wollte er wenigstens wissen, was sie gerade tat. Ob sie heimlich einen anderen Kerl in ihr Bett ließ. Allein der Gedanke daran machte ihn rasend vor Eifersucht. Er ballte die Fäuste, bis die Knöchel der Finger weiß unter der Haut hervortraten.

Höchste Zeit, sie im Auge zu behalten, dachte er verbittert und nahm die steile Treppe, die vor einer zweiten Tür endete. Er drückte die Klinke nieder und fand sich im nächsten Augenblick in ihrer schummrigen Wohnküche wieder. Leider war er nicht alleine, ganz im Gegenteil: Es schien, als hätten sie geradezu auf ihn gewartet. Als er ihre Berührungen spürte, war er sicher, ihnen diesmal nicht entkommen zu können, und zerdrückte einen Fluch auf den Lippen.

*

Husum, 3.10 Uhr

„Ich hab mich von Eike getrennt.“ Wiebke konnte nicht anders. So hatte sie dem dringenden Bedürfnis, sich Petersen anzuvertrauen, nachgegeben. Schon auf der Fahrt nach Friedrichstadt war ihm sicher aufgefallen, dass sie etwas zu bewegen schien, doch er hatte sie nicht bedrängt und ihr den nötigen Raum gelassen. Und sie konnte sich auf die Arbeit am Einsatzort konzentrieren, was ihr aufgrund der harten Entscheidung im Vorfeld schwer genug gefallen war. Nachdem die Flensburger Kollegen in Friedrichstadt eingetroffen waren, konnten Wiebke und Petersen den geordneten Rückzug antreten. Vor Ort liefen jetzt die Befragungen der Anwohner, Tasso und Johannsen sicherten letzte Spuren, bevor auch sie den Heimweg antreten durften. Wiebke und Petersen hatten beschlossen, sich ein paar Stunden zu erholen, um morgen die ersten Hinweise auswerten zu können. Wiebke war sicher, in den kommenden Tagen nur wenig Schlaf zu bekommen. Ob sie aber gleich einschlafen konnte, war fragwürdig. Mit jedem Kilometer, den sie sich Husum näherten, kehrte sie auch in das verkorkste Privatleben einer ehrgeizigen Polizistin zurück, die für ihren Beruf lebte.

„Du hast – was?“ Petersens Augen wurden groß.

Als Wiebke ihm einen kurzen Seitenblick zuwarf, musste sie lächeln. Sie wusste nicht, ob er sich über die Nachricht freute oder ob er entsetzt war.

„Ich hab Eike rausgeschmissen“, wiederholte sie ein wenig leiser. Ruhig lagen ihre Hände auf dem Lenkrad, der Blick war stur nach vorn gerichtet. Um diese Zeit herrschte nicht viel Verkehr auf der Bundesstraße 5. Erst als ihnen ein Milchlaster entgegenkam, kniff Wiebke geblendet die Augen zusammen. Irgendwo im Osten graute der Morgen.

„Na das wurd auch Zeit“, murmelte Petersen und legte die Hände in den Schoß.

Wiebke wusste, wie ihr Partner über Eike dachte. Nie hatte Petersen ein gutes Haar an ihm gelassen. Für einen Augenblick fragte sich Wiebke, ob er ihre Nachricht jetzt mit Genugtuung zur Kenntnis genommen hatte. Oft hatte sie den Eindruck gehabt, dass Petersen eifersüchtig auf Eike war, immer hatte er einen Groll gegen ihren Freund gehegt, wenn Eike sie mal wieder im Stich gelassen hatte und sich tagelang nicht bei ihr gemeldet hatte. Ein Seufzen kam über ihre Lippen.

„Es wird einsam in der nächsten Zeit für mich“, vermutete Wiebke.

„Das sehe ich anders“, brummte Petersen. „Einsam warst du in der letzten Zeit immer dann, wenn er mit seiner Band auf Tour und für dich nicht erreichbar war, weil er nachts nach den Gigs wer weiß was getrieben hat.“ Jetzt grinste er versöhnlich. „Du hast es richtig gemacht, Mädchen.“

„Meinst du?“ Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu und lächelte.

„Ja, mein ich.“ Er nickte bekräftigend. „Jetzt musst du dir keine Sorgen mehr machen, dich nicht mehr fragen, wann er endlich die Güte hat, sich bei dir zu melden. Wenn du jetzt abends nach Hause kommst, weißt du, dass die Wohnung leer ist und leer bleibt. Du gewinnst auch eine ganz neue Lebensqualität zurück.“

„Klingt irgendwie komisch.“ Wiebke runzelte die Stirn.

„Denk doch mal nach: Du bist ihm keine Rechenschaft mehr schuldig, denn so wie du immer erzählt hast, war er ein eifersüchtiger Knochen. Jetzt kannst du in deiner Freizeit tun und lassen, was du willst, kannst was unternehmen und dich mit deinen Freundinnen treffen, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen.“

„Das habe ich nie getan“, behauptete Wiebke. „Allerdings habe ich keinen festen Freundeskreis mehr. Entweder war ich mit Eike unterwegs, oder ich habe rund um die Uhr gearbeitet.“ Sie seufzte. „Aber so ist das wohl als Polizistin. Ich hab es mir selber ausgesucht.“

„Wohl wahr.“ Petersen nickte und blickte aus dem Seitenfenster. Die rotierenden und blinkenden Lichter der Windkraftanlagen zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. „Apropos Arbeit: Wo wollen wir ansetzen?“

Wiebke war froh, dass Petersen keine weiteren Fragen zu ihrer Trennung mehr stellte. Sie benötigte selber noch ein wenig Zeit, um das Ereignis vom Abend zu verarbeiten.

Petersen schien zu bemerken, dass sie nicht länger darüber sprechen wollte. Er gähnte herzhaft. „Wie machen wir jetzt weiter?“, fragte er, als sie das Ortseingangsschild von Husum passiert hatten.

„Wir werden das soziale Umfeld von Sina und Lennard durchleuchten. An ihre Smartphones kommen wir nicht – das wäre wohl auch zu viel des Guten. Aber ihren Aktivitäten in den sozialen Netzwerken sollten wir unsere Aufmerksamkeit widmen, ein paar Gespräche mit Familienangehörigen und Freunden führen.“

Petersen brummte etwas Unverständliches. Dann räusperte er sich. „Meinst du, die beiden haben etwas damit zu tun?“

„Ich weiß es nicht“, gestand Wiebke ihm ehrlich. Doch sie wollte nichts außer Acht lassen.

„Ich werde nachsehen, ob es ähnlich gelagerte Fälle gab“, erinnerte Petersen an ihre Absprache in Friedrichstadt.

„Klingt gut.“ Wiebke überlegte, ob sie Kai Christensen aus dem Bett klingeln sollte, um ihn auf Stand zu bringen, entschied sich aber dagegen. Morgen bei Dienstbeginn würde sie ihn über den Stand der Ermittlungen in Kenntnis setzen, um dann in der Morgenrunde das weitere Vorgehen gemeinsam mit den Kollegen aus Flensburg abzusprechen.

Als Wiebke den Panda rechts in die Süderstraße lenkte, streckte Petersen sich. „Ich werde auch ein paar Stündchen an der Matratze horchen, um morgen wieder fit und voller Tatendrang am Start zu sein.“

„Klingt gut.“ Wiebke setzte den Blinker und blieb neben dem kleinen Traufenhaus, in dem ihr Partner alleine lebte, stehen. Es herrschte kein Verkehr auf der Straße, sodass sie niemanden behinderte.