We shut shit down - Ende Gelände - E-Book

We shut shit down E-Book

Ende Gelände

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Beschreibung

Ende Gelände – das sind Tausende, die sich ungehorsam für eine klimagerechte Welt einsetzen. Die Massenaktionen durchführen und damit den Kohleausstieg auf die Agenda geholt haben, die dafür sorgen wollen, dass der fossile Kapitalismus möglichst bald der Vergangenheit angehört. Seit 2015 hat das Bündnis zahlreiche Aktionen massenhaften zivilen Ungehorsams gegen Kohleenergie organisiert, etwa in der Lausitz und im Tagebaugebiet am Hambacher Forst. Sie besetzen Kohlegruben und Kraftwerke und prägen mit ihren Aktionen den Diskurs um Kohleausstieg, Klimakrise und Klimagerechtigkeit. Dieses Buch ist in einem kollektiven Schreibprozess entstanden. Es handelt von den Ursprüngen und der Entstehung des Bündnisses, von seinen Prinzipien und seinem Selbstverständnis. Es geht um Klimagerechtigkeit und Systemwandel, um zivilen Ungehorsam, Diskursintervention, Antirepression und Intersektionalität, Konsenskultur und nachhaltigen Aktivismus. Um das Verhältnis zum Staat und die Rolle des Bündnisses als Teil der internationalen Klimagerechtigkeitsbewegung. »We shut shit down« ist ein Bewegungsbuch, das eine beeindruckend undogmatische, selbstreflexive und nicht zuletzt wirkmächtige aktivistische Praxis vorstellt. Es bietet lebendige Einblicke in die aktuellen Kämpfe für Klimagerechtigkeit sowie Inspiration und Empowerment auf dem Weg in eine solidarische Gesellschaft.

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ENDE GELÄNDE ist ein europaweites Bündnis gegen Kohle und Gas und neben Fridays for Future eine der präsentesten Gruppierungen der Klimagerechtigkeitsbewegung. Ende Gelände entstand 2015, ist in Ortsgruppen und AGs organisiert und führt regelmäßig Aktionen zivilen Ungehorsams mit oftmals mehreren tausend Teilnehmenden durch.

Einige häufig verwendete Begriffe sind am Ende auf S. 194–200 in einem Glossar aufgeführt; diese Begriffe sind bei jedem ersten Auftreten in einem neuen Kapitel mit → markiert.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2022

Originalveröffentlichung

Erstausgabe März 2022

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert

www.majabechert.de

Satz: Corinna Theis-Hammad

www.cth-buchdesign.de

Lektorat von Ende Gelände:

Christiane

Redaktionsgruppe von Ende Gelände:

Jojo, Julia, Valli

Mit Illustrationen von Caroline Pochon

www.toolsandmoods.net

ePub ISBN 978-3-96054-293-3

Inhalt

Einleitung

Die Ende-Gelände-Erfahrung

Ein Funke Hoffnung: Ende Gelände 2015

Viele Hände für den Kohleausstieg: meine erste Ende-Gelände-Aktion 2017

Mit dem bunten Finger unterwegs: Ende Gelände 2019

Sich gegenseitig inspirieren: Ende Gelände goes Europe

Wo wir herkommen: die Geschichte von Ende Gelände

Wie wir die Welt verändern wollen

Nicht legal, aber legitim: unser ziviler Ungehorsam

Geschichten verändern, neue Stimmen stark machen: unsere Diskursintervention

Uns vom Gegenwind nicht aufhalten lassen: (Anti-)Repression bei Ende Gelände

Im Konsens entscheiden, feiern, voneinander lernen: unsere Gruppenkultur

Wie wir die Welt sehen

Klimagerechtigkeit: »What do we want? Climate justice!«

Kapitalismus: »System change not climate change!«

Kolonialismus: »No justice in a racist climate!«

Staat: Ende Gelände mit dem Staat?

Blick in eine mögliche Zukunft

Glossar

Anmerkungen

Bildnachweise

Einleitung

Von Julia, Jojo und Valli

»Dass der Hambacher Forst gerettet werden kann, ist eine Illusion.«1 Das jedenfalls sagte RWE-Vorstand Rolf Schmitz noch im September 2018. Doch soziale Bewegungen können Illusionen Wirklichkeit werden lassen. Und unsere Utopien und Gegenentwürfe werden oft als Illusionen bezeichnet. Doch wir können eine ganz andere Welt möglich machen, wenn wir an sie glauben und für sie kämpfen. Soziale Bewegungen schreiben Geschichte. Aber meist wird das unter den Teppich gekehrt, und große gesellschaftliche Veränderungen werden einzelnen mächtigen Männern zugeschrieben.

Einer solchen Erzählung wollen wir unsere eigenen Perspektiven entgegenstellen, damit es später nicht heißt, Armin Laschet habe den Kohleausstieg eingeleitet. Das waren nämlich die Zehntausenden von Menschen, die sich gemeinsam mit einer Vielfalt von Protesten über Jahre hinweg der Zerstörung in den Weg gestellt, die öffentliche Meinung geprägt und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland zu Zugeständnissen gezwungen haben. Als am 6. Oktober 2018 über 50.000 Menschen am Hambacher Wald protestierten, Barrikaden aufbauten und mit Kinderwagen in den Tagebau spazierten, war klar, dass das Ende der Kohle eingeleitet war. VON UNS ALLEN.

Mit diesem Buch von und über Ende Gelände wollen wir ein Stück Bewegungsgeschichte festhalten. Wir wollen teilen, welche Erfahrungen wir gemacht haben, mit welchem Verständnis wir auf die Welt schauen und welche Strategien wir entwickelt haben, um sie zu verändern. Wir wollen auf unsere Erfolge zurückschauen und von diesen ausgehend auch nach vorne blicken. Wir wollen inspirierende Momente und Erfahrungen teilen. Wir wollen uns verständlich machen und in Diskussion treten mit allen, die uns bisher nur von Twitter oder aus der Tagesschau kennen. Wir wollen erzählen, was wir zu sagen haben, ohne uns dabei auf wenige Sekunden Sendezeit zu beschränken. Vielleicht inspirieren wir zu neuen Gedanken, schaffen neuen Mut, neue Hoffnung, gemeinsam eine Gesellschaft jenseits von Zerstörung und Ausbeutung zu schaffen.

Als Ende Gelände ein Buch zu schreiben, ist nicht leicht. Wir sind keine Stiftung, keine → NGO, kein Verein. Wer ist denn dann überhaupt Ende Gelände? Die Abertausenden Menschen, die an Aktionen teilgenommen haben? Die Vielen, die in den Ortsgruppen aktiv sind? Die Hunderten, die in den letzten Jahren die Aktionen organisiert haben, die miteinander darum gerungen haben, wie, wo und warum wir kämpfen?

Als 2020 die Idee aufkam, ein Buch zu schreiben, lag die erste Ende-Gelände-Aktion etwa fünf Jahre zurück. Es schien uns ein guter Zeitpunkt für ein Resümee zu sein. Als Redaktionsgruppe hätten wir nicht gedacht, dass es noch zwei weitere Jahre dauern würde, bis das Buch erscheint. Doch kollektive Prozesse brauchen Zeit, und das ist auch gut so. Wenn wir gemeinsam schreiben und streiten und suchen, dann ist das Ergebnis wohl näher an dem, was uns alle ausmacht, als wenn nur Einzelpersonen das Buch geschrieben hätten. Das ist auch unser Anliegen: bislang bei Ende Gelände breit geteiltes, aber oft nicht in irgendeiner Form dokumentiertes Wissen aufzuschreiben und zugänglich zu machen.

Wir haben versucht, möglichst viele an dem Schreibprozess zu beteiligen. Einige Texte haben Menschen geschrieben, die in Arbeitsgruppen von Ende Gelände aktiv sind oder waren, andere Texte sind von Menschen, die an Aktionen teilgenommen haben. Fast alle Texte wurden in unterschiedlich großen Gruppen gemeinsam geschrieben. Ihr habt also einen Sammelband vor euch, in dem verschiedene Perspektiven zu Wort kommen. Wir haben darin beschrieben, was Ende Gelände für uns ausmacht. Manches davon wird euch sicherlich bekannt vorkommen, manch anderes vielleicht noch nicht. Die Texte wurden größtenteils im Jahr 2020 geschrieben, manche auch 2021 – sie spiegeln also den Stand zum jeweiligen Zeitpunkt.

Wir haben versucht, die Texte so zu schreiben, dass möglichst viele Menschen sie ohne viel Aufwand verstehen können, ohne, zum Beispiel, schon jahrelangen politischen Aktivismus hinter sich zu haben. Dennoch war es an einigen Stellen nötig, Begriffe zu verwenden, die vielleicht nicht alle Leute kennen. Wir erklären solche Begriffe in einem Glossar am Ende des Buchs. Die Begriffe, die sich im Glossar finden, sind beim ersten Auftreten in jedem Kapitel durch einen Pfeil markiert.

Im ersten Kapitel machen wir die Erfahrung, an Ende-Gelände-Aktionen teilzunehmen, durch drei verschiedene Berichte erlebbar. Mit in die erste Aktion 2015 nimmt euch ein internationaler Aktivist, der schon viele Jahre aktiv ist. Die Aktion im November 2017 erlebt ihr aus der Perspektive einer jungen Frau → of Colour, die zum ersten Mal an einer Massenaktion zivilen Ungehorsams teilnimmt. Und in die Aktion im Juni 2019 nimmt euch eine Frau mit, die rollstuhlfahrend Teil des bunten → Fingers war. Darüber hinaus erfahrt ihr im ersten Kapitel, wie Ende Gelände entstand und mit europäischen Klimagerechtigkeitsbewegungen zusammenwirkt.

Im zweiten Kapitel beschreiben wir, mit welchen Strategien wir versuchen, die Welt zu verändern. Einige unserer Strategien beleuchten wir dabei genauer: Wie können wir mit unserem zivilen Ungehorsam die Welt verändern? Wie machen wir Pressearbeit und wirken damit in die öffentliche Diskussion hinein? Welche Rolle spielt eine solidarische Unterstützung bei Repression? Und wie versuchen wir jetzt schon in einer achtsamen und solidarischen Gruppenkultur vorwegzunehmen, welche Utopien wir uns erträumen? Das ist sicher nicht vollständig. Welche Rolle der Aufbau von sozialen Bewegungen und Bündnisarbeit spielen, hätten wir beispielsweise gerne noch näher beleuchtet. Aber obwohl ein Buch mehr ist als ein Bericht in der Tagesschau, ist es doch immer noch weniger als die Bewegung selbst.

Im dritten Kapitel wollen wir mit euch teilen, wie wir die Welt sehen und welche inhaltlichen Anliegen wir haben, sie zu verändern. Ihr erfahrt etwas über unser zentrales Anliegen der Klimagerechtigkeit und darüber, was sie mit Kapitalismus und Kolonialismus zu tun hat. Und ihr werdet mitgenommen auf die Suche nach einem angemessenen Verhältnis zum Staat. Klar wird in all dem vor allem: Es braucht einen grundlegenden Systemwandel, um Klimagerechtigkeit und ein gutes Leben für alle erreichen zu können.

Im vierten und letzten Kapitel versuchen wir daher, einen Ausblick darauf zu geben, was noch bevorsteht und wie wir gemeinsam als verschiedene soziale Bewegungen eine ganz andere Welt schaffen können. Dabei greifen wir viel auf die vorangegangenen Artikel zurück und wünschen uns, dass unser Ausblick als Debattenbeitrag verstanden wird, denn auch die hier beschriebenen Ideen und Ansätze sind nicht der Weisheit letzter Schluss.

Was denkst du, wie wir die Welt verändern können? Wann und wo fangen wir gemeinsam damit an?

DIE ENDE-GELÄNDE-ERFAHRUNG

Ein Funke Hoffnung: Ende Gelände 2015

Von JJ (https://labo.zone/)2

Aus dem Englischen übersetzt von Josefine Haubold

Das laute Knattern eines tief fliegenden Hubschraubers reißt mich aus dem Schlaf. Das muss die Polizei sein. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen und die Zeltwände riechen noch nach Morgentau. Ich war bestimmt nicht der Einzige auf diesem Feld, der in dieser Nacht kaum ein Auge zugemacht hat. Heute ist der Aktionstag, auf den wir gewartet haben. Ende Gelände – 1.500 Menschen haben sich vorgenommen, die riesigen Bagger im RWE-Tagebau Garzweiler zu blockieren und damit Europas größten Verursacher von CO2 stillzulegen.

Das ist direkte Aktion, wie sie sein sollte – nicht nur ein symbolischer Akt, der eine Ungerechtigkeit sichtbar macht, sondern eine Aktion, die auf den Kern des Problems abzielt und seinen Lauf unterbricht. Wenn der Tag ein Erfolg wird, dann können die Geschichten davon Wunder bewirken. Sie werden die Bewegung stärken, an Lagerfeuern und in Cafés erzählt werden, durch die sozialen Medien schwirren und Schlagzeilen machen. Aber was eigentlich zählt, ist, die CO2-Emissionen zu stoppen, indem die Braunkohle, die schmutzigste Kohle der Welt, nicht mehr gefördert und verbrannt wird. Ende Gelände ist kein Medienevent, sondern ein kollektiver Akt des Widerstands, der der Dringlichkeit der katastrophalen Klimakrise entspricht. Wenn alles nach Plan läuft, wird es einer der größten Akte zivilen Ungehorsams für Klimagerechtigkeit überhaupt sein. Für viele, die gerade auf diesem saftigen Feld aufwachen, wird es das erste Mal sein, dass sie für ihre Überzeugungen das Gesetz brechen. Das erste Mal, dass ich an einer direkten Aktion teilgenommen habe, ist 20 Jahre her, aber die Aufregung ist immer noch die gleiche, und in meinem Bauch spielen die Schmetterlinge verrückt.

Tausende Menschen haben sich im Laufe der letzten Woche beim Klimacamp auf diesen Tag vorbereitet. Diese alternative Gesellschaft auf Zeit nach dem Vorbild der britischen Camps for Climate Action, die 2006 im Schatten des Kohlekraftwerks des Energiekonzerns Drax entstanden waren, wurde nur wenige Kilometer vom Tagebau entfernt auf dem Feld eines solidarischen Bauern errichtet. Der komplexe Betrieb des Camps wird in täglichen → basisdemokratischen Plena organisiert; dort werden Themen des Alltags, von der Nutzung des WLANs auf dem Feld bis zur Entleerung der Komposttoiletten, diskutiert. Die Infrastruktur ist beeindruckend: Es gibt Solarpaneele zum Aufladen von Mobiltelefonen, ein Kino, ein Zelt mit »emotionaler Erster Hilfe« für alle, die Unterstützung brauchen, zahllose Reihen identischer weißer Zelte für Workshops und ein Zirkuszelt voller Spielsachen für die Kinder.

Menschen aus 45 Ländern haben Kurse und Workshops gegeben und an ihnen teilgenommen – die Themen reichten von Transition Theater über islamische → Degrowth-Ökonomie und Lebensmittelproduktion in Städten bis hin zum Bau einer Windturbine, die nun einen Teil des Stroms für das Camp liefert. Protestcamps sind eine so kraftvolle Form der Architektur des sozialen Wandels, weil ihre Grenzen – anders als etwa bei einer Versammlungshalle, einem besetzten Stadtteilzentrum oder den Büros einer Nichtregierungsorganisation (→ NGO) – durchlässig sind. Jeder kann hineingehen, es gibt keine verschlossenen Türen, an die man erst klopfen muss, keine Klingeln an der Tür und keine einschüchternden Versammlungen, zu denen man gehen muss. Das macht es neuen Aktivistinnen leichter, sich zu beteiligen. Eine besonders geniale Strategie bei diesem Camp war es, das Klimacamp, eine radikal-aktivistische, antikapitalistische, basisdemokratische Bewegung, mit der Degrowth-Sommerschule zu verbinden, einer eher akademischen, NGO-artigen Veranstaltung aus Kursen und Gesprächspodien, zu der im Vorjahr (2014) in Leipzig 3.000 Menschen gekommen waren.

Wie es im 40 Seiten dicken Programm des Camps heißt: »Wenn wir effektive und gerechte Strategien gegen den Klimawandel umsetzen wollen, brauchen wir eine grundlegende Transformation unserer Wirtschaft und unserer Lebensweise. Eine ›Energiewende‹, die nur auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz setzt, aber dabei das Wachstumsparadigma aufrechterhält, kann den unkontrollierbaren Klimawandel nicht aufhalten, beseitigt nicht die vielen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, und sie wird die Gesellschaft auch nicht demokratisieren. Mit dieser gemeinsamen Veranstaltung möchten wir die Debatten um Klimagerechtigkeit und Degrowth verbinden und an den Ort eines zentralen Energiekampfes tragen.«

Im großen Zirkuszelt, das mehrere Hundert Menschen fasst, sprachen Aktivistinnen, die gegen Kohlebergwerke und Atomkraft in Indien kämpfen oder gegen die Ölförderung im Amazonasgebiet, wir hörten von → First-Nations-Gemeinschaften, die sich gegen die Giftkatastrophe des Ölsandabbaus im kanadischen Alberta wehren, und von Öko-Anarchistinnen, die in Baumhäusern leben, um die Ausweitung des Hambacher Braunkohletagebaus zu verhindern. Wir sahen Theaterstücke, die von Geflüchteten und Asylbewerberinnen geschrieben und aufgeführt wurden. Wir debattierten über neue Formen radikaler Demokratie – mit Leuten aus der spanischen Anti-Austeritäts-Bewegung M15, griechischen Anarchistinnen, die von den selbstverwalteten Gesundheits-, Ernährungs- und Produktionssystemen erzählten, die nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch Griechenlands entstanden waren, und einer Person aus Kurdistan, die von den Versuchen des libertären Munizipalismus in der auf Feminismus, Ökologie und radikaler Autonomie in Nordsyrien beruhenden Nation ohne Staat berichtete. Alle Vorträge wurden von Freiwilligen in mindestens drei Sprachen übersetzt. In der Mitte des Camps steht, wie eine tickende menschliche Uhr, ein riesiges rundes Trampolin, auf dem Scharen aufgeregter Kinder den ganzen Tag herumhüpfen – eine wohltuende Erinnerung an die Zukunft, die mitunter so zerbrechlich scheint.

Die Kunst, sich aufeinander zu beziehen

Die letzten Tage hier standen im Zeichen des zivilen Ungehorsams. Als Erstes ging es um den »Aktionskonsens«, an den sich alle Teilnehmenden halten sollen und der den Grundton der Aktion beschreibt. Dabei wird das Fass von »Gewalt oder Gewaltlosigkeit« gar nicht erst geöffnet, weil auf diese moralisch aufgeladenen Begriffe verzichtet wird. Stattdessen heißt es in dem Dokument: »Wir bleiben ruhig und besonnen. Wir provozieren keine Eskalation. Wir bringen keine Menschen in Gefahr.« Der Konsens besagt auch, dass keine Maschinen beschädigt werden sollen, und zwar nicht aus moralischen Gründen, sondern um die Sicherheit aller Beteiligten zu gewährleisten. Wenn Dinge beschädigt werden, verschärft die Polizei unweigerlich ihre Gewalt gegen uns, und die Strafen für die Blockade oder Besetzung von Kohleinfrastruktur sind geringer als die für Sachbeschädigung. Wenn Leute etwas sabotieren wollen, gibt es in der Gegend ohnehin noch zwei andere Tagebaue, in denen sie sich austoben können (auch wenn wir dazu nicht aufrufen, Anm. d. Red.).

Als ich anfing, mich an direkten Aktionen zu beteiligen, dachte ich noch, dass wir durch öffentlich angekündigte Akte zivilen Ungehorsams nicht nur die fossile Brennstoffindustrie, sondern gleich auch noch die industrielle Zivilisation zu Fall bringen könnten, indem wir »das System« lahmlegen. Doch im Laufe der Jahre wurde mir klar, dass wir, egal wie groß eine Bewegung auch ist, nie genug Leute sein würden, die bereit sind, eine Verhaftung und ein anschließendes langwieriges Gerichtsverfahren zu riskieren. Fragt euch selbst: Sind wir genug, um jeden Tagebau der Welt, jede Ölraffinerie, jede → Fracking-Anlage und jede arktische Bohrinsel stillzulegen, den schwarzen Teersanden in Alberta Einhalt zu gebieten, die Schornsteine aller Kraftwerke in China zu blockieren? Natürlich könnten wir das nicht, nicht einmal für einen Tag, und dabei wissen wir ohnehin, dass ein Tag nicht ausreichen würde.

Der Slogan »Keep it in the Ground! – Lasst es im Boden!« sagt sich so leicht. Doch um die Verbrennung von 80 % der weltweiten Reserven fossiler Brennstoffe tatsächlich zu stoppen – und das wäre nötig, um die Katastrophe eines unkontrollierbaren Klimawandels zu verhindern –, brauchen wir jede Taktik, die wir für gerechtfertigt, strategisch sinnvoll und vor allem für effektiv halten. In der Vergangenheit haben diejenigen, die Widerstand geleistet haben, dann gewonnen, wenn sie härter kämpften, als sie es selbst für möglich hielten, und eine vielfältige Palette möglicher Taktiken einsetzten. Eine Taktik, die von den deutschen Bewegungen entwickelt wurde, ist der Einsatz von → »Fingern«, großen Gruppen von Menschen, die sich gemeinsam auf den Weg in die Aktion machen.

Der schönste Teil des Aktionstrainings, an dem wir teilnehmen, sind die Rollenspiele zur Vorbereitung der Finger: schmale Menschenschlangen, die sich durch Polizeiketten schlängeln. Wir versuchen, uns unsere Freundinnen in Sandalen und T-Shirts, die uns in einer Reihe gegenüberstehen, als Polizistinnen in Kampfmontur und mit Schlagstöcken vorzustellen. »Das war jetzt leicht«, sagt Frida, nachdem wir eine Technik ausprobiert haben, bei der wir zuerst einen tanzartigen Schritt seitwärts machen, um dann mit den Schultern voran durch die Linie zu treten, »aber es ist schon klar, dass es an dem Tag nicht so sein wird!« Nervöses Gelächter ringsum.

Einer der wichtigsten Teile des Trainings behandelt den Aufbau einer Bezugsgruppe – ein organisatorischer Ansatz, der das Herzstück einer effektiven direkten Aktion bildet. Eine Bezugsgruppe ist eine Gruppe von fünf bis 15 Personen, die beschließen, während der Aktion zusammenzubleiben, aufeinander aufzupassen und durch Vertrauen und emotionale Unterstützung die einzelnen Teilnehmenden zu stärken. Die Bezugsgruppen sind jeweils autonom; sie werden nicht von einer hierarchischen Kommandostruktur gelenkt, sondern treffen ihre eigenen Entscheidungen, was sie tun (und was nicht). Damit sind sie viel flexibler und reaktionsfähiger als eine größere Gruppe von Menschen. Außerdem erleichtert diese Struktur neuen Leuten die Beteiligung an Aktionen.

Die dezentralisierte und nicht-hierarchische Form der Bezugsgruppen wurde im späten 19. Jahrhundert von spanischen Anarchistinnen erfunden, als Freundeskreise, die in Cafés in der Art eines literarischen Salons zunächst kulturelle und künstlerische Ideen austauschten und dann anfingen, über Politik zu sprechen und gemeinsam Aktionen zu planen. Jahrzehnte später wurde die Idee der Bezugsgruppen in den USA im Zuge der Proteste gegen den Vietnamkrieg vom berüchtigten Kunstaktivistinnen-Kollektiv Black Mask wiederbelebt. Viele erfolgreiche Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams, von den großen Anti-Atomkraft-Blockaden der 1970er Jahre mit bis zu 30.000 Teilnehmenden bis zu den Protesten gegen die Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle um die Jahrtausendwende, nutzten Bezugsgruppen für ihre Aktionen.

Bezugsgruppen bilden sich oft darüber, dass die einzelnen Mitglieder ähnliche Vorstellungen von Stil und Art der Aktion haben. In unserer Bezugsgruppe für diesen Tag haben wir alle gemeinsam, dass wir uns nur ungern verhaften lassen wollen. Wir sind gleichzeitig entschlossen, den Tagebau zu betreten, und wissen, dass unsere Chancen, damit durchzukommen, sehr gering sind. Als der Aktionstag näherrückt und je mehr die Aufregung steigt, kommt unsere Gruppe gemeinsam zu der Erkenntnis, dass für einen Akt des massenhaften zivilen Ungehorsams nicht verhaftet werden zu wollen, ein bisschen so ist, als kämpfe man einen Krieg für den Frieden, so dass am Vorabend der Aktion als unser wichtigstes Ziel bestimmt wird, auf einen der Bagger zu gelangen.

Manche Bezugsgruppen bestehen über Jahre, andere finden nur für eine bestimmte Aktion zusammen. Einige in unserer Gruppe sind schon länger befreundet, andere haben sich noch nie vorher getroffen, und für manche ist es ihr erster Akt des zivilen Ungehorsams. Wir sind ein bunt gemischter Haufen, zwischen 21 und 50 Jahren alt, darunter ein türkischer Designer, eine französische Journalistin (die nicht zum Berichten, sondern zum Handeln gekommen ist), eine tschechische Studentin, ein dänischer NGO-Campaigner, ein spanischer Umweltschützer, ein belgischer Ingenieur und eine britische Wissenschaftlerin. Gemäß der Tradition, dass mit der Polizei nicht kooperiert wird, haben wir beschlossen, keine Namen zu nennen, falls wir verhaftet werden. Nicht, weil wir nicht stolz darauf wären, die größte Kohlenstoffbombe in Europa lahmzulegen, sondern weil wir in der Tradition des zivilen Ungehorsams, wie er von Thoreau, den militanten Suffragetten, Martin Luther King, Gandhi und anderen entwickelt und praktiziert wurde, glauben, dass die Nicht-Kooperation mit dem, was falsch ist, ebenso eine Verpflichtung ist wie die Kooperation mit dem, was gut ist.

Und wenn wir darüber hinaus auch noch vermeiden können, die Überwachungsmaschinerie zu füttern, die jede unserer Bewegungen kontrolliert, prüft, misst, filmt, speichert, verfolgt und festhält, dann haben wir gleich doppelt gewonnen. Damit wir anonym bleiben können, hat das »Legal Team für Alle«, das die Aktion mit juristischem Wissen unterstützt, ein ausgeklügeltes System erarbeitet.

Weil ein guter Bezugsgruppenname immer motivierend ist, haben wir uns für den Namen »Mary Poppins« entschieden, unter anderem, weil wir bunte, mit Bildern und Texten besprayte Regenschirme benutzen wollen, die uns Schatten spenden, ein starkes Bild abgeben und uns vor Pfefferspray schützen. Es ist auch eine Anspielung auf die Demokratiebewegungen in Hongkong, die die Regenschirme zu einer feinen Kunst des Widerstands erhoben haben.

Wir haben uns innerhalb der Gruppe jeweils paarweise zusammengetan. Jeweils zwei »Buddies« sollen, falls es besonders chaotisch wird und die größere Gruppe auseinandergerissen werden sollte, unbedingt zusammenbleiben. Isa und ich tun uns wie immer zusammen. Das letzte Mal, als wir Aktionsbuddies waren, bin ich ohne Vorwarnung durch eine Polizeikette gerannt und habe sie auf der anderen Seite zurückgelassen – also genau das, was man NICHT mit seinem Buddy machen sollte. Dieses Mal werde ich versuchen, aufmerksamer und vernünftiger zu sein.

Unsere Bezugsgruppe Mary Poppins wird sich dem internationalen Finger anschließen, einer der vier aus zahlreichen Bezugsgruppen bestehenden Kolonnen, die aus verschiedenen Richtungen in den Tagebau eindringen und auf die Bagger zusteuern wollen. Sobald die Finger die Maschine erreicht haben, kann jede Bezugsgruppe entscheiden, was sie tun und wohin sie gehen will. Unsere hat sich noch nicht entschieden, obwohl mir die Idee, mit riesigen Buchstaben eine Botschaft in den Sand zu schreiben, viel besser gefällt, als bis ganz hoch auf den Bagger, das größte landgestützte Fahrzeug der Welt, zu klettern, mit unserem Banner, auf dem steht: »Jobs not Coal«, auf Deutsch: Arbeitsplätze statt Kohle.

Der Philosoph Fredric Jameson schrieb: »Das zentrale Problem der politischen Philosophie (und später der Politikwissenschaft) ist die Verfasstheit von Gruppen.« Wie gehen wir mit einander um? Wie treffen wir Entscheidungen, so dass der Entscheidungsprozess die von uns angestrebte Welt ohne Hierarchien und Herrschaft widerspiegelt? Wie hören wir richtig zu, wie debattieren, widersprechen, entscheiden wir gemeinsam? Und wie können wir heute schon gemeinsam leben, als wären wir bereits frei? Die Bezugsgruppe ist ein schöner Test für viele dieser Fragen. Im Deutschen wie im Englischen stammen die Wörter »Freund/friend« und »frei/free« beide von der gleichen sprachlichen Wurzel ab, die auf die Vorstellung einer »wachsenden, gemeinsamen Kraft« verweist – weit entfernt also von der individualistischen Freiheit des → Neoliberalismus, die oft noch in den radikalsten Köpfen herumspukt: »Ich bin Anarchist! Ich mache, was ich will!« Wie das Unsichtbare Komitee in An unsere Freunde erklärt: »Frei sein und verbunden sein ist ein und dasselbe. Ich bin frei, weil ich verbunden bin, weil ich an einer Realität teilhabe, die umfassender ist als ich.« In diesem Sinne ist eine Bezugsgruppe ein wunderbarer Beschleuniger für Freundschaft, und wenn sie dadurch befeuert wird, dass man gemeinsam das Risiko des Ungehorsams eingeht, wird sie zu einer einzigartigen Liebesmaschine, zu einer Ökologie der Freiheit.

Geisterdörfer

Gestern Abend haben wir Immerath besucht, eines von mehreren Dörfern, die am Rand des Tagebaus liegen und still darauf warten, von dem immer größer werdenden Loch verschlungen zu werden. Die langen Straßen waren menschenleer, Fenster und Türen vernagelt, Fensterläden geschlossen. Die große Kirche mit ihren zwei Glockentürmen war mit Vorhängeschlössern gesichert, und in den verstaubten Fenstern der nahegelegenen Schule hingen Kinderzeichnungen, die von der Sonne ausgeblichen waren. Efeu umrankte kaputte Briefkästen, und einst gepflegte Gärten waren zu Urwäldern geworden. Am Eingang des Dorfs lag ein großer Krankenhauskomplex, mit einer eigenen Kapelle und einem Parkplatz, auf dem das Gras durch Risse im Asphalt wuchs. Auf dem ummauerten Friedhof standen nur noch wenige Grabsteine; daneben waren Dutzende von rechteckigen Flecken mit aufgewühlter Erde, wo die Toten umgebettet worden waren. Seltsame Grabgeister in einem Geisterdorf, das still auf den Tag der Abrechnung wartet. 35.000 Menschen sind aus dieser Gegend bereits vertrieben worden, 7.000 weitere (darunter auch der Bauer, auf dessen Feldern wir kampieren) erwartet ein ähnliches Schicksal.

Vor ein paar Tagen hielt Heather Milton-Lightning, eine Aktivistin der → First Nations mit einem schwarzen Sinn für Humor, abends einen Vortrag, in dem sie den Oka-Widerstand von 1990 erwähnte, eine 78 Tage dauernde Blockade und gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Aktivistinnen der First Nations und dem kanadischen Staat, der einen Golfplatz an der Stelle der Ahnengräber der Mohawk bauen wollte. Die Pläne wurden auf Eis gelegt, und die Gräber existieren bis heute. Doch hier scheint es so, als würden die meisten Menschen in dieser kapitalistischen Kultur weder die Lebenden noch die Toten genug ehren, um Widerstand zu leisten. Als wir das Dorf verließen, entdeckte ich an einem der wenigen nicht mit Rollläden verschlossenen Fenster einen mit Klebeband befestigten Zettel, auf dem stand: »In diesem Haus wohnen immer noch Menschen«. Anscheinend haben nicht alle in Immerath aufgegeben.

Laufen ums Leben

»Guten Moooooorgen allerseits … Zeit zum Aufstehen!«, knarzt eine Stimme durch ein Megaphon. »In 45 Minuten gehen wir los … Ende Gelände!« Aus den Zelten dringt ein halb verschlafenes Gejubel. Die Anfangszeit der Aktion wurde bis jetzt geheim gehalten, um die Polizei zu überraschen. Mit müden Augen, aber wach vom aufsteigenden Adrenalin, kommen die Mitglieder unserer Bezugsgruppe zusammen, verteilen Sandwiches und Wasser und schreiben sich mit wasserfestem Stift die Telefonnummer des Legal Teams auf die Beine. Wir ziehen die weißen Schutzanzüge an, die alle bei der Aktion tragen werden, und prüfen den Sitz der Staubmasken, die uns vor den Kohlepartikeln schützen sollen. Da wir nahe der Spitze des Fingers laufen und damit zu den Ersten gehören, die durch die Polizeiketten strömen werden, tragen wir auch einen Augenschutz aus Klarsicht-Folie, von dem wir hoffen, dass er uns vor dem Pfefferspray der Polizei schützen wird. »Wo sind die Regenschirme?« rufe ich über das Trommeln der Sambaband hinweg. »Jemand hat sie schon mitgenommen«, antwortet Martin. »Mary Poppins hat zu wenig Regenschirme!«, lacht er. Die vier Finger stellen sich auf: 1.500 Menschen ganz in Weiß warten, aufgeregte Augen lugen über Staubmasken, bereit zum zivilen Ungehorsam. Das Megaphon ruft »Ende Gelände!« und wir gehen los.

Unser 280 Personen starker Finger ist der erste, der aufbricht. Wir marschieren zügig über Feldwege und singen gegen die kollektive Anspannung an. Um zum Tagebau zu gelangen, müssen wir durch einen engen Betontunnel, der eine Autobahn unterquert. Er ist von zwei Polizeiwagen und drei Reihen Bereitschaftspolizei blockiert. Wir wissen, was zu tun ist. Viele von uns haben für diesen Moment trainiert. Niemand rennt, wir atmen gemeinsam tief durch. »Bleibt zusammen! Bleibt zusammen!« Ich denke an meine Freundinnen in der ersten Reihe, die hauptsächlich aus einer reinen Frauen-Bezugsgruppe besteht. Eine von ihnen sagte gestern Abend zu Isa, dass sie »sich selbst herausfordern« wollten. Gerade klingt das wie eine ziemliche Untertreibung.

Es geht los! Ich senke den Kopf. Körper und Geist, Denken und Handeln, Raum und Zeit – alles schmilzt in diesem Sekundenbruchteil zusammen. Nichts ist mehr wichtig, es ist wie Meditation – aber auf Steroiden. Wie ein unruhiger Fluss fließt der Finger geradewegs in die Polizeikette, von hinten strömt die Schlange nach – 280 Körper, die schieben und drängen. Unsere weichen Körper spüren die klobigen Schutzpanzer, die harten Helme, die schwarzen, gepolsterten Schlaghandschuhe. Waffen, die uns verletzen sollen, dreschen gegen unsere dünnen Strohsäcke. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Schlagstock auf meine Beine zusausen, er trifft mich hart, aber das Adrenalin unterdrückt den Schmerz. Ein Strahl Pfefferspray zielt direkt auf meine Augen, wird aber von dem improvisierten Visier aufgehalten. Einige Menschen fallen hin, ein Haufen Körper, Schreie, ich stolpere. Isa zieht mich aus dem Gedränge hoch und wir rennen. Schneller, als ich es für möglich gehalten hätte.

Der internationale Finger ist unterwegs

Und dann sind wir durch – was für eine Freude in allen Augen! Wir rennen in das vor uns liegende Feld, bis wir merken, dass aus unserer Bezugsgruppe jemand fehlt. »Mary Poppins! Mary Poppins! Sammeln!« Hinter uns werden mehrere Aktivistinnen zu Boden gerungen und verhaftet. Wir können ihnen nicht mehr helfen, die meisten von uns sind durch und wir müssen weiter. Mit uns über die Weizenstoppeln flitzen zwei Hasen, meine Lieblingstiere. Der Hase ist ein uraltes Symbol der Trickbetrüger: der Gestaltwandler, der mit Witz und Weisheit die Obrigkeiten provoziert und die Gesetze beugt – das muss ein gutes Omen sein.

Am Horizont bildet sich eine neue Polizeikette; dunkle, Schlagstöcke schwingende Umrisse, die Gesichter hinter Sturmhauben verborgen. Neben mir geht Tara aus der Bezugsgruppe »Acorn/Eichel«. Sie ist winzig und hat so etwas noch nie gemacht. »Mein Herz schlägt so schnell, als würde es gleich explodieren!« Ihre Augen sind weit aufgerissen. »Es ist ganz normal, Angst zu haben«, sage ich, während ich sehe, wie eine Freundin dem nächsten Schlagstock ausweicht. »Courage kommt von dem französischen Wort für Herz – le cœur.« Ich nehme ihre Hand und wir rennen gemeinsam.

Nach einem kurzen Zögern breitet sich unser Finger über das Feld aus. Wir streben auf die Lücken in der Polizeikette zu. Obwohl wir zehnmal mehr sind als sie, ist es beängstigend. Wieder kommen wir durch. Dann kommen noch mehr Polizeiwagen auf uns zu, einer mit riesigen Lautsprechern auf dem Dach: Eine autoritäre Stimme ermahnt uns; mit meinem miesen Schul-Deutsch verstehe ich aber nur, dass wir irgendetwas nicht tun sollen. Das Pfefferspray fängt an zu brennen, die Leute werden knallrot und winden sich. Samantha hüpft beim Rennen vor Schmerz auf und ab. Es ist so, als würde dir jemand die Haut abziehen und dich in Tabasco-Sauce tauchen, oder wie der schlimmste Sonnenbrand, den du dir vorstellen kannst.

»Vorsicht, Graben!« Wir kraxeln eine steile, abbröckelnde Böschung hinauf, mit ausgestreckten Händen helfen wir uns gegenseitig hinüber. Dahinter geht es in eine nasse Sumpfzone, die von lampenmasthohen Sprinklern beregnet wird. »Das Wasser hält die Tonnen von Kohlenstaub unten«, erklärt uns Mary. Die Dusche lindert für einen kurzen Moment den Schmerz auf unserer brennenden Haut, doch wir müssen weiter. Und dann sind wir da, an der Kante des Tagebaus, und strömen nach unten in den Abgrund, atemlos vom Laufen und vom Erstaunen über das, was sich vor uns erstreckt. Es ist das größte Loch, das ich je gesehen habe: 12 Kilometer breit, 400 Meter tief. Ein Loch, das so vielen Menschen Heimat und Leben genommen hat, ein Loch, das einigen wenigen Geld einbringt und für die meisten Elend bedeutet, ein Loch, das eher auf den Mars als auf diesen Planeten gehört und uns doch ähnlich unbelebte Landschaften bescheren könnte.

Eine Handvoll Bagger ist noch im Einsatz. 222 Meter lang und höher als die Freiheitsstatue, nagen sie an den Rändern der Grube, mächtige stählerne Insekten, die rund um die Uhr die Erde wegfressen. Der Himmel um sie herum ist erfüllt von Wolken aus schwarzem Staub. Jeder von ihnen verbraucht so viel Strom wie eine Kleinstadt und kann pro Tag 2.400 Eisenbahnwaggons voller Kohle ausbaggern. In ihrer ikonischen Monstrosität tauchten sie sogar in den Tribute von Panem